Das Geständnis - John Grisham - E-Book
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Das Geständnis E-Book

John Grisham

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Beschreibung

»Vielleicht der beste Grisham aller Zeiten. Und das will was heißen.« Brigitte

Als Travis Boyette in seinem Büro auftaucht, kann Reverend Schroeder nicht ahnen, dass diese Begegnung sein Leben für immer verändern wird. Boyette bittet um ein Gespräch. Er sei sterbenskrank und möchte vor seinem Tod sein Gewissen erleichtern. Dann schildert Boyette in allen Einzelheiten die Vergewaltigung und den Mord an der siebzehnjährigen Nicole Yarber. Das Mädchen war vor Jahren verschwunden, ihr Leichnam wurde nie gefunden. Trotzdem kam es zu einer Verurteilung. Ein damaliger Mitschüler Nicoles, der Afroamerikaner Donté Drumm, wurde kurz nach seiner Verhaftung für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. In vier Tagen soll Donté Drumm hingerichtet werden. Ein verzweifelter Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

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JOHN

GRISHAM

DAS GESTÄNDNIS

Roman

Aus dem Amerikanischen von Kristiana Dorn-Ruhl,

Bea Reiter und Imke Walsh-Araya

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Confession bei Doubleday, New York

2. Auflage

Copyright © 2010 by Belfry Holdings, Inc.

Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-11036-9

www.heyne.de

TEIL I

DAS VERBRECHEN

1

Der Küster von St. Mark hatte gerade eine dicke Schneeschicht vom Gehsteig geschippt, als ein Fremder mit einem Gehstock auftauchte. Die Sonne schien, aber der Wind blies in Sturmstärke, und die Temperatur hatte sich um den Gefrierpunkt eingependelt. Der Mann trug lediglich eine dünne Latzhose, ein Sommerhemd, ausgetretene Wanderstiefel und eine leichte Windjacke, die der Kälte kaum etwas entgegenzusetzen hatte. Aber das schien ihn nicht zu stören, und er hatte es auch nicht eilig. Hinkend, leicht zur linken, vom Stock gestützten Seite geneigt, schlurfte er an der kleinen Kirche vorbei und auf eine Seitentür zu, auf der in dunkelroten Buchstaben »Büro« stand. Er klopfte nicht an. Die Tür war unverschlossen. Beim Eintreten fuhr ihm ein heftiger Windstoß in den Rücken.

Das Empfangsbüro von St. Mark sah genauso vollgestopft und verstaubt aus, wie man es in einer alten Kirche erwartete. In der Mitte des Raumes stand ein Schreibtisch, an dem eine junge Frau saß. Ein Namensschild wies sie als Charlotte Junger aus. Mit einem Lächeln sagte sie: »Guten Morgen.«

»Guten Morgen«, erwiderte der Mann und schwieg einen Augenblick. »Es ist sehr kalt draußen.«

»Allerdings.« Sie musterte ihn rasch. Sein Problem war ganz offensichtlich, dass er weder Mantel noch Handschuhe noch Mütze trug.

»Ich nehme an, Sie sind Mrs. Junger«, sagte er mit einem Blick auf das Schild.

»Nein, Mrs. Junger ist nicht da. Sie hat Grippe. Ich bin Dana Schroeder, die Frau des Reverend. Ich helfe heute nur aus. Was können wir für Sie tun?«

Der Mann blickte hoffnungsvoll auf den einzigen freien Stuhl im Raum. »Darf ich?«

»Natürlich.«

Er setzte sich vorsichtig, als müsste er jede Bewegung in Gedanken vorbereiten. »Ist der Reverend da?«, fragte er und sah zu einer massiven Tür auf der linken Seite hinüber.

»Ja, aber er ist in einer Besprechung. Was können wir für Sie tun?« Sie war schlank, ihre Brüste zeichneten sich unter dem engen Pullover ab. Alles von der Taille abwärts war hinter dem Schreibtisch verborgen. Er hatte immer die Zierlichen bevorzugt. Solche wie sie. Ebenmäßiges Gesicht, große blaue Augen, hohe Wangenknochen, ein hübsches, adrettes Mädchen. Die perfekte kleine Pastorenfrau.

Es war so lange her, dass er eine Frau berührt hatte.

»Ich muss unbedingt Reverend Schroeder sprechen.« Er faltete die Hände wie zum Gebet. »Ich war gestern in der Kirche und habe ihn predigen hören, und ich … nun ja, ich brauche seinen Beistand.«

»Er hat heute viel zu tun«, sagte sie lächelnd. Sie hatte sehr hübsche Zähne.

»Es ist wirklich dringend.«

Dana war lange genug mit Reverend Keith Schroeder verheiratet, um zu wissen, dass aus seinem Büro niemand weggeschickt wurde, ob er nun einen Termin hatte oder nicht. Außerdem war es ein eiskalter Montagmorgen, und so beschäftigt war Keith nun auch wieder nicht. Ein paar Telefonate, die üblichen Krankenhausbesuche. Im Moment führte er ein Gespräch mit einem jungen Paar, das die geplante Hochzeit absagen wollte. Sie kramte auf dem Schreibtisch herum und fand schließlich den kleinen Fragebogen, den sie gesucht hatte. »Also gut. Ich brauche ein paar Auskünfte von Ihnen, dann sehen wir weiter.« Sie zückte einen Kugelschreiber.

»Danke.« Er deutete eine Verbeugung an.

»Ihr Name?«

»Travis Boyette.« Aus alter Gewohnheit buchstabierte er den Nachnamen. »Geboren am 10. Oktober 1963 in Joplin, Missouri. Vierundvierzig Jahre alt, alleinstehend, geschieden, keine Kinder. Kein fester Wohnsitz. Keine Arbeit. Keine Zukunft.«

Dana hörte zu, während sie die passenden Felder auf dem Blatt suchte. Seine Antworten warfen weit mehr Fragen auf, als das schlichte Formular vorsah. »Gut. Was die Adresse betrifft …«, sagte sie, ohne das Schreiben zu unterbrechen. »Wo wohnen Sie zurzeit?«

»Zurzeit stehe ich unter der Obhut der Gefängnisbehörde des Bundesstaates Kansas. Ich bin einem Übergangshaus in der Seventeenth Street zugeteilt, nur ein paar Querstraßen von hier. Bald werde ich entlassen. Es ist eine Resozialisierungsmaßnahme, wie das so schön heißt. Ein paar Monate hier in Topeka, dann bin ich ein freier Mann und darf mich darauf freuen, den Rest meines Lebens auf Bewährung draußen zu sein.«

Der Kugelschreiber hielt inne, aber Danas Blick blieb auf dem Papier haften. Ihr Interesse an weiteren Antworten war schlagartig versiegt, doch da sie mit dem Fragen angefangen hatte, musste sie es zu Ende führen. Was sollten sie auch sonst tun, während sie auf den Pastor warteten?

»Möchten Sie einen Kaffee?« Das war eine wirklich unverfängliche Frage.

Es entstand eine Pause, eine viel zu lange Pause, als könnte Boyette sich nicht entscheiden. »Ja, bitte. Schwarz mit etwas Zucker.«

Dana huschte aus dem Zimmer, um den Kaffee zu holen. Er folgte ihr mit dem Blick, studierte sie genau, ihren hübschen runden Hintern in der schlichten Alltagshose, die schlanken Beine, die sportlichen Schultern, den Pferdeschwanz. Ein Meter zweiundsechzig bis vierundsechzig, schätzte er, höchstens fünfzig Kilo.

Sie ließ sich Zeit, und als sie zurückkehrte, saß Travis Boyette noch genauso da, wie sie ihn verlassen hatte, einem Mönch gleich, die Fingerspitzen beider Hände aneinandergelegt, den schwarzen Holzstock quer über den Oberschenkeln, den leeren Blick auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. Sein Kopf war geschoren, klein, rund und glänzend, und als sie ihm die Tasse reichte, schoss ihr die alberne Frage durch den Kopf, ob er von Natur aus früh kahl geworden war oder absichtlich eine Glatze trug. Links an seinem Nacken prangte eine schaurige Tätowierung.

Er nahm den Kaffee entgegen und bedankte sich. Sie ging zurück zu ihrem Platz, sodass der Schreibtisch wieder zwischen ihnen stand.

»Sind Sie Lutheraner?«, fragte sie und griff zu ihrem Kugelschreiber.

»Eher nicht. Ich bin eigentlich gar nichts. Die Kirche hat mich nie interessiert.«

»Aber gestern waren Sie da. Warum?«

Boyette hielt die Tasse mit beiden Händen ans Kinn, wie eine Maus, die an einem Leckerbissen knabbert. Wenn ihn eine einfache Frage nach Kaffee volle zehn Sekunden beschäftigt hatte, würde diese womöglich eine Stunde in Anspruch nehmen. Er trank einen kleinen Schluck und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Wie lange, meinen Sie, wird es noch dauern, bis ich zum Pastor kann?«, fragte er schließlich.

