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In einer amerikanischen Kleinstadt bricht eine Seuche aus. Jacob Hansen, Sheriff, Leichenbestatter und Pastor, muss hilflos zusehen, wie die Bewohner seine Warnungen vor der Krankheit in den Wind schlagen und alle Quarantänemaßnahmen missachten. Die Zahl der Toten wächst dramatisch, von der friedlichen Dorfidylle ist nichts mehr zu spüren. Panik bricht aus. Und Jacob Hansen muss sich entscheiden: zwischen der Verantwortung für die Gemeinschaft und der Rettung seines privaten Lebensglücks. «Absolut unvergesslich.» (Brigitte) «Ein Roman, der die Phantasie des Lesers wie mit heißen Nadeln traktiert.» (Die Weltwoche)
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Seitenzahl: 274
Stewart O'Nan
Das Glück der anderen
Roman
Deutsch von Thomas Gunkel
Der Autor ist Michael Lesy, dessen Wisconsin Death Trip dieses Buch inspiriert hat, zu tiefstem Dank verpflichtet.
Niemand soll einst über mich sagen, dass meine Trauer mich gegen andere Menschen verhärtet hat.
GLENWAY WESCOTT
In Zeiten der Pest gibt es kein Entrinnen. Uns bleibt nur die Wahl, Gott zu hassen oder zu lieben.
ALBERT CAMUS
HOCHSOMMER, IN FRIENDSHIP ist alles still. Die Männer bestellen die flimmernden Felder. Kinder streifen durch die Wälder, waten in den Bächen, planschen in den kühlen Teichen. In der Stadt verweilen Frauen in der Schwüle des Hutgeschäfts, beugen sich über Stoffballen oder Fässer voll klumpigem Mehl. Nur der Güterzug ist zu hören, der eine Meile entfernt auf dem Weg nach Süden vorbeirattert und Funken über die Baumwipfel sprüht. Dann wieder Stille, das Summen der Insekten, der windstille Nachmittag. Kühe zucken und schlagen mit den Schwänzen.
Diese sonnigen, trägen Tage gefallen dir. Alle hoffen, dass es bald regnet, am Sägewerk türmt sich das staubtrockene Sägemehl und von dem verdorrten Gestrüpp in den Wäldern droht Feuergefahr, doch die Hitze hat auch etwas Angenehmes, wie sie über der Dachpappe flimmert, jedes Geräusch erstickt und die Stadt umhüllt. Im Winter gab es ständig Kaminbrände und die Pferde lagen erfroren auf dem Bohlenweg, der Frühling war anstrengend, mit dem Baby, doch Marta ist fast wieder die Alte, ihr Garten üppig, mit faustgroßen Tomaten. Bis auf Millie und Elsa Sullivan, die mit Gabeln und Messern aufeinander losgegangen sind, und Mrs.Goetz, die während des Gottesdienstes gestorben ist, hattest du in letzter Zeit nicht viel zu tun, und das ist dir recht.
Du arbeitest gern für dein Geld, aber wenn man dich braucht, ist immer ein Unglück im Spiel, so oder so. Leichen zu bestatten ist kein Problem; nur die Arbeit als Polizist ist anstrengend. Wenn man in beiden Funktionen gebraucht wird, kann es einem zu viel werden, doch seit deiner Rückkehr ist das erst einmal vorgekommen. Und du hast es gut hingekriegt, hast bei den Soderholms ganze Arbeit geleistet. Du hast Arnies Kopf schräg auf das Kissen gebettet und sein Haar so gekämmt, dass man nicht sehen konnte, wo sein Bruder ihn getroffen hatte, und Eric hat es dir nicht schwer gemacht, ist sogar in Handschellen und seinem Sonntagsanzug zur Beerdigung gekommen. Du hast ihn zum Sarg geführt, damit er Arnie die letzte Ehre erweist.
«So hab ich das nicht gewollt», sagte er ohne großes Bedauern, immer noch wütend auf ihn.
Es war um einen Hund gegangen. Arnie hatte ihn oberhalb des Wehrs am Sägewerk in den Fluss geworfen, um zu sehen, ob er ertrinken würde. Der Hund blieb am Leben, doch da waren die beiden Soderholm-Brüder schon nicht mehr zu retten. Nur ein ganz normaler Stein, du hast ihn aufgehoben und wie ein Ei in der Hand gewogen. Kain und Abel, hast du gedacht – da kam die Vorliebe deiner Mutter für biblische Geschichten durch–, doch dann hast du gedacht, dass es nicht dasselbe war. Es war ein Unfall, zwei so brave Jungs. Als du es Marta erzählt hast, hat sie geweint.
Der Marshal, der mit der Postkutsche aus Madison kam, schüttelte den Kopf, als wäre so was typisch für eine sterbende alte Bergarbeiterstadt wie Friendship. Er warf einen abschätzenden Blick auf die leeren Schaufenster der Läden – der Marquette County Record, die First Bank of Wisconsin. Du hast den einen Bruder in die Zelle gesperrt und den anderen, das Kinn voll Sägemehl, in den Eiskeller gelegt. Den Stein hast du in einer Käseschachtel aufbewahrt und das Geständnis des Jungen bereitgehalten, damit der Marshal es in die Hauptstadt mitnehmen konnte. Er war überrascht, dass du Arnies Schädel so gut hingekriegt hattest.
