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"Grisham ist die oberste Instanz des Thrillers." Neue Zürcher Zeitung
Die letzte Amtshandlung des Präsidenten der Vereinigten Staaten ist die Begnadigung eines berüchtigten Wirtschaftskriminellen. Joel Backman war bis zu seiner Verurteilung einer der skrupellosesten Lobbyisten in Washington. Niemand weiß, dass die umstrittene Entscheidung des Präsidenten erst auf großen Druck der CIA zustande kam. Eine brisante Geschichte aus dem Zentrum der Macht, die nicht vom Weißen Haus, sondern von einem unkontrollierbaren Staat im Staate ausgeht.
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Seitenzahl: 538
Das Buch
Joel Backman wird auf Druck der CIA vom Präsidenten der Vereinigten Staaten begnadigt. Doch die Agency ist nicht an dem Lobbyisten selbst interessiert, sondern an streng geheimen Informationen über ein Satellitensystem, das Backman auf dem Höhepunkt seiner Macht zu Geld machte, indem er verschiedene Regierungen gegeneinander ausspielte. Backman wird in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit einer militärischen Transportmaschine außer Landes geschmuggelt. Er bekommt einen neuen Namen, eine neue Identität, eine neue Heimat. Er versucht sich in seinem neuen Leben zurechtzufinden und ahnt nicht, dass die CIA ihn nur als Figur in einem Spiel missbraucht. Denn nach und nach sickern Informationen über den Aufenthaltsort des Brokers an die Israelis, die Russen, die Chinesen und die Saudis durch. Das Spiel kann beginnen, die Drahtzieher lehnen sich zurück und beobachten. Denn dass Backman das Spiel nicht überleben wird, steht außer Frage. Die CIA interessiert nur, wer ihn beseitigt ...
»Akribisch recherchiert, liefert John Grisham atemlose Spannung, Thriller mittten aus der nordamerikanischen Gegenwart.«
Dresdner Neueste Nachrichten
WÄHREND DER LETZTEN STUNDEN seiner Präsidentschaft – die bei den Historikern weniger Interesse erregen würde als irgendeine andere seit der von William Henry Harrison (einunddreißig Tage von der Amtseinführung bis zum Tod) – saß Arthur Morgan mit dem einzigen ihm verbliebenen Freund im Oval Office und dachte über die noch anstehenden Entscheidungen nach. Er hatte den Eindruck, in seiner vierjährigen Amtszeit alles verpfuscht zu haben, und war wenig zuversichtlich, daran in letzter Minute noch etwas ändern zu können. Der Freund teilte seine Zweifel, doch er verhielt sich wie immer – wenn er überhaupt den Mund aufmachte, sagte er nur, was der Präsident zu hören wünschte.
Es ging um Straferlasse und Begnadigungen – verzweifelte Gesuche von Dieben, Betrügern und Lügnern, von denen einige noch im Gefängnis waren. Andere hatten nie hinter Gittern gesessen, waren aber erpicht darauf, ihren guten Namen von jeglichem Makel zu reinigen und ihre innig geliebten staatsbürgerlichen Rechte wieder zuerkannt zu bekommen. Alle behaupteten, sie wären Freunde oder Freunde von Freunden oder besonders fanatische Anhänger. Nun war es fünf Minuten vor zwölf, doch bisher hatten nur wenige von ihnen Gelegenheit gefunden, ihre Unterstützung auch öffentlich zu bekunden. Es war schon deprimierend. Nach vier turbulenten Jahren, in denen Morgan der wichtigste Politiker der freien Welt gewesen war, schrumpfte alles auf einen erbärmlichen Stapel Papiere zusammen – auf die Gnadengesuche eines Haufens von Gaunern. Welchen Dieben sollte man Gelegenheit geben, erneut zu stehlen? Das waren die weltbewegenden Fragen, die Morgan in den letzten Stunden seiner Amtszeit beschäftigten.
Der letzte Getreue, ein alter Kumpel aus der Studentenverbindung, hieß Critz. Während ihrer gemeinsamen Zeit an der Cornell-Universität war Morgan Vorsitzender der Studentenvertretung geworden, weil Critz die Wahlurnen mit gefälschten Stimmzetteln voll gestopft hatte. In den vergangenen vier Jahren hatte Critz mehrere Posten bekleidet. Er war Pressesekretär, Stabschef, nationaler Sicherheitsberater und schließlich sogar Außenminister gewesen – Letzteres allerdings nur für drei Monate, weil er durch seine eigenwillige Vorstellung von Diplomatie fast den Dritten Weltkrieg ausgelöst hätte und schleunigst abberufen werden musste. Seinen letzten Job hatte er im vergangenen Oktober übernommen, in der hektischen Schlussphase des Wahlkampfs, von dem Morgan sich die Bestätigung im Amt versprochen hatte. Als die Meinungsumfragen zeigten, dass der Präsident in mindestens vierzig Bundesstaaten weit abgeschlagen hinter seinem Konkurrenten lag, hatte Critz die Wahlkampfleitung an sich gerissen. Er hatte es geschafft, mit Ausnahme von Alaska auch noch den Rest des Landes zu vergraulen.
