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Viele Jahre besaß die Familie Saint-Jarme eine Villa auf der Île de Groix in der Bretagne. Die langen Sommer, die sie in ihrer Kindheit dort verbrachten, zählen zu den glücklichsten Erinnerungen der drei Geschwister Pierre, Paul und Servane. Doch das Haus am Meer gibt es schon lange nicht mehr – nach dem Tod des Vaters und einem tragischen Fahrradunfall, in den Pierre und Paul verwickelt waren, musste ihre Mutter Adeline es schweren Herzens verkaufen, und die Familie zog nach Paris. Als der inzwischen fünfzigjährige Pierre eines Morgens zufällig in einem Zeitungsinserat entdeckt, dass sein geliebtes Elternhaus Ker Joie wieder auf dem Markt ist, zögert er keine Sekunde, um es wieder in seinen Besitz zu bringen. Doch jemand war offenbar schneller als er – ein Ire namens Doug Connor. Tief enttäuscht setzt Pierre alles daran, dass Haus auf der Klippe doch noch zu bekommen, und beschließt, seiner Mutter zum achtzigsten Geburtstag ein ganz besonderes Geschenk zu machen: Er mietet Ker Joie für ein Wochenende, um dort eine Überraschungsfeier für Adeline auf die Beine zu stellen und die Familie zusammenzuführen. Doch noch während Adeline die Geburtstagskerzen ausbläst, taucht ein unerwarteter Gast auf der Feier auf – und Geheimnisse aus der Vergangenheit kommen ans Licht.
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Aus dem Französischen übersetzt von Christiane Landgrebe
© 2022 by Éditions Héloise d’Ormesson, ParisTitel der französischen Originalausgabe: À l’adresse du bonheur© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, WienCovergestaltung: Christina Krutz, Biebesheim a. R.Coverillustration: Bildrecht, Wien 2024, Image Courtesy of the Artist Bo Bartlett
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Cover & Impressum
Widmung
PROLOG
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Nachwort
Dank
Chansons und Songs, die in diesem Roman Erwähnung finden
Rezepte meiner Großmutter aus ihrem handgeschriebenen Kochbuch
Îles flottantes
Pets de nonne
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für die beiden Häuser meiner Kindheit: La Pineta und das Haus am Ende der Place Christian-Fouchet
Pierre Saint-Jarme hat schon immer gern gefrühstückt. Schon als Kind lächelte er genüsslich, wenn er sein Stück Baguette mit salziger Butter in seine Boule mit heißer Schokolade tauchte. Auch als Erwachsener ist ihm das morgendliche Frühstück heilig. Er genießt seinen Espresso, während er morgens die Zeitung liest, in sein Croissant beißt und die Immobilienseite studiert. »Imposanter Gutshof«, »Luxuriöses Wohnhaus«, »Villa in exquisiter Lage«, überschwänglich angepriesen. Seine Frau Clarisse trinkt derweil ihren Milchkaffee aus einem roten Becher und blättert in einer Illustrierten.
»Verdammt, das gibt’s ja nicht!«
Pierre hat seine Espresso-Tasse umgekippt, und der Kaffee läuft über die Zeitung. Doch er macht sich nicht die Mühe, ihn aufzuwischen. Er sitzt da wie versteinert, mit geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen. Clarisse erschrickt und hat Angst, dass ihr Mann gerade einen Herzinfarkt bekommt.
»Pierre, was ist los?«
Sie packt ihn am Arm und schüttelt ihn.
»Pierre, hörst du mich? Bitte sag etwas!«
Er sieht sie nur entgeistert an, mit seinem Grübchen im Kinn, das ihr so gut gefällt, und der kleinen Narbe mitten auf der Stirn.
»Das ist sie«, murmelt er.
