Das Urteil - John Grisham - E-Book
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Das Urteil E-Book

John Grisham

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Beschreibung

«Der vielleicht spannendste Schmöker aller Zeiten.» Focus

In Biloxi, einer verschlafenen Kleinstadt an der Golfküste von Mississippi, findet ein Prozess satt, der weltweit Aufsehen erregt. Da die Geschworenen unter großem Druck stehen, sieht sich der Richter genötigt, die Jury von der Außenwelt abzuschotten: Er sperrt sie unter strikter Bewachung in ein Motel. Dennoch mehren sich die Anzeichen, dass die Jury von außen kontrolliert wird, denn im Hintergrund lauern handfeste Interessen: Für einen mächtigen Konzern geht es um Milliarden ...

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Das Buch

Biloxi ist eine verschlafene Kleinstadt an der Golfküste des Bundesstaats Mississippi; doch durch einen aufsehenerregenden Prozeß rückt es in den Mittelpunkt bundesweiten, wenn nicht sogar weltweiten Interesses. Die Frau eines an Lungenkrebs verstorbenen Rauchers hat den Zigarettenfabrikanten Pynex auf Schadensersatz verklagt. Besonders lebhaftes Interesse am Verlauf des Prozesses hat verständlicherweise die Tabakindustrie, für die es um viele Millionen Dollar geht; denn der Ausgang dieser Klage kann die Börsensituation der betroffenen Firmen wesentlich beeinflussen, außerdem wird eine Welle vergleichbarer Klagen auf die Tabakindustrie zukommen. Obwohl die Auswahl der Jury mit Zustimmung der Klägerin und der Beklagten erfolgt ist, eine normale Verfahrensweise bei Geschworenenprozessen, kehrt schon bald große Unruhe unter den Geschworenen ein. Einige Jurymitglieder fühlen sich nach den Verhandlungen verfolgt. Der Richter ordnet an, daß alle Angehörigen der Jury unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in einem Motel untergebracht werden. Doch weiterhin legen die Jury-Mitglieder ein merkwürdiges Verhalten an den Tag, und eine junge Frau kann sogar vorhersagen, was sich innerhalb der Jury jeweils zutragen wird. Sind Manipulationen im Gange? Und wenn ja, wer manipuliert und zu welchem Zweck? Erst das Urteil kann Klarheit darüber bringen.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDANKSAGUNGEN1. KAPITEL2. KAPITEL3. KAPITEL4. KAPITEL5. KAPITEL6. KAPITEL7. KAPITEL8. KAPITEL9. KAPITEL10. KAPITEL11. KAPITEL12. KAPITEL13. KAPITEL14. KAPITEL15. KAPITEL16. KAPITEL17. KAPITEL18. KAPITEL19. KAPITEL20. KAPITEL21. KAPITEL22. KAPITEL23. KAPITEL24. KAPITEL25. KAPITEL26. KAPITEL27. KAPITEL28. KAPITEL29. KAPITEL30. KAPITEL31. KAPITEL32. KAPITEL33. KAPITEL34. KAPITEL35. KAPITEL36. KAPITEL37. KAPITEL38. KAPITEL39. KAPITEL40. KAPITEL41. KAPITEL42. KAPITEL43. KAPITELWerkverzeichnis der im Heyne Verlag erschienenen Titel von John GrishamDer AutorDie RomaneCopyright

Tim Hargrove (1953–1995) zum Gedächtnis

DANKSAGUNGEN

Wieder einmal stehe ich in der Schuld meines Freundes Will Denton, jetzt in Biloxi, Mississippi, für einen Großteil der Recherchen und viele von den Stories, die diesem Buch zugrunde liegen, und seiner reizenden Frau Lucy für die Gastfreundschaft, die sie mir während meines Aufenthalts an der Küste gewährte.

Mein Dank gilt auch Glenn Hunt in Oxford, Mark Lee in Little Rock, Robert Warren in Bogue Chitto und Estelle, die mehr Fehler entdeckt hat, als mir lieb sein konnte.

1. KAPITEL

Das Gesicht von Nicholas Easter war durch ein mit schlanken, schnurlosen Telefonen gefülltes Schauregal halbwegs verdeckt, und er schaute nicht direkt in die versteckte Kamera, sondern eher nach links, vielleicht zu einem Kunden oder vielleicht auch zu einem Tisch, an dem eine Gruppe von Jugendlichen bei den neuesten Computerspielen aus Asien herumlungerte. Obwohl aus einer Entfernung von vierzig Metern von einem Mann aufgenommen, der ziemlich starkem Fußgängerverkehr im Einkaufszentrum ausweichen mußte, war das Foto klar und zeigte ein nettes Gesicht, glattrasiert, mit kraftvollen Zügen und jungenhaft gutaussehend. Easter war siebenundzwanzig, soviel wußten sie bestimmt. Keine Brille. Kein Nasenring oder irrer Haarschnitt. Keinerlei Hinweis darauf, daß er einer der üblichen Computerfreaks war, die für einen Fünfer die Stunde in dem Laden arbeiteten. In seinem Fragebogen stand, daß er seit vier Monaten dort war, und außerdem stand darin, er sei Teilzeitstudent, aber sie hatten an keinem einzigen College im Umkreis von dreihundert Meilen irgendwelche Immatrikulations-Unterlagen gefunden. In diesem Punkt hatte er gelogen, da waren sie ganz sicher.

Er mußte gelogen haben. Ihre Recherchiermethoden waren zu perfekt. Wenn der Junge Student wäre, dann wüßten sie auch wo, seit wann, welches Studienfach, wie gut seine Noten waren oder wie schlecht. Sie wüßten es. Er war Verkäufer in einem Computerladen in einem Einkaufszentrum. Nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht hatte er vor, sich irgendwo immatrikulieren zu lassen. Vielleicht hatte er sein Studium auch abgebrochen und bezeichnete sich trotzdem noch gern als Teilzeitstudent. Möglicherweise fühlte er sich damit besser, so als hätte er ein Ziel vor Augen, oder es hörte sich einfach gut an.

Auf jeden Fall war er kein Student, weder jetzt noch irgendwann in der jüngsten Vergangenheit gewesen. Also, konnte man ihm trauen? Zweimal war diese Frage bereits hier im Zimmer durchdiskutiert worden, jedesmal, wenn sie auf der Liste auf seinen Namen stießen und sein Gesicht auf der Leinwand erschien. Sie waren so gut wie entschlossen, das Ganze als harmlose Lüge zu betrachten.

Er rauchte nicht. Im Laden herrschte striktes Rauchverbot. Aber er war gesehen (nicht fotografiert) worden, wie er im Food Garden ein Taco aß, zusammen mit einer Kollegin, die zu ihrer Limonade zwei Zigaretten rauchte. Der Rauch schien Easter nicht zu stören. Zumindest war er kein fanatischer Antiraucher.

Das Gesicht auf dem Foto war schlank und braungebrannt und lächelte leicht mit geschlossenen Lippen. Das weiße Hemd unter dem roten Ladenjackett hatte einen nicht angeknöpften Kragen, und er trug eine geschmackvoll gestreifte Krawatte. Er wirkte nett, gut in Form, und der Mann, der das Foto gemacht hatte, hatte sogar mit Nicholas gesprochen, angeblich auf der Suche nach irgendeinem veralteten Ersatzteil, und meinte, er sei redegewandt, hilfsbereit, kenntnisreich, ein netter junger Mann. Sein Namensschild wies Easter als Co-Manager aus, aber es gab in dem Laden noch zwei weitere Verkäufer mit demselben Titel.