Es war eine historische Wahl gewesen. Nie zuvor hatte ein amtierender Präsident so wenige Wahlmännerstimmen erhalten – ganze drei, um genau zu sein. Sie kamen aus Alaska, dem einzigen Bundesstaat, dem Morgan auf Critz’ Anraten keinen persönlichen Besuch abgestattet hatte. Fünfhundertfünfunddreißig Stimmen für den Herausforderer, drei für den Amtsinhaber. Das Wort »Erdrutschsieg« charakterisierte das Ausmaß des Debakels nicht einmal ansatzweise.
Als die Stimmen ausgezählt waren, folgte der Herausforderer zweifelhaften Ratschlägen und beschloss, das Ergebnis aus Alaska anzufechten. Warum nicht alle fünfhundertachtunddreißig Wahlmännerstimmen einsacken?, hatte er sich gefragt. Nie wieder würde ein Präsidentschaftskandidat die Chance bekommen, seinen Gegner zu null zu schlagen, ihm die ultimative Niederlage zuzufügen. Sechs Wochen lang wurde in Alaska erbittert prozessiert, und der Präsident musste noch mehr leiden. Als der Oberste Gerichtshof ihm die drei Wahlmännerstimmen des Bundesstaates schließlich offiziell zuerkannte, köpften er und Critz in aller Stille eine Flasche Champagner.
Obwohl ihm das amtliche Endergebnis nur eine hauchdünne Mehrheit von siebzehn Stimmen attestierte, war Präsident Morgan seitdem geradezu vernarrt in Alaska.
Er hätte mehr Bundesstaaten keinen Besuch abstatten sollen.
Selbst in seiner Heimat Delaware, wo ihm das einst so weise Stimmvolk acht wundervolle Jahre als Gouverneur beschert hatte, war er als Verlierer aus der Wahl hervorgegangen. So wie Morgan Alaska ignoriert hatte, ignorierte sein Gegner Delaware – keine erwähnenswerte Kampagne, keine Fernsehspots, nicht eine einzige Rede. Und trotzdem hatte er zweiundfünfzig Prozent der Stimmen eingefahren!
Critz saß in einem weich gepolsterten Ledersessel, bewaffnet mit einem Notizblock mit einer langen Namensliste, die abgearbeitet werden musste. Er schaute zu, wie der deprimierte und gedemütigte Präsident langsam von einem Fenster zum anderen wanderte, in die Finsternis spähte und darüber sinnierte, was aus seiner Amtszeit hätte werden können. Morgan war achtundfünfzig, hatte sein Leben aber schon hinter sich – seine Karriere war beendet, seine Ehe zerrüttet. Mrs Morgan war bereits nach Wilmington zurückgekehrt und amüsierte sich öffentlich über Morgans Idee, in ein Holzhaus in Alaska zu ziehen. Insgeheim bezweifelte Critz, dass es seinem Freund gefallen würde, sich für den Rest seiner Tage als Jäger und Angler zu betätigen, aber die Aussicht, Mrs Morgan dreitausend Kilometer entfernt zu wissen, musste sehr verlockend sein. Unter Umständen hätten sie in Nebraska gewinnen können, wenn die First Lady ein dortiges Footballteam nicht »Sooners« genannt hätte – der Spitzname für die Einwohner von Oklahoma.
Die Nebraska Sooners!
Morgans Umfrageergebnisse gingen in Nebraska und Oklahoma über Nacht dermaßen in den Keller, dass er sich von dem Absturz nicht erholte.
In Texas hatte sie von einem nach einem preisgekrönten Rezept zubereiteten Chili probiert und sich anschließend übergeben. Auf dem Weg zum Krankenwagen hatte ein Mikrofon ihre mittlerweile legendären Worte übertragen: »Wie können diese Hinterwäldler nur so einen Fraß essen?«
Nebraska hatte fünf Wahlmännerstimmen, Texas vierunddreißig. Den Fauxpas mit dem Footballteam hätten sie noch wegstecken können, doch ein Kandidat, dessen Frau sich so despektierlich über texanisches Chili äußerte, war chancenlos.