Noch viel zu lange, dachte Dana. Am liebsten wäre sie ihn sofort an ihren Mann losgeworden. Mit einem Blick auf die Wanduhr sagte sie: »Es wird gleich so weit sein.«

»Könnten wir vielleicht einfach schweigen, während wir warten?«, fragte Boyette höflich.

Dana betrachtete den sonderbar steifen Besucher und sagte sich spontan, dass Schweigen keine schlechte Idee wäre. Doch dann siegte ihre Neugier. »Sicher. Nur eine letzte Frage.« Sie suchte mit den Augen den Fragebogen ab, als verlangte er noch diese eine Frage. »Wie lange waren Sie im Gefängnis?«

»Mein halbes Leben lang«, erwiderte Boyette, ohne zu zögern, als würde er diese Frage fünfmal am Tag beantworten.

Dana kritzelte etwas auf ihr Blatt, dann fiel ihr Blick auf die Computertastatur, und sie hackte darauf los, sodass man den Eindruck haben konnte, ihr wäre eine dringende Terminsache eingefallen. In ihrer E-Mail an Keith stand: »Hier ist ein Schwerverbrecher, der dich unbedingt sprechen will. Wirkt einigermaßen anständig. Trinken Kaffee. Sieh zu, dass du fertig wirst.«

Fünf Minuten später öffnete sich die Tür zum Büro des Pastors. Eine junge Frau kam herausgerannt, die sich die Augen rieb, dahinter ihr Exverlobter, dem das Kunststück gelang, ein Stirnrunzeln mit einem Lächeln zu verbinden. Keiner von beiden sprach Dana an. Keiner bemerkte Travis Boyette. Sie verschwanden nach draußen.

Nachdem die Außentür ins Schloss gefallen war, sagte Dana zu Boyette: »Einen Augenblick noch.« Dann eilte sie zu ihrem Mann, um ihm zu berichten, was ihn erwartete.

Reverend Keith Schroeder war fünfunddreißig Jahre alt, seit zehn Jahren glücklich mit Dana verheiratet und Vater dreier Söhne, die jeweils im Abstand von zwanzig Monaten zur Welt gekommen waren. Seit zwei Jahren war er leitender Pastor von St. Mark, davor hatte er eine Gemeinde in Kansas City geführt. Sein Vater war pensionierter lutherischer Pfarrer, und für Keith hatte es nie einen anderen Traumberuf gegeben. Er war in einer Kleinstadt nahe St. Louis aufgewachsen, unweit von dort zur Schule gegangen und hatte – abgesehen von einem Klassenausflug nach New York und seinen Flitterwochen in Florida – den Mittleren Westen nie verlassen. Seine Gemeinde schätzte ihn, wobei nicht immer eitel Sonnenschein herrschte. Einmal hatte es richtig Ärger gegeben, als er während eines Blizzards im letzten Winter Obdachlose in die Kirche gelassen hatte. Nachdem der Schnee getaut war, hatten sich einige davon geweigert, wieder zu gehen. Die Stadt hatte Klage wegen unbefugter Nutzung erhoben, und in der Lokalzeitung war ein kompromittierender Artikel erschienen.

Das Thema seiner Predigt am Vortag war Vergebung gewesen – Gottes grenzenlose und alles überstrahlende Macht, Sünden zu vergeben, ganz gleich wie abscheulich sie waren. Travis Boyettes Sünden waren entsetzlich, unfassbar und grausam. Sein unmenschliches Verbrechen würde ihn mit Gewissheit in die ewige Verdammnis führen. An diesem Punkt in seinem erbärmlichen Leben war Travis überzeugt, dass es für ihn keine Vergebung gab. Und doch wollte er es genauer wissen.

»Wir haben manchmal Männer aus dem Übergangshaus hier«, sagte Keith. »Ich habe dort auch schon Gottesdienste gehalten.« Sie hatten sich in eine Ecke des Büros zurückgezogen, weit weg vom Schreibtisch, zwei neue Freunde, die sich auf ausgeleierten Klappstühlen gegenübersaßen und plauderten. Neben ihnen prasselten falsche Holzscheite in einem falschen Kamin.

»Ist nicht übel da«, sagte Boyette. »Auf jeden Fall besser als im Knast.« Er war gebrechlich, und seine blasse Haut sah aus, als hätte sie lange kein Tageslicht gesehen. Seine knochigen Knie berührten sich, der schwarze Stock ruhte quer darüber.

»Und wo waren Sie im Gefängnis?«, erkundigte sich Keith, einen Becher dampfenden Tee in der Hand.

»Mal hier, mal da. Die letzten sechs Jahre in Lansing.«

»Wofür sind Sie verurteilt worden?« Die Verbrechen würden Keith mehr über den Menschen erzählen, den er vor sich hatte. Ging es um Gewalt? Um Drogen? Schon möglich. Andererseits mochte Boyette auch Gelder veruntreut oder Steuern hinterzogen haben. Er sah auf jeden Fall aus, als könnte er keiner Fliege etwas zuleide tun.

»Schlimme Dinge, Reverend. Ich weiß gar nicht mehr alles.« Boyette mied den Augenkontakt. Sein Blick klebte am Teppich zu ihren Füßen. Keith trank Tee und musterte sein Gegenüber sorgfältig. Offenbar litt Boyette an nervösen Zuckungen. Alle paar Sekunden kippte sein Kopf leicht nach links. Es war wie ein leichtes Nicken, gefolgt von einem heftigeren Ruck, mit dem er den Kopf wieder geraderichtete.

Nach einer Weile absoluter Stille sagte Keith: »Worüber möchten Sie gern reden, Travis?«

»Ich habe einen Hirntumor, Reverend. Bösartig, tödlich, unheilbar. Wenn ich Geld hätte, könnte ich etwas dagegen tun – Bestrahlung, Chemo, das Übliche – und würde vielleicht zehn oder zwölf Monate gewinnen. Aber es ist ein Glioblastom Grad IV, das heißt, ich bin so oder so ein toter Mann. Mir bleibt ein halbes, vielleicht ein ganzes Jahr. Dann bin ich weg vom Fenster.« Wie aufs Stichwort meldete sich der Tumor. Boyette verzerrte das Gesicht und beugte sich vor, um sich die Schläfen zu massieren. Sein Atem ging schwer, der Schmerz schien in seinen ganzen Körper auszustrahlen.

»Das tut mir sehr leid.« Keith war klar, dass die Bemerkung absurd und unpassend klang.

»Verdammtes Kopfweh«, sagte Boyette mit zugekniffenen Augen.

Ein paar Minuten lang, in denen kein Wort fiel, kämpfte er gegen den Schmerz. Keith sah hilflos zu und biss sich auf die Zunge, um nicht irgendetwas Unsinniges zu sagen, wie: »Soll ich Ihnen ein Aspirin bringen?«

Dann ließ der Anfall nach, und Boyette entspannte sich. »Entschuldigung«, sagte er.

»Wann haben Sie die Diagnose bekommen?«, erkundigte sich Keith.

»Ich weiß nicht mehr. Vor einem Monat vielleicht. Die Kopfschmerzen fingen in Lansing an, im Sommer. Sie können sich vorstellen, wie dort die medizinische Versorgung ist, ich bekam also keine Hilfe. Erst als ich entlassen und hierhergeschickt wurde, haben sie mich ins St. Francis Hospital gebracht. Dort wurden Tests und Untersuchungen gemacht, und da hat man dann ein hübsches kleines Ei mitten in meinem Kopf gefunden, genau zwischen den Ohren, zu weit innen für eine OP.« Er machte einen tiefen Atemzug, stieß die Luft geräuschvoll aus und brachte sein erstes Lächeln zustande. Links oben fehlte ihm ein Zahn, die Lücke war auffällig. Offensichtlich ließ auch die zahnmedizinische Versorgung im Gefängnis zu wünschen übrig.