Einen Tag, nachdem das Foto aufgenommen worden war, betrat eine attraktive junge Frau in Jeans den Laden und zündete sich, während sie sich die Software anschaute, eine Zigarette an. Zufällig war Nicholas Easter der ihr am nächsten stehende Verkäufer oder Co-Manager oder was immer er war, und er trat höflich auf die Frau zu und bat sie, ihre Zigarette auszumachen. Sie gab sich verärgert, ja beleidigt, und versuchte ihn zu provozieren. Er blieb dennoch zuvorkommend und erklärte ihr nur, daß in dem Laden ein striktes Rauchverbot herrsche. Es stünde ihr frei, woanders zu rauchen. »Stört es Sie, wenn geraucht wird?« hatte sie gefragt und einen Zug getan. »Eigentlich nicht«, hatte er erwidert. »Aber es stört den Mann, dem dieser Laden hier gehört.« Dann hatte er sie abermals gebeten, ihre Zigarette auszumachen. Im Grunde sei sie ja auch wegen eines neuen Digitalradios da, erklärte sie ihm, also, wäre es wohl möglich, daß er ihr einen Aschenbecher besorgte? Nicholas holte eine leere Coladose unter dem Tresen hervor, nahm ihr die Zigarette ab und drückte sie aus. Sie unterhielten sich zwanzig Minuten über Radios, während sie sich bemühte, ihre Wahl zu treffen. Sie flirtete schamlos, und er nützte die Chance. Nachdem sie das Radio bezahlt hatte, gab sie ihm ihre Telefonnummer. Er versprach, sie anzurufen.

Die Episode dauerte vierundzwanzig Minuten und wurde von einem kleinen, in ihrer Handtasche versteckten Recorder aufgezeichnet. Das Band war beide Male abgespielt worden, während die Anwälte und ihre Experten sein auf die Leinwand projiziertes Gesicht studierten. Ihr schriftlicher Bericht über das Zusammentreffen lag in der Akte, sechs maschinegeschriebene Seiten mit ihren Beobachtungen über alles, von seinen Schuhen (alte Nikes), über seinen Atem (Zimt-Kaugummi) und sein Vokabular (College-Niveau) bis hin zu der Art, wie er mit der Zigarette umging. Ihrer Ansicht nach, und sie hatte Erfahrung in solchen Dingen, hatte er nie geraucht.

Sie lauschten seiner angenehmen Stimme mit dem professionellen Verkäufertonfall und seinem netten Geplauder, und sie mochten ihn. Er war intelligent und kein absoluter Tabakhasser, nicht gerade ihr Modell-Geschworener, aber eindeutig jemand, den man im Auge behalten mußte. Das Problem mit Easter, Anwärter auf das Amt eines Geschworenen Nummer sechsundfünfzig, war, daß sie so wenig über ihn wußten. Wie es schien, war er vor weniger als einem Jahr an der Golfküste gelandet, und sie hatten keine Ahnung, wo er herkam. Seine Vergangenheit lag vollkommen im dunkeln. Er hatte acht Blocks vom Gerichtsgebäude von Biloxi entfernt eine kleine Wohnung gemietet – sie hatten Fotos von dem Mietshaus – und zuerst als Kellner in einem der Kasinos am Strand gearbeitet. Dann war er schnell zum Geber am Black Jack-Tisch aufgestiegen, hatte aber nach zwei Monaten gekündigt.

Kurz nachdem Mississippi das Glücksspiel legalisiert hatte, waren über Nacht an der Küste ein Dutzend Kasinos aus dem Boden geschossen und hatten einen heftigen Konjunkturaufschwung ausgelöst. Jobsucher kamen aus allen Richtungen, und so konnte man mit einiger Gewißheit annehmen, daß Nicholas Easter aus denselben Gründen nach Biloxi gekommen war wie zehntausend andere Leute auch. Das einzig Merkwürdige daran war, daß er sich so schnell in die Wählerliste hatte eintragen lassen.

Er fuhr einen VW-Käfer von 1969; ein Foto davon wurde auf die Leinwand projiziert und nahm den Platz seines Gesichts ein. Na großartig. Er war siebenundzwanzig, ledig, angeblicher Teilzeitstudent – der perfekte Typ für so einen Wagen. Keine Aufkleber. Nichts, was auf politische Neigungen oder seine soziale Einstellung oder auch nur eine Lieblings-Baseballmannschaft hindeutete. Kein Parkausweis von einem College. Nicht einmal eine verblichene Händlerreklame. Der Wagen sagte ihnen gar nichts, außer daß sich sein Eigentümer am Rande der Mittellosigkeit befand.

Der Mann, der den Projektor bediente und den größten Teil des Redens besorgte, war Carl Nussman, ein Anwalt aus Chicago, der nicht mehr in seinem ursprünglichen Beruf tätig war, sondern statt dessen seine eigene Juryberater-Firma leitete. Für ein kleines Vermögen konnten Carl Nussman und seine Leute jedem die richtige Jury zusammenstellen. Sie sammelten Material, machten Fotos, zeichneten Stimmen auf, ließen genau im richtigen Moment Blondinen in engen Jeans aufmarschieren. Carl und seine Mitarbeiter umschifften sämtliche Klippen von Gesetz und Ethik, aber man konnte sie einfach nicht dafür drankriegen. Schließlich war nichts Illegales oder Unethisches am Fotografieren potentieller Geschworener. Sie hatten vor sechs Monaten, dann noch mal vor zwei Monaten und vor einem Monat wieder erschöpfende Telefonumfragen in Harrison County durchgeführt, um herauszufinden, wie man dort über das Thema Tabak dachte und danach Modelle der perfekten Geschworenen auszuarbeiten. Sie ließen kein Foto unaufgenommen, keine schmutzige Wäsche unberührt. Über jeden potentiellen Geschworenen hatten sie eine eigene Akte.

Carl drückte auf einen Knopf, und an die Stelle des VW trat ein nichtssagendes Foto von einem Mietshaus mit abblätternder Farbe, das Heim, irgendwo drinnen, von Nicholas Easter. Dann ein Klick, und wieder zurück zu seinem Gesicht.

»Also haben wir nur die drei Fotos von Nummer sechsundfünfzig«, sagte Carl mit einem Anflug von Frustration, während er sich umdrehte und den Fotografen anfunkelte, einen seiner zahllosen Privatschnüffler, der erklärt hatte, er könnte den Jungen einfach nicht erwischen, ohne dabei selbst erwischt zu werden. Der Fotograf saß auf einem Stuhl an der hinteren Wand, mit dem Gesicht zu dem langen Tisch voller Anwälte, Anwaltsgehilfen und Jury-Experten. Er war ziemlich angeödet und hätte sich am liebsten verdrückt . Es war sieben Uhr am Freitagabend. Nummer sechsundfünfzig war auf der Leinwand, hundertvierzig standen noch bevor. Das Wochenende würde furchtbar werden. Er brauchte einen Drink.

