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Der 6. Juli 1944 verhieß für die Bewohner der Stadt Hartfort in Connecticut vergnüglich zu werden. Stattdessen endet er in einer Katastrophe: 167 Menschen sterben in den Flammen des größten Zirkusbrandes der amerikanischen Geschichte. Fesselnd und einfühlsam verfolgt Stewart O'Nan die Schicksale jener Menschen, die an einem scheinbar harmlosen Sommertag losgehen, um sich unterhalten zu lassen, und mit Tod und Schrecken konfrontiert werden. «Ein grandioses Stück Literatur.» (Der Spiegel) «‹Der Zirkusbrand› liest sich spannend wie ein Abenteuerroman, da er fast fiktiv in den vielen Verflechtungen menschlicher Schicksale wirkt und philosophisch in seiner Frage, weshalb gerade an diesem Tag bestimmte Menschen zu einer bestimmten Zeit an diesem bestimmten Ort zusammenkamen.» (NDR) «‹Der Zirkusbrand› ist Journalismus im Dienste der Literatur und Literatur im Dienste der Geschichtsschreibung.» (The New York Times) «Ein großes Buch.» (Süddeutsche Zeitung)
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Seitenzahl: 638
Stewart O'Nan
Der Zirkusbrand
Eine wahre Geschichte
Deutsch von Thomas Gunkel
Dieses Buch ist allen Menschen gewidmet,
die an jenem Tag in den Zirkus gingen –
denen, die wieder nach Hause kamen,
und denen, die dort blieben.
Ich wollte dieses Buch nicht schreiben. Ich weiß nicht genau, warum ich es dennoch in Angriff genommen habe. Jedenfalls nicht, weil ich eine persönliche Beziehung zu dem Zirkusbrand habe oder etwas Tiefsinniges und Bedeutsames darüber zu sagen hätte. Es liegt wohl daran, dass ich den Brand als ein seltsames und tragisches Ereignis betrachtete, das sich in der Stadt zugetragen hatte, in die ich gerade übergesiedelt war. Anfangs habe ich dadurch etwas über die ungelösten Rätsel des Brandes und die Geschichte meines Wohnortes erfahren.
Zum ersten Mal las ich vor zehn Jahren während der Recherchen für einen Roman in einer alten Ausgabe des Life-Magazins von dem Feuer. Die Vorstellung von einem brennenden Zirkuszelt und den darin sterbenden Kindern erschütterte mich, ebenso wie die Fotos zu dem Artikel.
Ich muss all das, wie so oft, im Gedächtnis bewahrt haben, denn als wir Jahre später nach Hartford zogen, fielen mir der Brand und die Wirkung, die das auf mich gehabt hatte, wieder ein. Ich beschloss, mehr darüber zu lesen, also ging ich in eine Bibliothek und erkundigte mich nach einem guten Buch über das Feuer.
Sie hatten keins.
Vielleicht eine andere Bibliothek in der Stadt?
Nein, sie meinten, es gab keins.
Das fand ich nicht richtig. Der Zirkusbrand war die größte Katastrophe in der Geschichte des Staates, ein äußerst seltsames Ereignis. So viele Menschen waren dabei ums Leben gekommen; ich konnte kaum glauben, dass niemand darauf zurückgeblickt und dieses schreckliche Ereignis für spätere Generationen in Worte gefasst hatte.
Ich wollte kein Buch über den Brand schreiben, ich wollte bloß wissen, was passiert war. Ich begann, Leute aus der Stadt zu fragen, was sie darüber wussten.
Alle hatten Bekannte oder Nachbarn, eine Großmutter oder einen Cousin, der an jenem Tag dabei gewesen war. Alle hatten eine Geschichte zu erzählen. Die Leute aus dieser Generation wussten genau, wo sie an jenem Nachmittag gewesen waren, so wie sie sich später auch daran erinnern konnten, was sie getan hatten, als Präsident Kennedy erschossen wurde. Eine solche Bedeutung hatte der Brand für die Stadt.
Inzwischen hatte ich zu recherchieren begonnen und dachte – was ziemlich unrealistisch war–, ich könnte jemanden, der sich mit dem Schreiben von Sachbüchern auskennt, davon überzeugen, die Aufgabe zu übernehmen. Ich würde das Material sammeln und einem Experten übergeben und in ein oder zwei Jahren läge das Buch vor, das ich gern lesen wollte.
Bald hatte ich mehrere Hefter voll fotokopierter Dokumente, und der Roman, von dem ich erwartet hatte, dass er mich bis ins nächste Jahrhundert begleiten würde, war fertig. Plötzlich hatte ich Zeit und offensichtlich auch genug Interesse. Mir blieb keine andere Wahl.
Wenn ich mich entschied, das Buch zu schreiben, übernahm ich die Verpflichtung, die Geschichten Hunderter von Überlebenden zu erzählen. Ich würde – dieser Gedanke war mir ziemlich unangenehm – zum Hüter des Brandes werden, von dem stillschweigend erwartet wurde, dass er die Geschichte erzählte und sie durch seine Erzählweise, durch seine schriftstellerischen Entscheidungen, seine Interpretation des Brandes zugleich mit Bedeutung erfüllte. Diese Verantwortung wollte ich mir nicht aufbürden, doch zu diesem Zeitpunkt spielte das schon keine Rolle mehr. Die Geschichte hatte mich gepackt und ließ mich nicht mehr los.
Als ich einigen Leuten, die nicht aus Hartford stammten, zum ersten Mal erzählte, ich hätte vor, ein Sachbuch über den Brand zu schreiben, fragten sie mich, warum ich keinen Roman schriebe. Die Frage überraschte mich; daran hatte ich nie gedacht. Von Anfang an war ich der Ansicht, dass wegen der vielen Geschichten, die über den Brand kursierten, die Strenge und Nüchternheit eines Sachbuchs erforderlich war, um die Wahrheit über dieses Ereignis, das das Leben Zehntausender Menschen verändert hatte, erzählen zu können. Ich hatte wahrscheinlich die Befürchtung, dass ich der Bedeutung des Brandes nicht gerecht werden könnte, wenn ich einen Roman darüber schriebe.
Als ich intensiver zu recherchieren begann, entdeckte ich, dass meine Entscheidung aus einem einfacheren Grund richtig war: weil die Wahrheit oft seltsamer ist als jeder Roman. Nicht bloß seltsamer, sondern auch voller Zufälle, Lücken und Fehler, die ein guter Roman nicht dulden kann. Das Thema – der Tod von 167Menschen, größtenteils Frauen und Kinder – schien eine klare und entschiedene Erzählweise zu erfordern, doch das Bild, das sich mir darbot, war bruchstückhaft und oft widersprüchlich.
Die Geschichte des Zirkusbrandes ist, wie man in Hartford bereits weiß, nicht nur eine Tragödie, sondern auch ein unlösbares Rätsel; dadurch bleibt sie in den Gedanken der Menschen lebendig und spricht ihre Gefühle an. Durch diese Mischung behält sie ihre Faszination, aber auch etwas Frustrierendes. Es gibt keine endgültigen Antworten. Nur in einem Roman könnte man die Geschichte des Zirkusbrandes vollenden, die fehlenden Teile finden und an der richtigen Stelle einfügen. Aber das wäre nicht die Wahrheit.
Auch dieses Buch beruht auf Vermutungen. Obwohl ich versucht habe, bei meinen Gesprächen mit Überlebenden und den Familien der Toten sowie beim Studium der existierenden Akten größtmögliche Sorgfalt walten zu lassen, bleibt der Zirkusbrand im Wesentlichen ein Rätsel, das durch die inzwischen verstrichene Zeit noch unbegreiflicher wird. Dieser Bericht kann nicht die ganze Wahrheit über die Ereignisse ans Licht bringen, ohne all die Geschichten von damals zu erzählen. Doch ein solches Buch wäre so umfangreich wie das Leben und so weitläufig wie die Erinnerung.
Dieses Buch enthält nur einen Teil dessen, was ich über Hartford und seine heldenhafte Reaktion auf diese schreckliche und einzigartige Tragödie erfahren habe. Ich hoffe, dass die Schilderung eine längst vergangene Zeit und einen längst verschwundenen Ort wieder aufleben lässt und bewahrt, damit die Leser ihn besuchen können und begreifen, was die Menschen in Hartford durchgemacht haben und dass sie ihren ganzen Mut zusammennehmen mussten, um weiterzumachen.
Alle Irrtümer oder Lücken in diesem Buch sind mein Verschulden. Bei all denen, die sie bemerken, möchte ich mich entschuldigen.
In einem Zirkus sollte man Knurren und Brüllen hören wie im tiefen Wald und ganze Wolken von Staub sehen, aufgewirbelt von den Löwen; Männer müssen geschäftig herumrennen, Flaschen klirren, Futtereimer klappern, Maschinen und Elefanten stampfen, Zebras seufzen, eingeschlossen in doppelten Käfigen.
Aber das war wie ein alter Stummfilm, eine schwarzweiße Bühne voller Geister, die ihre Lippen bewegten; mondweiß stand der Atem vor ihren Gesichtern, und alle Bewegungen vollzogen sich in so vollkommener Stille, dass man den Wind in den Härchen auf der Backe flüstern hörte.
Weitere Schatten entstiegen dem Zug und huschten an den Käfigen vorbei, in denen die Finsternis mit blicklosen Augen lauerte. Auch die Zirkusorgel schwieg, bis auf die Andeutung eines verrückten Liedes, das der Wind den Orgelpfeifen entlockte.
Der Zirkusdirektor stand mitten auf dem freien Feld. Der Ballon hing wie ein riesiger, grün verschimmelter Käse regungslos am Himmel. Dann senkte sich die Dunkelheit über alles herab.