»Sie haben bestimmt öfter mit Menschen wie mir zu tun«, sagte er. »Menschen, die dem Tod ins Auge blicken.«

»Hin und wieder. Das bringt meine Arbeit mit sich.«

»Und diesen Menschen ist es dann bestimmt richtig ernst mit Gott und Himmel und Hölle und dem ganzen Kram.«

»Allerdings. Das ist typisch menschlich. Wenn wir mit unserer Sterblichkeit konfrontiert werden, denken wir an das Leben danach. Wie ist das bei Ihnen, Travis? Glauben Sie an Gott?«

»An manchen Tagen ja, an manchen nein. Aber selbst wenn ich glaube, bin ich ziemlich skeptisch. Für Sie ist es einfach, an Gott zu glauben, weil Sie ein leichtes Leben hatten. Bei mir ist das was anderes.«

»Möchten Sie mir Ihre Geschichte erzählen?«

»Eigentlich nicht.«

»Warum sind Sie dann hier, Travis?«

Wieder das Zucken. Als es vorbei war, ließ Travis die Augen durch den Raum wandern. Auf dem Gesicht des Pastors blieben sie liegen. Die beiden Männer schauten sich lange an, ohne zu zwinkern. Schließlich sagte Boyette: »Reverend, ich habe ein paar schlimme Dinge getan. Unschuldigen Menschen wehgetan. Ich bin nicht sicher, ob ich das alles mit ins Grab nehmen will.«

Jetzt kommen wir allmählich zum Punkt, dachte Keith. Die Bürde ungebeichteter Sünden. Die Schmach verborgener Schuld. »Es würde helfen, wenn Sie mir von diesen schlimmen Dingen erzählen würden. Mit einer Beichte anzufangen ist immer gut.«

»Und das bleibt alles unter uns?«

»Überwiegend ja. Es gibt allerdings Ausnahmen.«

»Welche?«

»Wenn ich aufgrund Ihres Bekenntnisses zu der Auffassung gelange, dass Sie für sich selbst oder andere Personen eine Gefahr darstellen, ist meine Schweigepflicht aufgehoben. Dann kann ich entsprechende Maßnahmen einleiten, um Sie oder jemand anders zu schützen. Mit anderen Worten, dann kann ich Hilfe holen.«

»Klingt kompliziert.«

»Was es nicht ist.«

»Hören Sie, Reverend. Ich habe wirklich schreckliche Dinge getan, aber eine Sache quält mich seit Jahren. Ich muss mit jemandem reden, und ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen könnte. Sie dürften es also niemandem erzählen, wenn ich Ihnen von einem furchtbaren Verbrechen berichten würde, das ich vor Jahren begangen habe?«

Dana rief die Internetseite der Gefängnisbehörde von Kansas auf und hatte binnen Sekunden das verkorkste Leben des Travis Dale Boyette vor sich. 2001 zu zehn Jahren Haft wegen versuchter Vergewaltigung verurteilt. Aktueller Status: in Haft.

»Der aktuelle Status sitzt bei meinem Mann im Büro«, murmelte sie, während sie fortfuhr, die Tasten zu bearbeiten.

1991 verurteilt zu zwölf Jahren wegen schwerer sexueller Nötigung in Oklahoma.

1987 verurteilt zu acht Jahren wegen versuchter sexueller Nötigung in Missouri. 1990 auf Bewährung entlassen.

1979 verurteilt zu zwanzig Jahren wegen schwerer sexueller Nötigung in Arkansas. 1985 auf Bewährung entlassen.

Boyette war in Kansas, Missouri, Arkansas und Oklahoma ein registrierter Sexualstraftäter.

»Ein Monster«, sagte Dana tonlos zu sich selbst. Sein Aktenfoto zeigte einen wesentlich fülligeren, jüngeren Mann mit dunklem, schütterem Haar. Sie schrieb kurz sein Strafregister zusammen und schickte eine Mail an Keith. Um die Sicherheit ihres Mannes machte sie sich keine Sorgen, dennoch wollte sie diesen Widerling so schnell wie möglich aus dem Haus haben.

Nach einer anstrengenden halben Stunde ohne große Fortschritte begann Keith allmählich die Lust an dem Gespräch zu verlieren. Boyette zeigte keinerlei Interesse an Gott, und da Gott Keiths Kernkompetenz war, schien es für ihn nicht viel zu tun zu geben. Er war kein Hirnchirurg. Und er hatte keine Jobs anzubieten.

Mit dem entfernt klingenden Ton einer altmodischen Türklingel kündigte sein Rechner eine neue Nachricht an. Zweimal Klingeln verriet eine E-Mail von außerhalb, dreimal hieß, dass sie vom Empfang kam. Er tat, als hätte er nichts gehört.

»Was hat es mit dem Stock auf sich?«, erkundigte er sich liebenswürdig.

»Im Gefängnis geht es brutal zu«, antwortete Boyette. »Das war eine Prügelei. Eine Kopfverletzung. Hat wahrscheinlich zu dem Tumor geführt.« Er fand das witzig und lachte.

Keith fühlte sich genötigt, ebenfalls zu schmunzeln, stand dann auf und ging zum Schreibtisch. »Wissen Sie was, ich gebe Ihnen eine Karte von mir. Rufen Sie mich an, wann immer Sie wollen. Sie sind hier jederzeit willkommen, Travis.« Er griff nach einer Visitenkarte und schielte dabei auf den Monitor. Viermal – tatsächlich viermal! – verurteilt, immer wegen Sexualdelikten. Keith ging zum Stuhl zurück, reichte Travis seine Karte und setzte sich.

»Vergewaltiger haben es im Gefängnis besonders schwer, nicht wahr, Travis?«, sagte Keith.

Es war immer dasselbe. Man kam in eine neue Stadt. Man musste sofort zur Polizei oder zum Gericht, um sich als Sexualtäter registrieren zu lassen. Nach zwanzig Jahren ging man davon aus, dass jeder Bescheid wusste. Dass jeder auf der Hut war. Boyette wirkte nicht überrascht. »Verdammt schwer«, stimmte er zu. »Ich weiß nicht mehr, wie oft ich zusammengeschlagen worden bin.«

»Travis, sehen Sie, ich bin nicht erpicht darauf, dieses Thema zu diskutieren. Außerdem habe ich gleich noch ein paar Termine. Wenn Sie wiederkommen möchten, rufen Sie vorher kurz an. Und ich freue mich, Sie am Sonntag im Gottesdienst zu sehen.« Keith war nicht sicher, ob er das ernst meinte, aber er bemühte sich, aufrichtig zu klingen.

Boyette zog einen gefalteten Zettel aus einer Tasche seiner Windjacke. »Haben Sie je von dem Fall Donté Drumm gehört?«, fragte er und reichte Keith das Blatt.

»Nein.«

»Ein junger Schwarzer, im Herbst 1999 wegen Mordes verurteilt, in einer Kleinstadt in East Texas. Hat angeblich ein weißes Mädchen getötet, sie war Cheerleader eines Highschool-Footballteams. Ihre Leiche wurde nie gefunden.«

Keith faltete den Zettel auseinander. Es war die Kopie eines Artikels aus der Lokalzeitung von Topeka, die das Datum des gestrigen Sonntags trug. Er überflog ihn rasch und betrachtete das Polizeifoto von Donté Drumm. An der Geschichte war nichts Auffälliges. Eines von vielen Todesurteilen in Texas, einer von vielen Verurteilten, die ihre Unschuld beteuerten. »Die Hinrichtung ist für Donnerstag angesetzt«, sagte Keith und blickte auf.

»Ich verrate Ihnen was, Reverend. Die haben den Falschen. Der junge Mann hat nichts mit dem Mord zu tun.«

»Und woher wissen Sie das?«

»Es gibt keine Beweise. Nicht ein einziges Beweisstück. Die Cops waren der Meinung, er war’s, haben ein Geständnis aus ihm herausgeprügelt, und jetzt bringen sie ihn um. Das ist nicht richtig, Reverend. Es ist einfach nicht richtig.«

»Woher wissen Sie das alles?«

Boyette beugte sich näher zu Keith, als wollte er ihm etwas zuflüstern, das er noch nie zuvor ausgesprochen hatte. Keiths Pulsschlag beschleunigte sich. Aber es kam nichts. Kein Wort. Wieder entstand eine lange Pause, in der die beiden Männer einander unverwandt anblickten.

»Da steht, die Leiche wurde nie gefunden«, sagte Keith, um Travis zum Weitersprechen zu ermuntern.

»Richtig. Die haben eine abstruse Geschichte konstruiert. Der Junge soll das Mädchen gepackt, vergewaltigt, erwürgt und dann von einer Brücke in den Red River geworfen haben. Alles völlig aus der Luft gegriffen.«

»Wissen Sie denn, wo die Leiche ist?«

Boyette setzte sich gerade auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Er nickte. Einmal, dann noch einmal. Wieder das nervöse Zucken. Wenn er unter Druck geriet, trat es offenbar häufiger auf.

»Haben Sie sie umgebracht, Travis?« Keith war von dieser Frage selbst überrascht. Noch vor fünf Minuten hatte er im Geiste eine Liste der Gemeindemitglieder gemacht, die er im Krankenhaus besuchen musste. Er hatte überlegt, wie er Travis loswerden würde. Und jetzt sprachen sie über Mord und eine verschwundene Leiche.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte Boyette, während ihn erneut die Schmerzen übermannten. Er beugte sich vor, als wollte er sich übergeben, und presste beide Hände an seinen Kopf. »Ich sterbe, okay? Ich werde in ein paar Monaten tot sein. Aber warum soll dieser Junge sterben? Er hat nichts getan.« Seine Augen waren feucht, seine Gesichtszüge verzerrt.

Keith beobachtete ihn während des Anfalls. Dann reichte er ihm ein Papiertaschentuch und sah zu, wie er sich das Gesicht abwischte.