Was für ein Wahlkampf! Critz war versucht, ein Buch darüber zu schreiben. Irgendjemand musste den Weg in die Katastrophe dokumentieren.
Eine fast vierzigjährige Partnerschaft neigte sich ihrem Ende zu. Zweihunderttausend Dollar Jahresgehalt hatten Critz bewogen, einen Job bei einem Unternehmen aus der Rüstungsindustrie anzunehmen. Außerdem wollte er sich als Vortragsreisender betätigen – falls sich Veranstalter fanden, die dumm genug waren, die von ihm geforderten fünfzigtausend Dollar pro Rede zu bezahlen. Er hatte sein Leben dem Dienst an der Öffentlichkeit gewidmet, doch auch er wurde nicht jünger und war außerdem pleite. Er musste Geld verdienen, und zwar schnell.
Der Präsident hatte sein stattliches Haus in Georgetown mit riesigem Gewinn verkauft und eine kleine Ranch in Alaska erstanden, wo die Menschen ihn offenbar bewunderten. Er hatte vor, den Rest seiner Tage dort zu verbringen und sich dem Jagen und Angeln zu widmen. Vielleicht würde er seine Memoiren schreiben. Was immer er tun würde, die Politik und Washington gehörten definitiv der Vergangenheit an. Er würde nicht den Elder Statesman oder den Ratgeber seiner Partei spielen, der die weise Stimme der Erfahrung sprechen ließ. Keine Abschiedsvorstellungen, keine Parteitagsreden, keine Vorlesungen vor Studenten der Politologie. Keine Präsidentenbibliothek. Die Stimme des Volkes hatte sich laut und überdeutlich Gehör verschafft. Wenn sie ihn nicht wollten, würde er zweifellos auch ohne sie auskommen.
»Wir müssen entscheiden, was mit Cuccinello passieren soll«, sagte Critz.
Der Präsident starrte weiter aus einem Fenster in die Finsternis, noch immer in Gedanken an Delaware versunken. »Mit wem?«
»Mit Figgy Cuccinello, diesem Filmregisseur. Wurde wegen Sex mit einem minderjährigen Starlet verurteilt.«
»Wie jung war sie?«
»Fünfzehn, glaube ich.«
»Ziemlich jung.«
»Ja. Er ist nach Argentinien geflohen, wo er mittlerweile seit zehn Jahren lebt. Jetzt hat er Heimweh. Er will zurückkommen und weitere grauenhafte Filme drehen. Angeblich ruft ihn die Kunst in die Heimat zurück.«
»Oder die jungen Mädchen.«
»Die auch.«
»Es wäre mir egal, wenn sie siebzehn gewesen wäre, aber fünfzehn ist zu jung.«
»Er hat sein Angebot auf fünf Millionen erhöht.« Der Präsident drehte sich um und schaute Critz an. »Er bietet fünf Millionen für einen Straferlass?«
»Ja, und er muss schnell Bescheid wissen. Das Geld muss telegrafisch aus der Schweiz überwiesen werden. Da drüben ist es jetzt drei Uhr morgens.«
»Wohin würde er es überweisen?«
»Wir haben Offshore-Konten. Ist kein Problem.«
»Wie würde die Presse reagieren?«
»Ziemlich eklig.«
»Journalisten sind immer eklig.«
»Diesmal würden sie besonders eklig werden.«
»Eigentlich ist mir die Presse egal«, sagte Morgan.
Warum fragst du dann?, hätte Critz am liebsten entgegnet.
»Könnte die Herkunft des Geldes zurückverfolgt werden?«, fragte Morgan, während er sich wieder zum Fenster umdrehte.
»Nein.«
Der Präsident kratzte sich mit der rechten Hand am Nacken, wie er es bei schwierigen Entscheidungen immer tat. Einmal, als er fast einen Atomschlag gegen Nordkorea angeordnet hätte, hatte er sich so lange gekratzt, bis Blut auf den Kragen seines weißen Hemdes getropft war. »Meine Antwort lautet nein«, sagte er. »Fünfzehn ist zu jung.«
Die Tür öffnete sich, ohne dass angeklopft worden wäre, und Artie Morgan trat ein, der Sohn des Präsidenten. In einer Hand hielte er eine Flasche Heineken, in der anderen ein paar Papiere. »Hab gerade mit der CIA telefoniert«, sagte er beiläufig. Er trug zerschlissene Jeans und keine Socken. »Maynard ist auf dem Weg hierher.« Nachdem er die Papiere auf den Schreibtisch geworfen hatte, verließ er den Raum, wobei er die Tür geräuschvoll ins Schloss warf.