»Sie? Von wem redest du, chéri?«
Clarisse wird ganz anders bei dem Gedanken, dass es da womöglich eine andere gibt, eine geheimnisvolle Unbekannte, eine Ex-Freundin, die schöner, lustiger und jünger ist als sie selbst. Dann packt sie die Wut, sie wappnet sich, und ihre Augen verengen sich. Sie nimmt einen Lappen, wischt abrupt über den Tisch und greift dann nach der Zeitung. Doch ihr Mann entreißt sie ihr mit ungekannter Heftigkeit.
»Träume ich, oder ist sie das wirklich?« Ihm versagt die Stimme. Mit zitterndem Finger zeigt er auf die nasse Seite. »Oder werde ich vielleicht verrückt?«
Sie beugt sich vor, runzelt die Brauen, sucht nach einem weiblichen Gesicht, das sie hassen muss, sieht aber nichts als Immobilien. Und dann entdeckt sie plötzlich auf dem durchnässten Papier Ker Joie, sie hätte sie unter Tausenden erkannt. Die alte Villa auf der Höhe von Port-Tudy, weiß, stattlich, von riesigen alten Kiefern umgeben. Der Heimathafen der Familie Saint-Jarme, der Ort ihres Glücks, ihrer Freude, die verbotene Erinnerung, das verlorene Paradies, aus dem sie sich selbst vertrieben haben.
»Ker Joie steht zum Verkauf? Das kann doch nicht wahr sein!«
Clarisse setzt ihre Brille auf, studiert das Foto und den Text, der darunter steht.
Île de Groix, Morbihan, 50 Minuten per Schiff von Lorient entfernt, in außergewöhnlicher Lage, Blick auf den Hafen, alte Villa mit drei Etagen und Garten. Ideal für Familienferien oder Gästezimmer.
Pierre sieht Clarisse an. In diesem Blickwechsel liegt alles: Momente des Glücks, niederschmetterndes Unglück, Verrat, Unausgesprochenes, Hoffnung und Sehnsucht.
Die Stiefel im Eingang, die Jacken an der Garderobe, das Schachbrett des Vaters auf dem niedrigen Sofatisch im Wohnzimmer, die Schlafkörbe der beiden Hunde vor dem Kamin. Das unaufgeräumte Schlafzimmer der Kinder unterm Dach.
»Hast du gesehen, wie viel sie dafür haben wollen?«, stammelt er fassungslos.
Es ist viel mehr als die Summe, für die sie das Haus vor zehn Jahren weggegeben haben, als Pierres Mutter Adeline sich nach dem Tod ihres Mannes schweren Herzens entschloss, es zu verkaufen. Sie hatte die alte Villa behalten, solange es ging, doch irgendwann war das Haus für eine alleinstehende Frau eine zu große Belastung geworden.
»Diese Neureichen haben Ker Joie nicht verdient. Sie wissen gar nicht, was für ein Glück sie haben! Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir das Haus damals nicht verkauft«, erklärt Pierre verbittert.
Clarisse seufzt, und Pierre wirft einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Na, wie auch immer. Ich muss los.«
Er faltet die Zeitung zusammen, doch anstatt sie auf dem Tisch liegen zu lassen, steckt er sie in die Tasche seines Sakkos. Clarisse schweigt. Sie weiß, wie aufgewühlt er sein muss.
»Ich bin auf deiner Seite«, flüstert sie. »In guten wie in schlechten Zeiten.« Sie lächelt. »Heute Nacht hast du übrigens schon wieder von Groix geträumt. Du läufst am Kai entlang, um das Schiff nicht zu verpassen, und traktierst mich dabei mit Fußtritten.«
»Das hast du mir gar nicht erzählt«, sagt Pierre.
Sie deutet auf die gefaltete Zeitung, die in der Anzugtasche ihres Mannes steckt. »Glaub mir, du bist ganz wild darauf.«
»Es wäre Wahnsinn, es wäre absolut unvernünftig, aber ja, ich bin tatsächlich ganz wild darauf.« Er lächelt.
Sie nickt. Aus Liebe wäre sie zu jedem Opfer bereit.