«Machen Sie sonst noch was?», fragte er.
«Ich predige ein bisschen», hast du gesagt und dich bemüht, deinen Stolz zu verbergen. Es hat ihn nicht wirklich interessiert, deshalb bist du auch nicht näher darauf eingegangen, dass du alle drei Tätigkeiten als artverwandt betrachtest, als Möglichkeit, das Paradies zu preisen und Gott dafür zu danken. Der Marshall war kein gläubiger Mensch – er hätte dich ausgelacht. Hier in der Stadt macht sich manch einer über dich lustig. Das ist schon in Ordnung. Sie werden alle eines Tages zu dir kommen und sie wissen, dass du sie anständig behandeln wirst. Du sagst ihnen, dass du einen Vertrag hast, dass es für dich eine Ehre ist. Friendship ist meine Stadt, sagst du, und sie finden, dass du zu ernst bist, ein rührseliger Dummkopf. Sie denken, dass der Krieg dich verändert hat. Vielleicht, aber zum Guten, denkst du. Das ganze Gerede schmälert nicht deine Zuneigung zu ihnen. Dein Verantwortungsgefühl hängt nicht nur von deiner Arbeit ab. Es ist deine Stadt, sie sind deine Leute, auch der Einsiedler in seiner schmuddeligen Höhle, dessen Enten laut losschnattern, sobald sich jemand nähert.
Heute ruft man dich, das heißt Meyer, den sie Old Meyer nennen, schickt Bitsi, seine Kleinste, zu dir. Als sie angelaufen kommt, wirbelt sie Staub auf und macht sich die Strümpfe schmutzig. «Sheriff Hansen! Sheriff Hansen!»
Du stehst draußen auf der Treppe, ohne den großen Braunen zu beachten, der vor Fentons Laden angebunden ist und den Kopf in den Wassertrog steckt. Das ist das einzig Seltsame an dir: Du bist nicht mehr gern mit Pferden zusammen. Was verständlich ist, da du sie während der Belagerung essen, dich zum Schutz in ihre warmen, toten Eingeweide wühlen musstest, doch darüber sprichst du nicht oder nur zu Marta, die es auf keinen Fall verraten würde. Inzwischen fragt dich keiner mehr, warum du Fahrrad fährst oder mit der Draisine über die rostigen Bergwerksgleise durch die Wälder rollst. Die alten Arbeiter müssen es den neueren Einwanderern erklären – den Norwegern, die zu ihren Familien stoßen, den Polen, die fassungslos aus der Postkutsche steigen, den Leuten aus Cornwall, die nicht wissen, dass das Bergwerk stillgelegt ist.
Bitsi packt dich am Bein, zerrt an deinem Arm, so außer Atem, dass sie zunächst kein Wort hervorbringt. «Pa hat gesagt, du sollst kommen. Ganz schnell.»
«Sachte, sachte», sagst du. Es kann sich um alles Mögliche handeln. Old Meyers hintere Weide grenzt an die Holy Light Colony und in den letzten Wochen hat er dich ein paar Mal gerufen, weil nachts Leute mit brennenden Kerzen durch den Wald geisterten. Bei dieser Trockenheit ist das gefährlich, doch in Wirklichkeit hat Meyer etwas gegen die Kolonie als solche. Sie ist noch ganz neu, hauptsächlich Leute aus der Großstadt, angeführt von einem Mann namens Chase. Das Anwesen zieht sich bis in die Hügel rauf; Chase hat das alte Bergwerk von Nokes gekauft – das Herrenhaus, das Lager, alles. Es heißt, er predigt vom Jüngsten Gericht. Es heißt, er hält nachts in den Schächten Gottesdienste, er schläft mit den Frauen seiner Anhänger, isst nur ungesäuertes Brot, wie ein Wüstenprophet, ein wild dreinblickender Säulenheiliger. Du bist ihm einmal begegnet und er war gut gekleidet, redete leise und wirkte zurückhaltend. Du hast keine vorgefasste Meinung über ihn, darauf legst du großen Wert. Diese Bereitschaft, alle Seiten zu hören, alle zu mögen, ist typisch für dich. Du glaubst nicht mehr an das Böse. Ist das eine Sünde? Du weißt, was deine Mutter dazu sagen würde, aber man muss gerecht sein, die Toten verdienen dein Mitgefühl. Es ist deine Aufgabe, zu verstehen, zu verzeihen, nicht bloß deine Gewohnheit.
Du kniest dich neben Bitsi, sodass ihr euch ins Gesicht seht. «Jetzt mal langsam. Was ist los, Schätzchen?»
«Pa sagt, da liegt ein Toter.»
«Jemand aus der Kolonie?»
«Pa hat ihn hinter dem Bienenstock gefunden. Du sollst kommen.»
