Die Speed Queen - Stewart O′Nan - E-Book

Die Speed Queen E-Book

Stewart O'Nan

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Beschreibung

Margie Standiford sitzt in der Todeszelle eines Gefängnisses in Oklahoma, Stunden vor der Hinrichtung, und spricht ihre Lebensgeschichte auf Band. Sie erzählt, wie sie zur «Speed Queen» wurde; wie aus dem Drogenkonsum mit ihrem Mann und ihrer – und seiner – Geliebten Dealen wurde, aus Dealen Raub und aus Raub vielfacher Mord. Ihr Ghostwriter ist Amerikas «König des Horrors» Stephen King.

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Seitenzahl: 334

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Stewart O'Nan

Die Speed Queen

Roman

Aus dem Englischen von Thomas Gunkel

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

WidmungMottosSeite ATest, 1, 2, 312345678910111213141516171819202122232425262728Seite BTest, Test29303132333435363738394041424344454647484950515253542. Kassette, Seite AHallo, hallo555657585960616263646566676869707172737475767778798081828384858687888990919293949596979899100101102103104105106107108109110111112113114
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Für meinen lieben Stephen King

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Wenn Sie das hören,

werden Sie’s wohl als

Geständnis betrachten.

 

Raymond Chandler/James M. Cain

Frau ohne Gewissen

I been drivin’ all night,

my hand’s wet on the wheel.

 

Golden Earring

«Radar Love»

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Seite A

Test, 1, 2, 3

Ich hoffe, es stört Sie nicht, aber ich hab diesen ersten Teil aufgeschrieben, drum lese ich das jetzt einfach vor, damit wir’s hinter uns haben. Mr. Jefferies hat mir dabei geholfen. Ich hoffe, das ist okay.

Also, lassen Sie’s mich schnell vorlesen.

Bevor ich anfange, möchte ich darauf hinweisen, dass ich versuche, mir alles so gut wie möglich ins Gedächtnis zu rufen, auch wenn ich weiß, dass ich manchmal falschliegen werde. Das, was Sie wissen wollen, ist vor acht Jahren passiert, bevor ich zu Gott gefunden habe. Damals war ich ein anderer Mensch, jemand, den ich nicht mal heute völlig verstehe. Das soll keine Entschuldigung sein, genauso wenig wie die Drogen. Für das, was ich getan habe, übernehme ich die volle Verantwortung – nicht mehr und nicht weniger. Ich beteuere meine Unschuld und betrachte meine Strafe als ungerecht. Ich halte es auch für wichtig, die Öffentlichkeit wissen zu lassen, dass ich aus juristischer Sicht jegliche Form der Todesstrafe ablehne, nicht bloß in meinem Fall.

War das okay? Sie brauchen es nicht zu verwenden, wenn Sie nicht wollen. Mr. Jefferies hat gesagt, wir könnten es direkt an den Anfang des Buches setzen. Er hat gesagt, Sie würden das vielleicht wollen; weil es die Sache wirklicher macht – so ähnlich wie der Satz: Beruht auf einer wahren Geschichte. Ich kenn mich mit dem Bücherschreiben nicht aus, drum bleibt das Ihnen überlassen. Mr. Jefferies hat bloß gesagt, ich soll es machen, um rechtlichen Problemen aus dem Weg zu gehen.

Es wird ein Roman, stimmt’s? Dann sollte es also frei erfunden sein. Am Anfang müsste irgend so was stehen wie am Ende eines Films – jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig –, obwohl jeder weiß, dass das nicht stimmt. Ich wette, alle fragen Sie immer nach Jack in Shining und ob Sie das sein sollen. Und Sie sagen bestimmt nein, oder vielleicht, dass er es bloß zu einem kleinen Teil ist. Das hier wird mehr wie eine Mischung aus Dolores Claiborne und The Green Mile werden, aber trotzdem. Wenn Sie sagen, es sei frei erfunden, und diesen Absatz dazusetzen, sind Sie aus dem Schneider, dann müssen Sie sich eigentlich nicht dafür rechtfertigen. Aber Mr. Jefferies hat gesagt, das mit diesen wahren Geschichten ist eine heikle Sache, also hab ich gesagt, klar, setzen wir’s dazu.

Wahrscheinlich haben Sie Natalies Buch schon gelesen. Lassen Sie mich dazu bloß sagen, dass davon kaum was stimmt, und von den wichtigen Sachen gar nichts. Ich weiß, warum sie es so geschrieben hat, aber es stimmt nicht. Auch deshalb wollte ich, dass Sie das Buch schreiben. Wenn die Leute Ihr Buch gelesen haben, wird keiner mehr Natalie glauben.

Danke für das ganze Geld. Es geht alles an Gainey, sobald er alt genug ist. Meine Mom sieht keinen Penny davon, Mr. Jefferies hat gesagt, er wird dafür sorgen.

Ich mag Mr. Jefferies. Er ist der Einzige, der sich bei dieser ganzen Sache für mich eingesetzt hat. Ich weiß, dass er ein schlechtes Gewissen hat, weil wir verloren haben. Ich weiß, dass er meint, er hat verloren, aber das stimmt nicht. Es war richtig, auf nicht schuldig zu plädieren. Ich bin unschuldig. Er konnte ja nicht wissen, dass der Richter so knallhart sein würde. Sie hätten ihn sehen sollen, gleich nachdem wir verloren hatten; er hat mich trotzdem kurz umarmt, aber ich sah ihm an, dass er denkt, es ist seine Schuld. Und wie soll man jemand sagen, dass das nicht stimmt?

Meine Mom meint, sie hätte jemand Besseren besorgt. Natürlich nachdem schon alles zu spät ist. Hinterher ist sie immer großzügig.