»Der Tumor wächst«, sagte Boyette. »Jeden Tag drückt er stärker gegen die Schädelwand.«

»Nehmen Sie Medikamente?«

»Verschiedene. Aber sie helfen nicht. Ich muss jetzt gehen.«

»Ich glaube nicht, dass wir schon fertig sind.«

»Doch, wir sind fertig.«

»Wo ist die Leiche, Travis?«

»Das möchten Sie nicht wissen.«

»O doch. Vielleicht können wir die Hinrichtung aufhalten.«

Boyette lachte. »Meinen Sie das im Ernst? In Texas?« Er stand langsam auf und klopfte mit dem Stock auf den Teppich. »Danke, Reverend.«

Keith blieb sitzen und sah Boyette nach, der eilig aus dem Zimmer schlurfte.

Dana starrte auf die Tür. Nach einem Lächeln war ihr nicht zumute. Mühsam brachte sie ein »Wiedersehen« heraus, nachdem Boyette »Danke« gesagt hatte. Dann war er weg, wieder draußen auf der Straße, ohne Mantel und Handschuhe. Aber das war ihr jetzt herzlich egal.

Ihr Mann hatte sich nicht bewegt. Er saß immer noch wie benommen auf seinem Stuhl und starrte mit leerem Blick an die Wand, die Kopie des Zeitungsartikels in der Hand. »Alles okay bei dir?«, erkundigte sie sich. Keith reichte ihr das Blatt.

»Ich verstehe den Zusammenhang nicht ganz«, sagte sie, nachdem sie den Artikel gelesen hatte.

»Travis Boyette weiß, wo die Leiche ist. Er weiß es, weil er das Mädchen umgebracht hat.«

»Hat er das zugegeben?«

»So gut wie. Er sagte, er habe einen inoperablen Hirntumor und werde in wenigen Monaten sterben. Er sagte, Donté Drumm habe nichts mit dem Mord zu tun. Und er hat angedeutet, dass er weiß, wo die Leiche ist.«

Dana ließ sich auf das Sofa fallen und versank zwischen Kissen und Decken. »Glaubst du ihm?«

»Er ist ein Berufsverbrecher, Dana, ein professioneller Betrüger. Ihm liegt die Lüge näher als die Wahrheit. Man kann ihm eigentlich kein Wort glauben.«

»Trotzdem glaubst du ihm?«

»Ich denke schon.«

»Wie kannst du ihm glauben? Warum?«

»Er leidet, Dana. Und nicht nur aufgrund des Tumors. Er weiß etwas über den Mord und die Leiche. Er weiß viel darüber, und es bringt ihn aus der Fassung, dass ein Unschuldiger dafür hingerichtet werden soll.«

Keith verbrachte von Berufs wegen viel Zeit damit, sich heikle Probleme anderer Menschen anzuhören, und sein Rat und seine Ansichten wurden allseits geschätzt. Er hatte im Laufe der Jahre einen scharfen Beobachtungssinn entwickelt und irrte sich selten. Dana war schneller mit einer Meinung, einer Kritik oder einem Vorurteil bei der Hand, aber sie lag auch öfter daneben. »Also, Reverend, was meinst du?«

»Nehmen wir uns eine Stunde zum Recherchieren, und überprüfen wir folgende Punkte: Ist er wirklich auf Bewährung draußen? Wenn ja, wer ist sein Bewährungshelfer? Ist er im St. Francis in Behandlung? Hat er einen Hirntumor? Und wenn ja, ist der wirklich inoperabel?«

»Es wird nicht möglich sein, ohne sein Einverständnis Einsicht in seine Krankenakte zu nehmen.«

»Ja, sicher. Aber lass uns erst einmal sehen, wie weit wir kommen. Ruf Dr. Herzlich an – war er gestern im Gottesdienst?«

»Ja.«

»Dachte ich mir. Ruf ihn an und stochere ein bisschen herum. Er dürfte heute Vormittag im St. Francis Dienst haben und wahrscheinlich auf Visite sein. Ruf den Bewährungsausschuss an und schau, wie weit du dort kommst.«

»Und was tust du, während ich die Kabel heißtelefoniere?«

»Ich versuche, im Internet etwas über den Fall herauszufinden. Tathergang, Prozess, Verteidigung und so weiter.«

Beide standen auf, plötzlich in Eile. Dana sagte: »Und was, wenn es wahr ist, Keith? Was, wenn wir zu dem Schluss gelangen, dass dieses Ekel die Wahrheit sagt?«

»Dann müssen wir etwas unternehmen.«

»Und was?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

2

Robbie Flaks Vater hatte den alten Bahnhof in der Innenstadt von Slone im Jahr 1972 gekauft, kurz bevor die Stadt das Gebäude abreißen wollte. Robbie war damals noch zur Highschool gegangen. Mr. Flak senior hatte mit Klagen gegen Ölbohrfirmen eine Menge Geld verdient, das er sinnvoll anlegen wollte. Mit seinen Kanzleipartnern renovierte er den Bahnhof, dann richteten sie ihre Büros dort ein und erzielten über die folgenden zwanzig Jahre ansehnliche Umsätze. Sie waren nicht reich, jedenfalls nicht nach texanischen Maßstäben, aber sehr erfolgreich und genossen in der Stadt einen guten Ruf.

Dann kam Robbie. Er begann schon als Schüler in der Kanzlei mitzuarbeiten, und es wurde bald deutlich, dass er nicht wie die anderen war. Für ihn zählte nicht der Profit, sondern die soziale Gerechtigkeit. Er drängte seinen Vater, sich auf das Zivilrecht zu verlagern, sich auf Diskriminierungen, unfaire Wohnungsvergaben oder Polizeigewalt zu spezialisieren, also genau die Art von Mandaten, für die man in einer Kleinstadt in den Südstaaten geschnitten und verachtet wird.

Robbie, Überflieger und unverfroren dazu, schloss das College im Norden binnen drei Jahren ab und zog in kürzester Zeit das Jurastudium an der University of Texas in Austin durch. Er schrieb keine einzige Bewerbung. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, irgendwo anders zu arbeiten als im alten Bahnhof von Slone. Dort gab es so viele Leute, die er verklagen wollte, und so viele schlecht behandelte und geknechtete potenzielle Mandanten, die nur auf ihn warteten.

Sein Vater und er stritten vom ersten Tag an und trieben damit alle übrigen Kanzleimitglieder in die Flucht – sie gingen in Rente oder suchten sich eine neue Stelle. 1990, mit fünfunddreißig Jahren, verklagte Robbie die Stadt Tyler in Texas wegen Diskriminierung bei einer Wohnungsvergabe. Der Prozess in Tyler dauerte einen Monat, und irgendwann musste Robbie Personenschützer engagieren, weil die Morddrohungen allzu glaubwürdig wurden. Als die Geschworenen ein Urteil über neunzig Millionen Dollar fällten, wurde Robbie Flak zur lebenden Legende und so wohlhabend, dass er mit seinem Geld juristisch mehr Staub aufwirbeln konnte, als er sich je erträumt hatte. Um ihm aus dem Weg zu gehen, verbrachte sein Vater die meiste Zeit auf dem Golfplatz. Und Robbies Frau zog einen Schlussstrich und kehrte in ihre Heimatstadt St. Paul zurück.

Die Kanzlei Flak wurde zum Mekka für alle, die sich von der Gesellschaft in irgendeiner Form benachteiligt fühlten. Die Missbrauchten, die Beschuldigten, die Geschlagenen, die Verletzten, alle kamen sie irgendwann zu Mr. Flak. Zum Durchforsten der Fälle stellte Robbie unablässig neue Anwälte und juristische Hilfskräfte ein. Er recherchierte täglich im Internet, behielt die guten und warf die schlechten wieder hinaus. Die Kanzlei wuchs, bis sie implodierte. Sie wuchs erneut, implodierte wieder. Anwälte kamen und gingen. Er verklagte sie, sie verklagten ihn. Das Vermögen schwand, dann gewann Robbie erneut einen lukrativen Fall. Der Tiefpunkt seiner schillernden Karriere war erreicht, als er seinen Buchhalter der Veruntreuung überführte und mit einer Aktentasche auf ihn losging. Eine ernsthafte Bestrafung konnte er abwenden, indem er eine dreißigtägige Haftstrafe für leichte Vergehen aushandelte, aber die Schlagzeile sorgte in Slone für großes Aufsehen. Robbie, der – wenig überraschend – Publicity liebte, machte freilich weniger die Haftstrafe als die schlechte Presse Sorgen. Die texanische Juristenvereinigung erteilte ihm einen offiziellen Verweis und setzte für neunzig Tage seine Lizenz außer Kraft. Es war das dritte Mal, dass er mit der Ethikkommission aneinandergeriet, und er schwor, dass es nicht das letzte Mal sein würde. Dann packte Ehefrau Nummer zwei ihre Sachen und verabschiedete sich, einen hübschen Scheck in der Tasche.