Du setzt sie auf die Lenkstange und fährst wacklig los, doch dann findest du dein Gleichgewicht. Es war die ganze Zeit so trocken, dass die Straßen ganz eben sind, eine wahre Freude nach den Frostfurchen und dem Schlamm im April. Bitsi hat noch nie auf einem Fahrrad gesessen und sie lacht und drückt die Finger fest zusammen. Du braust zwischen Feldern voll hoher, regloser Gerste hindurch. Du überquerst die überdachte Ender’s Bridge und tauchst aus dem Schatten plötzlich in blendendes Sonnenlicht. Aus dem Sägewerk hinter dir in der Stadt steigt Rauch auf, der wie dicke Sahne am strahlenden Himmel klebt. Die Kirchenglocke läutet zu Mittag, doch in der Hitze klingt sie nur müde und schwach. Keine Luft zum Atmen, bloß das Schrillen versteckter Zikaden und springende Grashüpfer. Eine einzelne Wolke schwebt am Horizont, als würde sie übers Wasser treiben.
Die beiden Meyer-Jungs, Zwillinge in zueinander passenden Arbeitsanzügen, stehen im Garten und hacken Unkraut. Marcus und Thaddeus. Zwillinge. Amelia allein, mit ihren nächtlichen Koliken, ist schon anstrengend genug. Marta ist ständig müde. Doc Guterson sagt, es sei normal, aber das ist kein Trost. Die Meyer-Jungs halten in ihrer Arbeit inne und lächeln höflich. Als sie an ihre Strohhüte tippen, kannst du sehen, wo ihre Bräune aufhört, ihre Stirnen sind käseweiß.
«Sheriff», sagen sie. Dein richtiger Titel ist Constable, doch nur Marta nennt dich so, und auch nur im Bett.
«Jungs.»
«Pa ist hinten», sagt einer der beiden und du siehst den anderen an, als ob er jetzt an der Reihe wäre. Er grinst ausdruckslos. Du tippst zum Dank an deinen Hut und Bitsi führt dich weiter.
Old Meyer ist hinterm Haus und schabt Honig in eine Schüssel. Sein Bienenschleier ist zurückgeschlagen und eine Biene sitzt wie eine Träne auf seiner Wange. Er deutet mit dem tropfenden Messer zum Waldrand.
«Da hinten liegt ein toter junger Bursche, ich weiß nicht, wer’s ist.»
«Ein Landstreicher?», fragst du, denn es war ein hartes Jahr, und auf der Suche nach Arbeit sind viele Männer hier durchgezogen.
«Könnte sein. Sieht aus, als wär er im Krieg gewesen.»
Das ist gewöhnlich ein Anhaltspunkt; viele Männer sind nicht nach Hause zurückgekehrt. Sechs Jahre, und noch immer bauen sie jeden Abend ihr Lager auf, brechen es bei Tagesanbruch wieder ab und ziehen weiter.
«Was ist denn passiert?», fragst du.
«Keine Ahnung. Hab ihn mir nicht genau angeguckt, hab bloß gesehen, dass er tot ist, ganz grün um den Mund.»
«Wie weit drin liegt er?»
«Gehen Sie einfach geradeaus», sagt Old Meyer und weist mit dem Messer die Richtung. «Sie können ihn nicht verfehlen.»
Meyer hat Recht. Nachdem du dich durch ein paar Dornensträucher gezwängt hast, umhüllt dich der kräftige Gestank von ausgelassenem Fett wie eine Rauchwolke. Auf eine seltsame Art ist der Geruch geradezu angenehm; nach dem Ende der Belagerung hatte dein Regiment die Aufgabe, nach Toten zu suchen, und dieser vertraute Geruch inmitten der Sümpfe von Kentucky bedeutete, dass eine Mutter ihren Sohn zurückbekommen würde.
Hier ist es so ähnlich. Der Mann, den du findest, liegt neben den Überresten eines heruntergebrannten Lagerfeuers auf dem Bauch. Das Feuer hat die ganze Nacht gebrannt, die Steine sind schwarz und rissig. Die Stulpen seiner blauen Uniform sind durchgescheuert, die Knöpfe fehlen. Er sieht nicht grün, sondern eher gelb aus, aber er ist zweifellos noch jung – in deinem Alter, nicht älter als dreißig und bartlos. Du siehst keine Wunden. Sein Gesicht ist so ausgemergelt, die Augen sind so tief in die Höhlen gesunken, dass du einen Augenblick lang an Gefangene, an Hungertod denken musst, doch das würde mehrere Tage dauern. Das hier sieht aus, als wäre es schnell gegangen, als hätte er auf dem Baumstamm gesessen und wäre einfach vornübergefallen. Von hinten abgeknallt oder erschlagen. Du musst an Eric Soderholm und seinen Stein denken, an den Hund im Wasser. Du fragst dich, ob er gebellt hat, ob ihn die Jungs trotz des rauschenden Wassers hören konnten.
Unter einem Farnwedel liegt eine Blechtasse; so eine hat drei Jahre lang auch an deiner Hüfte gescheppert. Er trägt dieselbe Jacke, denselben Gürtel, dieselbe Kappe wie du bei deiner Heimkehr.