Das, wo es heißt, dass ich gegen die Todesstrafe bin, war Mr. Jefferies’ Idee. Er ist dagegen. Ich persönlich bin dafür – was komisch ist, weil ich noch dagegen war, als ich herkam. Hier drin lernt man Leute kennen, bei denen wirklich nichts anderes hilft. Es ist genau so, wie es in den Psalmen steht: Bewahre die Gerechten und lass die Rache die Gottlosen zerstören. Und es gibt echte Verdorbenheit auf der Welt, es gibt böse Menschen, Männer und Frauen. Aber Mr. Jefferies hat so hart für mich gearbeitet, dass ich glaube, ich bin ihm das schuldig. Mir ist es so oder so ziemlich egal.

Trotzdem ist es mir wichtig, das alles zu sagen, bevor ich anfange. Mr. Jefferies meint, er hört sich die Kassetten an, bevor er sie Ihnen schickt, für den Fall, dass ich was Gesetzwidriges sage. Er überspielt es einmal für Sie und einmal für Gainey, wenn der achtzehn wird, und behält die Kassette hier bei seinen Unterlagen.

Von Rechts wegen darf sich weder Mr. Lonergan noch jemand von den Wärtern diese Kassetten anhören. Ich hab nichts gegen Mr. Lonergan, bei meinen Vergünstigungen ist er immer fair gewesen, aber das hier ist meine Privatangelegenheit. Ich weiß, dass die Kassetten von Rechts wegen Ihnen gehören, aber es wär mir trotzdem lieb, wenn Sie den Inhalt für sich behalten würden. Sie können sie für Ihr Buch verwenden, weil es sich da ja um Literatur handelt, aber für sonst nichts. Ich weiß, es ist seltsam, Sie darum zu bitten, weil Sie mir, wenn alles seinen Gang geht, eigentlich nicht antworten können, aber wenn Sie Ihre Antwort an Mr. Jefferies schicken könnten, wär mir das sehr lieb.

Ich denke, das war’s. Ich hab mir die Fragen nicht vorher angeguckt, genau wie Sie mich gebeten haben. Es sind eine ganze Menge. Ich werd versuchen, sie so gut wie möglich vor Mitternacht zu beantworten. Janille ist hier, aber sonst niemand, drum hab ich keinen Grund, nicht ehrlich zu sein. Manchmal sag ich vielleicht nicht das, was Sie sich wünschen, aber ich werd einfach ehrlich sein. Sie können dann draus machen, was Sie wollen. Ich will bloß, dass Sie zuerst die wahre Geschichte kennen.

1

Warum ich sie umgebracht hab?

Ich hab sie nicht umgebracht. Das ist doch gar keine Frage. Man sollte meinen, Sie würden mit so was anfangen wie Mom oder Dad oder damit, wie ich als Kind war. Mich dabei zeigen, wie ich hinterm Hühnerstall Dreirad fahre, das Haar zu Zöpfen geflochten, vorstehende Zähne, irgend so was Niedliches. Dann könnten Sie sagen: Sie war ein ganz normales Mädchen, und sehen Sie, was aus ihr geworden ist. Und dann würden Sie’s rausfieseln. Sie würden vorne anfangen und sich alles ansehen, was passiert ist, und sagen: Seht ihr, das kann jedem passieren.

Aber ich bin froh, dass Sie es machen. Als Mr. Jefferies meinte, Sie hätten die Rechte gekauft, hab ich ihm nicht geglaubt. Ich saß damals drüben im Todestrakt. Darcy nebenan sagte: «Nein!»

«Doch», sagte ich, «wirklich.»

«Nein», sagte sie.

Ich nickte bloß.

«Was ist mit Lamont?», fragte sie, und ich sagte, Sie würden wohl mit seinen Angehörigen sprechen müssen.

Tut mir leid, dass die Ihnen nicht die Erlaubnis gegeben haben. Lamont wär bestimmt gern in dem Buch vorgekommen. Er mochte Ihre Bücher. Es ist ziemlich schade, dass Sie unsere Namen ändern müssen. Es ist blöd; jeder wird wissen, dass wir gemeint sind.

Warum ich sie umgebracht hab?

Ich hab sie nicht umgebracht. Ich war zwar dabei, aber umgebracht hab ich keinen.

Aber ich weiß noch genau, was passiert ist. Eigentlich war’s ziemlich öde. Ziemlich normal. Ich glaub nicht, dass es die Leute sonderlich interessieren wird. Aber wenn einer es interessant erzählen kann, dann Sie. Sie werden es auch komisch erzählen, und das ist gut so. Denn manchmal war’s wirklich komisch. Selbst heute ist manches noch komisch.

Ich hab alle Ihre Bücher gelesen. Ich weiß, das hört sich an wie Annie Wilkes in Misery, aber es stimmt, wirklich. Misery hat mir gefallen. James Caan war wirklich gut in der Rolle. Neulich abends lief Freunde bis in den Tod. Janille hat den Apparat rübergerollt, damit ich’s mir angucken konnte.

Janille ist schon in Ordnung – stimmt’s, Janille?

Janille und ich kommen ganz gut miteinander aus, mal abgesehen von Oprah, der Talkmasterin. Janille kann es nicht ertragen, dass Oprah so abgenommen hat. Janille findet, dass sie vor der Diät besser aussah, und nimmt ihr das Abnehmen wohl übel. Aber ich glaube, Oprah hat mit Erfolg versucht, sich zu ändern, und das schätze ich an Menschen. Wir streiten uns ständig drüber. Wir könnten beide ruhig ein paar Pfund abnehmen. Das liegt an dem ganzen ungesunden Zeug aus den Automaten. Wir machen ’ne Pause – so nennt Janille das – und essen ein paar Funyuns, trinken ’ne Royal Crown oder teilen uns einen Payday-Riegel, wenn wir richtig über die Stränge schlagen. Das passiert normalerweise dann, wenn Alle meine Kinder oder Liebe, Lüge, Leidenschaft läuft. Auf alle Fälle vor Oprah.