Ein halbes Dutzend Anwälte in zerknitterten Hemden und mit aufgerollten Ärmeln kritzelte endlose Notizen und schaute gelegentlich auf das Gesicht von Nicholas Easter dort hinter Carl. Alle möglichen Jury-Experten – Psychiater, Soziologen, Schriftanalytiker, Juraprofessoren und so weiter  – hantierten mit Papieren und blätterten in daumendikken Computerausdrucken. Sie waren nicht sicher, was sie mit Easter anfangen sollten. Er war ein Lügner, und er verbarg seine Vergangenheit, aber auf dem Papier und auf der Leinwand sah er trotzdem okay aus.

Vielleicht log er ja auch nicht. Vielleicht war er im vergangenen Jahr Student an irgendeinem billigen Junior College im Osten von Arizona gewesen, und vielleicht war ihnen das einfach entgangen.

Laßt es dem Jungen durchgehen, dachte der Fotograf, sprach es aber nicht aus. In diesem Zimmer voller hochgebildeter und hochbezahlter Anzugträger war er der letzte, dessen Ansicht zählte. Es war nicht sein Job, auch nur ein einziges Wort zu sagen.

Carl räusperte sich, warf noch einen Blick auf den Fotografen, dann sagte er: »Nummer siebenundfünfzig.« Das verschwitzte Gesicht einer jungen Mutter erschien auf der Leinwand, und mindestens zwei Leute im Zimmer brachten ein Kichern zustande. »Traci Wilkes«, sagte Carl, als wäre Traci eine alte Freundin. Rings um den Tisch herum wurden Papiere umgeschichtet.

»Alter dreiunddreißig, verheiratet, Mutter von zwei Kindern, Arztfrau, Mitglied in zwei Country Clubs, zwei Fitneßclubs , einer ganzen Latte von Vereinen.« Carl rasselte diese Informationen aus dem Gedächtnis herunter, während er seinen Projektor bediente. An die Stelle von Tracis rotem Gesicht trat ein Schnappschuß, auf dem sie einen Gehsteig entlangjoggte, schweißglänzend in einem rosa und schwarzen Spandexanzug und fleckenlosen Reeboks und mit einer weißen Sonnenblende über dem Neuesten an reflektierenden Sportsonnenbrillen, das lange Haar zu einem hübschen, perfekten Pferdeschwanz zusammengerafft. Sie schob eine Joggingkarre mit einem Baby darin. Traci lebte für Schweiß. Sie war braungebrannt und fit, aber nicht so dünn, wie zu erwarten gewesen wäre. Sie hatte ein paar schlechte Angewohnheiten. Ein weiterer Schnappschuß von Traci in ihrem schwarzen Mercedes-Kombi mit Kindern und Hunden an jedem Fenster. Ein weiterer von Traci beim Einladen von Tüten voller Lebensmittel in denselben Wagen, Traci mit anderen Laufschuhen und knappen Shorts und dem präzisen Erscheinungsbild von jemandem, der es ständig darauf anlegt, athletisch zu wirken. Sie war leicht zu beschatten gewesen, weil sie immer bis an die Grenze der Erschöpfung beschäftigt war und nie lange genug innehielt, um sich umzusehen.

Carl zeigte die Aufnahmen vom Haus der Wilkes, eine große Vorstadtvilla, die überall den Stempel Arzt trug. Er vergeudete nur wenig Zeit mit ihnen und sparte sich das Beste bis zuletzt auf. Traci erschien, wieder einmal schweißgebadet. Ihr Designer-Fahrrad lag nahebei im Gras, und sie saß unter einem Baum im Park, weit weg von allen anderen Leuten, halb versteckt – und rauchte eine Zigarette!

Der Fotograf grinste verlegen. Es war sein bestes Stück Arbeit, dieser Schnappschuß aus hundert Meter Entfernung: eine Arztfrau, die heimlich eine Zigarette rauchte. Er hatte keine Ahnung gehabt, daß sie rauchte, sondern hatte gerade selbst zufällig in der Nähe einer Fußgängerbrücke in aller Ruhe eine Zigarette geraucht, als sie vorbeisauste. Er hielt sich ungefähr eine halbe Stunde in dem Park auf, bis er sah, wie sie anhielt und in die Satteltasche ihres Fahrrads griff.

Die Atmosphäre im Zimmer war einen flüchtigen Augenblick lang etwas entspannter, während sie Traci unter dem Baum betrachteten. Dann sagte Carl: »Es versteht sich wohl von selbst, daß wir Nummer siebenundfünfzig nehmen werden.« Er machte sich eine Notiz auf einem Blatt Papier, dann trank er einen Schluck Kaffee aus einem Pappbecher. Natürlich würde er Traci Wilkes nehmen! Wer hätte nicht gern eine Arztfrau in der Jury, wenn die Anwälte der Klägerin Millionen verlangten? Carl wollte nichts als Arztfrauen, aber er würde sie nicht bekommen. Die Tatsache, daß sie Zigaretten rauchte, war lediglich ein kleiner Bonus.

Nummer achtundfünfzig war ein Werftarbeiter bei Ingalls in Pascagoula – fünfzig Jahre alt, weiß, geschieden, Gewerkschaftsfunktionär . Carl projizierte ein Foto seines Ford Pick-ups auf die Leinwand und war gerade im Begriff, seine Lebensumstände zusammenzufassen, als die Tür aufging und Mr. Rankin Fitch das Zimmer betrat. Carl brach ab. Die Anwälte richteten sich auf ihren Sitzgelegenheiten auf und waren auf der Stelle völlig hingerissen von dem Ford. Sie machten sich eifrig Notizen auf ihren Blocks, als ob sie womöglich nie wieder einen solchen Wagen zu sehen bekommen würden. Auch die Jury-Berater brachen in hektische Betriebsamkeit aus und machten sich gleichfalls angestrengt Notizen. Allesamt vermieden es tunlichst, den Mann anzusehen.

Fitch war wieder da. Fitch hatte den Raum betreten.

Er machte langsam die Tür hinter sich zu, tat ein paar Schritte auf den Tisch zu und funkelte einmal in die Runde. Es war schon fast eher ein bösartiges Fauchen. Das schwammige Fleisch um seine dunklen Augen herum verkniff sich. Die tiefen Querfalten auf seiner Stirn zogen sich zusammen. Seine massige Brust hob und senkte sich langsam, und ein oder zwei Sekunden lang war Fitch der einzige Mensch, der atmete. Seine Lippen öffneten sich zum Essen und Trinken, gelegentlich zum Reden, aber nie zu einem Lächeln.

Fitch war wütend, wie gewöhnlich; das war nichts Neues. Der Mann schlief sogar in einem Zustand der Feindseligkeit. Aber würde er fluchen und Drohungen ausstoßen, vielleicht sogar mit Gegenständen werfen, oder lediglich unter der Oberfläche brodeln? Bei Fitch wußte man das nie. Er blieb an der Tischkante zwischen zwei jungen Anwälten stehen, die Juniorpartner waren und erfreuliche sechsstellige Gehälter bezogen, Angehörige der Kanzlei, die in diesem Zimmer, in diesem Gebäude ansässig war. Fitch dagegen war ein Fremder aus Washington, ein Eindringling, der jetzt seit bereits einem Monat auf ihren Korridoren knurrte und bellte. Die beiden jungen Anwälte wagten nicht, zu ihm aufzuschauen.

»Welche Nummer?« fragte Fitch Carl.