Sein Leben entsprach ganz seinem Charakter. Es war chaotisch, maßlos, im ständigen Konflikt mit sich selbst und der Umwelt, aber nie langweilig. Hinter seinem Rücken wurde er »Robbie der Spinner« genannt, und als es mit dem Trinken schlimmer wurde, kam »Robbie Flasche« auf. Ungeachtet des ewigen Rummels, des allmorgendlichen Katers, der hysterischen Frauen, der klagenden Partner, der prekären Finanzlage, der verlorenen Fälle und der Verachtung der Honoratioren war Robbie Flak jeden Morgen, wenn er den Bahnhof betrat, aufs Neue wild entschlossen, für die kleinen Leute zu kämpfen. Nicht immer wartete er, bis sie zu ihm kamen. Wenn Robbie von einer Ungerechtigkeit Wind bekam, sprang er gern ins Auto und machte sich auf die Suche. Dieser unablässige Eifer führte ihn schließlich zum berühmtesten Fall seiner Karriere.

1998 erlebte Slone das spektakulärste Verbrechen der Stadtgeschichte. Nicole Yarber, siebzehn, Schülerin der Slone High School, verschwand und wurde weder tot noch lebendig je wieder gesehen. Zwei Wochen lang stand die Stadt still, während Tausende Freiwillige vergeblich Straßen, Felder, Gräben und leerstehende Gebäude durchkämmten.

Nicole war eine gute und allseits beliebte Schülerin gewesen, sie hatte den üblichen Klubs angehört und sonntags die First-Baptist-Kirche besucht, wo sie hin und wieder im Jugendchor mitgesungen hatte. Vor allem anderen aber war sie Cheerleader des Highschool-Footballteams gewesen. Im letzten Schuljahr hatte sie die Leitung der Gruppe übernommen, den vielleicht begehrtesten Posten der ganzen Schule, zumindest für die Mädchen. Sie hatte einen halbwegs festen Freund gehabt, einen Footballspieler mit hochfliegenden Träumen, aber begrenztem Talent. An dem Abend, als sie verschwand, hatte sie noch über das Mobiltelefon mit ihrer Mutter geredet und versprochen, vor Mitternacht zu Hause zu sein. Es war ein Freitag Anfang Dezember gewesen. Die Footballsaison für die Slone Warriors war zu Ende, das Leben verlief wieder in geregelten Bahnen. Ihre Mutter sollte später aussagen – und die Telefonprotokolle bestätigten es –, dass Nicole und sie mindestens sechsmal am Tag miteinander telefoniert und durchschnittlich viermal am Tag gesimst hätten. Sie standen in permanentem Kontakt miteinander, und dass Nicole einfach weggelaufen sein könnte, ohne ihrer Mutter etwas zu sagen, war schlicht und ergreifend undenkbar.

Es gab keinerlei Hinweise auf seelische Probleme, etwa Essstörungen oder sprunghaftes Verhalten. Nicole war weder in psychiatrischer Behandlung gewesen, noch hatte sie Drogen genommen. Sie war einfach verschwunden. Ohne Zeugen. Ohne Erklärung. Einfach so. In Kirchen und Schulen wurden Mahnwachen abgehalten. Eine Hotline wurde freigeschaltet, zahllose Anrufe gingen ein, aber kein einziger davon erwies sich als sachdienlich. Eine Website wurde eingerichtet, um die Suche zu steuern und der Gerüchtebildung entgegenzuwirken. Echte und falsche Experten kamen, um ihren Rat anzubieten. Ein Geistheiler tauchte auf, verließ die Stadt wieder, als niemand ihm Geld anbot. Die Suche ging weiter, die Gerüchteküche brodelte, in der Stadt gab es kaum noch ein anderes Thema. Unübersehbar stand rund um die Uhr ein Streifenwagen vor Nicoles Elternhaus, damit sich die Familie besser fühlte. Slones lokaler Fernsehsender engagierte neue Reporter, um dem Fall auf den Grund zu gehen. Als die Suche auf das Umland ausgedehnt wurde, durchwühlten Heerscharen von Freiwilligen den Erdboden. Türen und Fenster wurden verriegelt. Väter deponierten nachts eine Waffe neben dem Bett. Kleinkinder wurden von Eltern und Babysittern nicht mehr aus den Augen gelassen. Priester thematisierten in ihren Predigten verstärkt den Kampf gegen das Böse. In der ersten Woche gab die Polizei täglich eine Pressekonferenz, allerdings nur, bis man merkte, dass es nie etwas Neues mitzuteilen gab. Man wartete und wartete, in der Hoffnung auf eine Spur, einen unerwarteten Anruf oder den entscheidenden Zeugen, der sich die Belohnung sichern wollte. Man betete für die Wende.

Sechzehn Tage nach Nicoles Verschwinden war es endlich so weit. Morgens um 4.33 Uhr läutete das Telefon bei Detective Drew Kerber zweimal, ehe er den Hörer abnahm. Trotz seiner Erschöpfung hatte er nicht gut geschlafen. Instinktiv drückte er die Aufnahmetaste und zeichnete das folgende Telefonat auf, das später tausendmal abgespielt werden sollte.

Kerber: »Hallo.«

Stimme: »Ist da Detective Kerber?«

Kerber: »Ja. Mit wem spreche ich?«

Stimme: »Unwichtig. Wichtig ist, dass ich weiß, wer sie umgebracht hat.«

Kerber: »Ich brauche Ihren Namen.«

Stimme: »Vergessen Sie’s, Kerber. Wollen Sie über das Mädchen reden?«

Kerber: »Bitte.«

Stimme: »Sie war mit Donté Drumm zusammen. Heimlich. Sie hat versucht, Schluss zu machen, aber er wollte sie nicht in Ruhe lassen.«

Kerber: »Wer ist Donté Drumm?«

Stimme: »Ach, kommen Sie schon, Detective. Jeder kennt Drumm. Er ist der Mörder. Er hat sie vor dem Einkaufszentrum überfallen und sie von der Brücke an der Route 244 geworfen. Sie liegt am Grund des Red River.«

Dann war die Leitung tot. Der Anruf wurde zurückverfolgt bis zu einem 24-Stunden-Supermarkt in Slone, wo die Spur endete.

Detective Kerber hatte von dem vagen Gerücht gehört, demzufolge Nicole sich mit einem schwarzen Footballspieler getroffen habe, wobei niemand das bestätigen konnte. Ihr Freund hatte es vehement zurückgewiesen. Er behauptete, dass er sich ein Jahr lang regelmäßig, wenn auch nicht oft, mit Nicole getroffen habe, und es sei sicher, dass sie noch nicht sexuell aktiv gewesen sei. Doch delikate Gerüchte wie dieses hielten sich hartnäckig. Dass Nicole mit einem Schwarzen zusammen gewesen sein sollte, war so widerwärtig und barg so viel Sprengstoff, dass Kerber nicht einmal ihre Eltern darauf angesprochen hatte.

Kerber starrte auf das Telefon und entnahm dann die Kassette. Er fuhr ins Präsidium, setzte Kaffee auf und hörte sich das Band noch einmal an. Er stand unter Strom und konnte es kaum erwarten, die Neuigkeit mit seinem Ermittlungsteam zu teilen. Alles passte zusammen – eine Liebe zwischen Teenagern, zwischen Schwarz und Weiß, in East Texas immer noch ein gesellschaftliches Tabu, Nicoles Versuch, Schluss zu machen, die brutale Überreaktion des abgewiesenen Liebhabers. Alles war durch und durch logisch.

Sie hatten ihren Mann.

Zwei Tage später wurde Donté Drumm festgenommen und wegen Entführung, Vergewaltigung und Mordes an Nicole Yarber angeklagt. Er gestand das Verbrechen und gab zu, ihre Leiche in den Red River geworfen zu haben.

Robbie Flak und Detective Kerber verband eine herzliche Feindschaft. Im Laufe der Jahre waren sie im Zusammenhang mit Kriminalfällen mehrmals heftig aneinandergeraten. Kerber hasste den Anwalt ebenso wie all die anderen zwielichtigen Rechtsverdreher, die sich nicht zu schade waren, sich auf die Seite von Verbrechern zu schlagen. Flak hingegen betrachtete Kerber als gefährliches Subjekt mit Polizeimarke und Waffe, als brutales Großmaul und kriminellen Cop, der für einen Schuldspruch vor nichts zurückschreckte. Bei einem legendär gewordenen Zusammentreffen vor Gericht hatte Flak dem Kriminalbeamten eine Falschaussage nachgewiesen und ihn dann vor der versammelten Jury »Scheißlügner« genannt.

Dass Robbie dafür wegen ungebührlichen Verhaltens im Gerichtssaal verwarnt wurde und sich bei Kerber und den Geschworenen entschuldigen und fünfhundert Dollar Ordnungsstrafe entrichten musste, nahm er gern in Kauf. Sein Mandant wurde für nicht schuldig befunden, und das war alles, was für ihn zählte. In der Geschichte der Juristenvereinigung von Chester County hatte es noch nie einen Rechtsanwalt gegeben, der vor Gericht öfter verwarnt worden war als Robbie Flak. Ein Rekord, auf den er ziemlich stolz war.