Ich bin hier drin irgendwie aufs Fernsehen angewiesen, und auf die Bibel. Sie sagen, dass ich heute Abend so viel gucken kann, wie ich will. Ich kann mir jedes Essen bestellen, auf das ich Lust hab. Ich kann so ziemlich machen, was ich will. Sie sagen, ich kann etwa vier Stunden vorher ein Beruhigungsmittel haben. Das letzte Mädchen, das sie hier hingerichtet haben, hat welches genommen – diese berühmte Connie Soundso, die die ganzen Trucker aufgeschlitzt hat. Um Mitternacht war sie völlig fertig, hat nur noch geheult und ist rumgetaumelt. Sie mussten sie reintragen.

Janille weiß nichts davon, aber Darcy hat mir drei White Crosses zugesteckt, bevor sie mich hier rüberbrachten. Die hab ich mir für heute Abend aufgehoben. Ich meine, was soll’s, ich muss ja noch das hier für Sie erledigen. Ich werf sie gleich nach dem Abendessen ein. Ich sag’s Ihnen, wenn sie reinhauen. Sie werden es wahrscheinlich sowieso merken.

Das war mein Spitzname in den Zeitungen – Speed Queen. Ich war schon immer ein bisschen schneller als der Rest der Welt. Drum bin ich wohl auch hier. Ich denk nicht immer erst nach, ich will einfach loslegen. Lamont hat immer gesagt, ich wär wie geschaffen fürs schnelle Leben. Das stimmt; die Welt ist mir immer ein bisschen langsam vorgekommen. Ich glaub, das ist chemisch bedingt. Alles, was ich gemacht hab, ist davon bestimmt gewesen. Wenn ich mir was reingetan hatte, musste ich weder schlafen noch essen oder sonst was tun, ich musste bloß in den Roadrunner steigen und losfahren. Jetzt hab ich ein paar Sachen, die mich beruhigen. Meinen Draht zu Jesus natürlich. Gainey. Zu wissen, dass mir nicht mehr so viel Zeit bleibt. Ich glaub, ich hab immer gewusst, dass ich mal gegen irgendeine Mauer pralle. Das ist wie in diesem Film, Fluchtpunkt San Francisco, wo der Typ in dem großen alten Challenger einfach draußen in der Wüste rumkurvt und im Radio Cleavon Little läuft. Am Schluss knallt er gegen das Schild einer Planierraupe, das Auto geht in Flammen auf, und kleine Blechschnitzel schneien in Zeitlupe vom Himmel. So ein Leben wollte ich damals. Und es ist wohl auch so gekommen, was?

Ich war schon zweimal hier drüben. Im «Sterbehaus». Eigentlich ist es ganz nett hier. Die Matratzen sind neu, und die Wände sind nicht so feucht wie drüben. Zweifarbig – Hellgrau über Dunkelgrau, die Linie direkt auf Halshöhe. Stahlklo, Stahlspiegel. Das einzig Schlechte ist, dass es keine Fenster gibt. Das macht Janille wahnsinnig.

Letztes Mal kam der Hinrichtungsaufschub früh am Morgen, beim ersten Mal so um die Essenszeit. Mein Abendessen war schon da, also durfte ich’s auch essen – Barbecue von Leo’s, die Rippchen knusprig, das Fleisch flutschte nur so von den Knochen. Sagen Sie über Oklahoma, was Sie wollen, aber das Barbecue hier ist toll. Und das Benzin billig.

Hier machen sie’s mit Giftinjektionen. Das ist irgendwie enttäuschend. In New Mexico haben sie immer den Stuhl verwendet, aber dann sind sie auch zu Gift übergegangen. Mr. Jefferies hat dafür gesorgt, dass wir hierhergekommen sind; er meinte, in New Mexico wär die Publicity tödlich.

Tödlich – sehr witzig.

Erinnern Sie sich noch an Leghorn, den Hahn? Sehr witzig, Kleiner. Ich hab das nie komisch gefunden, bis Lamont und ich eines Morgens im Bett ein paar Wasserpfeifen durchgezogen haben und er den Zeichentricksender einschaltete. Er roch gut im Bett, das wird mir ewig in Erinnerung bleiben. In der Hinsicht war er nett zu mir. Er hat mich immer direkt aufs Herz geküsst.

Lamont hat mir ’ne Menge beigebracht. Manches davon war gut. Das will ich jetzt nicht leugnen.

Ich wünschte, sie nähmen den Stuhl. Der Stuhl erinnert mich an den Himmel. Er sieht aus wie ein Thron.

Der Tisch für die Injektion ist geformt wie ein Lebkuchenmännchen. Es sind zehn Gurte dran.

Gegen die Nadeln hab ich nichts. Meine Venen sind heute besser als in der Highschool, so dick wie Würmer. Alle sagen, es soll wie Einschlafen sein. Aber so wird’s nicht sein. Ich weiß nicht, wie es sein wird. Gestern Abend hab ich mir vorgestellt, es wär wie das Kühlwasser abzulassen und neuen Frostschutz einzufüllen. Sie sagen, das Mädchen, das die Trucker umgebracht hat, hätte zwei von den Gurten kaputt gerissen – und das sind neue Gurte. Aber für die meisten Leute klingt das gut, Schlaf.

Schwester Perpetua hat gesagt, ich muss vier Phasen durchmachen. Sie hat’s mir aufgeschrieben: Verweigerung, Wut, Trauer, Einwilligung. Irgendwie hatte sie recht. Seit ich hier bin, hab ich das alles durch. Das Problem ist, es hört nicht einfach eine Phase auf, und dann setzt die nächste ein. Es vermischt sich alles. Es findet alles gleichzeitig statt.