»Wir haben unser halbes Leben hinter uns, Pierre. Du bist fünfundfünfzig, wir sind in einem Alter, in dem man sich Verrücktheiten erlauben darf. Wir arbeiten viel. Die Pandemie hat uns verschont. Wir wissen, wie kostbar jeder Tag ist. Und Arthur wird bald Arzt sein und kann dann selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen.«
»Ich weiß nicht«, murmelt Pierre unschlüssig. »Das wäre mehr als verrückt.«
Er nimmt seinen Mantel und die Schlüssel. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss.
Clarisse lässt sich aufs Sofa sinken. Sie hatte schon gedacht, sie sei gerettet, sei befreit von diesem Hemmschuh, von diesem Haus, das alles aufsaugt, dem Treibsand der Familie Saint-Jarme. Und jetzt fängt alles wieder von vorne an.
Pierre bewegt sich mit großen Schritten vorwärts, ohne auf die Autos, Fahrräder und Elektroroller zu achten, ohne das Hupen und die Motoren zu hören, ohne die Abgase wahrzunehmen. Er sucht nach dem Hafen seiner Kindheit, seine Ohren lauschen auf das Rauschen des Atlantiks, die Schreie der Möwen und den tiefen Ton des Schiffshorns, und der Geruch von Salz, Algen, gebackenen Crêpes oder tschumpôt steigt ihm plötzlich in die Nase. Vor einem Jahr hat er seine Praxis verkauft und das Geld noch nicht wieder investiert. Er ist bei guter Gesundheit – man sieht ihm nicht an, wie sensibel er ist –, er hat nie geraucht. Seine Gedanken überschlagen sich, er schreitet beschwingt aus, er ist voller Ideen. Mit einem Kredit müsste alles machbar sein. Er stellt sich vor, wie er seine Mutter nach Groix einlädt, in sein Zuhause auf der Insel Groix. Das wäre einfach unglaublich, unverhofft, eine riesige Überraschung …
»He, pass doch auf, bist du lebensmüde, oder was?«, schimpft der Motorradfahrer mit Helm, der quietschend seine Maschine zum Stehen bringt.
Pierre hat die Straße überquert, ohne nach rechts und links zu schauen. Er schüttelt lachend den Kopf.
»Du bist echt gefährlich, Mann!«, schreit der Fahrer ihm hinterher und gibt wieder Gas.
»Ich bin vor allem glücklich«, erwidert Pierre leise. »Das Leben gibt die Würfel wieder frei, und diese zweite Chance verpasse ich nicht.«
Er will schon seine Mutter anrufen, dann überlegt er es sich. Stattdessen telefoniert er mit Charles, seinem Freund, der Banker ist, und verabredet sich für den frühen Abend mit ihm, nach der Arbeit in der Ambulanz, in der er halbtags einen Vertretungsjob hat. In den nächsten Stunden werden sie ihn Doktor nennen, er trägt einen weißen Kittel, ein Stethoskop um den Hals, von ihm hängt das Schicksal vieler Menschen ab, aber in seinem Kopf ist er wieder ein Kind, klettert auf Bäume, geht das ganze Jahr über schwimmen, schürft sich seine Knie an Felsen auf und isst jede Menge Galettes. Er lächelt an der Ampel, am grünen Kreuz der Apotheke, er lächelt dem Obdachlosen auf der Bank zu.
Die Insel ist der Schlüssel zum Paradies. Dann muss er an den richtigen Schlüssel von Ker Joie denken, den sie damals vergeblich gesucht haben, als sie das Haus verkauften. Niemand auf der Insel hätte je sein Haus abgeschlossen.
Er denkt wieder an die Annonce in der Zeitung, sein Gesicht verzieht sich zu einem breiten Lächeln, sein Herz frohlockt. Er wird das Haus seiner Kindheit zurückkaufen. Und seine Mutter wird dort Ehrengast sein.