Ray Bradbury: Das Böse kommt auf leisen Sohlen
Der Zirkus gastierte am See, man hatte die Zelte auf dem Gelände am Municipal Stadium aufgestellt. Die Indians hatten ein Auswärtsspiel, daher kam eine große Menschenmenge, um sich die «größte Schau der Welt» anzusehen. Zwischen den Zelten und dem See verliefen nur die Gleise der Pennsylvania Railroad, die den Zirkus am Steilufer einzwängten. Den ganzen Tag flatterten die Wimpel auf dem Hauptzelt in dem vom See herüberwehenden Wind.
Es war ein heißer August, der erste Kriegssommer, doch schon jetzt gab es nicht mehr genug Personal. Der Besitzer John Ringling North hatte von einem traditionellen Sechsmastzelt auf ein viermastiges verkleinert, aber der Zeltmeister Leonard Aylesworth musste beim Aufstellen des Zeltes dennoch auf die Hilfe von einheimischen Kindern zurückgreifen.
In jenem Sommer waren die Zirkusleute überall spät dran gewesen; die Lokomotiven, die ihren Transportzug ziehen sollten, wurden für Kriegszwecke gebraucht. Das Amt für Kriegstransportwesen entschied, wann sie fuhren und wie sie an ihr Ziel gelangten – ein Problem, das durch die überbreiten Plattformen, auf denen sie ihre Wagen transportieren ließen, noch verschärft wurde. Auf manchen Strecken waren die Kurven zu eng, und es kam zu Verspätungen, weil sie stundenlang auf Abstellgleisen warten mussten, um Truppen- und Munitionszüge durchzulassen. Die Fahrt von einer Stadt zur nächsten dauerte zu lange, und auch der Aufbau ging nur langsam vonstatten, sodass die Nachmittagsvorstellung oft erst später begann.
Zudem musste man auf den Betriebsinspektor George Washington Smith verzichten, der normalerweise für den Transport zuständig war, denn er war bei der Kriegsschau der Army beschäftigt, einer nachgestellten Schlacht unter freiem Himmel, bei der die staatlich subventionierten Panzer, Flugzeuge und Haubitzen vorgeführt wurden, damit die Leute Kriegsanleihen zeichneten.
Trotzdem hielt die gemeinsame Zirkustruppe von Ringling Bros. and Barnum & Bailey alle Termine ein. Eine Vorstellung platzen zu lassen wäre ein Unglück gewesen, und Pech hatten sie bereits zur Genüge gehabt. Es war viel Geld zu verdienen. In der Kriegsindustrie wurde in drei Schichten gearbeitet, und anders als vor ein paar Jahren hatten alle Beschäftigten eine prall gefüllte Lohntüte. Nur zwei der Eisenbahn-Zirkusse hatten die Weltwirtschaftskrise überlebt, aber die Cole Brothers konnten sich mit Big Bertha nicht messen.
Die war mit ihrer langen Tradition und ihrem Prunk, mit einem neuen, von Strawinsky geschriebenen und von Balanchine choreographierten Elefantenballett, mit Stars wie Emmett Kelly und Alfred Court, den Wallendas, den Cristianis und den Fliegenden Concellos, mit Menagerieattraktionen wie dem Riesengorilla Gargantua und seiner Braut M’Toto, die sich nur in ihren klimatisierten Käfigen räkelten, bis es Zeit war für ihre zweimal täglich aufgeführte Hochzeit, noch immer die «größte Schau der Welt». Hundert Clowns und tausend Tiere, stand prahlerisch auf den Plakaten.
Die Leute kamen, um sich all das anzuschauen und dabei den Krieg zu vergessen, und sei es auch nur für einen Augenblick. Es wurde damit geworben, dass man beim Zeichnen einer Kriegsanleihe eine Freikarte für die Haupttribüne bekam, und in diesem Jahr war das Programm besonders patriotisch ausgerichtet, in der großen Gala-Revue, dem «Spec», bei der als krönendes Finale vier riesige Porträts von Präsident Roosevelt entrollt wurden, zelebrierte man die amerikanischen Feiertage. Soldaten in Uniform erhielten freien Eintritt.
Die Tournee von 1942 war bis dahin gut gelaufen, die Eröffnungsvorstellung im Madison Square Garden war ein Riesenerfolg gewesen, auch die folgende im Boston Garden hatte ein großes Publikum angezogen. Dann war man in Baltimore zum ersten Mal unterm Zeltdach aufgetreten. An der ganzen Ostküste herrschte ein riesiger Andrang – besonders in Hartford, wo Colt’s Firearms und United Aircraft ihren Sitz hatten–, und dann ging es quer durch den Staat New York. In Syracuse gab man eine Nachmittagsvorstellung, bei der ein Teil des Publikums vor der Tribüne auf Strohballen sitzen musste; die Abendvorstellung war völlig ausverkauft und das Zelt so voll, dass selbst John Carsons opportunistische Platzanweiser niemanden mehr hineinzwängen konnten. In Schenectady und Utica ausverkauft, ein volles Haus in Buffalo, doch als sie nach Pittsburgh kamen, regnete es.
Es gab Schwierigkeiten. Bei der ersten Nachmittagsvorstellung griff einer von Alfred Courts Löwen den Dompteur Vincent Souday an und riss ihm den ganzen Oberschenkel auf. Court stürzte in den Käfig, um die Nummer zu beenden, doch der Schaden war bereits angerichtet, die Stimmung vorgegeben. Es goss in Strömen. Während des sechstägigen Gastspiels war das Gelände völlig verschlammt, die Mädchen, die in der Gala-Revue auftraten, mussten Stiefel anziehen und ihre Regenkostüme waren klamm und wurden nie richtig trocken.
Der Zirkus bat das Arbeitsamt in der Innenstadt, weitere hundertfünfzig Arbeiter einstellen zu dürfen, doch die Kriegsindustrie ging vor. In Pittsburgh, der größten Stahlmetropole der Welt, wurde rund um die Uhr gearbeitet, und die Fabriken stießen so dunkle Rauchwolken aus, dass in der Stadt den ganzen Tag lang die Straßenlaternen brannten. Junge, ungebundene Männer, die stets vom Glamour und der Freiheit des Zirkuslebens angezogen wurden, waren kaum noch zu finden. Der Zirkus stellte jeden ein, der sich meldete, und war schließlich froh, die Stadt verlassen zu können.
In Cleveland war ein viertägiges Gastspiel vereinbart, vom 3. bis zum 6.August, mit täglichen Vorstellungen um 14.15Uhr und 20.15Uhr, Einlass wie immer um 13.00Uhr und 19.00Uhr. Genau wie bei der Army lief beim Zirkus alles mit der Präzision eines Uhrwerks ab; jeder Arbeiter wusste, wo sein Platz war und was er zu tun hatte. Es hieß, im Ersten Weltkrieg habe sich der deutsche Kaiser beim Transportwesen seiner Armee an Barnum orientiert. Die gewohnten Arbeiten bestimmten den Tagesablauf; in gewisser Hinsicht war das beruhigend, etwas, woran man sich halten konnte.
Der erste Tag war nicht sonderlich bemerkenswert, die Vorstellungen verliefen reibungslos, das Wetter war glücklicherweise gut. Vom Gelände aus konnte man den Hafen sehen, zwei steinerne Molen mit weißen Leuchttürmen, die ihr Licht auf den tiefblauen Lake Erie hinaussandten. Das Zelt war klimatisiert, eine der neumodischen Ideen von John Ringling North. Nach der ausdörrenden Hitze auf dem Platz und der drückenden Feuchtigkeit im Menageriezelt mit seinen stinkenden Zebras, Kamelen und Elefanten waren die Besucher der Nachmittagsvorstellung dafür dankbar. Am Abend herrschte größerer Andrang, da viele Familien und, nach beendeter Tagschicht, auch eine Menge Arbeiter kamen.
Nachdem der Tau am Morgen des 4.August, eines Dienstags, verdunstet war und der kühle Nebel sich verzogen hatte, versprach es, ein sonniger Tag zu werden. Kinder, die früh genug auftauchten, erhielten eine Freikarte, wenn sie unter den Seitentribünen die leeren Coca-Cola-Flaschen vom vorigen Abend aufsammelten. Für das Küchenzelt war der Platz zu klein, deshalb hatte man es auf der anderen Straßenseite aufgestellt. Während das Personal zum Frühstück Schweinekoteletts und Eier mit Speck und Toast zubereitete, holperten Tierpfleger mit Schubkarren voller Pferdefleisch zwischen den Wagen der Raubkatzen hindurch. Die angepflockten Kamele und Zebras steckten ihre Köpfe in die frischen Heuhaufen. Alles lief wie am Schnürchen, was nach dem Schlamm von Pittsburgh angenehm war.
Gegen 11.30Uhr wurde die Flagge auf dem Küchenzelt aufgezogen; das Mittagessen war fertig, und die Arbeiter ließen die ihnen anvertrauten Tiere allein weiterfressen. Der erste Aufruf fürs Abnormitätenkabinett erfolgte um 12.00Uhr mittags. Es war eine Kindervorstellung, in der unter anderem die Puppenfamilie aus Tinytown, Percy Pape, das lebende Skelett, und der feuerfeste Dr.Mayfield auftraten. Bald würden die Leute aus der Stadt eintrudeln, der Hauptweg würde sich füllen, und die Ausrufer mussten auf ihr Podium steigen und eine kleine Kostprobe geben – sie mussten die Leute dazu bringen, sich vor den Kartenschaltern anzustellen und ihr Geld auf den Tisch zu legen, um Mo-Lay, den Jongleur und Spaßmacher, Egan Twist, den Mann mit den Gummiarmen, und die heiße Neonröhren schluckende Miss Patricia zu sehen. Eine Gruppe von Ausrufern und Artisten wartete gerade auf ihr Essen, als jemand hereingestürzt kam und rief, dass die Menagerie brenne.