Artie würde die fünf Millionen ohne jedes Zögern annehmen, unabhängig vom Alter des Mädchens, dachte Critz. Für ihn war fünfzehn mit Sicherheit nicht zu jung. Vielleicht hätten sie in Kansas gewinnen können, wenn Artie nicht in einem Motel in Topeka mit drei Cheerleaders geschnappt worden wäre, von denen die älteste siebzehn gewesen war. Der Staatsanwalt ließ die Anklage schließlich fallen – drei Tage nach der Wahl, und nachdem die Mädchen beeidete Erklärungen unterschrieben hatten, denen zufolge sie nie Sex mit Artie gehabt hatten. Viel hatte nicht gefehlt, tatsächlich nur ein paar Sekunden – dann hatte die Mutter eines der Mädchen an die Tür geklopft und eine Orgie vereitelt.
Der Präsident setzte sich in seinen mit Leder bezogenen Schaukelstuhl und tat so, als würde er ein paar unwichtige Unterlagen durchblättern. »Gibt es Neuigkeiten im Fall Backman?«, fragte er.
In seinen achtzehn Jahren als Direktor der CIA war Teddy Maynard keine zehn Mal im Weißen Haus gewesen – nie zum Dinner (er ließ sich stets aus gesundheitlichen Gründen entschuldigen) und kein einziges Mal, um einem ausländischen Spitzenpolitiker die Hand zu schütteln (nichts hätte ihm gleichgültiger sein können). Als er noch laufen konnte, schaute er gelegentlich vorbei, um mit dem jeweiligen Präsidenten oder einem oder zwei seiner Kabinettsmitglieder zu plaudern. Doch seit er im Rollstuhl saß, beschränkte sich seine Kommunikation mit dem Weißen Haus auf Telefonate. Zweimal wurde ein Vizepräsident für ein Treffen mit Mr Maynard zum Hauptquartier der CIA nach Langley chauffiert.
Das einzig Positive an dem Rollstuhl war, dass er einen wundervollen Vorwand bot, alle missliebigen Termine abzusagen und nur noch das zu tun, was einem gefiel. Ohnehin hatte niemand Interesse daran, einen greisen Krüppel durch die Gegend zu schieben.
Mittlerweile war Maynard seit fast fünfzig Jahren Geheimdienstler, und er genoss das Privileg, nicht mehr über die Schulter blicken zu müssen, wenn er sehen wollte, was sich hinter ihm abspielte. Er ließ sich in einem unauffälligen weißen Transporter durch die Gegend kutschieren – kugelsicheres Glas, gepanzerte Wände, zwei schwer bewaffnete Männer hinter dem schwer bewaffneten Fahrer –, und sein Rollstuhl war direkt vor der Hintertür rutschsicher am Boden befestigt, sodass er den Verkehr hinter ihnen beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. In einer gewissen Entfernung folgten zwei weitere Transporter, und falls jemand auf die unglückselige Idee kommen sollte, in die Nähe des CIA-Direktors gelangen zu wollen, wäre ihm sofort Einhalt geboten worden. Nicht dass jemand mit einem solchen Zwischenfall gerechnet hätte. Ein Großteil der internationalen Öffentlichkeit glaubte, Teddy Maynard wäre tot oder in einem jener unauffälligen Altersheime, wo greise Spione ihrem Ende entgegendämmerten.
Und so war es ihm auch am liebsten.
Er war in eine dicke graue Decke gehüllt und wurde von Hoby begleitet, seinem treuen Berater. Während der Wagen mit neunzig Stundenkilometern über den Beltway fuhr, schlürfte Maynard grünen Tee, den Hoby ihm aus einer Thermoskanne eingeschenkt hatte, und beobachtete die Autos hinter ihnen. Hoby saß auf einem speziell für ihn angefertigten Lederstuhl neben ihm.
»Wo ist Backman im Augenblick?«, fragte Maynard nach einem weiteren Schluck Tee.
»In seiner Zelle«, antwortete Hoby.
»Und unsere Leute sind beim Gefängnisdirektor?«
»Sie warten in seinem Büro.«
Maynard führte den Pappbecher vorsichtig mit beiden Händen an die Lippen. Seine Hände wirkten gebrechlich, hatten die Farbe von Magermilch, und die Adern traten stark hervor. Es schien, als wären sie bereits abgestorben und warteten geduldig darauf, dass auch aus dem Rest seines Körpers das Leben wich. »Wie lange werden wir brauchen, um ihn außer Landes zu schaffen?«
»Etwa vier Stunden.«
»Ist alles vorbereitet?«
»Bis ins letzte Detail. Wir warten nur noch auf grünes Licht.«
»Hoffentlich sieht der Trottel die Dinge genauso wie ich.«
Der Trottel und Critz starrten die Wände des Oval Office an, und das schwer lastende Schweigen wurde nur gelegentlich durch eine Bemerkung über Joel Backman gebrochen. Sie mussten über irgendetwas reden, weil keiner der beiden die Absicht hatte, jenes Thema anzuschneiden, das sie wirklich beschäftigte.