Du hockst dich hin und riechst an der Tasse. Kaffee. Du richtest dich auf und siehst dich nach dem Topf um, in dem er ihn gekocht hat, nach seinen Vorräten. Eine seiner Taschen hängt heraus wie eine weiße Fahne und du lässt den Blick über den Wald schweifen, als würde der Mörder dich vielleicht beobachten. Er ist längst weg, hat den Bezirk vermutlich schon verlassen. Du wirst nach Shawano telegraphieren und Bart Cox sagen, dass er nach Landstreichern Ausschau halten soll. Bart war mit dir zusammen in der Schlacht von Bloody Run und hat eine Miniékugel in den Arm bekommen. Die Wunde ist schlecht verheilt und hat sich entzündet; mit der anderen Hand ist Bart noch ein Meisterschütze. Er war Sergeant und hat nicht so viel Mitleid mit den durchziehenden Männern wie du – er verflucht seine Waffenbrüder. Aber es sind viele von ihnen dort draußen, und jedes Mal, wenn du an sie denkst, kommt die missionarische Ader deiner Mutter durch. Die Männer streifen allein oder zu zweit umher. Wirklich traurig, das hier. Hat wahrscheinlich gedacht, der Mann wär sein Freund.
«Herr, erbarme Dich seiner», betest du, dann drehst du ihn um. Kein Blut auf seinem schmutzigen Unterhemd, keine Einschusslöcher, kein Bowiemesser zwischen den Rippen. Seine Nagelhaut ist lila, als hätte er sie in Wein getaucht, und du fragst dich, wie lange er wohl schon tot ist. Du musst mit Doc sprechen, sehen, was er dazu sagt. Du steckst die Kappe und die Tasse in die Jacke des Mannes, verschränkst seine Arme vor dem Bauch, obwohl sie sich widersetzen. Das hat man dir in der Armee beigebracht; auf dem Rücken ist es leichter. Du packst ihn an den Knöcheln, siehst die hauchdünnen Absätze an seinen Armeestiefeln, das rissige Leder.
Diese Arbeit ist alles andere als schön, auch wenn du vorsichtig bist. Als dein Regiment einmal eine Wiese durchkämmte, hast du einem Mann den Kiefer gebrochen, weil er einen toten Rebellen zum Spaß gegen einen Zaunpfahl gelehnt hatte. Wenn du durch deine Arbeit irgendetwas gelernt hast, dann, dass man den Tod ernst nehmen, ihm den gleichen Respekt erweisen muss wie der Liebe.
«Alles in Ordnung», hörst du dich zu ihm sagen. «Keine Angst, wir werden dich schon anständig herrichten.» Mit den Toten zu reden ist eine schlechte Angewohnheit. Marta sagt, du sprichst mit ihnen mehr als mit den Lebenden, und das könnte stimmen, obwohl sie es nicht ernst meint. Manchmal führst du im Keller lange Gespräche mit den Toten, die du gerade herrichtest, beantwortest deine eigenen Fragen, während du sie ausbluten lässt, versuchst herauszufinden, was du wirklich über Gerechtigkeit, Schicksal oder den Himmel denkst. Du fragst dich, ob du langsam alt und zu ernst wirst.
«Ich fang wohl an zu spinnen», sagst du, worauf der Mann nickt, denn sein Kopf holpert durch die wilden Astern, und du hast ein schlechtes Gewissen, weil du deinen Spaß mit ihm treibst. Du bekommst einen Schrecken. Es liegt bloß an der Uniform, der Erkenntnis, dass du das sein könntest. Als du mit ihm zu den Bienenstöcken kommst, bist du ganz trübsinnig, und nicht einmal die emsige Betriebsamkeit der Bienen bringt dich zum Lächeln.
Meyer schabt noch immer Honigklumpen in die Schüssel, der Griff des Messers und seine dünnen Wildlederhandschuhe sind schon ganz dunkel. Er lässt einen der Zwillinge das Gespann holen und dir helfen, den Toten auf den Wagen zu heben. Die Federung quietscht. Der Junge verzieht bei dem Gestank das Gesicht und bemüht sich, die Leiche nicht anzuschauen. Ohne seinen Bruder wirkt er unvollständig, unscheinbarer. Du weißt nicht, welcher von beiden es ist, Marcus oder Thaddeus.
«Wir sollten was holen, um ihn zuzudecken», sagst du, doch nicht bloß aus Respekt. Du willst nicht, dass man ihn in der Stadt angafft und sich in deine Angelegenheiten einmischt. Seit die Bergwerke stillgelegt sind, floriert in Friendship nur noch der Tratsch.
Der Junge kommt mit einem Stück Sackleinen zurück und du breitest es über die Leiche. Er steigt auf den Bock. Der Geruch der Pferde stößt dich ab und du musst an den Schlamm denken, daran, wie sich dein Magen zusammenkrampfte, als die Kanonenkugeln der Rebellen über euch hinwegpfiffen.
«Bring ihn direkt zu Doc Guterson», trägst du ihm auf.