Alle rannten los.
Es ging alles sehr schnell. Als sie über die Straße zum Hauptweg liefen, sahen sie schwarzen Rauch aufsteigen und Flammen über das Dach des Menageriezeltes züngeln. Im Innern des Zeltes waren die Elefanten an Vorder- und Hinterbeinen mit Eisenketten angepflockt. Sie trompeteten laut.
Zwei Männer krochen unter der Leinwand hindurch ins Vorzelt und zogen die Stahlgeländer vor den Kartenabreißerhäuschen aus dem Boden. Mit dem ersten hatten sie keinerlei Mühe. Als sie am zweiten herumzerrten, sprang eine Giraffe an ihnen vorbei und galoppierte über den Platz.
Die Arbeiter holten Wassereimer und Feuerlöscher, doch der Wind vom See schürte die Flammen. Leinwandfetzen lösten sich und stiegen in der heißen Luft auf wie Ballons. Glücklicherweise kam der Wind aus Nordosten und trieb das Feuer nicht auf das angrenzende Hauptzelt zu. Die beiden Zelte waren nur durch das kleine Gorillazelt getrennt, in dem Mr. und Mrs.Gargantua untergebracht waren. Die Tierpfleger zerschnitten sofort die Seile und ließen die unversehrte Leinwand auf die Käfige fallen. Ein zirkuseigener Tankwagen mit einem kurzen Schlauch traf ein und spritzte die Leinwand ab, sodass ein Traktor die Gorillawagen, deren Klimaanlage noch lief, abtransportieren konnte.
Im Innern des Menageriezeltes fielen lodernde Leinwandfetzen ins Stroh und ins Heu. Beides brannte wie Zunder. Die Pfleger banden ihre Tiere los und führten sie ins Freie, liefen dann, gebückt wegen der Flammen, wieder zurück, um weitere Tiere herauszuholen. Big John Sabo, der für die Menagerie verantwortlich war, kehrte dreimal ins Zelt zurück, bevor die Hitze unerträglich wurde. Ein Zebra rannte in dem Rauch verstört im Kreis herum; dann schoss es durch den Haupteingang und lief im Zickzack die Steigung zu den Gleisen hinauf, wo es von mehreren Arbeitern eingekreist und zu Boden geworfen wurde. Ein brennender Strauß rannte nach draußen; drei Männer waren nötig, um ihn einzufangen und die Flammen auszuschlagen.
Die Elefanten hatten sich immer noch nicht vom Fleck gerührt und taten es erst, als Walter McClain, der Elefantenstallmeister, eintraf. McClain war ein Riese mit einem legendären Ruf als Dompteur. Er wusste, dass seine Elefanten auf ihn warten würden, deshalb ging er mit seinen Leuten noch ins Zelt, als über ihnen bereits das Dach einstürzte. Die Männer eilten zu den Pflöcken für die Hinterbeine und lösten die Ketten. Auf McClains Kommando packten die Elefanten mit ihren Rüsseln die Pflöcke für die Vorderbeine und rissen sie aus dem Boden. Ein weiteres Kommando und sie marschierten in einer Reihe, den Rüssel um den Schwanz des vorangehenden Tieres geschlungen, nach draußen. Ein paar von ihnen hatten schwere Verbrennungen, ihre Haut hatte sich abgeschält und hing in Fetzen herab, aber sie waren im Freien.
Drei Elefanten konnten nicht gerettet werden. Die Elefantenkuh Ringling Rosie wurde zwar von ihren Ketten befreit, war aber so verängstigt, dass sie sich weigerte, das brennende Zelt zu verlassen. Die Hitze war inzwischen so stark, dass sie die Männer aus dem Zelt trieb. McClain blieb so lange wie möglich (seine rechte Gesichtshälfte war vom Haaransatz bis zum Hals rötlich verbrannt), floh aber schließlich auch nach draußen. Von dort beobachteten Augenzeugen, wie Ringling Rosie vor und zurück stapfte und schließlich von den Flammen eingehüllt wurde.
Diese Kamele weigerten sich, aus dem Stroh aufzustehen. Die Arbeiter stehen hilflos herum, während die Feuerwehrleute aus Cleveland aufräumen. Links im Hintergrund erhebt sich hinter der jetzt frei stehenden Drahtverspannung das Viermastzelt. Foto: Circus World Museum
Auch die Kamele wollten sich nicht vom Fleck rühren und scheuten bei jedem Rettungsversuch zurück. Sie legten sich ins Stroh, und das Feuer brach über sie herein. Die Leinwand stürzte herab, und die Fetzen brannten im Schmutz. Für die Raubkatzen gab es kein Entrinnen, sie wurden auf der Streu in ihren Käfigwagen bei lebendigem Leibe gebraten.
Das Feuer bestand jetzt fast nur noch aus Rauch, die Masten und die Drahtverspannung des Zeltes waren kahl und verkohlt, doch nach wie vor intakt. Das Zelt war verschwunden, von den Flammen verzehrt wie Seidenpapier, nur noch einzelne Fetzen waren übrig. Das Ganze hatte nur ein paar Minuten gedauert.
Die zirkuseigenen Tankwagen und der erste Löschtrupp aus Cleveland, der auf dem Platz eintraf, spritzten Ringling Rosie mit ihren Schläuchen ab. Während die Polizei alles abriegelte, bekämpften die Arbeiter die Brände in den Käfigen. Von dem verkohlten Holz stieg Rauch auf. In den Käfigen krümmten sich die Löwen, Tiger und Pumas mit qualmendem Fell in der Asche. Ein paar von ihnen lagen reglos da. Die Tierpfleger schluchzten.
Die Feuerwehrleute löschten die letzten Reste des Brandes – brennendes Heu und glimmende Seile–, während John Sabo und der Zirkustierarzt J.Y.Henderson eine Bestandsaufnahme machten. Zwei Giraffen waren in ihrem Maschendrahtgehege verbrannt; wie die dritte entkommen war, blieb allen ein Rätsel, doch sie war unversehrt und hatte nur ein paar Quetschungen und Kratzer abbekommen, als die Arbeiter sie eingefangen hatten und sie auf den harten Boden gestürzt war. Zur allgemeinen Überraschung hatte auch Betty Lou, das Zwergnilpferd, überlebt; es war in seinem Bassin untergetaucht und so lange unter Wasser geblieben, bis ein Traktorfahrer den Wagen aus der Gefahrenzone gebracht hatte.
Nur wenige andere hatten so viel Glück gehabt. Ringling Rosie stand inmitten der Kadaver, die in der nassen Asche und den schwarzen Wasserlachen verstreut lagen, und die Stellen, wo sich ihre Haut abgeschält hatte, bluteten rötlich. Dr.Henderson hoffte, sie mit einer Salbe namens Foille einsprühen zu können, einem neuartigen Medikament gegen Verbrennungen. Als Walter McClain seine Leute anwies, ihr für die Behandlung doppelte Ketten anzulegen, begann sie zu toben, und ein städtischer Polizist schoss ihr mit seiner 45er zwischen die Augen, weil man befürchtete, sie könnte sich losreißen. Doch die Pistole reichte nicht aus. Der Schuss warf Ringling Rosie zu Boden, aber sie atmete noch. Dr.Henderson musste einen Schusswaffenexperten der Polizei bitten, noch einmal mit seiner Maschinenpistole auf sie zu schießen.
Eine der drei Giraffen, die an jenem Tag dabei waren. Nur eine überlebte – Edith, die irgendwie den Maschendraht übersprang. Foto: Circus World Museum
Die Elefanten standen aufgereiht auf der Straße und ließen sich in aller Ruhe behandeln. Sie hatten zumeist Verbrennungen an Kopf und Rüssel, oder die dünnen Ohren waren angesengt. Die Dompteure strichen mit Pinseln Foille auf das wunde Fleisch.
Die drei anderen Elefanten, an die McClains Leute nicht hatten herankommen können, waren schwer verletzt. Später am Nachmittag gab ein anderer Polizist Little Rosy den Gnadenschuss, da sie zu schwere Verbrennungen erlitten hatte.
Die Kamele und die Raubkatzen hatte es am schlimmsten erwischt. Polizei und Küstenwache besorgten aus einem nahe gelegenen Waffenarsenal Hochleistungsgewehre und die dazugehörige Munition. Ein Kamelpfleger bat die Schützen, seine Tiere nicht zu erschießen, andere beschimpften sie, doch es war unumgänglich.
Dr.Henderson ging mit seinem Foille-Sprüher voller Hoffnung von einem Käfig zum anderen. Die Raubkatzen blickten ihn an und leckten sich die verbrannten Pfoten, von ihrem Fell stiegen immer noch Rauchwölkchen auf. Der Arzt bat einen Polizisten um seine Pistole. Die Männer von der Küstenwache waren mit ihren Gewehren für die größeren Tiere zuständig. Sie mussten insgesamt drei Kamele, drei Löwen und einen Puma erschießen. Dr.Henderson sagte später, er werde nie vergessen, dass die Tiere die ganze Zeit keinen Laut von sich gaben.
Der Brand im Menageriezelt in Cleveland war ein Schock, besonders weil Krieg herrschte und der Zirkus als Ablenkung von dieser noch größeren Tragödie gedacht war, doch wer sich in der Zirkuswelt auskannte, wusste, dass es dort schon viele Katastrophen gegeben hatte.
Anscheinend waren amerikanische Zirkusse von Anfang an stark brandgefährdet – vielleicht ist das auch nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass bei den ersten Vorstellungen Kerzen oder Öllampen zur Beleuchtung dienten. 1799 verlor Rickett’s Equestrian Circus, der allgemein als der erste Zirkus Amerikas gilt, bei einem Brand in Philadelphia sein Amphitheater.