Sobald er von Donté Drumms Verhaftung erfuhr, führte Robbie ein paar hektische Telefonate und machte sich anschließend auf den Weg in das schwarze Viertel von Slone, eine Gegend, die er gut kannte. Begleitet wurde er von Aaron Rey, der früher zu einer Gang gehört und wegen Drogenhandels eingesessen hatte und jetzt in der Kanzlei Flak angestellt war – als Bodyguard, Laufbote, Chauffeur, Ermittler und alles, was Robbie Flak gegebenenfalls sonst noch benötigte. Rey trug stets mindestens zwei Waffen am Körper und zwei weitere in einer Tasche, und zwar ganz legal, da ihm dank Mr. Flak alle bürgerlichen Rechte wieder zugesprochen worden waren. Sogar wählen durfte er. Robbie Flak hatte in Slone und Umgebung jede Menge Feinde. Aber alle kannten Aaron Rey.

Drumms Mutter arbeitete im Krankenhaus, sein Vater fuhr Lkw für eine Sägemühle im Süden der Stadt. Sie wohnten mit ihren vier Kindern in einem kleinen weißen Holzhaus mit beleuchteter Weihnachtsdekoration in den Fenstern und Girlande am Eingang. Ihr Pastor traf kurz nach Robbie ein. Sie redeten stundenlang. Die Eltern waren verwirrt, verzweifelt, wütend und verrückt vor Angst. Und sie waren dankbar, dass Rechtsanwalt Flak gekommen war. Sie hatten keine Ahnung, was sie unternehmen sollten.

»Ich kann mich um die Angelegenheit kümmern«, bot Robbie an. Sie waren einverstanden.

Neun Jahre später kümmerte er sich immer noch darum.

Am Montag, dem 5. November, traf Robbie schon früh am Bahnhof ein. Er hatte das Wochenende durchgearbeitet und fühlte sich alles andere als erholt. Seine Stimmung war düster und lustlos. Die kommenden vier Tage würden hektisch und chaotisch werden, die Ereignisse würden sich überschlagen – geplante und unvorhergesehene –, und wenn sich am Donnerstagabend um achtzehn Uhr der Staub legte, würde er aller Wahrscheinlichkeit nach in einer überfüllten Zeugenkammer des Gefängnisses von Huntsville stehen und Roberta Drumm die Hand halten, während der Staat Texas ihrem Sohn Chemikalien verabreichte, die selbst ein Pferd töten würden.

Er wusste, was auf ihn zukam, denn er war schon einmal dort gewesen.

Er stellte den Motor seines BMW ab, war aber nicht in der Lage, den Sicherheitsgurt zu lösen. Die Finger um das Lenkrad gekrallt, starrte er durch die Windschutzscheibe, ohne etwas zu sehen.

Neun Jahre lang hatte er für Donté Drumm alles gegeben. Er hatte einen Feldzug geführt wie nie zuvor in seinem Leben und in dem absurden Mordprozess wie ein Löwe gekämpft. Er hatte in den Berufungs- und Revisionsverhandlungen die Gerichte beleidigt. Er hatte mit seiner Berufsehre gespielt und Gesetze gebeugt. Er hatte bissige Artikel geschrieben, in denen er immer wieder auf die Unschuld seines Mandanten hinwies. Er hatte teure Gutachter bezahlt, um neue Theorien zu entwickeln, die niemanden interessierten. Er hatte den Gouverneur so lange genervt, bis seine Anrufe nicht mehr angenommen wurden, nicht einmal mehr von den untersten Mitarbeitern. Er hatte Politiker, Solidaritätsgruppen, religiöse Gruppen, Anwaltskammern, Anwälte für Zivilrecht, die amerikanische Bürgerrechtsunion, Amnesty International und Gegner der Todesstrafe mobilisiert – alle und jeden, der möglicherweise irgendetwas für seinen Mandanten tun konnte. Doch die Uhr hatte weitergetickt. Und sie tickte noch, lauter und immer lauter.

Im Verlauf des Verfahrens hatte Robbie Flak sein gesamtes Vermögen ausgegeben, sämtliche sozialen Brücken abgebrochen, praktisch alle Freunde vergrault und sich selbst in einen Zustand dauerhafter Erschöpfung und psychischer Labilität gebracht. Er hatte so lange in dasselbe Horn gestoßen, bis ihn niemand mehr hören wollte. Für die meisten Außenstehenden war er lediglich ein Anwalt mit großer Klappe, der einen Riesenwirbel um seinen angeblich unschuldigen Mandanten machte, ein Phänomen, das allzu verbreitet war.

Das Verfahren hatte ihn physisch und psychisch an seine Grenzen gebracht. Als es zu Ende war und der Staat Texas beschloss, Donté hinzurichten, kamen Robbie ernsthafte Zweifel, ob er weitermachen konnte. Er nahm sich vor wegzugehen, seinen Bahnhof zu verkaufen, Slone und Texas zu sagen, sie könnten ihn mal, und in die Berge zu ziehen, zum Beispiel nach Vermont, wo die Sommer kühl waren und niemand vom Staat umgebracht wurde.

Im Besprechungsraum gingen die Lichter an. Offenbar war schon jemand da, der das Büro aufgeschlossen hatte und Vorbereitungen für die bevorstehende Höllenwoche traf. Robbie stieg aus dem Auto und ging hinein. Er traf auf Carlos, einen seiner langjährigen Mitarbeiter, und sie unterhielten sich ein paar Minuten bei einem Kaffee. Es dauerte nicht lange, und sie kamen auf das Thema Football.

»Haben Sie die Cowboys gesehen?«, fragte Carlos.

»Nein, ging nicht. Preston soll einen guten Tag gehabt haben.«

»Allerdings. Drei Touchdowns. Über zweihundert Yards Raumgewinn.«

»Ich bin kein Cowboys-Fan mehr.«

»Ich auch nicht.«

Noch vor einem Monat hatte Rahmad Preston in diesem Besprechungsraum gesessen, Autogramme gegeben und in die Kameras gelächelt. Ein entfernter Verwandter von ihm war zehn Jahre zuvor in Georgia hingerichtet worden. Preston hatte sich Donté Drumms Sache zu eigen gemacht und versprochen, andere prominente Spieler der Cowboys und weitere Spitzenvereine mit ins Boot zu holen. Er wollte den Gouverneur, den Begnadigungsausschuss, wichtige Leute aus Politik und Wirtschaft, ein paar Rapper, die er angeblich gut kannte, und vielleicht sogar einige Hollywoodpromis ansprechen. Er wollte eine lautstarke Kampagne starten, die den Staat am Ende zum Einlenken zwingen würde. Doch Rahmads Versprechungen erwiesen sich als Lippenbekenntnisse. Ganz plötzlich wurde es still um den Footballstar. Sein Agent ließ verlauten, er sei »in Klausur gegangen«, außerdem lenke ihn diese Angelegenheit viel zu sehr ab. Als großer Verschwörungstheoretiker hatte Robbie sofort den Verein und sein Sponsorennetzwerk im Verdacht, auf Rahmad Druck auszuüben.

Um 8.30 Uhr hatte sich die Belegschaft im Besprechungsraum versammelt. Robbie eröffnete das Meeting. Im Moment hatte er keine Partner – der letzte hatte sich mit einer Klage verabschiedet, die noch anhängig war –, aber es gab zwei fest angestellte Volljuristinnen, einen Assistenten und eine Assistentin, drei Sekretärinnen und Aaron Rey, der stets in der Nähe war. Nach fünfzehn Jahren an Robbies Seite kannte er sich mit Recht und Gesetz besser aus als selbst die erfahrensten Assistenten. Ebenfalls zugegen war ein Jurist von Amnesty Now, einer in London residierenden Menschenrechtsgruppe, die Tausende wertvoller Stunden in Drumms Berufungsverfahren investiert hatte. Per Telefon zugeschaltet war ein Berufungsspezialist aus Austin, den die Texas Capital Defender Group eingeschaltet hatte, eine gemeinnützige Organisation, die rund ein Viertel aller Todeskandidaten in Texas betreute, sie durch die Instanzen begleitete und dabei viel Sachkenntnis und Engagement bewies.

Robbie ging die Agenda für die Woche durch. Aufgaben wurden definiert und verteilt, Zuständigkeiten geklärt. Er versuchte, Hoffnung und Optimismus auszustrahlen, als wäre immer noch ein Wunder möglich.

Und in der Tat bahnte sich rund sechshundert Kilometer weiter nördlich in Topeka im Bundesstaat Kansas so etwas wie ein Wunder an.