»Achtundfünfzig«, sagte Carl schnell, bestrebt, einen guten Eindruck zu machen.

»Gehen Sie zurück zu sechsundfünfzig«, befahl Fitch, und Carl klickte rasch, bis das Gesicht von Nicholas Easter abermals auf der Leinwand erschien. Rings um den Tisch herum raschelten Papiere.

»Was wissen Sie?« fragte Fitch.

»Genauso viel wie vorher«, sagte Carl, den Blick abwendend.

»Fantastisch. Wie viele von den hundertneunundsechzig sind immer noch unklar?«

»Acht.«

Fitch schnaubte und schüttelte langsam den Kopf, und alle warteten auf einen Ausbruch. Statt dessen strich er langsam über seinen sorgfältig gestutzten, schwarzgrauen Spitzbart, sah Carl an, ließ den Ernst des Augenblicks einsickern und sagte dann: »Sie werden bis Mitternacht arbeiten und morgen früh um sieben wieder hier sein. Auch am Sonntag.« Nach diesen Worten schwenkte er seinen dicklichen Körper herum und verließ das Zimmer.

Die Tür schlug zu. Die Luft wurde erheblich leichter, und dann sahen alle, die Anwälte, die Jury-Berater, Carl und jedermann sonst gleichzeitig auf die Uhr. Ihnen war gerade befohlen worden, neununddreißig der nächsten dreiundfünfzig Stunden in diesem Zimmer zu verbringen und Fotoprojektionen zu betrachten, die sie allesamt bereits gesehen hatten, und sich die Namen, Geburtsdaten und Lebensumstände von fast zweihundert Leuten ins Gedächtnis zu prägen.

Und niemand im Raum hegte auch nur den geringsten Zweifel, daß sie genau das tun würden, was ihnen befohlen worden war. Aber auch nicht den allergeringsten.

Fitch ging über die Treppe ins Erdgeschoß des Gebäudes, wo sein Fahrer auf ihn wartete, ein großer Mann namens José. José trug einen schwarzen Anzug, schwarze Cowboystiefel und eine schwarze Sonnenbrille, die er nur abnahm, wenn er duschte oder schlief. Fitch öffnete eine Tür, ohne anzuklopfen, und unterbrach eine Konferenz, die bereits seit Stunden andauerte. Vier Anwälte und ihre diversen Mitarbeiter schauten sich die auf Video aufgenommenen Anhörungen der ersten Zeugen der Anklage an. Das Band kam nur Sekunden nach Fitchs Hereinplatzen zum Stillstand. Er wechselte ein paar Worte mit einem der Anwälte, dann verließ er das Zimmer. José folgte ihm durch eine kleine Bibliothek auf einen anderen Korridor, wo er eine weitere Tür aufriß und eine weitere Schar Anwälte erschreckte.

Mit achtzig Anwälten war die Kanzlei Whitney & Cable & White die größte an der Golfküste. Die Kanzlei war von Fitch selbst ausgewählt worden, und seine Wahl bedeutete, daß sie Millionen an Honoraren kassieren würde. Aber um dieses Geld zu verdienen, mußte die Kanzlei die Tyrannei und die Rücksichtslosigkeit von Rankin Fitch ertragen.

Als er sicher sein konnte, daß sich jedermann seiner Anwesenheit bewußt war und in Angst und Schrecken schwebte, verließ Fitch das Gebäude. Er stand in der warmen Oktoberluft auf dem Gehsteig und wartete auf José. Drei Blocks entfernt, in der oberen Hälfte eines alten Bankgebäudes , sah er eine hell erleuchtete Bürosuite. Der Feind war noch an der Arbeit. Da oben hatten sich die Anwälte der Klägerin versammelt, zusammengedrängt in verschiedenen Räumen, saßen mit Experten zusammen, betrachteten grobkörnige Fotos und taten so ziemlich dasselbe wie seine Leute. Der Prozeß begann am Montag mit der Auswahl der Geschworenen, und er wußte, daß auch sie über Namen und Gesichtern schwitzten und sich fragten, wer, zum Teufel, Nicholas Easter war und wo er herkam. Und Ramon Caro, Lucas Miller, Andrew Lamb, Barbara Furrow und Delores DeBoe? Wer waren diese Leute? Nur in einer hinterwäldlerischen Gegend wie Mississippi gab es derart veraltete Listen von potentiellen Geschworenen. Fitch hatte vor diesem hier die Verteidigung in acht Fällen dirigiert, in acht verschiedenen Staaten, in denen man Computer benutzte und die Unterlagen auf dem laufenden hielt, und wo man, wenn man von der Gerichtskanzlei die Liste der Geschworenen bekam, sich nicht erst fragen mußte, wer von ihnen tot war und wer nicht.

Er starrte leeren Blickes auf die fernen Lichter und fragte sich, wie die gierigen Haie das Geld aufteilen würden, wenn sie es schafften, den Prozeß zu gewinnen. Wie in aller Welt würden sie sich je über die Verteilung des blutigen Kadavers einigen können? Der Prozeß würde ein sanftes Scharmützel sein im Vergleich zu dem Schlachtfest, zu dem es kommen würde, wenn sie ihr Urteil bekamen und ihre Beute.

Er haßte sie, und er spuckte auf den Gehsteig. Er zündete sich eine Zigarette an und quetschte sie fest zwischen seine dicken Finger.

José fuhr an den Bordstein, in einem funkelnden, gemieteten Suburban mit dunklen Scheiben. Fitch ließ sich auf seinem gewohnten Platz auf dem Beifahrersitz nieder. Auch José schaute zu den Fenstern des Feindes hinauf, als sie vorbeifuhren, aber er sagte nichts, weil sein Boß Gerede nicht ausstehen konnte. Sie fuhren am Gerichtsgebäude von Biloxi vorbei und dann an einem halb aufgegebenen Billigladen, in dem Fitch und seine Mitarbeiter eine versteckte Suite von Büros unterhielten, mit frischem Sägemehl auf dem Boden und billigen, gemieteten Möbeln.

Am Strand bogen sie nach Westen auf den Highway 90 ab und quälten sich durch dichten Verkehr. Es war Freitagabend, und die Kasinos waren voll von Leuten, die ihr Haushaltsgeld verspielten, fest entschlossen, es morgen wieder zurückzugewinnen. Sie gelangten langsam aus Biloxi heraus und fuhren dann durch Gulfport, Long Beach und Pass Christian. Dann bogen sie von der Küste ab und passierten bald darauf eine Sicherheitskontrolle in der Nähe einer Lagune.

2. KAPITEL

Das Strandhaus war modern und weitläufig, ließ aber den Vorzug eines Strandes vermissen. Eine Pier aus weißgestrichenen Brettern erstreckte sich in das stille und von Pflanzen überwucherte Wasser der Bucht, doch der nächste Sandstrand war zwei Meilen entfernt. An der Pier war ein sechs Meter langes Fischerboot verankert. Das Haus war von einem Ölmann aus New Orleans gemietet worden – für drei Monate, Bargeld, keine Fragen. Zur Zeit wurde es von einigen sehr wichtigen Leuten als Refugium benutzt, als Versteck und als Schlafplatz.