P.T.Barnum schien besonders anfällig zu sein. Im Juli 1865 zerstörte ein Brand sein American Museum an der Ecke Broadway und Ann Street in Lower Manhattan. In der Hoffnung, die Flammen in den darunter liegenden Stockwerken löschen zu können, zerschlugen die Feuerwehrleute das dicke Glas des Walbeckens; doch der Plan funktionierte nicht und die Wale verbrannten bei lebendigem Leib. Barnum baute ein paar Blocks entfernt alles rasch wieder auf, aber 1868 brach erneut ein Feuer aus. 1887 brannte das Winterquartier von Barnum & London in Bridgeport, Connecticut, und die meisten Tiere kamen um. 1900 wurde der Zirkus von einem weiteren großen Brand und zwischen 1910 und 1920 – Barnum selbst war inzwischen tot – fast jedes Jahr von mehreren kleinen Bränden heimgesucht, doch die Krönung war der Verlust von 100000Dollar, den der Zirkus im Jahre 1924 machte. 1927 verlegte die gemeinsame Zirkustruppe ihr Winterquartier nach Sarasota, Florida, und beendete so Barnums seltsames Erbe.
Die Ringling Bros. hatten den Ruf, ein geradezu unverschämtes Glück zu haben, was zum Teil an der Einschätzung ihrer Konkurrenten lag, sie seien hochmütig und hielten sich für etwas Besseres. Sie zeigten eine Art Sonntagsschulprogramm und gingen sogar so weit, auf dem Zirkusgelände das Fluchen zu verbieten. Ohne Glücksspiele oder aufreizende Nummern mit leicht bekleideten Mädchen machten sie die geschmackloseren Kostüme der anderen oft wett, indem sie mit ihrem Saubermann-Image warben. Zyniker nannten sie die Ding-a-ling Brothers oder die fünf Pfarrer. Der erste bedeutendere Brand suchte sie im August 1901 in Kansas City, Missouri, heim; das Zelt des Abnormitätenkabinetts brannte, doch wie es ihr berühmtes Glück wollte, wurde niemand verletzt.
Barnum & Bailey – vor der Fusion von 1919 die erste und einzige «größte Schau der Welt» – hatten vielleicht noch größeres Glück. Im Mai 1910 fing an einem Samstagnachmittag in Schenectady, New York, ihr Großzelt Feuer, während im Innern fünfzehntausend Menschen saßen. Fred Bradna, der bei dem Brand des Menageriezeltes in Cleveland Pferdestallmeister sein würde, wollte gerade für den Eröffnungsaufzug in seine Pfeife blasen, als er oberhalb der Seitentribünen eine Flamme auflodern sah. Er bat die Zuschauer, Ruhe zu bewahren und ihre Plätze zu verlassen, und sie kamen seiner Aufforderung nach.
Es entstand keine Panik. Das Feuer sah so unbedeutend aus, dass die Zuschauer von den Tribünen hinabstiegen und sich auf die Rennbahn und in die Manege stellten und beobachteten, wie die Zeltarbeiter aufs Dach kletterten und versuchten, das brennende Stück Leinwand auszuschneiden. Eine Feuerwache direkt auf der anderen Straßenseite richtete ihre Schläuche sofort auf das Dach, doch es stellte sich bald heraus, dass sich der Brand nicht mühelos eindämmen ließ, und die Leute liefen zum Haupteingang und Sattelgang hinaus oder krochen unter den Seitenwänden hindurch, ohne dass es Verletzte gab.
Der Zeltbrand in Schenectady im Jahre 1910, aufgenommen von einer Anhöhe mit Blick auf den Hauptweg und das hinter einer Wand aus Reklametafeln gelegene Abnormitätenkabinett. Foto: Circus World Museum
Zeugen aus einem Country Club, von dem aus man das Zirkusgelände überblicken konnte, gaben an, sie hätten große Stücke brennender Leinwand in den Himmel schweben sehen, die im Aufsteigen von den Flammen verzehrt worden seien, als wäre es ein Zaubertrick. Innerhalb weniger Minuten lagen die Masten auf dem Boden, obwohl ein Teil der Leinwand unversehrt blieb und die Tribünen gerettet werden konnten. Niemand wurde verletzt. Das größte Problem war der Gesichtsverlust; sobald das Feuer gelöscht war, belagerten die Leute die Kassenwagen und forderten ihr Geld zurück. Die Kartenverkäufer konnten nur dadurch gerettet werden, dass die Fahrer Pferde vor die Wagen spannten und sie wegzogen.
Im August 1912 in Sterling, Illinois, stand den Ringlings das Glück erneut zur Seite. Man hatte das Großzelt auf der Weide einer Rennbahn aufgestellt. Um 13.00Uhr warteten zehntausend Menschen darauf, zur Nachmittagsvorstellung eingelassen zu werden, als ein paar Blocks entfernt eine Scheune Feuer fing. Al Ringling sah, dass der Wind brennende Schindeln in die Luft schleuderte, und befahl, die Eingänge geschlossen zu halten. Wie er befürchtet hatte, landete eine brennende Schindel auf dem Zeltdach, und Flammen loderten auf. Das Zelt brannte in wenigen Minuten ab. Inzwischen arbeitete Fred Bradna bei den Ringling Bros. und war erneut Augenzeuge. Umsichtig trieben die Tierpfleger die Elefanten davon, da alle eine wilde Flucht befürchteten. Wieder wurde niemand verletzt. Die Masten und die Tribünen mussten nur abgeschmirgelt und frisch gestrichen werden. Am nächsten Morgen berichtete der Sterling Daily Standard, der Brand sei entweder durch den Funken eines Motors oder durch ein paar Jungs verursacht worden, die bei der Scheune Zigaretten geraucht hätten. «Die rasche Zerstörung des großen Zeltes hat viele Spekulationen ausgelöst», schrieb der Standard, «und die Augenzeugen fragen sich immer noch, wie das Zelt so schnell abbrennen konnte. Tatsächlich war das Zelt mit Paraffin behandelt, um es regenundurchlässig zu machen, und als das Feuer die Paraffinschicht zum Schmelzen brachte, erhielten die Flammen weitere Nahrung, wodurch das große Zelt umso schneller abbrannte.»
Der Brand war ein zirkuswürdiges Schauspiel. Ein Bild des brennenden Zeltes gewann beim Fotowettbewerb einer überregionalen Zeitschrift den ersten Preis.
Zwischen 1912 und dem Feuer in Hartford 1944 verbrannte kein weiteres Großzelt, daher überrascht es nicht, dass der Brand in Sterling und die Katastrophe von Hartford in Zeitungsartikeln oft nebeneinander gestellt werden. Beide Mal waren es Nachmittagsvorstellungen, und beide Zelte gehörten den Ringling Bros. Doch kurz nach Sterling hatte es bei dem Zirkus zwei weitere große Brände gegeben, die nicht so bekannt sind.
Schenectady. Man erkennt die Verspannungskabel, die noch an den Spitzen der Sturmstangen befestigt sind. Foto: Circus World Museum
Der erste wütete in Cleveland, ebenfalls auf dem Gelände am See. Im Mai 1914 gingen dreiundvierzig Eisenbahnwaggons, die größtenteils leer auf einem Abstellgleis standen, in Flammen auf. Beim zweiten, im Oktober 1916, brach in Huntsville, Alabama, ein Brand im Zelt der Zugpferde aus. Vierzig Tiere verbrannten; vierzig weitere mussten getötet werden. Laut Zeugen brannte das Feuer nur fünf Minuten lang.
Noch stärker als unter den Bränden litten die Zirkusse unter Eisenbahnunglücken. Das berühmteste sollte hier Erwähnung finden. Es fand ebenfalls während des Krieges, im Juni 1918, statt. Um 4.00Uhr morgens hielt ein Zug, der den Hagenbeck-Wallace Circus beförderte, in der Nähe von Ivanhoe, Indiana, weil eine heiß gelaufene Lagerbüchse in Ordnung gebracht werden musste. Der Lokführer zog den größten Teil des Zuges auf ein Abstellgleis, doch die letzten fünf Wagen, darunter vier Schlafwagen, standen noch auf dem Hauptgleis. Ein paar Meilen entfernt überfuhr ein leerer Truppenzug sämtliche Stoppsignale, weil der Lokführer Pillen gegen sein Nierenleiden genommen hatte und im Führerstand schlief. In den alten hölzernen Schlafwagen schliefen die Zirkusarbeiter und Artisten in ihren engen Betten, in den Gängen brannten schwach die Petroleumlampen.
Die Leute von der Zugbesatzung hörten ein fernes Puffen, und als sie sich von ihrer Arbeit umwandten, sahen sie den Scheinwerfer des Truppenzugs auf sich zukommen. Der Lokführer war schließlich aufgewacht, aber es war zu spät, um zu bremsen. Die Lokomotive raste in die Schlafwagen und schob sie ineinander. Die Verletzten saßen in den zersplitterten Trümmern fest, und noch während eine Rettungsmannschaft zu ihnen hineinkletterte, fingen die verkeilten Wagen Feuer.
Die Unglücksstelle lag auf freier Strecke. Die Feuerwehren aus Gary und Hammond kamen so schnell wie möglich, doch es stand bloß das Wasser aus einem seichten Marschgebiet zur Verfügung. Als die Leute merkten, dass das Feuer nicht zu löschen war, kletterten sie in die zertrümmerten Wagen, um ihre Freunde und Angehörigen herauszuholen. Einige waren erfolgreich; andere starben dabei.