«Ja, Sir», sagt er, traut sich immer noch nicht, nach hinten zu schauen, und zieht leicht an den Zügeln, damit das Gespann losläuft. Als die Pferde den Hof überqueren, ruckelt der Tote hin und her und seine Absätze poltern auf der Pritsche. Die Blechtasse scheppert und fällt dann glitzernd ins Gras. Bitsi rennt durch das Timotheusgras, hebt sie mit beiden Händen auf, als wäre es ein preisgekröntes Küken, und gibt sie dir. Das Metall hat sich schon erwärmt. Du steckst die Tasse in die Tasche und gehst zu deinem Fahrrad, das im Schatten des Dachvorsprungs steht. Du willst als Erster in der Stadt sein, und du weißt, wie es ist, wenn ein Junge von seinem Vater den Wagen bekommt.
«Und?», ruft Meyer.
«Wir werden sehen.»
«Keine Ahnung, warum sie herkommen, hier gibt’s doch gar keine Arbeit. Heute Abend lad ich das Gewehr mit Steinsalz, da können Sie Gift drauf nehmen.»
«Lassen Sie Ihre Hunde raus, das wird reichen. Sagen Sie, welcher von beiden ist das auf dem Wagen?»
«Thaddeus.»
«Irgendwelche Probleme mit der Kolonie?»
«Nein, war in letzter Zeit ziemlich ruhig.»
«Das ist gut. Haben sie den Mann nicht angefasst oder sich an ihm zu schaffen gemacht?», fragst du, obwohl du dir sicher bist, dass Meyer ihn nicht berührt hat, aber es ist deine Aufgabe, misstrauisch zu sein und an Dinge zu denken, die anderen Leuten nicht einfallen würden.
«Nein, Sir. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben, das können Sie mir glauben.»
«In Ordnung», sagst du, tauschst noch ein paar Höflichkeiten mit ihm aus, bedankst dich bei Bitsi und brichst auf.
Der Staub auf der Straße hat sich verzogen und du kannst die Fahrspur von Meyers Wagen sehen. Rauchschwalben flattern über die Felder oder hüpfen zwitschernd von einem Pfahl zum anderen. Bei jedem Tritt in die Pedale drückt sich die Tasse, die du in der Tasche hast, in deinen Unterleib. Es gefällt dir nicht, dass Meyer dich Sir genannt hat. Er hat Geldsorgen gehabt, deshalb imkert er jetzt, verkauft den Honig in der Stadt. Er würde keinen Menschen umbringen und wahrscheinlich auch nicht ausrauben, aber wenn irgendwas rumgelegen hat, hat er es vielleicht aufgehoben. Vor Almas Tod wäre so was nicht vorgekommen, aber jetzt muss er sich ganz allein um Bitsi und die Zwillinge kümmern, das kann einen Mann zur Verzweiflung treiben. Letzten Monat hat Oly Marsden in Shawano zwei Kälber verloren, und der Stationsvorsteher hat ihn erschossen, als Oly versuchte, den Bahnhof auszurauben. Bart hat gesagt, Marsden hätte sich nicht mal maskiert, sondern wär einfach mit einer Schrotflinte zum Schalter gegangen, als ob ihm das Geld zustehen würde. Der Stationsvorsteher hatte eine Skeetpistole und schoss Oly durch den Adamsapfel. So lag dort ein Mann, der seine Töchter immer zu den Tanzveranstaltungen der Kirchengemeinde fuhr, und verblutete auf dem Bahnsteig, während die Fahrgäste aus dem Mittagszug an ihm vorbeiströmten, als ob er gar nicht existierte. An so was denkst du nicht gern, drum trittst du in die Pedale, greifst nach der Tasse und schiebst sie beiseite, damit sie dich nicht mehr stört.
Von Rechts wegen hat der Mann Meyers Land unbefugt betreten. Falls Meyer also irgendwas getan haben sollte, war er im Recht. Aber das ist Haarspalterei und nicht der Geist des Gesetzes. Meyer hat ihn nicht umgebracht. Vielleicht hat er ihm die Taschen geleert, den Inhalt seines Tornisters ins Gras gekippt. Nicht gerade ehrenwert, aber strafbar?
Du schüttelst den Kopf, um den Gedanken zu verscheuchen. Ein Mann ist tot, solche feinen Unterschiede sind unangebracht. Mord ist immer eine einfache Angelegenheit.
Noch bevor du den Wagen dahinzockeln siehst, erblickst du die Staubwolke. Das Stück Sackleinen ist über die Leiche gebreitet und Thaddeus schaut immer noch nicht nach hinten. Du ziehst den Hut ins Gesicht und senkst den Kopf, um keinen Staub in die Augen zu bekommen; er verklebt deine Wimpern und legt sich auf deine Jacke. Du trittst fest in die Pedale, um an ihm vorbeizukommen, schenkst den Pferden keine Beachtung, winkst dem Jungen zu. Nach ein paar Minuten kannst du ihn schon nicht mehr hinter dir sehen, nur noch die Felder, die Bäume, den Himmel.
Es ist ein herrlicher Tag, doch du siehst den Mann im Feuer liegen, die eine Wange von der Holzkohle ganz schwarz. Du wirst mit Doc sprechen, er wird schon daraus schlau werden. Du weißt, dass es am besten ist, nicht zu lange über so was nachzudenken.