Warum ich sie umgebracht hab, ist was, was ich von Barbara Walters oder so jemand erwarten würde. Damit werden Sie doch nicht anfangen, oder? Man sollte meinen, Sie würden ganz vorn anfangen – vielleicht nicht mit mir als kleines Mädchen, aber da, wo ich mich mit Lamont zusammengetan hab. Weil wir ein Jahr oder so hatten, bevor Natalie auftauchte. ’ne schöne Zeit. Wir haben beide gearbeitet, und Lamont kaufte sich diesen Hemi Roadrunner. Wir fuhren immer die Sooner lang, vom großen Sonic bis ungefähr zum Whataburger, und kuschelten uns einfach auf die Sitzbank, Riesen-Kirschsirups in den Dosenhaltern, und die Ramones legten einen Klangteppich drunter. Damit könnten Sie anfangen und zeigen, wie verliebt und wie normal wir waren, und dann, wie alles schieflief. So würde ich’s machen.

2

Lamont benutzte als Erster die Pistole, weil er dazu gezwungen wurde. Es war eine alte Colt-Automatik, die er von einem Händler in Midwest City gekriegt hatte. Er tauschte sie gegen den geflickten Benzintank eines 70er Torino ein. Sie hatte einen Acht-Patronen-Ladestreifen und so eine Sicherung hinten am Griff, die man mit dem Daumen runterdrücken muss. Als ich zum ersten Mal damit feuerte, gab es einen so starken Rückstoß, dass mir der Hahn eine Delle in die Stirn drückte.

Das können Sie alles in den Polizeiberichten nachlesen. Sie stellen mich sicher bloß auf die Probe, wie bei den Fragen am Anfang eines Lügendetektortests. Ich hab ein paar solche Tests mitgemacht, und ich sag Ihnen, die funktionieren nicht immer.

Ich denke, ich werde die Fragen einfach der Reihe nach beantworten und sie dann, wenn ich fertig bin, in die richtige Ordnung bringen. Weil das im Augenblick nämlich rückwärtsläuft. Wichtig ist nicht, ob ich sie umgebracht hab oder nicht, wichtig ist jede Einzelheit. Eigentlich mein ganzes Leben. Dafür haben Sie doch bezahlt, oder?

Er benutzte als Erster die Pistole, und dann hat Natalie das Messer benutzt. Ich seh da wirklich keinen Unterschied. Ich hab jedenfalls keins von beiden benutzt.

Und die Frage ist auch blöd. Wie hätte ich als Erste das Messer benutzen sollen? Sie waren zu fünft, und ich war allein, und damals brachte ich kaum was auf die Waage.

Nicht dass es Notwehr gewesen wär. Mr. Jefferies hat gesagt, es ist Mord, obwohl ich ihn nicht selbst begangen hab. Die Frage war, ist es juristisch gesehen Mord oder Totschlag, und das jeweils in wie vielen Fällen? Da sind die Closes und so noch nicht mal mitgerechnet.

Aber das sollte später kommen. Ich denke, zuerst sollten wir über meine Kindheit auf dem Land sprechen. In der Zeitung hat nie einer erwähnt, dass ich vom Land komme, aber ich halte das für interessant.

Meine Familie, das waren meine Mom, mein Dad, ich und unser Hund Jody-Jo. Jody-Jo war ein Basset im Farbton eines Fudgsicle, außer da, wo er schon weiß geworden war. Er war alt, hatte starke Schuppen und furzte viel. Er spielte nicht gern mit einem. Er lag bloß unter der Hollywoodschaukel, und wenn man schaukeln wollte, stand er auf und beschwerte sich, bevor er ging. Mit den Hinterbeinen lief er irgendwie schräg. Meine Mom hatte ihn schon mit in die Ehe gebracht, und mein Dad weigerte sich, hinter ihm her zu putzen. Meine Mom hatte eine Schaufel und einen Müllsack dafür an der Seite der Garage.

Aber das Haus. Haben Sie je Bonnie und Clyde gesehen? Genauso war’s. Das nächste Haus in beiden Richtungen eine Meile weit weg. Es lag direkt an der alten Route 66. Ich saß den ganzen Tag auf der Hollywoodschaukel und sah zu, wie die Autos vorbeifuhren; mein Dad brachte mir die ganzen Namen der Modelle bei – Chieftain und Starfire, Rocket 88. Die nächste Stadt war Depew. Hinterm Haus hatten wir einen alten Hühnerstall und dahinter einen Teich, der von der Erde ganz rot war. Das Haus war gelb und zweistöckig. Ich erinnere mich an keine Möbel mehr, außer an ein Klavier, das ständig kaputt war. Man schlug eine Taste an, und nichts passierte.

Der Wind da blies ziemlich stark. Er kam richtig über die Prärie gefegt. Ich weiß nicht, ob Sie je hier draußen waren, aber vergessen Sie nicht, das im Buch zu erwähnen. Lassen Sie’s pusten wie immer. Sie könnten schreiben, dass es auch heute Abend windig ist, dass den ganzen Demonstranten vor dem Tor die Schilder und die Kaffeetassen wegfliegen. Oder schreiben Sie, ich kann den Wind wie ein Gespenst ums Sterbehaus pfeifen hören. Irgend so was, fügen Sie’s einfach ein, Sie wissen ja, wie man das macht.

Da draußen waren Tornados die große Sorge. Im April und Mai war die Zeit dafür. Wenn man einen kommen sah, sollte man die Polizei in Depew verständigen, dann die Fenster einen Spaltbreit öffnen und im Keller warten. Wir hatten da unten ’ne alte Matratze liegen, und wenn die Warnung im Radio kam, nahm meine Mom mich und Jody-Jo mit nach unten, und dann saßen wir auf der Matratze und aßen Ritz-Cracker mit Erdnussbutter, bis im Radio durchgegeben wurde, dass alles okay war. In Depew gab es eine Sirene; an einem ruhigen Tag konnte man sie grade noch so hören. Aber ich hab nie einen Tornado gesehen. Ich erinnere mich bloß daran, dass der Wind hin und wieder eins der Bettlaken meiner Mutter von der Leine in den Teich wehte, und dann fischte sie es raus und fluchte wie ein Rohrspatz.