Bei dem Feuer in der Nähe von Ivanhoe kamen mehr als fünfundachtzig Zirkusleute ums Leben, darunter auch die Dompteuse Millie Jewel, die Frau, die keine Angst kannte. Die Zahl ist nur eine Schätzung, denn viele Leute wurden vermisst oder waren so verbrannt, dass man sie nicht mehr erkennen konnte. Eine Chicagoer Zeitung schrieb: «Die beiden heute gefundenen Leichen wurden wie viele andere, die man aus den Trümmern geborgen hat, in gewöhnlichen Wassereimern weggebracht. Sie bestanden nur noch aus verkohlten Knochen, von denen jeder Fetzen Fleisch heruntergebrannt war.» Schließlich wurden sechsundfünfzig der Opfer, von denen mehr als vierzig nicht identifiziert werden konnten, in einem Massengrab auf dem Woodlawn Cemetery in Chicago bestattet. Unbekannter Mann Nr.15, heißt es auf einem der typischen Grabsteine. Die Grabstätte ist durch einen steinernen Elefanten markiert, dessen Rüssel zum Zeichen der Trauer herabhängt.
Das Unglück von Ivanhoe war die bis dahin größte Katastrophe in der Geschichte des Zirkus; allein die Zahl der Toten war erschütternd. Bezeichnenderweise sprangen andere Zirkusse ein und boten Hagenbeck-Wallace Ausrüstung und Hilfe an, und Hagenbeck-Wallace nahm in bester Showbusiness-Tradition beides an und machte weiter. Man musste nur zwei Gastspiele absagen.
Obwohl Ringling Bros. and Barnum & Bailey vor Cleveland jahrelang keinen größeren Brand bewältigen musste, war der Zirkus nicht gegen jegliches Unglück gefeit. Im Jahr zuvor waren auf einer Tournee durch die Südstaaten plötzlich elf Elefanten gestorben, die meisten von ihnen beim Gastspiel in Atlanta. Bei der Autopsie stellte sich heraus, dass die Tiere große Mengen Arsen gefressen hatten. Zunächst wurde ein Transportarbeiter wegen des Verdachts verhaftet, sie vergiftet zu haben, doch die Anklage musste fallen gelassen werden. Die Polizei nahm noch ein paar andere Verdächtige fest – darunter auch einen vor kurzem gefeuerten Arbeiter–, setzte aber auch sie wieder auf freien Fuß.
Altgediente Arbeiter erinnerten sich daran, dass in den frühen dreißiger Jahren in Charlotte, North Carolina, mehrere Elefanten erkrankt waren, weil sie bei einer Chemiefabrik in der Nähe des Zirkusgeländes gegrast hatten, und eins der letzten Gastspiele vor Atlanta hatte in Charlotte stattgefunden. Obwohl sich viele Zirkusleute mit dieser Erklärung zufrieden gaben, war das Ganze nicht gerade stichhaltig. Die Ursache wurde nie eindeutig festgestellt.
In gewisser Hinsicht passten all diese Unglücksfälle zu der allgemeinen Ansicht, dass ein Zirkus ein chaotischer und gefährlicher Arbeitsplatz ist, bevölkert von zwielichtigen Vagabunden und von Natur aus anfällig für Katastrophen. Wir halten unser normales Leben für viel sicherer, da es nach eingespielten Regeln abläuft. Diese Ansicht geht teilweise auf unsere Verwunderung über die waghalsigen, vielleicht sogar tollkühnen Risiken zurück, die wir mit Zirkusnummern wie dem Löwenbändigen oder dem Drahtseilakt verbinden. Die Gefahr ist dabei viel aufregender für uns, weil wir wissen, dass sie real ist. Raubkatzen können ihre Dompteure anfallen und tun das auch; Drahtseilakrobaten, die ohne Netz arbeiten, können zu Tode stürzen, und auch so etwas kommt vor.
Doch diese Risiken werden, genau wie die starren Abläufe hinter dem alltäglichen Zirkusleben, von Fachleuten sorgfältig überdacht. Außerdem beruht beides auf einer langen Tradition, die oft innerhalb der Familie weitergegeben wird, und bevor man auf Tour geht, wird alles immer wieder geübt und vervollkommnet.
Doch bei den Drahtseilakrobaten oder Dompteuren kommt die Gefahr meistens daher, dass sie eine neue Nummer ausprobieren oder zu viel riskieren. Im Fall dieser früheren Zeltbrände war die Gefahr offenbar bekannt gewesen und bloß nicht beseitigt worden. Schenectady, Sterling, Huntsville – an all das erinnerte man sich nach dem Brand in Cleveland und dann erneut nach der Katastrophe von Hartford.
Den ganzen Nachmittag zogen Traktoren die verkohlten Kadaver aus dem Zelt, die an ihnen befestigten Ketten strafften sich klirrend. John Ringling North schritt in einer braunen Lederjacke und einer zimtfarbenen Reithose über den Platz und gab dem Aufräumtrupp Anweisungen. Er hatte bereits den Segelmacher in Sarasota wegen eines neuen Zeltes angerufen und wies seine Leute an, sich in den Zoos der Gegend nach Ersatz für die toten Tiere umzusehen. Der Presse sagte er, dass die Nachmittagsvorstellung ausfallen müsse, versprach aber, die Abendvorstellung werde stattfinden. Es werde trotz allem weitergehen.
Dr.Henderson und seine Helfer beschäftigten sich mit den überlebenden Tieren. Die Stadt stellte den Keller der nahe gelegenen Public Hall zur Verfügung, und man richtete dort ein behelfsmäßiges Krankenrevier für zwei Elefanten, drei Kamele und ein Grévyzebra ein – alle hatten schwere Verbrennungen und standen unter Schock. Walter McClain bat um einen Spritzer Foille für sein Gesicht und ging dann wieder, um sich um seine anderen Tiere zu kümmern.
Alle sagten, es hätte schlimmer kommen können. Außer den Elefanten waren keine dressierten Tiere verletzt, nur Tiere aus der Menagerie. Das Stallzelt, wo Hunderte von Pferden standen, befand sich direkt neben der Menagerie; irgendwann war ein qualmender Mast darauf gestürzt. Die Feuerwehr aus der Stadt, die zur Rettung der Menagerie zu spät gekommen war, hatte ihre Bemühungen auf dieses Zelt konzentriert.
Das Menageriezelt war nicht mehr zu retten. Es war 100 mal 40Meter groß und hatte sechs Masten. Einige sagten, es sei innerhalb von drei Minuten abgebrannt; andere sagten zehn. Wie die Zelte bei den früheren Bränden hatte man es mit der traditionellen Mischung aus Paraffin und bleifreiem Benzin wasserdicht gemacht. Der Cleveland Plain Dealer berichtete: «Das Zelt wurde unter anderem deshalb so schnell zerstört, weil seine wasserdichte Beschichtung leicht entzündlich war.» Das Feuer brachte die Wachsschicht zum Schmelzen und zersetzte sie dann durch die Hitze – verwandelte sie in entzündliches Gas, wie bei einer brennenden Kerze, die ihre eigene Flamme nährt. Das Zelt brannte wie ein riesiger Docht. Der Wind machte alles nur noch schlimmer.
David «Deacon» Blanchfield, der Fahrmeister, sagte nach dem Brand von Hartford beim Verhör des Branddirektors aus: «Ich hab das Zelt in Cleveland brennen sehen. Man sieht es in Flammen aufgehen, und kurz darauf ist kein Dach mehr da. Es ist unmöglich, ein Zirkuszelt zu retten. Völlig unmöglich, es sei denn, man ist sofort da und kann das Feuer mit den Füßen austreten. Sie haben keine Vorstellung, wie schnell ein Großzelt abbrennt. Das stimmt, so wahr ich hier sitze. Ich würde das nicht sagen, wenn ich es nicht wüsste, aber ich hab schon zwei Zelte brennen sehen und erlebt, wie heiß es darin wird. Der Brand in Cleveland war nach knapp zwanzig Minuten vorbei, aber bei vier Elefanten war die Haut völlig weggebrannt.»
Anfangs dachten die Behörden von Cleveland, eine achtlos weggeworfene Zigarette könne die Ursache sein – der übliche Verdacht bei Hotelbränden zu jener Zeit. Einer der Arbeiter, die zuerst am Schauplatz des Geschehens gewesen waren, glaubte, das Feuer sei auf dem Dach des Zeltes ausgebrochen, möglicherweise ausgelöst durch den Funken einer vorbeifahrenden Lokomotive. Ein anderer erzählte einem Reporter des Plain Dealer, er habe einen betrunkenen Arbeiter in der Nähe des Brandherds in einem Haufen Stroh liegen und eine Zigarette rauchen sehen. Ein Dritter sagte, er habe ein paar Jungs mit Streichhölzern vor dem Zelt gesehen. Ein Vierter erzählte jedem, der es hören wollte, dass ein Kurzschluss in einem Generator, der gerade repariert wurde, die Ursache gewesen sei. Die örtliche Brandschutzbehörde sagte bloß, es werde eine Untersuchung durchgeführt. «Wir werden vielleicht nie erfahren, was passiert ist», sagte John Ringling North zu den Reportern.
Ein Lastwagen zog den verbrannten Giraffenwagen zu den Abstellgleisen. Die örtliche Abdeckerei beseitigte die Kadaver.
Die Abendvorstellung fand, wie geplant, statt; es gab sogar eine Menagerie unter freiem Himmel. Die Artisten traten vor einem Publikum von elftausend Menschen auf, dreitausend mehr als bei der Eröffnungsvorstellung. Den größten Beifall erhielt das Elefantenballett, besonders jene Tiere, bei denen unter den Ballettröckchen Brandwunden zu sehen waren.