»Verdammter Idiot!«
Der Autofahrer, der ihn beinahe überfahren hätte, ist feuerrot im Gesicht, seine Halsadern sind angeschwollen. Er hat das Gesicht eines Rauchers, die Bindehaut eines Säufers und die verkniffene Miene eines Dauergestressten. Auch auf der Insel Groix wird geraucht, getrunken, und die Menschen machen sich Sorgen wie überall. Doch das Meer weitet ihren Blick, sie laufen durch die Heide, ihre Augen schauen nachts zu den Sternen auf, ihre Arme heben Netze aus dem Wasser, ihre Hände halten die Lenkstange der Fahrräder, die Füße graben sich in den Sand.
Das ändert alles.
Ein Bus fährt vorbei, an der Seite eine Filmwerbung. Der Titel steht auf rotem Grund, das Wort Birthday sticht hervor. Das ist die Idee, nach der er suchte! Seine Mutter wird demnächst achtzig. Die ganze Familie soll sich dann versammeln, Kinder und Angeheiratete, Erwachsene und Jugendliche, Fröhliche und Mürrische, um Adeline zu feiern, die Großmutter, die grande dame mit den türkisfarbenen Augen.
Pierre holt tief Luft. Er ist in dem Jahr geboren worden, als Françoise Hardys Chanson La Maison où j’ai grandi, »Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin«, herauskam, also ist es vorherbestimmt. Er hat sich entschieden. Er wird das Haus, in dem er aufgewachsen ist, zurückkaufen. Es geht gar nicht anders.
Enthusiastisch zieht er sein Telefon aus der Tasche, um Clarisse die frohe Botschaft zu überbringen.
»Wenn wir Ker Joie zurückkaufen, könnten wir dort alle zusammen Mamans Geburtstag feiern, wäre das nicht großartig?«, ruft er in den Hörer.
Clarisse schweigt einen Moment. Ihr ist bei dem Gedanken an den Hauskauf eher unbehaglich zumute, aber das will sie sich auf keinen Fall anmerken lassen.
»Ich wusste, dass es so kommen würde«, sagt sie schließlich und bemüht sich, ihre Stimme fröhlich klingen zu lassen.
Clarisse ist Wirtschaftspsychologin, und an diesem Tag arbeitet sie im Home-Office. Sie lächelt ihrem Bild im Wohnzimmerspiegel zu und freut sich, dass die Stimme ihres Mannes wieder so zuversichtlich klingt. Er war immer so stark und robust und seit seiner Kindheit ein Bürger, der sich in der Französischen Republik stets sicher fühlte.
Die Pandemie jedoch hat ihn aus dem Ruder geworfen. Seither ist er nicht mehr derselbe. Sein Vater und seine Professoren haben ihm beigebracht, dass jeder Patient seine Chance haben sollte. Ein Arzt ist dazu da, allen zu helfen – Witwen und Kindern, Armen und Reichen, Nonnen und Huren, ohne Unterschied, ohne jemanden vorzuziehen oder über ihn zu urteilen. Er hat den Hippokratischen Eid geschworen, die moderne Version jenes Eides, den schon seit Jahrhunderten alle Ärzte geschworen haben. Bei Apoll, bei Asklepios, bei Hygieia und Panakaios, bei allen Göttern und Göttinnen »ihr heiliges Versprechen nach aller Kraft und Fähigkeit zu erfüllen«.
Durch äußere Umstände hat er bei der ersten Ausgangssperre während der Pandemie diesen tausendjährigen Schwur verraten. Einmal, ein einziges Mal musste er zusehen, wie eine Patientin starb, ohne dass er für sie hätte kämpfen können. Da hat er begonnen, an seinem Beruf zu zweifeln.
Inzwischen ist er wieder auf die Beine gekommen, es geht ihm besser, aber Clarisse weiß, dass er noch nicht wieder der Alte ist. Und nun dringt seine Begeisterung am Ende der Leitung bis zu ihr durch. Es ist sinnlos, gegen ein Haus zu kämpfen: Steine und Erinnerungen gewinnen immer. Wenn Ker Joie ihrem Mann wieder die Zuversicht zurückgeben kann, die er vor der Pandemie hatte, ist sie einverstanden. Hunderttausendmal einverstanden.