Kann das wahr sein?
Ist das jetzt das Ende?
Vierzig Jahre. Von der Cornell-Universität bis ins Oval Office. Nun kam das Ende so plötzlich, dass keiner der beiden genügend Zeit gehabt hatte, sich angemessen darauf vorzubereiten. Sie hatten damit gerechnet, weitere vier Jahre im Amt zu bleiben. Vier ruhmreiche Jahre, in denen sie sorgfältig an ihrem politischen Vermächtnis gearbeitet hätten, bevor sie wie im Western heldenhaft in den Sonnenuntergang entschwunden wären.
Obwohl es schon später Abend war, schien es vor dem Fenster, das auf den Rosengarten ging, noch finsterer zu werden. Der Count-down lief, und sie glaubten, die Uhr über dem Kamin leise ticken zu hören.
»Wie wird die Presse reagieren, wenn ich Backman begnadige?«, fragte der Präsident nicht zum ersten Mal.
»Sie wird verrückt spielen.«
»Könnte lustig werden.«
»Du wirst ja nicht mehr hier sein.«
»Stimmt.« Nach der Machtübergabe, die für den Mittag des nächsten Tages angesetzt war, hatte der Präsident vor, Washington fluchtartig zu verlassen. Er würde mit einem Privatjet (der einem Ölunternehmen gehörte) nach Barbados fliegen und dort einige Zeit in der Villa eines Freundes verbringen. Morgan hatte angeordnet, alle Fernseher wegzuschaffen, sämtliche Zeitungen und Illustrierten abzubestellen und alle Telefonkabel aus der Wand zu ziehen. Für mindestens einen Monat würde er jeden Kontakt zur Außenwelt meiden. Auch den zu Critz und besonders den zu Mrs Morgan. Selbst wenn Washington brannte, ihm würde es egal sein. Tatsächlich hoffte er insgeheim, dass es so kommen möge.
Von Barbados aus würde er dann nach Alaska fliegen, wo er die Welt auf seiner Ranch weiterhin ignorieren und auf den Frühling warten würde.
»Sollen wir ihn begnadigen?«, fragte der Präsident.
»Vermutlich schon«, antwortete Critz.
Wenn vermeintlich unpopuläre Entscheidungen anstanden, sagte der Präsident immer »wir«, in unkomplizierten Fällen »ich«. Benötigte er Hilfe – und jemanden, dem er den schwarzen Peter zuschieben konnte -, ließ er Critz an der Entscheidungsfindung teilhaben.
Vierzig Jahre lang hatte Critz den Sündenbock gespielt, und mittlerweile war er es leid. »Es ist gut möglich, dass wir jetzt nicht hier sitzen würden, wenn es Joel Backman nicht gegeben hätte«, bemerkte er schließlich.
»Da könntest du Recht haben«, erwiderte Morgan, der stets geglaubt hatte, sein Amt seinem brillanten Wahlkampf, seiner charismatischen Persönlichkeit, seiner Sachkompetenz und seiner klaren Vision hinsichtlich der Zukunft Amerikas zu verdanken. Dass er jetzt zugab, Joel Backman etwas zu verdanken, hatte fast etwas Schockierendes an sich.
Aber Critz war schon zu abgestumpft und müde, um sich noch schockieren zu lassen.
Vor sechs Jahren hatte der Backman-Skandal einen Großteil der Hauptstadt erschüttert und schließlich auch das Weiße Haus erreicht. Die dunkle Wolke über dem Haupt eines populären Präsidenten wollte sich nicht mehr verziehen, und dadurch war Arthur Morgan der Weg ins Oval Office geebnet worden.
Jetzt, wo er es verlassen musste, fand er Gefallen an der Vorstellung, sich mit einer Ohrfeige vom Washingtoner Establishment zu verabschieden, das ihm vier Jahre lang die kalte Schulter gezeigt hatte. Eine Begnadigung Joel Backmans würde in jedem Bürogebäude in Washington die Wände wackeln und diese Schwätzer von Journalisten förmlich durchdrehen lassen. Ja, die Idee war gut. Während er sich auf Barbados die Sonne auf den Bauch scheinen ließe, würde in Washington das Chaos ausbrechen – Kongressabgeordnete würden Anhörungen verlangen, Staatsanwälte vor den Kameras posieren und die unerträglichen Schwafelköpfe der TV-Sender ohne Punkt und Komma reden.