Im Keller der Public Hall strich Dr.Henderson die überlebenden Tiere weiter mit Foille ein. Er hatte nur wenig Hoffnung: Wie alle Patienten mit schweren Verbrennungen bekommen auch Tiere leicht eine Lungenentzündung. Dr.Henderson bemühte sich die ganze Nacht lang, aber die Tiere waren zu schwer verletzt – sie hatten die Flammen eingeatmet. Der einäugige Elefant Trilby starb gegen Mitternacht, und dann folgte ihm Rose, das Grévyzebra. Kas, der zweite Elefant, erlebte den Morgen nicht mehr. Blieben die drei Kamele Pasha, Tilly und En Route. Sie hielten durch, lagen aber, ohne einen Laut von sich zu geben, auf den Knien im Stroh und konnten weder fressen noch saufen. Früh am nächsten Morgen bat Dr.Henderson einen Polizisten, ihr Leiden zu beenden.
Der Keller der Public Hall. Der Zirkustierarzt Dr.J.Y.Henderson untersucht Pasha, während Blackie Barlow das Tier mit Foille bestreicht. Die drei Kamele hielten am längsten durch, mussten aber letztlich erschossen werden. Foto: Cleveland News/Cleveland Public Library
Letztendlich fielen dem Brand vier Elefanten, alle dreizehn Kamele, alle neun Zebras, fünf Löwen, zwei Tiger, zwei Giraffen, zwei Gnus, zwei weiße Damhirsche, zwei ceylonesische Esel, ein Axishirsch, ein Puma, ein Schimpanse und ein Strauß zum Opfer. In der Öffentlichkeit behauptete der Zirkus beharrlich, keins der Tiere sei versichert gewesen. John Ringling North schätzte den Verlust auf die gewaltige Summe von 200000Dollar. Doch im Stillen forderte der Zirkus von seiner Versicherung für die Tiere und die Käfigwagen nur knapp 36000Dollar.
Am Abend des 5.August verhaftete die Bahnpolizei von Pennsylvania, während in Cleveland die Abendvorstellung lief, auf dem Güterbahnhof von Duquesne in der Nähe von Pittsburgh einen Jugendlichen, der widerrechtlich auf einem Güterzug fuhr. Zunächst weigerte er sich, seinen Namen zu nennen. Die Bahnpolizisten fanden in seiner Tasche Menagerie-Essensmarken, und auf der Polizeiwache in Duquesne stieß er hervor: «Ich weiß was über den Zirkusbrand.»
Der Junge sagte, er sei sechzehn und heiße Lemandris Ford – oder Lemandria oder Lamadris (die Zeitungen waren sich nicht einig). Er war in der vorigen Woche von der Schule abgegangen und hatte sich in Pittsburgh zusammen mit Jess Johnson, einem älteren Freund, beim Zirkus verdingt. Man hatte die beiden am Dienstagmorgen entlassen, weil sie nicht schnell genug gearbeitet hatten.
Lemandris Ford gestand, das Feuer gelegt zu haben, und sagte, Johnson habe ihn dazu überredet, «um dem Zirkus heimzuzahlen, dass man uns gefeuert hat». Ford zufolge hatte Johnson für beide eine Zigarette angezündet, ihm dann ein Messer an die Rippen gehalten und gedroht, ihn zu erstechen, wenn er seine Zigarette nicht in einen Heuhaufen werfe, von dem gerade die Tiere fraßen.
Über den Brand selbst sagte Ford kaum etwas. Doch später gestand er: «Es hat mir unheimlich Leid getan, als ich all die toten Tiere herumliegen sah.»
Der Arbeitszeitkontrolleur des Zirkus bestätigte, dass Ford in jener Zeit bei ihnen gewesen war, und Ford unterschrieb ein Geständnis. Er war nicht vorbestraft.
Ford erhob keinen Einspruch gegen die Auslieferung, und John Brice, der Chef der Zirkuspolizei, und zwei städtische Polizisten fuhren nach Pittsburgh, um ihn abzuholen. Am nächsten Tag waren die Polizisten davon überzeugt, dass Ford mit dem Brand nichts zu tun hatte. Wenn man den Jungen nach dem Menageriezelt und den Tieren darin fragte, gab er keine klaren Antworten und ließ sich leicht in Widersprüche verwickeln. Der Mann auf dem Foto, den er als Jess Johnson identifizierte, war tatsächlich ein Krimineller mit einer Verbindung zum Zirkus.
Ein paar Tage später schnappte die Polizei Johnson, doch man hielt auch ihn nicht für verdächtig. Inzwischen hatte Lemandris Ford sein Geständnis widerrufen. Die Polizei bezeichnete seine Geschichte öffentlich als Schwindel und sagte, die Ungereimtheiten in seiner Aussage legten den Verdacht nahe, dass er entweder berühmt werden wolle oder an Halluzinationen leide. Bis zu seiner Verhandlung gestand und leugnete der Junge abwechselnd, das Feuer gelegt zu haben.
Der Polizeichef John Brice war schon über dreißig Jahre beim Zirkus. Obwohl sein Haar inzwischen schlohweiß war, hörte er immer noch auf den Spitznamen Barnum Red. Von Anfang an hatte er ein Gespür dafür, wie man unerwünschte Personen auf dem Zirkusgelände erkannte. Jetzt sagte ihm sein Gefühl, dass sich der Junge die Geschichte ausgedacht hatte. Krankenunterlagen zeigten, dass sich Ford im vorigen Winter bei einem Autounfall einen Schädelbruch zugezogen hatte. Das Gericht ordnete eine psychiatrische Untersuchung an. Aufgrund der Ergebnisse brachten sie ihn mit der Empfehlung nach Pittsburgh zurück, ihn in ein Heim für Geistesgestörte einzuweisen.
Die Ursache des Brandes blieb ein Rätsel, war offiziell nicht eindeutig zu ermitteln. Obwohl es außer dem wirren Geständnis keinerlei Beweise gab, glaubten viele, darunter auch John Ringling North, dass Lemandris Ford der Täter war. Inzwischen hatte das Life-Magazin bereits einen reich bebilderten Artikel gebracht, in dem man die unbewiesenen Behauptungen als Fakten hinstellte und den Angeklagten als «den jugendlichen Brandstifter Alamandris Ford» bezeichnete.
Später kamen noch andere Schauergeschichten über den Brand auf, über Elefanten, die in wilder Flucht durch die Straßen von Cleveland gestürmt und deren Pflöcke gegen die geparkten Autos geknallt seien; über imposante Waffen (kurzläufige Schrotflinten) und die große Zahl von Schüssen, die nötig gewesen seien, um die Tiere zu erlegen; und über das herzzerreißende Verhalten einer Löwin, die vergeblich versucht habe, ihre Jungen zu retten, indem sie sich auf sie gelegt habe. Wie bei Lemandris Fords Geschichte schenkten einige Leute den Gerüchten Glauben und andere nicht.
Der Zirkus hatte praktischere Fragen zu bedenken. Man musste die Menagerie wieder auffüllen, und teilweise gelang das auch, zumindest für den Rest der Saison. 1943 ging man ohne Menagerie auf Tour und schaffte nie wieder so viele Zebras und Kamele an wie vor Cleveland.
Doch der Zirkus und John Ringling North verstanden es, sogar aus ihren Katastrophen Profit zu schlagen. Es heißt, dass die vier Elefanten, die umgekommen waren, später als Attraktionen im Abnormitätenkabinett gezeigt wurden und dass Barnum Jumbos Überreste in einem gesonderten Zelt zur Schau stellen ließ – was anscheinend nicht stimmt, doch es bezeugt die öffentliche Wahrnehmung von Norths viel gepriesenem Talent, stets einen Silberstreif am Horizont auszumachen.
Der Zirkus erholte sich rasch von dem Schock. Die Sache war traurig, aber man war es gewohnt, dass das Leben im Zirkus hart und nicht immer ungefährlich war und dass sich ab und zu Unfälle ereigneten. Man erlebte immer wieder, dass so etwas jedem passieren konnte. Walter McClain hatte als Erster Elefanten eingesetzt, um die offenen Güterwagen zu entladen und die Wagen von den Abstellgleisen auf den Platz zu ziehen. Im November, beim Entladen der Zirkuswagen auf dem Güterbahnhof von Jacksonville, rutschte McClain aus und stürzte bei dem Versuch, auf einen fahrenden Gepäckwagen zu springen. Das Vorderrad zerquetschte ihm den Schädel, und er kam ums Leben. Der Zirkus trauerte und machte dennoch weiter. So war nun einmal das Zirkusleben.
Zwar kannten die Arbeiter, die die Güterwagen entluden oder die Zelte aufbauten, die Gefahren, die an den Abstellgleisen oder auf dem Platz lauerten, doch alle aus der Truppe wussten auch, dass nur sie den Risiken ausgesetzt waren. Das Publikum war nie in Gefahr. Ringling Bros. and Barnum & Bailey konnten auch nach dem Brand von Cleveland voller Stolz behaupten, dass bei keiner ihrer Vorstellungen je ein Zuschauer ums Leben gekommen war.
So schrecklich der Menageriebrand auch war, an Thanksgiving in jenem Jahr zeigte sich, wie schlimm ein Feuer wirklich wüten konnte. Das Cocoanut Grove, ein gut besuchter Nachtclub in Cambridge, brannte innerhalb von sieben Minuten aus. Es gab nur wenige Ausgänge, von denen ein paar blockiert waren, weil sich die Türen nach innen öffneten, und so kamen 492Menschen ums Leben; die meisten starben nicht an ihren Verbrennungen, sondern erstickten. Der Rauch, der von dem für die Inneneinrichtung verwendeten Material aufstieg, erwies sich als giftig und kostete Hunderte das Leben. Viele der Leichen sahen völlig unversehrt aus, als schliefen sie bloß. Alle 492 konnten identifiziert werden.