»Na, dann leg los!«, sagt sie und hat das Gefühl, sich in die Höhle des Löwen zu begeben.
»Bist du dir sicher? Wirst du es nicht bereuen?«
»Nein, leg los, bitte!«
Allmählich hat Pierre die Nase voll. Den ganzen Tag versucht er nun schon, bei diesem Maklerbüro anzurufen, und jedes Mal meldet sich nur dieser unerträgliche Anrufbeantworter und verkündet in freundlichem Ton, dass alle Anschlüsse besetzt seien und man es später wieder versuchen solle. Er verzieht das Gesicht und kaut entnervt an seinem Daumennagel. Doch er probiert es immer wieder, und endlich antwortet jemand.
»Meine Güte, ein Glück, dass endlich jemand drangeht. Ich war schon ganz beunruhigt. Hier spricht Dr. Pierre Saint-Jarme. Ich habe Ihre Annonce für Ker Joie gelesen. Ich würde das Haus gern kaufen.«
»Von welchem Objekt sprechen Sie?«, fragt ein Kerl am anderen Ende der Leitung mit nervtötender Stimme.
»Von der Villa auf der Île de Groix, im Morbihan. In der Bretagne«, sagt Pierre mit Nachdruck. »Das Haus in der Route de Pen Lamm.«
»Einen Moment. Aha, ja ich sehe, da habe ich noch eine andere Adresse, Mez Stonhal.«
»Das ist ein und dasselbe. Hören Sie, am liebsten wäre es mir, wenn wir den Vertrag noch heute aufsetzen könnten. Und ich würde die bisherigen Eigentümer gern um einen Gefallen bitten, bevor der Verkauf endgültig abgeschlossen ist – nämlich, dass sie mir das Haus in zwei Monaten für ein Wochenende vermieten. Ich würde gern den achtzigsten Geburtstag meiner Mutter dort feiern.«
»Ich werde sehen, was sich machen lässt«, sagt der Makler in aller Seelenruhe.
»Rufen Sie die Eigentümer dann an?«
»Ich kümmere mich darum, Monsieur.«
»Könnte ich nachher vorbeikommen, um den Vorvertrag zu machen?«
»Hm, heute bin ich sehr beschäftigt, kommen Sie doch morgen um zehn.«
Pierre schüttelt den Kopf und presst den Hörer an sein Ohr. »Wenn möglich, würde ich die Sache lieber heute noch regeln.«
»Tut mir leid, heute habe ich bis zum Abend einen Termin nach dem anderen. Wir sehen uns morgen um zehn. Das wird nichts ändern, Monsieur.«
Als Arzt weiß Pierre, wie sehr es auf jede Minute ankommen kann. Gerade ist man noch am Leben und kann im nächsten Augenblick tot sein. Warum warten?
»Wissen Sie was? Ich schreibe Ihnen mein Angebot, Sie geben es weiter, die Verkäufer nehmen es an, und alle schlafen heute Nacht besser«, beharrt er.
Am liebsten würde er noch hinzufügen: »Sie bekommen doch die Provision, da muss es ja wohl auch in Ihrem Interesse sein«, aber dann hört er im Hinterkopf die Stimme seiner Mutter, die immer sagt: »Über Geld redet man nicht, das gehört sich nicht.«
Bei den Saint-Jarmes kauft man etwas, wenn man es kann. Man leiht demjenigen, den man mag, so viel, wie man zu verlieren bereit ist. Man selbst leiht sich so wenig wie möglich. Darüber geredet wird nicht.
»Das wird nichts ändern«, wiederholt der Makler, nachdem er ihm die Adresse der Agentur genannt hat. »Ich warte morgen um zehn Uhr auf Sie, dann machen wir auf.«
Pierre beendet das Gespräch und spürt, wie das Adrenalin in seinen Adern pulsiert.