Im Hühnerstall gab es keine Hühner mehr, bloß den Staub von den Federn, der einen zum Niesen brachte, und es roch nach Ammoniak. Hinterm Haus war ein kleiner Hügel, den ich mit meinem Dreirad runterfuhr. Ich trat so fest in die Pedale, wie ich konnte, und dann, wenn sie sich so schnell drehten, dass ich nicht mehr mitkam, streckte ich die Füße aus und ließ die Pedale verrücktspielen. Ich bin oft runtergefallen. Wenn ich ins Haus kam, klopfte meine Mutter mir immer den Staub vom Kleid. Das hatte was von einer Tracht Prügel. «Was hast du bloß wieder angestellt?», fragte sie dann. «Hab ich dir nicht schon tausendmal gesagt, dass du das nicht tun sollst? Was ist bloß mit dir los?»

Mein Dreirad hatte Plastiktroddeln, die aus den Griffen raushingen. Daran konnte man sich festhalten wie an Zügeln. Man konnte nicht so gut damit lenken, aber das machte die Sache nur noch aufregender.

Als ich vier war, brach ich mir das Handgelenk. Ich fuhr den Hügel runter, und das Vorderrad krachte in dieses Loch. Das Rad drehte sich zur Seite, ich flog über die Lenkstange, und das Dreirad knallte auf mich drauf. Ich dachte schon, es ist alles in Ordnung. Ich war so was gewohnt. Ich stand auf und versuchte, das Dreirad aufzuheben, aber die Hand wollte nicht. Ich ging ins Haus und erzählte es meiner Mom.

«Was hab ich dir gesagt?», fragte sie. «Ich hab’s dir gesagt, aber du wolltest ja nicht auf mich hören, was? Siehst du jetzt, was dabei rauskommt?»

Und ich hörte wirklich nicht auf sie. Ich bekam einen Gipsverband ums Handgelenk, aus dem nur die Finger vorschauten, und als ich zurückkam, stieg ich gleich wieder auf mein Dreirad. Ein paar Tage später hatte ich noch mal genau den gleichen Unfall, bloß dass mich diesmal der Gipsverband an der Schläfe traf und mich bewusstlos schlug. Kurz darauf kam ich wieder zu mir und ging ins Haus. Ich erzählte keinem was davon, aber an dem Abend im Bett konnte ich in meinem Kopf Radio hören, ganz leise, sodass man nicht verstehen konnte, was gesagt wurde.

Ich weiß, was Sie jetzt denken, aber das stimmt nicht. Am nächsten Tag ging’s mir wieder besser. Ich hab nie wieder Stimmen gehört. Wenn Sie das verwenden wollen, in Ordnung, aber das ist dann nicht meine Geschichte, sondern Ihre.

Wenn Sie’s verwenden, könnten Sie schreiben, es war der Geist einer Pawnee-Squaw. Vor ein paar Jahren haben ein paar Leute von der Universität in der Nähe von Depew einen ganzen Graben voll Knochen ausgehoben. Sie glauben, es handelt sich um ein vertuschtes Massaker. Sie könnten schreiben, es war der Geist der einzigen Überlebenden, der auf der Suche nach ihrem Ehemann und ihren Babys zurückkam. (Sie könnten es in Klammern oder kursiv setzen, damit wir wissen, dass es sich um eine Stimme in ihrem Kopf handelt wie in Friedhof der Kuscheltiere.)

Wir wohnten an der Route 66, bis ich fünf war, dann kriegte mein Dad einen Job im Remington Park, und wir zogen näher an Oklahoma City heran. Ich war begeistert über den Umzug, aber auch traurig, weil ich den Teich, den Hühnerstall und den kleinen Hügel verließ.

Ich sollte mir jetzt wohl die Zeit nehmen, mich bei der Familie Close zu entschuldigen. Lamont und mir tut es aufrichtig leid, dass wir ihnen so ein Leid zugefügt haben, und ich wünschte, ich könnte das alles ungeschehen machen. Aber ich kann’s nicht. Ich hoffe, dass mein Tod ihrer Familie ein kleiner Trost sein wird. Ich möchte sie gern wissen lassen, dass wir nichts gegen Marla und Terry Close hatten und dass die beiden weder mit dem Drogendeal noch mit irgendwas anderem Gesetzwidrigem zu tun hatten, wie es in den Zeitungen behauptet wird. Sie wohnten bloß zufällig damals in dem Haus. Als Christin bete ich, dass sie ihren Lohn erhalten haben, genauso wie ich hoffe, heute Abend meinen Lohn zu erhalten.

Eins ist mir aufgefallen, als wir dieses letzte Mal da waren – das Klavier war nicht mehr da. Ich dachte, so was Schweres würde sich nie von der Stelle rühren, ich weiß nicht, warum. Das war ein Schock. Ich erinnere mich, dass ich irgendwas zu Lamont gesagt hab, als wir sie fesselten.

«Was?», fragte er, weil das Petroleum auf den Boden klatschte.

«Das Klavier», sagte ich, «es ist nicht mehr da.»

Und er hielt inne und fragte mich, wo es gestanden hatte. «Genau hier», erwiderte ich und zeichnete es mit den Händen nach.

Lamont legte den Arm um mich, und wir standen da und guckten die Stelle an, wo es hätte stehen müssen. Da stand jetzt ein Bücherregal mit Bildern von den Closes. Sie lagen irgendwo am Strand, wo ein Sonnenuntergang den Himmel erleuchtete, und tranken diese kleinen Drinks mit Schirmchen drin. Hinter uns wimmerte Mrs. Close in dem Müllsack. Mr. Close’ Hand zappelte immer noch wie ein Fisch.