Auf einer Terrasse hoch oberhalb des Wassers genossen vier Herren ihre Drinks und schafften es, sich über belanglose Dinge zu unterhalten, während sie auf einen Besucher warteten. Obwohl ihre Geschäfte normalerweise von ihnen verlangten, erbitterte Feinde zu sein, hatten sie an diesem Nachmittag gemeinsam achtzehn Löcher Golf gespielt und dann Shrimps und Austern vom Grill gegessen. Jetzt tranken sie und schauten in das schwarze Wasser hinunter. Sie haßten es, hier an der Golfküste zu sein, an einem Freitagabend, weit weg von ihren Familien.

Aber es ging ums Geschäft, wichtige Angelegenheiten, die einen Waffenstillstand erforderten und das Golfspiel fast erfreulich gemacht hatten. Jeder der vier war Generaldirektor eines großen Konzerns. Jeder dieser Konzerne gehörte zu der Liste der fünfhundert ertragreichsten Firmen in Fortune, ihre Aktien wurden an der New Yorker Börse gehandelt. Der kleinste hatte im Vorjahr einen Umsatz von sechshundert Millionen gehabt, der größte einen von vier Milliarden. Alle hatten Rekordprofite, hohe Dividenden, glückliche Aktionäre und Generaldirektoren, die Millionen für ihre Leistungen verdienten.

Jeder dieser Konzerne war ein Konglomerat verschiedener Unternehmen mit einer Vielzahl von Produkten, fetten Werbeetats und nichtssagenden Namen wie Trellco oder Smith Greer, Namen, die von der Tatsache ablenken sollten, daß sie im Grunde nichts anderes waren als Tabakfirmen. Die Geschichte von allen vieren, in Finanzkreisen allgemein die Großen Vier genannt, konnte ohne sonderliche Mühe bis zu den Tabakmaklern des neunzehnten Jahrhunderts in den Carolinas und in Virginia zurückverfolgt werden. Sie produzierten Zigaretten – zusammen achtundneunzig Prozent aller Zigaretten, die in den Vereinigten Staaten und Kanada verkauft wurden. Sie produzierten auch andere Dinge wie Brecheisen und Maisflocken und Haarfärbemittel, aber man brauchte nur bis dicht unter die Oberfläche zu graben, um festzustellen, daß der wirkliche Profit mit Zigaretten gemacht wurde. Es hatte Fusionen gegeben und Namensänderungen und eine Reihe von kosmetischen Bemühungen, um in der Öffentlichkeit besser dazustehen, aber die Großen Vier waren von Verbrauchergruppen, Ärzten und sogar Politikern gründlich isoliert und an den Pranger gestellt worden.

Und jetzt saßen ihnen die Anwälte im Genick. Die Hinterbliebenen von toten Leuten da draußen hatten sie verklagt und forderten riesige Geldbeträge, weil, wie sie behaupteten, Zigaretten Lungenkrebs verursachten. Sechzehn Prozesse bisher, und Big Tobacco hatte alle gewonnen. Aber der Druck stieg. Und sobald eine Jury zum erstenmal einer Witwe ein paar Millionen zugesprochen hatte, würde die Hölle los sein. Die Prozeßanwälte würden sich überschlagen, Tag und Nacht für sich Reklame machen und Raucher und die Hinterbliebenen von Rauchern anflehen, sie sofort zu engagieren und zu klagen, solange sich das Klagen lohnte.

In der Regel unterhielten sich die Männer über andere Dinge, wenn sie allein waren; aber der Alkohol hatte ihre Zungen gelockert. Die Bitterkeit drängte an die Oberfläche. Sie lehnten am Geländer der Terrasse, starrten ins Wasser und begannen, die Anwälte und das amerikanische Haftungsrecht zu verfluchen. Jeder ihrer Konzerne hatte in Washington Millionen von Dollar an verschiedene Gruppen gezahlt, die versuchten, die Haftungsgesetzgebung zu ändern, damit verantwortungsvolle Konzerne wie die ihren vor Prozessen geschützt werden konnten. Sie brauchten einen Schutzschild gegen diese sinnlosen Attacken von angeblichen Opfern. Aber wie es schien, hatte alles nichts genützt. Und jetzt saßen sie irgendwo im finstersten Mississippi und mußten schon wieder einen Prozeß durchstehen.

Die Großen Vier hatten auf den ständig wachsenden Druck durch die Gerichte reagiert, indem sie Geld in etwas einzahlten, das einfach Der Fonds genannt wurde. Er war unbeschränkt und hinterließ keine Spuren. Er existierte nicht. Der Fonds wurde für skrupellose Taktiken bei Prozessen genutzt: zum Anheuern der gerissensten Verteidiger, der glattzüngigsten Sachverständigen, der erfahrensten Jury-Berater. Der Fonds hatte uneingeschränkten Handlungsspielraum. Nach sechzehn Siegen fragten sie sich manchmal selbst, ob es etwas gab, was der Fonds nicht bewirken konnte. Jeder Konzern schöpfte jährlich drei Millionen ab und ließ das Geld im Kreis herumwandern, bis es schließlich im Fonds gelandet war. Kein Buchhalter, kein Finanzexperte, kein Steuerprüfer hatte je von diesem Schwarzgeld Wind bekommen.

Der Fonds wurde von Rankin Fitch verwaltet, einem Mann, den sie alle verabscheuten, dem sie aber trotzdem zuhörten und, wenn es sein mußte, auch gehorchten. Und jetzt warteten sie auf ihn. Sie kamen zusammen, wenn er sagte, sie sollten zusammenkommen. Auf seinen Befehl hin reisten sie ab und kehrten zurück. Solange er gewann, ertrugen sie es, nach seiner Pfeife tanzen zu müssen. Fitch hatte schon bei acht Prozessen die Fäden gezogen. Er hatte außerdem dafür gesorgt, daß zwei weitere ergebnislos abgebrochen wurden, aber dafür gab es natürlich keine Beweise.

Ein Assistent erschien mit einem Tablett voll frischer Drinks auf der Veranda, jeder nach speziellen Anweisungen gemixt. Die Gläser wurden gerade vom Tablett genommen, als jemand sagte: »Fitch ist da.« Die Gläser schossen gleichzeitig hoch und dann wieder nieder – jeder der vier hatte rasch einen großen Schluck gekippt.

Sie eilten ins Wohnzimmer, während Fitch seinen Wagen unmittelbar vor der Haustür halten ließ. Ein Assistent reichte ihm sein Mineralwasser, ohne Eis. Er trank nie Alkohol, in einem früheren Leben hatte er allerdings so viel konsumiert, daß ein Kahn darauf hätte schwimmen können. Er bedankte sich nicht bei dem Assistenten und nahm auch seine Anwesenheit nicht zur Kenntnis, sondern bewegte sich zu dem imitierten Kamin und wartete darauf, daß sich die vier auf den Sofas um ihn scharten. Ein weiterer Assistent wagte sich mit einem Teller voller übriggebliebener Shrimps und Austern heran, aber Fitch winkte ab. Es ging das Gerücht, daß er gelegentlich etwas aß, aber er war noch nie dabei beobachtet worden. Der Beweis war allerdings vorhanden, die massige Brust und die füllige Taille, der fleischige Wulst unter seinem Spitzbart, die allgemeine Dicklichkeit seines Körpers. Aber er trug dunkle Anzüge und hielt das Jackett zugeknöpft und schaffte es hervorragend, seine Masse mit Würde zu tragen.