***
Heute Abend gehört Ker Joie, das die jetzigen Besitzer in Ker Robert umgetauft haben, noch Robert und Jeanne Potin, die vor fünfzig Jahren geheiratet haben. Für Jeanne ist es furchtbar, mit altmodischen hochhackigen Schuhen ein Schiff besteigen und ihren Pariser Vorort und ihren Friseur verlassen zu müssen, der ihr mit jeder Menge Haarfestiger Sauerkrautlocken macht. Sie hasst Inseln, die Bretagne, Kinder, Tiere und den Atlantik.
Im Maklerbüro ruft Kevin den irischen Kunden zurück, der bereits heute Morgen ein Angebot für die Villa auf der Île de Groix gemacht hat. Doug O’Connor ist direkt am Apparat.
»Alles unter Dach und Fach, Mr. O’Connor«, verkündet der Makler. »Die Käufer sind einverstanden und haben Ihr Angebot angenommen. Jetzt muss alles noch vom Notar bestätigt werden. Können Sie mir bitte noch einmal bestätigen, dass der Kauf nicht mit Krediten finanziert wird?«
»Ich zahle cash«, sagt O’Connor, zufrieden, dass alles in seinem Sinn verläuft.
Gleich darauf ruft Kevin bei Robert und Jeanne Potin an.
»Alles okay mit O’Connor. Heute hat sich noch ein zweiter Käufer gemeldet, der bereit wäre, den festgesetzten Kaufpreis zu zahlen, aber zu spät. Er würde aber gern, wenn möglich, Ihr Haus wegen eines Familienfestes in zwei Monaten für ein Wochenende mieten.«
»Das Haus steht doch völlig leer«, sagt Robert Potin überrascht.
»Es gibt Firmen, die möblieren so ein Haus in wenigen Stunden, zum Beispiel wenn Filme gedreht werden. Ich kenne da ein Unternehmen, das so etwas schnell und effizient erledigt. Dafür bezahlt der Mieter, also kein Nachteil für Sie.«
Robert Potin ist misstrauisch.
»Ist das Haus dann versichert?«
»Ich bereite einen Vertrag mit einer entsprechenden Klausel vor.«
Potin lässt sich überzeugen und erklärt sich einverstanden.
Kevin ist stolz auf sich. Sobald er aufgelegt hat, ruft er seinen jüngeren Bruder an.
»Ich hab einen super Auftrag für dich«, erklärt Kevin ihm prahlerisch. »Eine Villa auf der Île de Groix muss in zwei Monaten für ein Wochenende möbliert werden. Ich sag dir morgen mehr, wenn ich den Kunden getroffen habe.«
»Eine Insel, ich weiß nicht, das ist viel zu kompliziert. Man muss alles mit dem Schiff transportieren, das wird viel zu teuer«, hält sein Bruder ihm entgegen.
»Du könntest dir ’ne goldene Nase verdienen und meckerst noch? Der Typ ist wild entschlossen, er wird wegen der Rechnung nicht lange fackeln. Und vergiss nicht, dass ich eine kleine Kommission bekomme.«
***
Robert und Jeanne Potin haben heute Abend dem Verkauf ihres Hauses an Douglas O’Connor zugestimmt. Sie könnten noch mit einer Konventionalstrafe vom Verkauf zurücktreten. O’Connor könnte es auch, aber seine Anzahlung würde ihm nicht zurückerstattet.
Kevin reibt sich die Hände, lockert seine Krawatte und bewegt seine Zehen in den spitzen Schuhen, die er hasst. Gleich wird er seine unbequeme Makler-Uniform gegen T-Shirt, Jeans und Sneaker tauschen, in denen er seine Zehen frei bewegen kann, und sich einen gemütlichen Fernsehabend mit seiner Freundin machen. Er ist ein großer Fan von Downton Abbey und hätte gern zu dieser Zeit gelebt – vorausgesetzt, dass er nicht auf der Seite der Bediensteten auf die Welt gekommen wäre.