«Ach, zum Teufel», sagte ich, «das Ding hat sowieso nie funktioniert», und dann machten wir uns wieder an die Arbeit. Wir setzten uns aufs Sofa, guckten ihnen eine Weile zu und fuhren dann los. Als wir durch Depew kamen, fing die Sirene an zu heulen.

3

Ich werde Ihnen nicht sagen, wie oft. Das können Sie in den Zeitungen nachlesen. Es tut mir inzwischen leid, aber nach dem fünften oder sechsten Mal haben sie wohl nichts mehr gespürt. Das braucht mir sowieso niemand zu vergeben. Das war Natalie.

Ich verstehe, dass Sie diese ganzen Einzelheiten brauchen, um die Geschichte richtig zu erzählen, damit die Leute sich für so was interessieren. Ich weiß nicht, warum wir’s getan haben. Alle fragen mich das. Ich kann Ihnen bloß sagen, dass man manchmal einfach ausrastet, dass man nicht mehr weiß, wann Schluss ist. Später kriegt man sich dann wieder ein, aber manchmal ist man einfach nicht mehr bei sich.

Ich kann’s nicht richtig erklären.

Ich erinnere mich aber noch, wie’s mir dabei ging. Es war nicht so, als wär ich gar nicht da gewesen oder als hätte nicht ich es getan. Es war so, als hätte außer mir nichts existiert. Ergibt das einen Sinn? Ich war alles, was zählte. Sie waren bloß meinetwegen da, um mir noch mehr Bedeutung zu geben. Je länger es dauerte, desto größer wurde ich. Das wirkt wie ’ne Droge, so groß wird man da.

Ich werd später noch mal versuchen, eine bessere Antwort darauf zu finden. Das ist eine schwierige Frage.

 

Wir zogen aus der Nähe von Depew nach Kickingbird Circle in Edmond. Das war damals eine neue Siedlung, die Häuser waren brandneu, die Gärten nichts als Erde und Pfähle mit Schnüren dazwischen. Die Stadt brachte noch die Straßenlaternen an; die Rinnsteine waren voller Schrauben und Muttern. Es war wie ein Theaterstück, bei dem noch das Bühnenbild aufgebaut wird.

Mein Dad war Trainerassistent im Remington-Reitpark, und meine Mom war beim örtlichen Postamt beschäftigt. Stimmt, das, wo der Typ die Türen verbarrikadiert und alle erschossen hat. Ich hab mir gedacht, dass Ihnen das gefällt. Vielleicht könnten Sie sie zur einzigen Überlebenden machen, die diese Albträume hat und mir davon erzählt, wie sie sich in einem Segeltuchkarren versteckt hat. Aber damals hatte sie schon aufgehört zu arbeiten. Da kriegte sie schon Rente und saß den ganzen Tag daheim, las Krimis und hörte Radio.

Ihre Bücher liest sie nicht. Ihr gefallen die, wo man immer dieselbe Detektivin hat, bloß dass sie jeweils ’nen anderen Fall bearbeitet. Das ist wie bei diesen Fernsehserien, es kommen immer wieder dieselben Figuren vor. Wie in Ein himmlisches Vergnügen – man kennt jeden. Sie liest zwei oder drei Stück pro Woche. Die holt sie sich in der Bibliothek.

Als sie erfahren hat, dass Sie das Buch schreiben, hat sie gesagt: «Jeder andere, bloß der nicht.»

Ich hab gesagt: «Mom, was willst du, er ist der größte Schriftsteller Amerikas.»

«Er wird über dich herziehen», sagte sie. «Er wird dich schlechtmachen.»

Also, bloß mir zuliebe, machen Sie mich nicht schlecht, ja?

Jedenfalls haben wir in Kickingbird Circle gewohnt, und ich bin in die Northern-Hills-Grundschule gegangen. Meine Mom gab mir einen Schlüssel, damit ich nach der Schule reinkonnte, und sie ließ mir immer Kekse, Weintrauben oder einen Zettel da, auf dem stand, dass in der Gefriertruhe Popsicles liegen und ich einen haben kann, wenn ich damit nach draußen gehe. Ich sah mir immer Speed Racer und vielleicht auch Gilligans Insel an oder ging zu Clara Davies rüber und spielte mit Barbies oder Mystery Date oder sonst was. Gegen halb sechs fuhr dann meine Mutter ihren Toronado in die Einfahrt, und zehn Minuten später kam mein Dad in seinem Continental, und ich half, das Abendessen zu machen.

Es war ganz normal. Ich hatte Freundinnen. Ich mochte die Schule, besonders Erdkunde. Ich sang im Chor. Beim Turnen war ich die Beste im Softballwerfen. Das können Sie alles überprüfen, jeder wird Ihnen sagen, dass es stimmt. Ich war kein bisschen wie Carrie. Meine Schuhe waren neu; keiner hat sich über meine Kleider lustig gemacht.

Das einzig Seltsame aus meiner Kindheit ist, dass wir nicht zur Kirche gingen. Nicht ein einziges Mal. Ich weiß nicht, warum, vielleicht weil Sonntag die großen Pferderennen stattfanden. Mein Dad stand dann immer auf wie an jedem Werktag, rangierte den Continental rückwärts aus der Einfahrt und fuhr los, während in Kickingbird Circle alles noch schlief. Später machte meine Mom Pfannkuchen, und wir lasen am Küchentisch zusammen die Zeitung. Wir lasen einfach alles, selbst die blöden Comics im Parade-Magazin. Dabei färbten sich unsere Finger grau.