Der Präsident lächelte in die Dunkelheit.
Als sie auf der Arlington Memorial Bridge den Potomac überquerten, schenkte Hoby dem CIA-Direktor grünen Tee nach. »Danke«, sagte Maynard leise. »Was wird unser Freund morgen tun, wenn er nicht mehr im Amt ist?«
»Das Land verlassen.«
»Hätte er schon eher tun sollen.«
»Er hat vor, einen Monat in der Karibik zu verbringen, wo er seine Wunden lecken, schmollen und die Außenwelt ignorieren will, bis sich wieder jemand für ihn interessiert.«
»Und Mrs Morgan?«
»Ist schon wieder in Delaware und spielt Bridge.«
»Wird er sich von ihr trennen?«
»Wenn er clever ist. Aber wer weiß?«
Maynard trank vorsichtig einen weiteren Schluck Tee. »Womit könnten wir Morgan unter Druck setzen, falls er nicht mitspielt?«
»Ich glaube nicht, dass er sich unserem Vorschlag widersetzen wird. Die vorbereitenden Gespräche sind gut gelaufen. Critz scheint auf unserer Seite zu sein. Mittlerweile sieht er die Dinge sehr viel realistischer als Morgan. Ihm ist bewusst, dass sie es ohne den Backman-Skandal nie ins Oval Office geschafft hätten.«
»Noch mal: Womit könnten wir ihn unter Druck setzen, falls er nicht mitspielt?«
»Eigentlich mit gar nichts. Er ist ein Idiot, hat aber eine weiße Weste.«
Sie bogen von der Constitution Avenue auf die 18th Street ab und gelangten bald darauf durch das östliche Tor auf das Grundstück des Weißen Hauses. Mit Maschinenpistolen bewaffnete Männer tauchten aus der Dunkelheit auf, dann Mitarbeiter des Secret Service in schwarzen Trenchcoats, die den Fahrer zum Anhalten aufforderten. Codewörter wurden ausgetauscht, Funkgeräte quakten, und wenige Minuten später wurde Maynard aus dem Transporter ausgeladen. Im Weißen Haus wurde sein Rollstuhl nur oberflächlich untersucht, denn darin saß ja nur ein behinderter und in eine dicke Decke verpackter alter Mann.
Artie steckte den Kopf durch die Tür. Das Anklopfen hatte er sich erneut gespart, doch er hielt keine Bierflasche mehr in der Hand. »Maynard ist da«, sagte er.
»Er lebt also tatsächlich noch.«
»So halbwegs.«
»Dann roll ihn rein.«
Hoby und einer von Maynards Stellvertretern – ein Mann namens Priddy – folgten dem Rollstuhl ins Oval Office. Der Präsident und Critz begrüßten die Gäste und führten sie zu den Sesseln vor dem Kamin. Auch wenn sein Chef das Weiße Haus mied – Priddy lebte praktisch hier und informierte den Präsidenten jeden Morgen über nachrichtendienstliche Angelegenheiten.
Maynard schaute sich in dem Raum um, als suchte er nach Wanzen oder Abhörgeräten. Er war sich fast sicher, dass es keine gab; damit war es seit Watergate vorbei. Nixon hatte genug Kabel verlegen lassen, um notfalls eine Kleinstadt abhören zu können, aber auch einen hohen Preis dafür bezahlt. Maynard selbst hatte allerdings Vorkehrungen getroffen. Über der Achse seines Rollstuhls, nur ein paar Zentimeter unter der Sitzfläche, war ein leistungsstarker Rekorder versteckt, der jedes Wort aufzeichnen würde, das während der nächsten halben Stunde in diesem Raum fiel.
Er gab sich Mühe, den Präsidenten mit einem Lächeln zu bedenken, doch tatsächlich hätte er am liebsten gesagt: Sie sind ohne Zweifel der beschränkteste Politiker, der mir je begegnet ist. Nur in Amerika schafft es so ein Idiot ganz an die Spitze.
Morgan lächelte Maynard an und hätte am liebsten gesagt: Ich hätte Sie schon vor vier Jahren feuern sollen. Ihr Geheimdienst war für dieses Land immer nur peinlich.
Maynard: Ich war geschockt, dass Sie tatsächlich einen Staat gewonnen haben, wenn auch nur mit einer Mehrheit von siebzehn Stimmen.