»Eine kurze Zusammenfassung«, sagte er, sobald er das Gefühl hatte, lange genug darauf gewartet zu haben, daß die großen Bosse sich niederließen. »In diesem Augenblick arbeitet das gesamte Team der Verteidigung nonstop, und dabei wird es auch das ganze Wochenende über bleiben. Die Geschworenen-Recherchen verlaufen planmäßig. Die Prozeßanwälte sind bereit. Alle Zeugen sind vorbereitet, alle Sachverständigen bereits in der Stadt. Bis jetzt ist nichts Ungewöhnliches zu vermelden.«

Es folgte eine Pause, lediglich eine kleine Unterbrechung – sie warteten, um sicher zu sein, daß Fitch fürs erste fertig war.

»Was ist mit diesen Geschworenen?« fragte D. Martin Jankle, der nervöseste der vier. Er leitete U-Tab, wie es früher genannt wurde, die Abkürzung für eine alte Firma, die jahrelang Union Tobacco geheißen hatte, aber nach einer Marktbereinigung jetzt unter dem Namen Pynex gehandelt wurde. Der bevorstehende Prozeß trug die Bezeichnung Wood gegen Pynex, also hatte das Glücksrad Jankle auf den heißen Stuhl befördert. Der Größe nach war Pynex Nummer drei, mit einem Umsatz von fast zwei Milliarden im vorigen Jahr. Außerdem verfügte Pynex, nach dem letzten Quartalsstand, zufällig über die größten Bargeldreserven von den vieren. Der Prozeß hätte zu keiner ungelegeneren Zeit kommen können. Mit einigem Pech konnte es passieren, daß den Geschworenen die Bilanzen von Pynex gezeigt wurden, hübsche, säuberliche Kolonnen, die einen Bestand von gut achthundert Millionen an Bargeld ausweisen würden.

»Wir arbeiten daran«, sagte Fitch. »Bei acht von ihnen bestehen noch Unklarheiten. Vier könnten entweder tot oder verzogen sein. Die anderen vier sind am Leben und werden am Montag bei Gericht erwartet.«

»Ein faules Ei unter den Geschworenen kann Gift sein«, sagte Jankle. Er hatte in Louisville als Firmenanwalt gearbeitet, bevor er bei U-Tab eintrat, und ließ es sich immer angelegen sein, Fitch darauf hinzuweisen, daß er von der Juristerei mehr verstand als die anderen drei.

»Dessen bin ich mir vollauf bewußt«, fauchte Fitch ihn an.

»Wir müssen diese Leute genau kennen.«

»Wir tun unser Bestes. Es ist nicht unsere Schuld, wenn die Geschworenenlisten hier nicht so auf dem laufenden sind wie in anderen Staaten.«

Jankle trank einen großen Schluck und starrte Fitch an. Schließlich war Fitch letzten Endes nicht mehr als ein gut bezahlter Sicherheitsgangster, nicht im entferntesten auf der gleichen Ebene wie der Generaldirektor eines großen Konzerns. Man konnte ihn nennen, wie man wollte – Berater, Agent, Organisator –, Tatsache war, daß er für sie arbeitete. Natürlich verfügte er im Augenblick über einigen Einfluß , gefiel sich darin, groß aufzutreten und herumzubellen, weil er auf die Knöpfe drückte, aber, verdammt noch mal, er war schließlich nur ein besserer Gangster. Diese Gedanken behielt Jankle für sich.

»Sonst noch etwas?« fragte Fitch Jankle, als wäre seine anfängliche Frage gedankenlos gewesen, als sollte er, wenn er nichts Produktives zu sagen hatte, einfach den Mund halten.

»Trauen Sie diesen Anwälten?« fragte Jankle, nicht zum erstenmal.

»Über dieses Thema haben wir bereits gesprochen«, erwiderte Fitch.

»Was nicht ausschließt, daß wir noch einmal darüber sprechen, wenn ich es will.«

»Weshalb machen Sie sich Sorgen wegen unserer Anwälte?« fragte Fitch.

»Weil – nun ja, weil sie hier zu Hause sind.«

»Ich verstehe. Und Sie meinen, es wäre klug gewesen, ein paar Anwälte aus New York herbeizuschaffen und vor den Geschworenen reden zu lassen? Oder vielleicht ein paar aus Boston?«

»Nein, es ist nur so, daß sie noch nie Verteidiger in einer Tabaksache waren.«

»Hier an der Küste hat es noch nie eine Tabaksache gegeben. Wollen Sie sich darüber beschweren?«

»Ich habe nur kein gutes Gefühl bei diesen Leuten, das ist alles.«

»Wir haben die Besten engagiert, die es in dieser Gegend gibt«, sagte Fitch.

»Weshalb arbeiten sie so billig?«

»Billig. Voriges Jahr haben Sie sich Sorgen wegen der Kosten der Verteidigung gemacht. Jetzt verlangen Ihnen unsere Anwälte nicht genug. Entscheiden Sie sich.«

»Voriges Jahr haben wir den Anwälten in Pittsburgh vierhundert pro Stunde gezahlt. Diese Leuten hier arbeiten für zweihundert. Das beunruhigt mich.«

Fitch sah Luther Vandemeer, Generaldirektor von Trellco, an. »Ist mir hier irgend etwas entgangen?« fragte er. »Meint er das ernst? Wir stehen bei fünf Millionen Dollar für diesen Fall, und er hat Angst, daß ich jeden Cent dreimal umdrehe.« Fitch machte eine Handbewegung in Richtung Jankle. Vandemeer lächelte und trank einen Schluck.

»In Oklahoma haben Sie sechs Millionen ausgegeben«, sagte Jankle.

»Und wir haben gewonnen. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß sich irgend jemand beschwert hat, als das Urteil gesprochen war.«

»Ich beschwere mich auch jetzt nicht. Ich sage nur, daß ich mir Sorgen mache.«

»Großartig! Ich werde in die Kanzlei zurückkehren, sämtliche Anwälte zusammenrufen und ihnen sagen, daß meine Kunden sich wegen ihres Honorars Sorgen machen. Ich werde sagen: ›Hört mal, Leute, ich weiß, daß wir euch reich machen, aber das genügt nicht. Meine Kunden wollen, daß ihr ihnen mehr berechnet. Nehmt uns aus. Ihr arbeitet zu billig.‹ Halten Sie das für eine gute Idee?«

»Keine Aufregung, Martin«, sagte Vandemeer. »Der Prozeß hat noch nicht einmal angefangen. Ich bin sicher, daß wir von unseren eigenen Anwälten die Nase voll haben werden, bevor wir von hier abreisen.«

»Ja, aber dieser Prozeß ist anders. Das wissen wir alle.« Jankle verstummte und hob sein Glas. Er hatte ein Alkoholproblem, als einziger von den vieren. Sein Konzern hatte ihn vor sechs Monaten in aller Stille ausgetrocknet, aber der Druck des Prozesses war zu groß. Fitch, der früher selbst ein Trinker gewesen war, wußte, daß Jankle in Schwierigkeiten steckte. In ein paar Wochen würde er gezwungen sein, vor Gericht auszusagen.

Als ob Fitch nicht ohnehin schon genügend Probleme gehabt hätte, stand er nun auch noch vor der Aufgabe, D. Martin Jankle bis dahin nüchtern zu halten. Fitch haßte ihn wegen seiner Schwäche.