Ich kann richtig hören, wie Sie denken: Das war zu normal, das war seltsam normal. Stimmt nicht. Keiner hat gesagt, dass es vollkommen war. Ich denke, das wollten wir glauben, wir Kinder, aber wir wussten, dass es nicht stimmte. Mrs. Richardson bekam einen Schlaganfall, und sie zogen weg. Darryl Marshall überfuhr Tallulah, die Siamkatze der Underwoods. Das war ziemlich rätselhaft, weil wir alle drum rum standen; aber ich war nicht diejenige, die sie mit einem Stock hochhob, und in der Nacht darauf machte ich mir auch keine Gedanken darum. Vorm Schlafengehen schaute ich aus meinem Fenster auf die weit entfernten Lichter der Stadt und zu den Sternen rauf und wünschte mir dasselbe wie immer: dass mein Leben so weitergehen würde.

4

Das ist schon besser.

Ich bin Lamont Standiford zum ersten Mal am Freitag, dem 26. Oktober 1984, begegnet. Ich hatte grade Spätschicht bei der Conoco an der Broadway Extension. Damals war ich Alkoholikerin. Ich trank jede Nacht ein Fläschchen Wodka. Solange man rauchte, konnte es keiner riechen. Das war ein guter Job für eine Alkoholikerin. Ich musste bloß ein paar Knöpfe drücken und das Geld in Empfang nehmen. Ich hatte erst einen Monat dort gearbeitet und schon einen Dollar Gehaltserhöhung gekriegt.

Er fuhr ein feuerrotes 442-Cabrio mit schwarzem Dach. Ich hatte den Wagen schon auf dem Broadway rumkurven sehen; außer aus dem Fenster zu gucken gab es nicht viel zu tun. Er hielt an Säule 7, und das Licht an meiner Anzeige ging an. Er winkte mir, damit ich die Zapfsäule anstellte. Ich drückte auf den Knopf. Es war, als wär ich ’ne Laborratte; das Licht geht an, und du drückst auf den Knopf. Manchmal werden die Kunden sauer, wenn man zu langsam ist. Er nicht. Er winkte, um sich zu bedanken, und ich lächelte ihm zu. Er rauchte direkt neben dem «Rauchen verboten»-Schild. Er war schlank und trug schwarze Röhrenjeans, und sein Haar war ganz durcheinander, als wär er mit offenem Dach gefahren. Er bückte sich, um die Zapfpistole einzuführen. Ich war betrunken und hatte gerade mit Rico Schluss gemacht, und ich dachte, es wär schön, wieder jemanden zu haben.

Ich musste mich um einen Kunden kümmern, drum legte ich die Zigarette hin und gab ihm sein Wechselgeld, und dann noch jemand anderem. Als ich das erledigt hatte, lehnte ich mich auf meinem Hocker zurück und nahm einen Zug. Ich konnte ihn nicht mehr sehen. Ich dachte, er hätte sein Nummernschild runtergeklappt, um zu tanken, aber ich konnte ihn nicht sehen. Ich stand auf, um einen besseren Überblick zu haben, und sah, dass er gar kein Nummernschild hatte, und genau in dem Moment fuhr er raus und bog links ab auf die Straße, und in dem Strom von Rücklichtern verlor ich ihn aus den Augen.

Für jeden, der wegfuhr, ohne zu bezahlen, musste man ein Formular ausfüllen. Je mehr man davon hatte, desto genauer sah sich der Geschäftsführer bei einem die Einnahmen an. Jedes rief einem in Erinnerung, was für einen Scheißjob man hatte. Ich drückte auf die Reset-Taste für 7 und fing an, das Formular auszufüllen. Es widerte mich an zu sehen, wie krakelig meine Handschrift war. Ich hatte das Trinken inzwischen ziemlich satt, aber es gab nichts anderes, was ich tun konnte. Ich kam zu «Beschreibung des Fahrzeugs» und dachte mir, wie leicht es wäre, so einen Wagen ausfindig zu machen, und ich fing an, einen falschen Wagen aufzuschreiben. Ich hatte ihn nur kurz gesehen, aber ich fing an, einen Buick Skylark aufzuschreiben.

Und grade als ich mit der Beschreibung fertig bin, fährt der 442 wieder vor. Er hat eine Motorhaube mit Ansaugschlitzen und Rallyestreifen, Reifen mit erhabenen weißen Buchstaben drauf, Propeller-Radnaben – nichts Ausgefallenes, nur sehr geschmackvoll. Der Wagen hält direkt vor meinem Fenster, und er steigt aus. Er wirft den Kopf zurück, um die Haare vor den Augen wegzukriegen, und beugt sich mit riesigen Pupillen zu der Öffnung im Plexiglas runter. Er hat Zähne, die fast wie Fänge aussehen. Mir gefallen seine Augenbrauen, wie sie sich an den Enden nach unten biegen.

«Ich hab vergessen, an was für einer Nummer ich war», sagt er und schiebt einen Zwanziger ins Fach.

«Glückszahl sieben», sage ich.

«Jaa?», sagt er, überrascht, dass ich es noch weiß, und sieht mich an.

Ich kann mich immer noch an diesen Blick erinnern – seine Augen wie eine Mondfinsternis, die Art, wie ihm die Haare ums Gesicht wehten, wie er sich mit dem kleinen Finger eine Strähne aus dem Mund zog.

«Gute Fahrt», sagte ich, und ich denke, wir wussten Bescheid. Manchmal braucht es nicht viel für die Liebe. Man muss einfach da sein, wenn sie sich zeigt.

 

Mein Dad wollte Jockey werden, aber er war zu groß. Er war zwar nur knapp über eins fünfzig, aber zu meiner Zeit wog er auch zu viel. Zur Arbeit zog er jeden Tag eine andersfarbige Windjacke an, alle mit seinem Namen über dem Herzen – Phil. Ich hab ihn nie anders als Dad genannt, aber meine Freundinnen sagten immer: «Wie geht’s denn dem guten Phil?», oder «Wann kommt Phil nach Hause?»