Morgan: Sie würden einen Terroristen selbst dann nicht finden, wenn er auf Plakaten seinen Aufenthaltsort bekannt gäbe.
Maynard: Viel Spaß beim Angeln. Wahrscheinlich fangen Sie noch weniger Forellen als Wähler.
Morgan: Warum sind Sie nicht einfach abgekratzt, wie es damals alle angekündigt haben?
Maynard: Präsidenten kommen und gehen, ich bleibe.
Morgan: Sie können sich bei Critz bedanken, dass Sie Ihren Job noch haben. Ich wollte Sie schon zwei Wochen nach der Amtseinführung rausschmeißen.
»Möchte jemand Kaffee?«, fragte Critz laut.
»Nein«, antwortete Maynard, und auch Hoby und Priddy lehnten ab.
Da die Gäste von der CIA keinen Kaffee wünschten, sagte Morgan prompt: »Ja. Schwarz, mit zwei Würfeln Zucker.« Critz nickte einem Bediensteten zu, der in einer halb geöffneten Seitentür wartete.
Dann wandte er sich wieder den anderen zu. »Wir haben nicht viel Zeit.«
»Ich bin hier, um über Joel Backman zu reden«, sagte Maynard schnell.
»Ja, deshalb sind Sie hier«, bestätigte Morgan.
Maynard ignorierte es. »Wie Sie wissen«, fuhr er fort, »ist Mr Backman ins Gefängnis gewandert, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Er trägt immer noch einige Geheimnisse mit sich herum, die die nationale Sicherheit gefährden könnten.«
»Sie können ihn nicht umlegen«, platzte es aus Critz heraus.
»Wir dürfen keine amerikanischen Staatsbürger ins Visier nehmen, Mr Critz. Das würde gegen unsere Gesetze verstoßen. Uns wäre es lieber, wenn andere das für uns erledigten.«
»Ich kann nicht ganz folgen«, warf der Präsident ein.
»Unser Plan sieht folgendermaßen aus: Wenn Sie Mr Backman begnadigen und er Ihr Angebot annimmt, werden wir ihn innerhalb von ein paar Stunden außer Landes bringen. Er muss sich bereit erklären, sich für den Rest seines Lebens zu verstecken. Diese Zusage dürfte ihm nicht schwerfallen, da es etliche Leute gibt, die ihn lieber tot sähen, was ihm durchaus bewusst ist. Wir werden ihn also ins Ausland bringen, wahrscheinlich nach Europa, weil er dort leichter zu observieren ist. Er wird eine neue Identität annehmen und als freier Mann leben. Nach einer Weile werden die Leute Joel Backman vergessen haben.«
»Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte«, bemerkte Critz.
»Nein. Nach etwa einem Jahr werden wir an den richtigen Stellen ein paar Worte fallen lassen. Man wird Backman aufspüren und töten, und dadurch werden wir auf viele Fragen Antworten bekommen.«
Für einen langen Augenblick herrschte Schweigen. Maynard blickte erst Critz und dann den Präsidenten an. Als er überzeugt war, dass beide hinreichend verwirrt waren, sprach er weiter. »Ein sehr einfacher Plan, Gentlemen. Es geht nur darum, wer ihn töten wird.«
»Also werden Ihre Leute ihn im Auge behalten?«, fragte Critz.
»Sehr genau sogar.«
»Wer ist denn hinter ihm her?«, fragte der Präsident.
Maynard faltete seine bleichen Hände, lehnte sich zurück und blickte die anderen über seine lange Nase an, ganz wie ein Lehrer, der es mit ein paar Drittklässlern zu tun hatte. »Vielleicht die Russen, die Chinesen oder die Israelis. Es könnte aber auch noch andere Interessenten geben.«
Natürlich gab es sie, doch niemand erwartete von Maynard, dass er alles ausplauderte. Er hatte es nie getan und würde es nie tun, und dabei spielte es keine Rolle, wer gerade Präsident war und wie lange er schon im Oval Office saß. Präsidenten kamen und gingen. Manche blieben vier Jahre, andere acht. Einige waren in die Geheimdienste vernarrt, andere interessierten sich nur für die aktuellsten Meinungsumfragen. In der Außenpolitik hatte Morgan besonders dilettantisch agiert, und jetzt, wo er nur noch ein paar Stunden im Amt war, wäre Maynard nicht im Traum darauf gekommen, auch nur ein Wort mehr zu sagen, als es zur Durchsetzung der Begnadigung erforderlich war.
»Warum sollte Backman sich auf einen solchen Handel einlassen?«, fragte Critz.