Die Bostoner Presse machte viel Wirbel darum, dass sich die Angestellten des Grove ins Freie gerettet hatten, während sich die Gäste in dem Rauch blind vorwärts tasten mussten. Die Brandursache konnte nie mit Sicherheit festgestellt werden, obwohl in den Zeitungen ein junger Kellner beschuldigt wurde, weil er ein Streichholz angezündet hatte, um eine Glühbirne, die er auswechseln sollte, besser sehen zu können. Das Gericht betrachtete die leicht entzündlichen Materialien, die fehlenden Ausgänge und die viel zu große Gästeschar als grobe Fahrlässigkeit und verurteilte den Inhaber des Clubs in Abwesenheit zu einer Haftstrafe. Auch der Mitarbeiter der städtischen Bauaufsicht, der dem Club die Konzession erteilt hatte, kam vor Gericht, doch obwohl man ihm Pflichtvergessenheit vorwarf, musste er nicht ins Gefängnis.
Die Hinterbliebenen der Toten klagten, aber der Inhaber des Clubs besaß nicht viel Geld. Jeder Kläger erhielt nur eine Summe von 160Dollar. Überall im Land änderten die Städte sofort ihre Brandvorschriften und begannen dann, deren Einhaltung streng zu überwachen. Die Versicherungen forderten strengere Sicherheitsvorkehrungen. Die Behörden sagten, das Cocoanut Grove werde allen eine Lehre sein.
Es war Weihnachten im Juli, eine alte Zirkustradition, ein Tag, an dem die ganze Familie der Großen Schau ein Fest veranstaltete. In Providence wurde gefeiert, das Küchenzelt war mit Fähnchen und Bändern aus Krepppapier geschmückt, man hatte die Zeltleinwand, die die Arbeiter von den Artisten und dem Führungspersonal trennte, für diesen Tag entfernt, alle aßen gebratenes Hähnchen und als Nachtisch Kuchen mit Eis, und jeder, der wollte, konnte sich einen Nachschlag holen.
Doch der Platzmeister befand sich bereits in Hartford, legte die Stellplätze für die Zelte fest, erklärte den Arbeitern, wie sie das Gras mähen sollten, bestellte so viel Heu, Getreide, Benzin und Lebensmittel, wie der Zirkus während seines Gastspiels benötigen würde, und sorgte dafür, dass am nächsten Morgen, wenn der Zug einlief, alles da sein würde. Die Rationierung erschwerte seine Arbeit gewaltig, und zudem war es fast unmöglich, am Abend des Nationalfeiertags etwas geliefert zu bekommen.
Sein Hauptanliegen war der Platz. Er kannte ihn gut; sie spielten schon seit zehn Jahren auf dem Gelände an der Barbour Street, seit ihrem Umzug von den Colt’s Meadows Anfang der dreißiger Jahre. Damals hatte die Stadt das Gelände zurückgekauft, um dort eine High School zu bauen, doch dann hatte man es dem Bauamt überlassen, das es an Jahrmärkte oder Zirkusse verpachtete. Der Zirkus war seitdem jedes Jahr um diese Zeit da gewesen, nur während des Streiks von 1938 nicht. Die meiste Zeit des Jahres war der Platz nichts als eine grasüberwucherte, ungenutzte Wiese.
Es war ein langes, rechteckiges Gelände östlich der Straße – die den einzigen richtigen Zugang bot. Der Boden war ziemlich eben, aber staubig, das Gras verdorrt; es hatte schon seit Tagen nicht mehr geregnet. Rechts neben der Zufahrt lag die McGovern Granite Company, die Grabsteine anfertigte und auf deren lang gezogenem Werksgelände lauter unbeschriftete, polierte Mustersteine standen. Etwas weiter hinten schützte auf derselben Seite ein kastanienbrauner Schneezaun ein Areal mit Gemüsegärten. Die Kinder aus dem Viertel benutzten die Mitte des Platzes als Baseballfeld, und der Platzmeister konnte noch die Furchen der Batter’s Box auf beiden Seiten der Homeplate und das niedergetrampelte Gras zwischen den staubigen Bases erkennen. Zur Linken und auf der Rückseite war der Platz von Bäumen gesäumt, und dahinter führte eine unbefestigte Straße über eine kleine Anhöhe und mündete in die Hampton Street, wo sich nur ein Tabakfeld und die Baracken und Suchscheinwerfer einer Flugabwehreinheit befanden.
Der Platzmeister wusste aus den vergangenen Jahren, wo die Zelte aufgestellt werden mussten, und auch, dass für das Menageriezelt nicht genug Platz war. Das spielte keine Rolle – sie hatten so wenig Personal, dass sie bei mehreren Gastspielen zu spät gewesen waren, und alles, was den Zeltaufbau verkürzte, war ihnen willkommen.
Offiziell hatten sie das Gelände von diesem Abend bis zum Morgen des 7.Juli gepachtet. Der Vorreisende des Zirkus hatte schon im Februar alles ausgehandelt, hatte mit der Stadt den üblichen Pachtvertrag abgeschlossen und der Bauaufsicht ungefähr dreißig Freikarten überlassen. Die Pacht betrug 500Dollar, die am Tag der Eröffnungsvorstellung per Scheck am Kassenwagen zu bezahlen waren. Es waren die üblichen Bedingungen.
Der Platzmeister hatte den Eindruck, dass an der Barbour Street alles in Ordnung war und normal verlief. Die Vorhut hatte beim Plakatekleben gute Arbeit geleistet. In den Schaufenstern aller italienischen Lebensmittelgeschäfte, aller Friseurläden und Spirituosenhandlungen im North End hing eine Lithographie der Gala-Revue «Panto’s Paradise», und die Ladeninhaber freuten sich, weil sie im Gegenzug Freikarten erhalten hatten. Der Platz war in gutem Zustand. Das Wetter war herrlich und sollte so bleiben.
In der Stadt kündigen Plakate das alljährliche Gastspiel des Zirkus an. Foto: William Day/Robert F.Sabia
In Providence nahm man gerade das Weihnachtsessen ein. Für so etwas hatte der Platzmeister keine Zeit; er musste Eis, Fisch und frisches Brot, Eier, Speck und Milch bestellen. Es würde ein langer, heißer Tag werden. Als er aufbrach, waren die Arbeiter auf dem Platz noch am Mähen.
Der Zirkus hatte John Sponzo beauftragt, das Gras zu mähen und den Gehsteig in der Barbour Street mit Erde aufzuschütten, damit die Lkws und Wagen ihn nicht beschädigten. Sponzo besaß eine Ziegelei in der Main Street und ein ziemlich großes Stück Land an der Ecke Cleveland und Hampton Street, wo der Zirkus sein Stallzelt und sein Kochzelt aufstellen wollte. Er sagte später aus, dass er und einer seiner Leute am 3. und 4.Juli auf dem Platz gewesen seien.
Sie hatten zwei Pferde, eine Mähmaschine und einen von einem Pferd gezogenen Rechen. Es gab ein paar Probleme, weil die Scherblätter oft gegen herumliegende Dosen stießen oder sich Draht in ihnen verhedderte. Er sagte, an der Stelle, wo das Zelt gestanden habe, sei der Boden sandig gewesen, dort habe es nur wenig Gras gegeben. Sie mähten das Gras, rechten es zusammen und benutzten die eine Hälfte als Streu und die andere als Futter für die Pferde.
Ob seiner Meinung nach genug trockenes Gras herumgelegen habe, um einen Brand auszulösen?
«Das kann ich mir nicht vorstellen», sagte John Sponzo, «denn wir haben ziemlich gute Arbeit geleistet.»
Hauptpersonen
Die Cooks, Southampton, Mass.
Mrs.Mildred Cook
Donald Cook, 9
Eleanor Cook, 8
Edward Cook, 6
Die Norrisens/Smiths,
Middletown, Conn.
Mr.Michael und Mrs.Eva Norris
Agnes Norris, 6
Judy Norris, 6
Mrs.Mae Smith
Barbara Smith, 12
Mary Kay Smith, 6
Die Kurnetas mit Raymond Erickson, Middletown, Conn.
Mrs.Frances Kurneta
Mr.Stanley Kurneta
Miss Mary Kurneta
Betsy Kurneta, 10
Tony Kurneta
Raymond Erickson Jr., 6
Die Grants mit Donald Gale, East Hartford, Conn.
Mrs.Hulda Grant
Mr.Frank Golloto
Donald Gale, 10
Caroline Brown, 8
Die Smiths, Vernon, Conn.
Mrs.Grace Smith
Joan Smith, 12
Elliott Smith, 7
Die Eppsens/Goffs, Hartford, Conn.
Mrs.Mabel Epps (schwanger)
William Epps, 7
Richard Epps, 3
Mrs.Maurice Goff
Muriel Goff, 4
Die Marcoviczens mit Dorothy Bocek, Hartford, Conn.
Stella Marcovicz
Francis Marcovicz, 4
Dorothy Bocek, 13
Die LeVasseurs, Bristol, Conn.
Marion LeVasseur
Jerry LeVasseur, 6
Sie kamen zu spät aus Providence und mussten die Nachmittagsvorstellung ausfallen lassen. Schon die ganze Saison – in Bridgeport, Fitchburg und Manchester – waren sie zu spät dran gewesen, aber das war die erste Vorstellung, die ausfiel.
Sie gaben den Zügen die Schuld. Auf der Titelseite der Hartford Times war zu lesen: «Die Ansichten über die Ursache der Verspätung gingen beim Zirkus und der Eisenbahn auseinander. Ein Sprecher des Zirkus sagte, die 22Meter langen Plattformwagen, die man für den Transport des Großzeltes benötige, hätten ‹Schwierigkeiten mit den scharfen Kurven auf der Strecke zwischen Hartford und Willimantic gehabt›. Die Fahrdienstleiter der Eisenbahn (bei der New York, New Haven & Hartford Railroad) sagten, der Zug habe diese Strecke gar nicht benutzt. ‹Laut Fahrplan hat er die Hauptstrecke über den Cedar-Hill-Rangierbahnhof in New Haven genommen.›»
Der Zirkus hatte in diesem Jahr ein anderes Gesicht. John Ringling North war nicht mehr dabei, er war durch Robert Ringling ersetzt worden – anscheinend auf Betreiben von Mrs.Edith Ringling, seiner Mutter, der Witwe von Charles, einem der fünf Brüder, die den Zirkus gegründet hatten.