Die Karmanns haben letzte Woche begonnen, Heu zu machen, und mit den Gedanken noch bei den grünen Bohnen, die Marta dir heute Morgen versprochen hat, siehst du im Vorbeifahren, dass eine Frau in den leuchtenden Stoppeln liegt. Zuerst denkst du, es ist eine Feldarbeiterin, die ein Nickerchen macht, doch sie trägt ein Hemdkleid, ihr Haar leuchtet wie die trockenen Heuhaufen. Sie liegt da, das Gesicht nach unten, wie der Mann auf dem Wagen, und du hältst an, springst vom Rad und über den Straßengraben, denkst, dass das nicht sein kann, zwei am selben Tag.
Noch bevor du bei ihr bist, überkommt dich panische Angst und du fragst dich, ob es das Werk eines einzigen Täters ist, wie bei den kleinen Mädchen, die Bart in der Zisterne des Schmieds gefunden hat. Das war etwas wahrhaft Böses. Bart hat dir die abgetrennten Körperteile gezeigt, die Narben auf ihren Körpern, und auch wenn du behauptet hast, schon Schlimmeres gesehen zu haben, es war nicht der Krieg, es waren bloß Kinder. Du hast Bart geholfen, die Scheune und dann das Haus des Schmieds niederzubrennen, und alle Stadtbewohner schauten dabei zu, stumm wie Trauergäste. Es war ein Ablenkungsmanöver; während ihr beide sein Haus den Flammen übergeben habt, wurde der Schmied von demselben Marshal, der sich um Eric Soderholm gekümmert hat, durch die Hintertür des Gerichtsgebäudes weggeführt.
Während du über das Stoppelfeld stapfst, fragst du dich, ob der Schmied vielleicht aus Mendota ausgebrochen ist, ob du Bart telegraphieren und ihn auffordern musst, mit den Hunden herzukommen. Du denkst, dass es damals ein ebenso herrlicher Tag war, so still, wie du es gern hast. Auch jetzt stehen die Bäume reglos da, nur die Blätter rascheln ein wenig im leichten Wind.
Sie stammt aus der Großstadt; das siehst du an ihrem hauchdünnen Unterrock, an den Strümpfen und den hochgeknöpften Schuhen. Wahrscheinlich aus der Kolonie. Manchmal flüchten sie und vergnügen sich in den Saloons, und dann musst du sie wieder einsammeln. Du lässt den Blick über das Feld schweifen, um nach Karmann oder seinen Jungs Ausschau zu halten, aber es ist niemand zu sehen, nur ein Habicht, der sich in der Hitze des Tages in den Himmel schraubt.
Ihre Beine sind zerschrammt und blutig, ihre Strümpfe zerrissen. Du kniest dich neben ihre Füße, um sie genauer zu betrachten. An einer Stelle ist das Blut noch frisch und feucht, und als du den Finger auf die Wunde legst, dreht sich die Frau plötzlich um und stößt deine Hand weg.
Du weichst zurück, greifst unwillkürlich nach deinem Colt, doch deine Hand hält inne, weil du die Frau fasziniert betrachtest.
Sie zuckt, als hätte sie einen Anfall, und wirft den Kopf von einer Seite zur anderen. Ihr Hals ist schmutzig, ihr Haar ganz zottelig, als ob sie im Wald gelebt hätte. Du denkst an die fehlenden Zähne des Einsiedlers, an seine langen Fingernägel und ziehst die Jacke wieder über den Kolben deines Revolvers.
«Ogottogottogott», stöhnt sie. «Ogottogottogott.»
«Ma’am!», sagst du. «Ma’am.»
Es dauert eine Weile, aber dann beruhigt sie sich, lässt den Kopf sinken. «Jesus, ich liebe Dich, Jesus, ich liebe Dich.» Es klingt wie ein Bittgesang. Sie hat die Augen so fest zugekniffen, dass sie weinen muss, doch sie klingt glücklich. «Ich liebe Jesus.»
Sie ist in Ekstase, so etwas siehst du jedes Jahr im Juli, wenn die Leute von der Erweckungsbewegung durchkommen, ihre Wagen mit Bibelszenen bemalt, die Farben leuchtend wie bei einem Zirkus. Du hast immer gedacht, die Verzückung wäre bloß gespielt, um die Gutgläubigen aufzupeitschen und das Zelt voll zu kriegen. Du kennst den Herrn so gut wie jeder andere, für dieses ganze Theater gibt es keinen Grund. Könnte sein, dass sie betrunken ist.
«Ma’am», sagst du und ergreifst ihren Arm.
Sie lässt sich von dir aufhelfen und murmelt: «Jesus, mein Herr und Erlöser», doch als du versuchst, sie zur Straße zurückzuführen, reißt sie sich los und stürzt wieder zu Boden. Sie wälzt sich vor deinen Füßen im Heu.
«Also wirklich, Ma’am», schimpfst du sie aus. Dafür ist das Heu zu heiß und außerdem wimmelt es von Käfern. Du wirst jetzt mit der Draisine auf dem Nokes-Gleis zur Kolonie fahren und mit Chase sprechen müssen.