»Ich nehme an, die Vertreter der Klägerin sind bereit«, fragte ein anderer Generaldirektor.

»Vermutlich«, sagte Fitch mit einem Achselzucken. »Es sind genügend von ihnen da.«

Acht nach der letzten Zählung. Acht der größten auf Haftungsfälle spezialisierten Kanzleien des Landes, von denen angeblich jede zur Finanzierung dieses entscheidenden Schlags gegen die Tabakindustrie eine Million Dollar beigesteuert hatte. Sie hatten die Klägerin ausgesucht, die Witwe eines Mannes namens Jacob L. Wood. Sie hatten das Forum ausgesucht, die Golfküste von Mississippi, weil der Staat prächtige Haftungsgesetze hatte und weil Jurys in Biloxi gelegentlich großzügig sein konnten. Den Richter hatten sie sich nicht ausgesucht, aber sie hätten nicht mehr Glück haben können. Der ehrenwerte Frederick Harkin war Klageanwalt gewesen, bis eine Herzattacke ihn aufs Richterpodium befördert hatte.

Es war kein gewöhnlicher Tabakfall, und alle im Zimmer Anwesenden wußten es.

»Wieviel haben sie ausgegeben?«

»Über diese Information verfüge ich nicht«, sagte Fitch. »Wir haben Gerüchte gehört, denen zufolge ihre Kriegskasse vielleicht nicht ganz so gut gefüllt ist, wie sie behaupten. Möglicherweise machen ein paar der beteiligten Anwälte Schwierigkeiten beim Leisten der Vorauszahlung. Aber sie haben Millionen ausgegeben. Und ein Dutzend Verbrauchergruppen steht in den Startlöchern und wartet nur darauf, gute Ratschläge zu erteilen.«

Jankle ließ die Eiswürfel klirren, dann leerte er sein Glas bis auf den letzten Tropfen. Es war sein vierter Drink. Im Zimmer herrschte einen Moment Stille, während Fitch wartend dastand und die Generaldirektoren den Teppich betrachteten.

»Wie lange wird es dauern?« fragte Jankle schließlich.

»Vier bis sechs Wochen. Die Auswahl der Geschworenen geht hier schnell. Wahrscheinlich werden wir am Mittwoch eine Jury haben.«

»Allentown hat drei Monate gedauert«, sagte Jankle.

»Wir sind hier nicht in Kansas. Wünschen Sie sich einen Dreimonats-Prozeß?«

»Nein, ich wollte nur, also …« Jankle verstummte kläglich.

»Wie lange sollen wir hierbleiben?« fragte Vandemeer, instinktiv auf die Uhr schauend.

»Das ist mir egal. Sie können gleich abreisen oder auch warten, bis die Geschworenen ausgewählt sind. Sie haben ja alle so einen großen Jet. Wenn ich Sie brauche, weiß ich, wo ich Sie finden kann.« Fitch stellte sein Mineralwasser auf den Kaminsims und sah sich im Zimmer um. Er war plötzlich wieder bereit zum Aufbruch. »Sonst noch etwas?«

Kein Wort.

»Gut.«

Er sagte etwas zu José, der ihm die Haustür öffnete, dann war er verschwunden. Sie starrten stumm auf den teuren Teppich, machten sich Sorgen wegen Montag, machten sich Sorgen wegen einer Menge Dinge.

Schließlich zündete sich Jankle mit zitternden Händen eine Zigarette an.

Wendall Rohr hatte sein erstes Vermögen im Verklagespiel gemacht, als zwei Ölarbeiter auf einer Offshore-Plattform von Shell im Golf schwere Verbrennungen erlitten. Sein Anteil betrug fast zwei Millionen, und er hielt sich rasch für einen Prozeßanwalt, mit dem man zu rechnen hatte. Er gab sein Geld mit vollen Händen aus, übernahm weitere Fälle, und im Alter von vierzig Jahren hatte er eine aggressive Kanzlei und einen beachtlichen Ruf als gewiefter Prozeßanwalt. Dann ruinierten Drogen, eine Scheidung und ein paar schlechte Investitionen sein Leben für eine Weile, und im Alter von fünfzig Jahren überprüfte er Rechtstitel und verteidigte Ladendiebe wie eine Million anderer Anwälte auch. Als eine Welle von Asbest-Prozessen über die Golfküste hinwegbrandete, war Rohr wieder am rechten Ort. Er machte sein zweites Vermögen und schwor sich, es nie wieder zu verlieren. Er baute seine Kanzlei aus, richtete eine großartige Suite von Büroräumen ein und fand sogar eine junge Frau. Frei von Alkohol und Tabletten richtete Rohr seine beträchtlichen Energien darauf, amerikanische Firmen im Namen Geschädigter zu verklagen. Bei seinem zweiten Anlauf stieg er in den Kreisen der Prozeßanwälte sogar noch schneller auf. Er ließ sich einen Bart stehen, ölte sein Haar, wurde zum Radikalen und war auf Vortragsreisen beliebt.

Rohr lernte Celeste Wood, die Witwe von Jacob Wood, durch einen jungen Anwalt kennen, der kurz vor dessen Tod Woods Testament aufgesetzt hatte. Jacob Wood war im Alter von einundfünfzig Jahren gestorben, nachdem er fast dreißig Jahre lang drei Schachteln pro Tag geraucht hatte. Zum Zeitpunkt seines Todes war er leitender Angestellter in einer Bootswerft gewesen und verdiente vierzigtausend im Jahr.

In den Händen eines weniger ehrgeizigen Anwalts schien der Fall nicht mehr zu sein als ein toter Raucher, einer unter zahllosen anderen. Rohr dagegen hatte sich seinen Weg in einen Bekanntenkreis mit den grandiosesten Träumen gebahnt, die Prozeßanwälte je gehegt hatten. Alle waren Spezialisten für Produkthaftung, alle hatten Millionen kassiert mit Brustimplantaten und Asbest. Jetzt trafen sie sich mehrmals im Jahr und überlegten, wie man die Hauptader des amerikanischen Haftungsrechts ausbeuten konnte. Kein legal hergestelltes Produkt in der Weltgeschichte hatte so viele Menschen getötet wie die Zigarette. Und die Taschen ihrer Hersteller waren so tief, daß das Geld darin verschimmelte.

Rohr hatte die erste Million bereitgestellt, und sieben andere schlossen sich an. Völlig mühelos gewann die Gruppe die Unterstützung der Tobacco Task Force, der Coalition for a Smoke Free World und des Tobacco Liability Fund sowie einer Handvoll weiterer Verbrauchergruppen und Industrie-Wachhunden. Ein Rat von Prozeßanwälten wurde gebildet, wie nicht anders zu erwarten mit Wendall Rohr als Vorsitzendem und designiertem Hauptakteur im Gerichtssaal. Mit so viel Aufsehen, wie sie nur erregen konnte, hatte Rohrs Gruppe vier Jahre zuvor beim Bezirksgericht von Harrison County, Mississippi, Klage erhoben.