Der Kampf um die Herrschaft über den Zirkus wogte zwischen zwei Gruppen hin und her: auf der einen Seite John Ringling North und sein Bruder Henry, die beide Neffen von John Ringling waren; und Mrs.Edith Ringling, ihr Sohn Robert und ihre gemeinsame Verbündete Aubrey Ringling, Witwe von Richard (dem Sohn von Alf, einem der fünf Gründer) und in zweiter Ehe mit James Haley verheiratet, auf der anderen. Der Staat Florida hatte ebenfalls seine Finger im Spiel, da der kinderlose John Ringling ihm sein Herrenhaus, sein Kunstmuseum und dreißig Prozent des Zirkus hinterlassen hatte. Zunächst wurden die beiden North-Jungen und ihre Mutter – die gemeinsam mit ihrem Sohn John zu seiner Testamentsvollstreckerin ernannt wurde – in seinem Testament großzügig bedacht, doch als sich John Ringling später mit ihnen zerstritt, unterzeichnete er ein Kodizill, worin er ihnen alles außer 5000Dollar für ihre Mutter wieder entzog. Doch John Ringling beging den Fehler, ihre Ernennung zu Testamentsvollstreckern nicht wieder rückgängig zu machen. Sie fochten das Testament vor Gericht an und bestimmten in der Zwischenzeit als Vermögensverwalter über dreißig Prozent der Anteile. Um John Ringling Norths manchmal überwältigenden Ehrgeiz einzudämmen, schlossen Edith und Aubrey Ringling einen Pakt, der als das Ladies’ Agreement bekannt ist; dadurch waren sie rechtlich verpflichtet, in allen wichtigen Angelegenheiten gemeinsam zu stimmen.
Der extravagante Showman John Ringling North (rechts) war zum Zeitpunkt des Brandes entmachtet, übernahm aber bald wieder die Herrschaft. Robert Ringling (links) war vor Hartford in der kurzen Zeit als Direktor des Zirkus in jeder Hinsicht erfolgreich gewesen. Foto: Circus World Museum
So konnte Ediths Sohn Robert – ein Opernsänger ohne jegliche Zirkuserfahrung – schließlich die Stelle des extravaganten John Ringling North einnehmen. Er versprach, zu den Wurzeln des Zirkus zurückzukehren, schaffte Norths blaues Viermastzelt ab und führte das sechsmastige weiße Zelt aus der Zeit vor 1939 wieder ein. Unter Roberts Herrschaft gab es nichts so Beeindruckendes wie Balanchines Elefantenballett, doch das Gepränge im Stil des Broadway, das North so geliebt hatte, wurde beibehalten und auch die Probleme mit dem Amt für Kriegstransportwesen, mit der Rationierung und dem großen Mangel an Arbeitskräften blieben bestehen.
Im Krieg wurde jeder Mann gebraucht; die Flugzeugindustrie hatte sogar ein paar Kleinwüchsige unter den Artisten angefordert, die an engen Stellen der Montagebänder arbeiten sollten. In Providence standen George W.Smith statt der üblichen 960 nur 670Arbeiter zur Verfügung und er beklagte sich, dass drei von ihnen nötig seien, um die Arbeit eines einzigen guten Mannes zu bewältigen. Für die Platzanweiser, die Kartenverkäufer und die Leute aus den Imbissbuden gab es jede Menge zusätzliche Arbeit, zum Beispiel beim Aufstellen der hölzernen Klappstühle auf der Haupttribüne. Die Mitglieder der Truppe übernahmen zusätzliche Arbeiten, halfen beim Zeltauf- und -abbau und zeigten, dass sie dazugehörten und man auf sie zählen konnte.
Vielleicht lag es an den fehlenden Arbeitskräften oder an der Weihnachtsfeier, dass sie zu spät in Hartford eintrafen. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, wann die erste Vorstellung ausfallen musste. Seit Kriegsbeginn hatten sie mehr reine Abendgastspiele vereinbart, gaben am Ankunftstag oft bloß eine Spät- oder am Abreisetag bloß eine Nachmittagsvorstellung. Doch Providence war nur neunzig Meilen von Hartford entfernt, und sie hatten für die Fahrt mehr als sechs Stunden Zeit gehabt. Möglicherweise griff der Zirkus aus reiner Gewohnheit darauf zurück, den Zügen die Schuld zu geben.
Die frisch verheiratete Aubrey Ringling Haley bespricht sich mit dem berühmten Dompteur Alfred Court. Court war zwar in Hartford, trat aber an jenem Tag nicht auf. Foto: Circus World Museum
Es war ein Unglück, wenn eine Vorstellung ausfiel, und die Zirkusleute hatten den Ruf, abergläubisch zu sein. Seit die berühmte Luftakrobatin Lillian Leitzel zu Tode gestürzt war, weigerte sich Merle Evans, der Kapellmeister, ihre Erkennungsmelodie «Crimson Petal» zu spielen. Scranton, wo die Tour im Jahr des Streiks zu Ende gegangen war, war eine verhexte Stadt. Pfeifen im Umkleideraum, Erdnussschalen auf dem Fußboden und die alten orientalischen Schrankkoffer – all das brachte Unglück, doch das Allerschlimmste war, wenn eine Vorstellung ausfiel.
Der erste Teil des Zuges traf am Mittwochmorgen um 9.45Uhr, fast fünf Stunden zu spät, auf dem Abstellgleis in der Windsor Street ein. Er wurde «das Eingreifgeschwader» genannt und transportierte die Menageriekäfige, die Wagen für das Küchenzelt sowie die Lastwagen, Traktoren und Elefanten, die sie ziehen sollten. Eine Menschenmenge aus der Stadt – erwachsene Zirkusfans und Kinder – sah dabei zu, wie die Arbeiter die Wagen entluden. Die meisten folgten der Prozession aus Elefanten und Wagen die North Street entlang über die Cleveland Avenue zur Barbour Street. Die Leute winkten von ihren Veranden.
Das Entladen der offenen Güterwagen an den Abstellgleisen. Foto: Circus World Museum
Auf dem Platz warteten noch mehr Menschen, und die Abteilungsleiter zogen jede Menge Freikarten aus der Tasche und stellten alle kräftigen Burschen ein, deren sie habhaft werden konnten. Das Küchenzelt mit seinen langen Campingtischen und rot karierten Tischdecken wurde als Erstes aufgestellt, dann das Stallzelt. Zeltarbeiter schlugen die Pflockreihen für das Hauptzelt, das Abnormitätenkabinett, das Umkleidezelt und das Zelt mit den Verkaufsständen ein.
Angeschirrte Elefanten, die am 30.Juni 1944 in Portland, Maine, einen Menageriekäfigwagen auf das Zirkusgelände ziehen. Foto: Maurice Allaire
Der zweite Teil des Zuges war inzwischen eingetroffen, und die sechs Masten des Hauptzeltes, siebzehn Meter hoch und von Flaggen gekrönt, wurden aufgestellt. Die Arbeiter rollten die Leinwand auf dem Boden aus und begannen, sie mit Stricken von den Hauptmasten bis zu den Pflockreihen zusammenzuschnüren. Die Sonne stand jetzt höher, und die Männer rochen nach Schweiß.
Gegen elf Uhr vormittags traf Charles Hayes von der städtischen Bauaufsicht auf dem Platz ein, sah aber, dass das Zelt noch längst nicht fertig war. Die Stadt hatte keine rechtliche Handhabe, das Zelt von Hayes inspizieren zu lassen, doch so war es Brauch. Er ging und sagte, er werde in ein paar Stunden noch einmal wiederkommen.
Die Arbeiter schnürten alles zu, steckten rund um das Zelt die Seitenstangen ein und zogen dann die Leinwand mit Hilfe zweier Elefanten, die sich in ihr gepolstertes Geschirr stemmten, zu den Hauptmasten hinauf. Im Innern des Zeltes, wo es plötzlich angenehm schattig war, wurden rings um das Oval zwei Reihen kürzerer Sturmstangen ausgelegt, und ein halbes Dutzend Elefanten, die jeweils allein arbeiteten, richteten sie auf und stützten damit das Dach ab. Als das erledigt war, kamen die Zeltarbeiter wieder nach draußen und spannten die Seile, von denen die Seitenstangen gehalten wurden.
Man hatte das Großzelt, das jetzt aufgerichtet war, erst in diesem Jahr gekauft. Der Zirkus behauptete, es sei das größte Zelt der Welt. Es war in der ersten Maiwoche aus der Segelmacherwerkstatt gekommen und wie seine Vorläufer mit zwanzigtausend Litern bleifreiem Benzin und achttausend Kilogramm Paraffin wasserdicht gemacht worden. Siebzig Zeltarbeiter hatten geholfen, das Wachs in großen Kesseln zu schmelzen, es mit Benzin zu verdünnen, mit Schaufeln umzurühren, die Mischung dann auf die ausgebreitete Leinwand zu gießen und sie mit Besen überall zu verteilen. Das Verfahren war billig und erfolgreich. Der Zirkus hatte seine Zelte schon seit Jahren so behandelt.
Jetzt, wo das Zelt stand, begannen John Carsons Platzanweiser die Stützbalken, Durchzüge und Fußbodenplatten für die roten Stühle auf der Haupttribüne und die blauen Sitzbretter für die Seitentribünen zu montieren. Bei den Haupttribünen nummerierten sie die Sitzreihen mit Kreide auf den Treppenstufen: 1 bis 18.