Du blickst zur Straße zurück und siehst Thaddeus, den Staub aufwirbelnden Wagen. Du schwenkst beide Arme über dem Kopf, Thaddeus hält an und die Staubwolke hüllt ihn ein.
Die Frau hat sich wieder beruhigt, murmelt mit glanzlosen Augen etwas vor sich hin. Sie hustet, ein Speichelfaden hängt ihr am Kinn. Du weichst zurück, da du denkst, sie könnte wild geworden sein wie ein tollwütiges Tier. Du hast erlebt, wie ein krankes Schwein einem Mann ein Stück Fleisch aus dem Knie gerissen hat, wie aus seinem Maul grüner Schaum troff.
«Ich habe Jesus gesehen», sagt sie und nimmt dich zum ersten Mal zur Kenntnis und du denkst, ihr ist bloß übel, es gibt für all das bestimmt eine ganz einfache Erklärung. «Ich habe Jesus gesehen», sagt sie noch einmal. Diesmal ist es eine an dich gerichtete Frage, eine Tatsache, die du anscheinend bestreitest.
«Ich weiß», sagst du, denn es ist zwecklos, sich mit Verrückten zu streiten. Du reichst ihr die Hand, sie ergreift sie und du ziehst sie wieder hoch.
«Er war so wunderschön. Er hat auf mich gewartet.»
«Er wartet auf uns alle», erwiderst du.
«Ja», sagt sie. «Woher wissen Sie das?»
«Ich weiß manches über ihn.»
«Bruder Chase sagt, er rettet uns alle, die Geläuterten und die Kranken. Meinen Sie, dass das stimmt?» Sie hält inne und starrt dich an, als könntest du das wirklich wissen.
«Natürlich», sagst du, «wir sind alle gerettet», und dann führst du sie über das Feld. Auch das ist keine bequeme Lüge; du glaubst es wirklich. Sonst hättest du nicht Reverend Toomeys Platz eingenommen und von seiner Kanzel gepredigt, nachdem die Diözese ihn nach Madison zurückgerufen hatte. Diakon Hansen nennen sie dich sonntags und am Montag erfährst du, dass sie dem Melker ein blaues Auge verpasst haben, dass ihr Jüngster sich drüben in Shawano im Bordell vergnügt hat. Beides gehört zusammen, denkst du. Ob als Sheriff oder Prediger, du versuchst immer, an das Gute in ihnen zu appellieren.
«Alle!» Sie lacht. «Ah, Bruder, aber du bist nicht krank.»
«Nein», gibst du zu.
«Dann ist es einfach, gläubig zu sein.»
Du bist anderer Meinung, nickst aber bloß. Du findest die ganze Idee von der Bekehrung auf dem Sterbebett falsch, das dient nur zur Beruhigung der Sterbenden. Wenn du am glücklichsten und dir deiner Stärke gewiss bist, musst du dich verneigen und mit Gott sprechen. Du fragst dich, ob das lax oder fanatisch ist. Du weißt, dass Marta sich Sorgen macht, wenn du deinen Glauben zu wichtig nimmst, drum hast du angefangen, dich, wenn die Zelle leer ist, in deinem Büro hinzuknien und auf dem kalten, harten Boden zu beten. Das hat nichts mit Verzweiflung zu tun, es ist nur ein Trost, den du ab und zu brauchst, aber du hast deine Erklärungsversuche aufgegeben. Eigentlich kannst du es nicht erklären. Es ist nur ein Gefühl, als würdest du etwas wissen, als wärst du einer bedeutenden und doch völlig einfachen Antwort nahe. Aber du weißt nicht, was für eine Antwort es ist. Es ist einfacher, es zu verbergen, es geheim zu halten, doch du schämst dich dafür. Du vertraust den Leuten keine Geheimnisse an.
Du führst die Frau auf Thaddeus zu, der dir auf halbem Wege entgegenkommt. Er schreckt vor ihr zurück und du denkst zu Unrecht, dass er für einen Farmersjungen etwas zimperlich ist. Bitsi hatte keine Probleme damit, die Tasse aufzuheben.
«Hast du Jesus gesehen?», fragt sie ihn.
Er sieht dich an, weiß nicht, was er sagen soll. «Nein, Ma’am», sagt er zögernd.
«Aber er sieht dich», erwidert sie, als würde das Gegenteil logisch daraus folgen.
Thaddeus sieht dich hilflos an.
«Er sieht uns alle», sagst du.
«Das stimmt», sagt die Frau und hustet wieder. Sie scheint sich erholt zu haben, aber vielleicht nur vorübergehend. Besser, du nimmst sie auch mit zu Doc Guterson.
Die Pferde sind zwei große Belgier, die haben immer die Geschütze gezogen. Sie kauen an den Trensen und zucken mit den ädrigen Bäuchen, um die Fliegen zu verscheuchen. In der Hitze fängt der Soldat langsam an zu stinken und du spürst, wie die Erinnerungen wie Schlamm in dich einsickern. Du schiebst ihn zur Seite und hebst das Fahrrad auf den Wagen, springst dann auf und reichst der Frau die Hand. Thaddeus ist froh, dass er sich wieder auf den Bock setzen kann.