3

Ein paar Details ließen sich leicht überprüfen. Immerhin gehörte Dana der lutherischen Gemeinde St. Mark an, und so tat sie, was sie öfter tat, sie erkundigte sich nämlich telefonisch, wie es den geschätzten Kirchgängern ging. Nebenbei erfuhr sie im Gespräch mit einem Aufseher des Übergangshauses, dass Boyette tatsächlich seit drei Wochen dort wohnte. Sein Aufenthalt im Anchor House sei auf neunzig Tage befristet, und wenn alles gutgehe, sei er anschließend ein freier Mann, der sich natürlich an strenge Bewährungsauflagen zu halten habe. Die Einrichtung habe derzeit zweiundzwanzig ausschließlich männliche Bewohner und unterliege der Aufsicht der Gefängnisbehörde. Boyette müsse das Haus wie alle anderen auch jeden Morgen um acht Uhr verlassen und um achtzehn Uhr zum Abendessen zurück sein. Erwerbstätigkeit werde gefördert, und die Aufseher beschäftigten die Männer meist zusätzlich mit Aufräumarbeiten oder sonstigen Tätigkeiten im Haus. Boyette sitze vier Stunden pro Tag für sieben Dollar die Stunde im Keller eines Verwaltungsbaus und überwache Kontrollkameras. Er sei zuverlässig und anständig, spreche wenig und habe sich bislang nichts zuschulden kommen lassen. Im Allgemeinen benähmen sich die Männer sehr gut, da ein Regelverstoß oder ein dummer Zwischenfall sie wieder ins Gefängnis bringen würde. Sie könnten die Freiheit förmlich sehen, spüren und riechen und wollten sich nichts verbauen.

Über den Gehstock wusste der Aufseher wenig. Boyette sei schon damit angekommen. Allerdings gebe es in einem Haufen gelangweilter Krimineller wenig Privatsphäre und viel Tratsch, und so sei das Gerücht umgegangen, Boyette habe im Gefängnis Prügel bezogen. Alle wüssten von seinem üblen Strafregister und ließen ihn lieber in Ruhe. Er sei ein komischer Kauz, halte sich abseits und schlafe allein in einem kleinen Zimmer hinter der Küche, während die anderen im Hauptraum untergebracht seien. »Aber wir haben hier alle Sorten«, fügte der Aufseher hinzu. »Vom Taschendieb bis zum Mörder. Wir halten uns mit Fragen zurück.«

Dana verbog die Wahrheit ein wenig – oder auch ein wenig mehr –, als sie in unbekümmertem Ton nach gesundheitlichen Problemen fragte. Boyette habe sie auf der Besucherkarte erwähnt, die er freundlicherweise ausgefüllt habe. Sie schickte ein schnelles Wunschgebet an den Allmächtigen, gefolgt von einer raschen Bitte um Vergebung, denn eine solche Karte existierte nicht. Angesichts dessen, was auf dem Spiel stand, war diese kleine, harmlose Lüge aber zu vernachlässigen, fand sie. Nun, erwiderte der Aufseher, sie hätten ihn ins Krankenhaus gebracht, weil er in einem fort über Kopfschmerzen geklagt habe. Diese Typen seien ganz scharf auf medizinische Behandlungen. Im St. Francis habe man jede Menge Tests gemacht, mehr wusste der Aufseher nicht. Boyette nehme ein paar Medikamente, aber das sei seine Angelegenheit. Seine Gesundheit ginge nur ihn etwas an.

Dana bedankte sich und erinnerte ihn daran, dass St. Mark für alle offen stehe, auch für die Männer vom Anchor House.

Anschließend rief sie Dr. Herzlich an, der Spezialist für Thoraxchirurgie im St. Francis Hospital und langjähriges Mitglied der Gemeinde war. Sie hatte nicht die Absicht, ihn über den Gesundheitszustand von Travis Boyette auszufragen. Es stand ihr nicht zu, so neugierig zu sein, und es würde ohnehin zu nichts führen. Ihr Mann sollte in der Abgeschlossenheit seines Büros mit dem Arzt sprechen, da würden sie in gedämpftem, professionellem Ton gewiss eine gemeinsame Basis finden. Sie hinterließ auf dem Anrufbeantworter die Bitte, Dr. Herzlich möge zurückrufen.

Während sie am Telefon saß, vertiefte sich Keith am Computer in den Fall Donté Drumm. Die Website war umfangreich. Hier klicken für eine Faktenübersicht, zehn Seiten. Hier klicken für ein vollständiges Verfahrensprotokoll, tausendachthundertdreißig Seiten. Weiter unten klicken für Berufungsschriftsätze mit Beweisstücken und eidesstattlichen Erklärungen, rund tausendsechshundert Seiten. Die Chronik des Falls nahm dreihundertvierzig Seiten in Anspruch und enthielt sämtliche Entscheidungen aller Instanzen. Es gab eine Seite mit Informationen über die Todesstrafe in Texas, eine mit Dontés Fotogalerie, eine über Donté im Todestrakt, eine für den Donté-Drumm-Verteidigungsfonds, eine für Spendenaufrufe, eine mit Berichterstattungen und Leitartikeln, eine mit Fehlurteilen und Falschaussagen und eine für Rechtsanwalt Robbie Flak.

Keith begann mit der Chronik des Falls:

Die texanische Stadt Slone mit ihren vierzigtausend Einwohnern hat Donté Drumm einst frenetisch bejubelt, als er als furchtloser Linebacker über das Footballfeld stürmte. Jetzt wartet sie ungeduldig auf seine Hinrichtung.

Donté Drumm wurde 1980 im texanischen Marshall geboren, als drittes Kind von Roberta und Riley Drumm. Ein viertes Kind kam vier Jahre später, kurz nachdem die Familie nach Slone gezogen war, wo Riley eine Stelle bei einer Abwasserfirma fand. Die Drumms traten der Bethel-African-Methodist-Kirche bei, in der sie heute noch aktiv sind. Donté wurde dort im Alter von acht Jahren getauft. Er besuchte die staatliche Schule in Slone und wurde mit zwölf für den Sport entdeckt. Dank seines Körperbaus und seiner außergewöhnlichen Schnelligkeit wurde Donté bald als Nachwuchstalent auf dem Footballfeld gehandelt. Mit vierzehn, in seinem ersten Jahr auf der Slone High School, fing er als Linebacker im Schulteam an. Im zweiten und dritten Jahr wurde er in das Auswahlteam für die Schulmeisterschaft berufen. Im letzten Jahr hatte er bereits mündlich zugesagt, für das North Texas State College zu spielen, als gleich zu Beginn des ersten Spiels der Saison eine schwere Knöchelverletzung seine Karriere vorzeitig beendete. Die Operation verlief erfolgreich, doch es war zu spät, die Zusage für das Stipendium war bereits zurückgenommen worden. Aufgrund seiner Inhaftierung konnte Donté die Highschool nicht abschließen. Sein Vater Riley starb 2002 an einer Herzerkrankung, während Donté in der Todeszelle saß.

Mit fünfzehn Jahren wurde Donté wegen Körperverletzung angeklagt. Angeblich hatte er zusammen mit zwei schwarzen Freunden einen weiteren schwarzen Jugendlichen hinter der Sporthalle der Highschool verprügelt. Der Fall ging vor das Jugendgericht. Donté wurde für schuldig befunden und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Mit sechzehn wurde er wegen Marihuana-Besitzes festgenommen. Zu der Zeit war er im Team für die Schulmeisterschaft und in der ganzen Stadt bekannt. Das Verfahren wurde später eingestellt.

Donté war achtzehn, als er 1998 wegen Entführung, Vergewaltigung und Mordes an Nicole Yarber verhaftet wurde. Drumm undYarber gehörten zur gleichen Jahrgangsstufe der Slone High School. Sie waren Schulkameraden und kannten sich seit ihrer frühen Kindheit, wobei Nicole – oder »Nikki«, wie sie von vielen genannt wurde – in der Vorstadt aufgewachsen war, während Donté in Hazel Park lebte, einem älterenViertel, das von der schwarzen Mittelschicht bevorzugt wird. Slone ist zu einem Drittel schwarz, die Schulen sind gemischt, aber Stadtviertel, Kirchen und Vereine sind es nicht.

Nicole Yarber wurde 1981 in Slone geboren, als erstes und einziges Kind von Reeva und Cliff Yarber, die sich scheiden ließen, als sie zwei Jahre alt war. Reeva heiratete erneut, und Nicole wuchs bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater Wallis Pike auf. Mr. und Mrs. Pike bekamen zwei weitere Kinder. Abgesehen von der Scheidung ihrer Eltern verlief Nicoles Kindheit normal und unauffällig. Sie besuchte bis zur achten Klasse eine staatliche Schule und fing 1995 an der Slone High School an. (Slone hat nur eine Highschool. Abgesehen von kirchlichen Erzieherschulen gibt es auch keine Privatschulen.) Nicole war eine gute Schülerin, die ihre Lehrer jedoch mit mangelhafter Motivation verärgerte. Mehreren Aussagen zufolge hätte sie eine Einser-Schülerin sein können. Sie war allseits beliebt, sehr gesellig, und es gab keinerlei Konflikte mit dem Gesetz oder Hinweise auf Verhaltensauffälligkeiten. Sie war aktives Mitglied der First-Baptist-Kirche von Slone und mochte Yoga, Wasserskifahren und Country-Music. Sie bewarb sich für zwei Colleges: das Baylor College in Waco und das Trinity College in San Antonio, Texas.