Fitchs Recherchen zufolge war die Sache Wood gegen Pynex die fünfundfünfzigste ihrer Art. Sechsunddreißig waren aus den verschiedensten Gründen abgewiesen worden. Sechzehn waren vor Gericht gegangen und hatten mit Urteilen zugunsten der Tabakkonzerne geendet. Zwei waren ergebnislos abgebrochen worden. Bei keinem war es zu einem Vergleich gekommen. Nie war einem Kläger in einem Zigarettenfall auch nur ein Penny gezahlt worden.

Rohrs Theorie zufolge hatte hinter keiner der anderen vierundfünfzig Klagen eine so formidable Gruppe von Anwälten gestanden. Noch nie war eine Klägerin von Anwälten vertreten worden, die über genügend Geld verfügten, um das Spielfeld zu ebnen.

Fitch hätte das eingeräumt.

Rohrs langfristige Strategie war simpel und brillant. Da draußen gab es hundert Millionen Raucher, nicht alle mit Lungenkrebs, aber doch bestimmt eine ausreichende Zahl, um ihn beschäftigt zu halten, bis er sich zur Ruhe setzte. Wenn er den ersten gewann, brauchte er sich nur noch zurückzulehnen und auf den großen Ansturm zu warten. Jeder Feld-Wald-und-Wiesen-Anwalt mit einer trauernden Witwe würde mit einem Fall von Lungenkrebs anrufen. Rohr und seine Gruppe konnten in aller Ruhe ihre Wahl treffen.

Er operierte von einer Bürosuite aus, die die oberen drei Stockwerke eines alten Bankgebäudes nicht weit vom Gericht einnahm. Am späten Freitagabend öffnete er die Tür zu einem dunklen Zimmer und stellte sich an die hintere Wand, während Jonathan Kotlack aus San Diego den Projektor bediente. Kotlack war für die Recherchen und die Auswahl der Geschworenen zuständig, obwohl Rohr den größten Teil der Befragung vornehmen würde. Der lange Tisch in der Mitte des Zimmers war übersät mit Kaffeebechern und zusammengeknülltem Papier. Die Leute am Tisch betrachteten mit erschöpften Augen ein weiteres Gesicht, das auf der Leinwand erschien.

Nelle Robert (Roh-bair ausgesprochen), sechsundvierzig, geschieden, einmal vergewaltigt, arbeitete als Bankkassiererin, rauchte nicht, war sehr übergewichtig und deshalb Rohrs Philosophie der Geschworenen-Auswahl zufolge disqualifiziert. Dicke Frauen kamen nicht in Frage. Ihm war egal, was die Experten ihm sagen würden. Ihm war egal, was Kotlack dachte. Rohr nahm nie dicke Frauen. Schon gar keine ledigen. Sie neigten dazu, knauserig zu sein und ohne Mitgefühl.

Er hatte sich die Namen und Gesichter eingeprägt, und jetzt reichte es ihm. Er hatte diese Leute studiert, bis sie ihm zuwider waren. Er verließ das Zimmer, rieb sich auf dem Korridor die Augen und ging die Treppe seiner opulent eingerichteten Kanzlei hinunter in den Konferenzraum, in dem das für die Dokumente zuständige Komitee unter Leitung von André Durond aus New Orleans damit beschäftigt war, Ordnung in Tausende von Papieren zu bringen. In diesem Augenblick, um fast zehn Uhr am Freitagabend, waren in der Kanzlei von Wendall H. Rohr mehr als vierzig Leute intensiv bei der Arbeit.

Er sprach mit Durond, während sie für ein paar Minuten die Anwaltsgehilfen beobachteten. Er verließ das Zimmer und strebte, jetzt schnelleren Schrittes, dem nächsten zu. Das Adrenalin pumpte.

Die Tabakanwälte ein Stück die Straße hinunter arbeiteten ebenso intensiv.

Es gab nichts Aufregenderes als einen großen Prozeß.

3. KAPITEL

Der Hauptsaal des Gerichtsgebäudes von Biloxi lag im ersten Stock. Über die geflieste Treppe gelangte man in die vom Sonnenlicht überflutete Vorhalle. Die Wände waren gerade weiß übergestrichen worden, und der Fußboden funkelte von frischem Bohnerwachs.

Um acht Uhr am Montagmorgen versammelte sich bereits eine große Menschenmenge in der Vorhalle außerhalb der hohen, in den Gerichtssaal führenden Holztür. Eine kleine Gruppe drängte sich in einer Ecke zusammen; sie bestand aus jungen Männern in dunklen Anzügen, die einander auffallend ähnlich sahen. Sie machten einen gepflegten Eindruck, hatten geöltes, kurzes Haar, und die meisten von ihnen trugen entweder eine Hornbrille oder ließen unter ihren maßgeschneiderten Jacketts Hosenträger sehen. Sie waren Finanzanalytiker von der Wall Street, Spezialisten für Tabakaktien, in den Süden geschickt, um die Anfangsstadien der Sache Wood gegen Pynex zu verfolgen.

Eine weitere Gruppe, größer und von Minute zu Minute wachsend, scharte sich locker im Zentrum der Vorhalle zusammen. Jede dieser Personen hielt verlegen ein Stück Papier in der Hand, eine Geschworenen-Vorladung. Nur wenige kannten einander, aber die Papiere wiesen sie aus, sie kamen miteinander ins Gespräch, und bald herrschte vor dem Gerichtssaal leises, nervöses Geplauder. Die Männer in den dunklen Anzügen aus der ersten Gruppe verstummten und beobachteten die potentiellen Geschworenen.

Die dritte Gruppe trug finstere Mienen und Uniformen und bewachte die Tür. Nicht weniger als sieben Deputies waren abgestellt worden, um am Eröffnungstag für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Zwei hantierten vor der Tür mit dem Metalldetektor. Zwei weitere beschäftigten sich hinter einem improvisierten Pult mit Papieren. Sie rechneten mit einem vollen Haus. Die anderen drei tranken Kaffee aus Pappbechern und beobachteten das Anwachsen der Menge.

Genau um halb neun öffneten die Wachtposten die Tür, überprüften die Vorladung jedes einzelnen Geschworenen, ließen einen nach dem anderen durch die Detektorschleuse ein und teilten den Zuschauern mit, daß sie noch eine Weile warten müßten. Dasselbe galt für die Analytiker und für die Reporter.

Auf einem Ring aus Klappstühlen in den Gängen rund um die gepolsterten Bänke herum fanden ungefähr dreihundert Personen Platz im Gerichtssaal. Jenseits der Schranken würden sich bald an die dreißig weitere um die Tische der Anwälte drängen. Die Vorsteherin der Gerichtskanzlei, allgemein beliebt und von der Bevölkerung gewählt, überprüfte jede einzelne Vorladung, lächelte und umarmte sogar einige der Geschworenen, die sie kannte, und dirigierte sie mit sehr viel Erfahrung zu ihren Plätzen. Sie hieß Gloria Lane und war seit elf Jahren Kanzleivorsteherin des Bezirksgerichts von Harrison County. Sie dachte nicht daran, sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen, zu zeigen und zu dirigieren, Namen mit Gesichtern zu verbinden, Hände zu schütteln, um Wählerstimmen zu werben, einen kurzen Moment im Rampenlicht ihres bislang bedeutendsten Prozesses zu genießen. Drei jüngere Frauen aus ihrem Büro assistierten ihr, und um neun waren alle Geschworenen ihren Nummern entsprechend untergebracht und damit beschäftigt, eine weitere Runde von Fragebögen auszufüllen.

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