Er hob mich immer hoch und schwang mich an den Knöcheln durch die Luft. Ich bat ihn ständig drum. «Schwing mich durch die Luft», sagte ich dann, «schwing mich durch die Luft.» Er stand mitten im Wohnzimmer und drehte sich im Kreis, um mit mir Schritt zu halten. Einmal muss ihm schwindlig geworden sein, denn ich knallte voll mit dem Kopf gegen die Fernsehtruhe. Ich war sofort weg, und als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Sofa und hatte ein Handtuch unterm Kopf. Mein Dad hatte Eis in einen Waschlappen gefüllt. Da klebte wässriges Blut dran. Er schien nicht sonderlich besorgt zu sein. Wahrscheinlich hatte er das bei der Arbeit schon oft gemacht.

Er sagte meinen Namen, aber ich konnte ihn kaum hören. Irgendwas brummte. Das Eis lief runter, als wollte er’s mir ins Auge träufeln.

«Margie», sagte er. «Margie.»

Jedes Mal konnte ich ihn ein bisschen besser hören, so als würde sich das Brummen verflüchtigen.

Meine Mom kam aus dem Garten rein; sie hatte schmutzige Handschuhe an. «Was ist denn passiert?», fragte sie, und mein Vater erzählte es ihr. Er zeigte ihr den Waschlappen.

Sie kam rüber und blickte mich an. Ich versuchte zu lächeln.

«Das kommt schon wieder in Ordnung», sagte sie.

Beim Abendessen schlief ich auf meinem Stuhl ein. Mein Dad meinte hinterher, ich wär einfach runtergefallen. Der Arzt im Krankenhaus sagte, ich hätte einen Schädelbruch.

Auf dem Heimweg saß ich zwischen ihnen auf dem Vordersitz. Mein Dad war so fertig, dass er kaum fahren konnte, und meine Mom streckte dauernd die Hand über mich weg, um ihm den Nacken zu streicheln.

«Es ist doch bloß ein Haarriss», sagte sie. «Phil, es wird schon wieder.»

5

Meine Mom hielt überhaupt nichts von Lamont. Als ich ihn kennenlernte, wohnte ich in Edmond mit zwei Freundinnen in einem Bungalow hinter der Bibliothek – Garlyn und Joy. Da hatten Rico und ich schon Schluss gemacht. Meine Mom redete aus vielen Gründen nicht mit mir, auf die ich später noch zurückkommen werde.

Garlyn und Joy gaben mir Unterschlupf. Wir tranken alle und hatten einen ziemlichen Job-Verschleiß. Aber das Haus war sauber, darauf achteten wir. Unsere Einrichtung bestand größtenteils aus Pflanzen, weil Joy ein Händchen dafür hatte. Wir standen alle gegen Mittag auf, geisterten durchs Haus und machten im Zeitlupentempo sauber. Garlyn hatte eine Kiste voll alter Bluesplatten, und wir bekifften uns, aßen auf dem Sofa Cornflakes und lauschten Lightnin’ Hopkins und Sonny und Brownie.

Es ist komisch, bei der Hälfte der Lieder ging es um Typen, die wegen Mord im Gefängnis saßen. Sie schrien und brüllten Zeug wie I done killed my woman / don’t you know she done me wrong. Es tat ihnen nicht wirklich leid; eher hatten sie was draus gelernt, zum Beispiel, dass sie denselben Fehler nicht noch mal machen würden. Wir dachten uns unsere eigenen Strophen aus. I done paid that electric bill / I done paid it yesterday. Joy sang dann in eine Bierflasche, als wär’s ein Mikro, und machte Janis Joplin nach, oder sie setzte sich eine Sonnenbrille auf und war John Belushi. Sie konnte diese ganzen Toten nachmachen. Wir fanden Leute gut, die sich so amüsierten, dass sie sich damit umbrachten. Wir waren wie sie, bloß dass wir noch nicht berühmt oder tot waren.

Das war immer der beste Teil des Tages, bevor wir uns für die Arbeit fertig machen mussten. Wir saßen da und tranken und sangen, bis jemand sagte: «Es ist so weit.» Das wär jetzt vielleicht ’ne gute Stelle, um ein bisschen Wind aufkommen zu lassen – wenn wir in unseren Uniformen das Haus verlassen. Wir mussten alle eine tragen. Joy arbeitete am Autoschalter des Taco Mayo; Garlyn hatte grade bei Crockett’s Smoke House angefangen. Ich war erst seit ungefähr einem Monat bei der Conoco, und ich wusste, dass das nicht von Dauer sein würde, weil ich schon angefangen hatte zu klauen.

Ich klaute stangenweise Marlboros und sixpackweise 3.2-Bier. Am Anfang hauptsächlich für mich selbst. Später, als ich schon wusste, dass ich kündigen würde, packte ich einen Müllsack voll und warf ihn in den Container, damit Lamont ihn sich holen konnte. Ich ließ auch Kaugummi mitgehen. Wir hatten immer jede Menge Kaugummi – Bubble Yum, Bubblicious, Wrigley’s, Care Free. Ich nahm es in meiner Handtasche mit nach Hause. Es war gut, weil ich das Gefühl hatte, damit meinen Teil zum Haushalt beizutragen. Wir brauchten es alle, besonders bei der Arbeit.

So hat Lamont mich näher kennengelernt – indem er mich nach Schichtende heimbrachte. Das erste Mal, als er es mir anbot, wusste ich, dass so was kommen würde, weil er vorher schon zweimal übers Gelände gekurvt war. Er kam gegen zehn vor elf wieder und parkte am Druckluftmesser. Inzwischen hatte ich meine Flasche ausgetrunken und fühlte mich gut. Daheim hatte ich noch eine im Gefrierfach, in einer Schachtel tiefgekühlter Erbsen versteckt. Es war eine gute Zeit am Abend.