»Kann schon sein, dass er ablehnt«, antwortete der CIA-Direktor. »Aber er sitzt seit sechs Jahren in Einzelhaft. Dreiundzwanzig Stunden pro Tag in einer kleinen Zelle, eine Stunde in der Sonne. Duschen dreimal die Woche. Mieses Essen – er hat über fünfundzwanzig Kilo abgenommen. Wie ich hörte, geht es ihm nicht besonders gut.«
Vor zwei Monaten, nach Morgans vernichtender Niederlage, hatte Teddy Maynard damit begonnen, den Plan mit Backmans Begnadigung auszutüfteln. Er hatte einige seiner vielen Beziehungen spielen lassen und dafür gesorgt, dass Backmans Haftbedingungen sehr viel schlechter wurden. Die Temperatur in seiner Zelle wurde auf zehn Grad abgesenkt, weshalb er seit vier Wochen einen fürchterlichen Husten hatte. Sein Speiseplan, ohnehin trostlos, war noch einmal kritisch überprüft worden, und mittlerweile wurden seine Mahlzeiten kalt serviert. Die Toilettenspülung funktionierte nur in etwa fünfzig Prozent aller Fälle. Nachts wurde er immer wieder von den Wärtern geweckt, und sein Privileg, telefonieren zu dürfen, war beschnitten worden. Die juristischen Werke, die er zweimal pro Woche in der Gefängnisbücherei auszuleihen pflegte, waren plötzlich nicht mehr zugänglich. Als Anwalt kannte Backman seine Rechte, und er drohte mit allen möglichen Prozessen gegen die Haftanstalt und die Regierung, hatte aber noch keinen angestrengt. Der Kampf hatte bereits seinen Tribut gefordert. Er hatte um Schlaftabletten und ein Antidepressivum gebeten.
»Sie erwarten, dass ich Joel Backman begnadige, damit Sie seine Ermordung arrangieren können?«, fragte der Präsident.
»Genau«, antwortete Maynard. »Auch wenn wir seine Ermordung nicht im eigentlichen Sinne ›arrangieren‹.«
»Aber er wird umgebracht werden.«
»Ja.«
»Und sein Tod liegt im Interesse der nationalen Sicherheit?«
»So ist es.«
DIE STRAFVOLLZUGSANSTALT Rudley Federal Correctional Facility hatte einen eigenen Trakt für Insassen, die in Einzelhaft untergebracht waren: vierzig identische, gerade mal zehn Quadratmeter große Zellen – keine Fenster, grün gestrichene Betonböden und -wände, massive Stahltüren mit einem Schlitz für Tabletts und einem Guckloch, durch das die Wärter gelegentlich einen Blick werfen konnten. In dieser Abteilung saßen Informanten der Strafverfolgungsbehörden, Männer, die Drogendealer oder Mafiosi verpfiffen hatten, und ein paar Spione. Sie waren hinter Gittern, weil es draußen jede Menge Leute gab, die ihnen liebend gern die Kehle durchgeschnitten hätten. Die meisten der vierzig Insassen waren auf eigenen Wunsch in Schutzhaft genommen worden.
Joel Backman versuchte gerade einzuschlafen, als zwei Wärter geräuschvoll die Tür öffneten und das Licht anknipsten. »Der Direktor will dich sehen«, sagte einer der beiden, ohne weitere Erklärungen abzugeben. Sie fuhren schweigend in einem vergitterten Wagen durch die eiskalte Prärie von Oklahoma und kamen an Gebäuden vorbei, in denen weniger schutzbedürftige Kriminelle untergebracht waren. Nachdem sie das Verwaltungsgebäude erreicht hatten, wurde Backman, dem ohne ersichtlichen Grund Handschellen angelegt worden waren, zwei Treppen hochgejagt. Am Ende eines langen Flurs lag ein großes Büro, in dem offenbar Wichtiges vor sich ging. Backman warf einen Blick auf die Wanduhr; es war fast dreiundzwanzig Uhr.
Bisher war er dem Gefängnisdirektor noch nie begegnet, was aber nicht weiter ungewöhnlich war, denn dieser hatte gute Gründe, sich nicht blicken zu lassen. Er musste sich weder zur Wahl stellen, noch hielt er es für nötig, seine Jungs zu motivieren. Außer ihm befanden sich drei ernst dreinblickende Anzugträger in dem Büro, die sich schon eine Weile mit ihm unterhalten hatten. Obwohl das Rauchen in staatlichen Einrichtungen streng untersagt war, war der Raum völlig verqualmt, und Backman sah einen überquellenden Aschenbecher.
Der Direktor verzichtete auf eine Begrüßung. »Setzen Sie sich, Mr Backman.«
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