Du schirmst die Frau von dem Toten ab, doch sie starrt auf das Sackleinen und reibt sich mit dem Handrücken die Nase. Thaddeus lässt die Zügel schnalzen und die Räder setzen sich quietschend in Bewegung. Dein Fahrrad ruckelt noch einmal kurz, die Stiefel des Mannes poltern.
«Im Himmel vergisst man alles», sagt sie. «In der Hölle wird einem alles ins Gedächtnis gerufen.»
Nein, denkst du, es ist andersrum. «Vielleicht», sagst du.
«Alle stinken, auch die Geretteten. Mein Daniel hat gestunken. Wir haben ihn gefunden, aber es war schon zu spät.»
«War er in der Kolonie?»
«Bruder Chase sagt, es ist eine Sünde, sich dem Willen Gottes zu widersetzen. Das glaube ich jetzt auch.»
«Daniel war Ihr Mann?», fragst du, doch sie blickt über die Felder in die Ferne. Die Weitzels machen Heu, der kleinere von den Jungs steht mit einer Gabel oben auf dem Wagen. Johannistag, Beginn der Heuernte. Sie sind fast fertig, nur eine Reihe Heuhaufen ist noch übrig. Sie winken und du weißt, dass die ganze Stadt beim Abendessen darüber reden und Vermutungen anstellen wird, wer die Frau war und was du hinten auf Old Meyers Wagen hattest. Die Leute werden morgen vorbeischauen, um zu sehen, ob sie in der Zelle sitzt.
«Die Kleinen holt er zuerst zu sich», sagt die Frau und du musst unwillkürlich an Amelia denken.
«Tut mir wirklich Leid, Ma’am», sagst du und denkst, dass es ihr Benehmen zumindest teilweise erklärt. Wenn es wirklich stimmt.
«Der Himmel ist voller Kinder.»
«Stimmt.»
Sie nickt und hustet heftig und Thaddeus dreht sich kurz um, als ob er vergessen hätte, dass du da bist. Die Kirchenglocke in der Stadt schlägt eins. Doc dürfte gerade von seinem Nickerchen aufstehen, seinen Kragen vom Tisch nehmen und die Kragenstäbchen zurechtrücken. Er wird ihr helfen können.
Die Straße windet sich unter einer Reihe von verkrüppelten Bäumen am Fluss entlang. In der Hitze zirpen die Zikaden. Während ihr schaukelnd die dunkle Ender’s Bridge überquert, hörst du unten die planschenden, lachenden Kinder, die Tauben und das Echo in den Dachsparren und du schiebst den Stiefel des Mannes wieder unter das Sackleinen. Dann kehrt ihr ins Sonnenlicht zurück. Die Frau starrt ausdruckslos auf die Staubwolke, die hinter euch aufsteigt. Die Ekstase ist anscheinend vorüber und sie sieht erschöpft, leer und alt aus. Der Fluss führt nur wenig Wasser, die seichten Stellen sind nichts als rissiger Schlamm, das Schilf ist verfault. Die Belgier wiehern bei dem Gestank.
Doch in der Stadt ist es grün und kühl. Ihr biegt um die letzte Kurve, bevor es nach Friendship reingeht, die Schindelhäuser deiner Nachbarn gleiten schmuck hinter den Gartenzäunen vorbei, die Eichen bilden über euch einen Tunnel. Du schaust nach oben und die Äste ziehen vorüber, beugen sich herab, als ob sie euch segnen wollten. Unsichtbare Goldspechte zwitschern. Im Schatten kommt dir der Tag wieder ganz unbeschwert vor, aber das täuscht. Ein Mann ist tot, eine Frau krank vor Kummer.
Trotzdem, denkst du, grüne Bohnen zum Abendessen. Du wirst Marta überreden, ein Lied zu singen, während du Harmonium spielst, und wenn Amelia im Bett liegt, werdet ihr euch gegenseitig aus Mrs.Stowes Roman vorlesen, bis ihr das Kapitelende erreicht habt. Einer von euch wird den Docht der Lampe schnäuzen und im Dunkeln wird Martas Hand deine suchen. Im Bett werdet ihr die Steppdecke brauchen, werdet euch drunterkuscheln. Das ist das Gute, wenn man so weit im Norden lebt; selbst in der Hitze des Sommers sind die Nächte kühl. «Jacob», wird sie sagen und dir angenehme Träume wünschen. Und während du neben ihr liegst und stumm deine Gebete sprichst, wirst du denken, wie wunderbar die Welt ist und was für ein Glück du hast, und du wirst Gott danken und Ihm sagen, wie froh du über alles bist – selbst über die Hitze, den Staub, die Tränen dieser verrückten Frau. Und dann wirst selbst du dich fragen, wie du so hoffnungsvoll sein kannst, und wirst darüber staunen, dass man das Herz nicht davon abhalten kann, die ganze Welt – alle Leute hier in Friendship, die unter dem Sommermond schlafen – zu umarmen, und wenn du dann allein im Dunkeln liegst, wirst du dich diesem großen Segen beugen, wirst dich ihm fügen und denken, dass morgen alles besser wird.