***
Doug O’Connor betreibt ein Bed & Breakfast und ist begeisterter Segler. Beim Frühstück in Galway mit seinem Freund Vincent, auf dessen Segelboot Doug oft zwischen den anglonormannischen Inseln gesegelt ist, kamen sie auf die westbretonischen Inseln zu sprechen, und Vincent erzählte von einer Villa auf der Île de Groix, die zum Verkauf stünde, und zeigte ihm auf seinem Smartphone die Annonce, die er am Morgen im Netz gefunden hatte, mit einem Foto des Hauses oberhalb des Hafens. Doug hat gleich Interesse gezeigt.
»Die Preise für Ferienhäuser explodieren gerade. Das ist eine gute Investition, du kannst die Villa sicher mit Gewinn weiterverkaufen.«
»Ich muss sowieso Bargeld loswerden, vielleicht ist das die beste Idee, die du je hattest, Vincent. Gib mir mal die Nummer des Maklerbüros, ich frage mal nach.«
»Nur wenn ich dein erster Gast sein darf.«
Doug ist ein pragmatischer Typ, der Entscheidungen treffen kann. Er hat nicht lange überlegt und bei dem Makler angerufen. Der Handel war so schnell abgeschlossen, wie ein Mastbaum die Seite wechselt, wenn ein Segelboot wendet.
Und seit heute kann sich Doug O’Connor mit Fug und Recht künftiger Besitzer einer Villa in Groix nennen.
Charles, ein Schulkamerad aus Pierres Gymnasialzeit, hat früher mehrere Sommer in Groix verbracht. Über die Begeisterung seines Freundes muss er grinsen, die Erinnerung an die Insel mitten im Atlantik wird wieder wach.
»Du kaufst also eure Familienvilla in der Bretagne zurück. Das liegt heute im Trend, die Leute haben das Bedürfnis, sich ihrer Wurzeln zu versichern. Wie viel kannst du denn aufbringen?«
Pierre holt seine Notizen heraus. Es sieht gut für ihn aus. Clarisse hat vor kurzem eine Erbschaft gemacht und wird ihn unterstützen.
Kurze Zeit später haben Charles und Pierre den Kreditvertrag aufgesetzt. Die Sache lohnt sich. Pierre hat das Gefühl, dass die Teile sich plötzlich zusammensetzen wie bei einem Puzzle, wo alles wie durch einen Magneten an den richtigen Platz gleitet.
»Ohne dieses schurkenhafte Virus hätte ich dich jetzt umarmt, um dir zu danken«, sagt er seinem früheren Mitschüler.
Von Anfang an hat er das SARS-CoV-2-Virus so bezeichnet, um es lächerlich zu machen – nicht um es zu verharmlosen, denn das Drama war ja real. Er wollte ihm nur die Übermacht nehmen.
»Wie geht’s deinem Vater? Kommt er drüber weg?«
»Er fühlt sich sehr allein«, sagt Charles und verzieht bekümmert das Gesicht. »Besonders abends ist es schwierig für ihn.«
Seine Mutter ist dem Schurken erlegen, die Familie konnte sich nicht mehr von ihr verabschieden. Ihre zahlreichen Enkelkinder durften nicht zur Beerdigung kommen.
Pierre zittert, wenn er sich seine Mutter Adeline allein in einem Krankenhausbett vorstellt, ohne dass ihr ein Nahestehender die Hand hätte halten können. Ihre Pariser Wohnung ist ein Ker Joie in Miniatur. Die gleichen Tapeten, die gleichen Vorhänge. »Ich habe meinen Mann und meine Wohnungseinrichtung ein für alle Mal ausgewählt«, erklärt sie immer. Nur sieht sie in Paris, wenn sie das Fenster öffnet, nicht den Atlantik, sondern ein Meer von Autos, und sie hat eine unglaubliche Sicht auf die endlosen Staus am Seineufer.
Strahlend und wie verwandelt kommt Pierre nach Hause.