Nach der Scheidung war ihr Vater, Cliff Yarber, nach Dallas gezogen, wo er mit Einkaufsgalerien ein Vermögen machte. Offenbar versuchte er, seine fehlende Präsenz mit teuren Geschenken zu kompensieren. Zum sechzehnten Geburtstag bekam Nicole einen signalroten BMW Roadster, zweifellos das schönste Auto auf dem Parkplatz der Slone High School. Die Geschenke waren ein ständiges Streitthema zwischen den geschiedenen Eltern. Wallis Pike, der Stiefvater, führte eine Tier- und Futtermittelhandlung und hatte ein anständiges Auskommen, doch mit Cliff Yarber konnte er nicht mithalten.

Etwa ein Jahr vor ihrem Verschwinden begann Nicole, sich mit einem Klassenkameraden namens Joey Gamble zu treffen, einem der beliebtesten Jungen der Schule. In der zehnten und elften Klasse wurden Nicole und Joey sogar zu den beliebtesten Schülern gewählt und ließen sich zusammen für das Jahrbuch ablichten. Joey war einer der drei Kapitäne des Footballteams. Später spielte er kurzzeitig für ein Junior College. Er sollte ein wichtiger Zeuge im Prozess gegen Donté Drumm werden.

Seit Nicole Yarbers Verschwinden und im Verlauf des nachfolgenden Prozesses wurde viel über ihre Beziehung zu Donté Drumm spekuliert, es gab jedoch keinerlei eindeutige, überprüfbare Aussagen. Donté hat stets betont, dass sie sich nur flüchtig gekannt hätten, so wie man sich kennt, wenn man in derselben Stadt aufgewachsen ist und demselben Jahrgang wie über fünfhundert andere angehört. Im Prozess bestritt er unter Eid, jemals sexuellen Kontakt mit Nicole gehabt zu haben. Ihre Freundinnen glaubten das allerdings. Skeptiker geben zu bedenken, dass Donté schlecht beraten gewesen wäre, wenn er eine intime Beziehung mit einer jungen Frau zugegeben hätte, die er umgebracht haben soll. Einige seiner Freunde sollen behauptet haben, die beiden hätten kurz vor ihrem Verschwinden eine Beziehung angefangen. Ein Großteil der Spekulationen dreht sich um Joey Gamble. Gamble hat im Prozess ausgesagt, dass er einen grünen Ford-Van beobachtet habe, der »verdächtig« langsam über den Parkplatz gerollt sei, auf dem Nicoles BMW zu der Zeit ihres Verschwindens stand. Donté Drumm fuhr diesen Van, der seinen Eltern gehörte, häufig. Gambles Aussage wurde vor Gericht stark hinterfragt, und Zweifel an ihrer Beweiskraft sind berechtigt. Es wäre durchaus möglich, dass Gamble von Nicoles Affäre mit Donté gewusst und aus lauter Wut der Polizei geholfen hat, deren Geschichte um Donté Drumm zu konstruieren.

Drei Jahre nach dem Prozess ließen die Verteidiger eine Stimmanalyse durchführen, die ergab, dass der anonyme Anrufer, der Detective Kerber Donté als Mörder genannt hatte, Joey Gamble war. Gamble streitet das vehement ab. Wenn es stimmt, hat Gamble maßgeblich dazu beigetragen, dass Donté Drumm verhaftet, angeklagt und verurteilt wurde.

Eine Stimme riss Keith aus der Vergangenheit. »Dr. Herzlich ist am Telefon«, sagte Dana über die Gegensprechanlage.

Keith bedankte sich und hielt einen Moment lang inne, um sich zu sammeln. Dann griff er zum Hörer. Er begann mit den üblichen einleitenden Scherzen, aber da er wusste, dass der Doktor ein vielbeschäftigter Mann war, kam er rasch zur Sache. »Dr. Herzlich, ich möchte Sie um einen kleinen Gefallen bitten, aber wenn es Ihnen zu heikel ist, sagen Sie es bitte. Wir hatten gestern beim Gottesdienst einen Gast, einen rechtskräftig verurteilten Kriminellen, der auf Bewährung freigelassen werden soll und gerade ein paar Monate in einem Übergangshaus verbringt. Ihm lastet irgendetwas schwer auf der Seele. Er kam heute Morgen zu mir ins Büro, genau genommen ist er gerade eben erst gegangen. Er behauptete, ernsthafte gesundheitliche Probleme zu haben. Er wurde im St. Francis untersucht.«

»Und welchen Gefallen soll ich Ihnen tun?«, fragte Dr. Herzlich und klang, als blickte er gleichzeitig auf seine Armbanduhr.

»Wenn Sie in Eile sind, können wir uns später unterhalten.«

»Nein, fahren Sie fort.«

»Er behauptet, es sei ein bösartiger Gehirntumor bei ihm diagnostiziert worden, ein Glioblastom. Er sei bald tot, sagte er. Meinen Sie, Sie könnten etwas darüber herausfinden? Verstehen Sie mich richtig, ich bitte Sie nicht um vertrauliche Auskünfte. Ich weiß, dass er nicht Ihr Patient ist, und ich möchte nicht, dass irgendjemand Regeln verletzt. Auf keinen Fall. Sie kennen mich.«

»Warum misstrauen Sie ihm? Warum sollte jemand behaupten, einen Gehirntumor zu haben, wenn er keinen hat?«

»Er ist ein Berufsverbrecher. Er hat sein halbes Leben hinter Gittern verbracht. Wahrscheinlich hat er mit der Wahrheit so seine Probleme. Außerdem will ich gar nicht sagen, dass ich ihm misstraue. Er hatte zwei schwere Kopfschmerzattacken in meinem Büro, es war schlimm anzusehen. Ich möchte nur bestätigt wissen, was er gesagt hat. Das ist alles.«

Pause. Offenbar sah sich der Doktor um, ob ihn jemand hören konnte. »Ich kann da nicht allzu sehr herumschnüffeln, Keith. Haben Sie irgendeine Ahnung, wer der behandelnde Arzt ist?«

»Nein.«

»Okay. Nennen Sie mir seinen Namen.«

»Travis Boyette.«

»Alles klar. Geben Sie mir ein paar Stunden Zeit.«

»Danke, Doktor.«

Keith hängte ein und kehrte nach Texas zurück.

Nicole verschwand am Abend des 4. Dezember 1998, eines Freitags. Sie war mit Freundinnen im Kino des einzigen Einkaufszentrums von Slone gewesen. Nach dem Film aßen die Mädchen – sie waren zu viert – Pizza in einem Restaurant, das sich ebenfalls in dem Einkaufszentrum befindet. Beim Betreten des Restaurants sprachen die Mädchen kurz mit zwei jungen Männern, von denen einer Joey Gamble war. Über der Pizza beschlossen die Mädchen, zu Ashley Verica zu fahren und noch ein wenig fernzusehen. Beim Verlassen des Restaurants entschuldigte sich Nicole kurz, um zur Toilette zu gehen. Das war der Moment, in dem die drei Freundinnen sie zum letzten Mal sahen. Sie rief ihre Mutter an und versprach, dass sie wie sonst auch um Mitternacht zu Hause sein würde. Dann verschwand sie. Eine Stunde später begannen ihre besorgten Freundinnen herumzutelefonieren. Zwei Stunden später wurde ihr roter BMW auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums gefunden, wo sie ihn abgestellt hatte. Verschlossen. Es gab keine Hinweise auf einen Kampf, nichts Verdächtiges, keine Spur von Nicole. Ihre Familie und Freunde gerieten in Panik, und die Suche begann.

Die Polizei ging sofort von einem Verbrechen aus und setzte alle Hebel in Bewegung, um Nicole zu finden. Tausende beteiligten sich freiwillig an der Suche, und in den folgenden Tagen und Wochen erlebten die Stadt und ihr Umland eine noch nie dagewesene Suchaktion. Vergeblich. Die Bilder der Überwachungskameras im Einkaufszentrum waren unbrauchbar, weil sie entweder unscharf oder aus zu großer Entfernung aufgenommen waren. Niemand hatte gesehen, wie Nicole das Einkaufszentrum verließ und zu ihrem Auto ging. Cliff Yarber setzte eine Belohnung von hunderttausend Dollar für Hinweise aus. Als sich niemand meldete, erhöhte er die Summe auf zweihundertfünfzigtausend Dollar.

ENDE DER LESEPROBE