»Ich war bei Charles auf der Bank, und alles ist geregelt«, ruft er Clarisse zu. »Morgen um zehn unterschreiben wir beim Makler den Vertrag. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was mir das bedeutet.«
»Ich glaube doch«, sagt seine Frau leise.
Er drückt sie an sich.
»Das Zusammenleben mit meiner Familie in Groix war für dich nicht immer einfach, das weiß ich.«
»Oh, das ist harmlos ausgedrückt.« Sie lächelt. »Aber ich liebe dich nun mal, Pierre, von hier bis zum Mond und zurück.«
»Und ich liebe dich von Groix bis zum Festland und zurück, Clarisse.«
»Das ist nicht ganz so weit«, sagt sie lachend.
Pierres graues Haar lichtet sich inzwischen an den Schläfen, und Clarisse hat einige Fältchen, die vorher nicht da waren, aber ihre Verbindung ist unzerstörbar.
»Sagen wir Arthur Bescheid?«, schlägt er vor.
»Er kommt am Sonntag zum Mittagessen, dann erzählen wir es ihm.«
Bei dem Gedanken, wie überrascht ihr Sohn sein wird, lächeln sie glücklich. Arthur ist Assistenzarzt am Krankenhaus, er wird die Familientradition fortsetzen. Dann kommt Pierre auf das zu sprechen, was ihn beschäftigt.
»Wir können Maman ihr Schlafzimmer nicht nehmen und sie in eins der Gästezimmer stecken, wenn sie kommt. Es ist zwar das schönste, aber ich kann mir nicht vorstellen, mit dir in dem Zimmer zu schlafen, in dem meine Eltern mich gezeugt haben.«
Clarisse bricht in Lachen aus.
»Dir ist wirklich zu helfen. Ich muss dir etwas sagen, Pierre. Bitte nimm es mir nicht krumm.«
Er hasst es, wenn sie das sagt. Es ist ein Scherz zwischen ihnen, seit sie sich kennen. So zu tun, als wolle man zu dem anderen sagen, dass man sich scheiden lassen will, ihn verlässt, dass man jemand kennengelernt hat, dass es zu Ende ist. Doch bei ihnen beiden folgt auf «Ich muss dir etwas sagen« immer »Ich liebe dich«.
»Heute bitte nicht, Clarisse«, fleht er sie an.
»Ich meine es ernst, Pierre. Ich mag diese Inseln nicht«, sagt sie, jedes Wort betonend, »Groix ist mir mehr als egal, Ker Joie kann mir gestohlen bleiben. Mir ist es völlig unwichtig, ob wir in Adelines schönem Zimmer mit Blick auf den Hafen schlafen. Was für mich zählt, bist allein du. Wenn du glücklich bist, baut mich das auf, ich werde größer, mir wird warm ums Herz, und ich werde ein besserer Mensch. Wenn ich an dich geschmiegt schlafe und mitten in der Nacht aufwache, weil du mal wieder schnarchst oder mir die Decke weggezogen hast, bin ich glücklich.«
Ihm bleibt vor Staunen der Mund offen stehen.
»Du magst die Inseln nicht? Soll das ein Witz sein?«
»Das Meer bedeutet mir nicht viel. Es ist zu kalt und viel zu nass.«
»Das Meer ist zu nass?«, wiederholt Pierre verblüfft.
»Ohne jeden Zweifel.«
»Die Botschaft ist angekommen. Ich muss dir auch etwas sagen.«
»Ich höre.«
»Ich liebe dich mehr als dieses Haus. Welches Zimmer möchtest du?«
»Ich mochte immer das grüne am liebsten«, antwortet Clarisse.
»Unmöglich, das ist Pauls Zimmer. Das würde Maman nicht ertragen.«
»Sie muss endlich akzeptieren, dass er tot ist.«
»Nehmen wir doch das rote oder das blaue, die sind auch sehr schön«, meint Pierre.
»Kaufst du Ker Joie für deine Mutter und ihre Geister? Oder für uns? Ihr Zimmer ist heilig … Das deines Bruders auch … Ist das ein Haus oder ein Mausoleum?«
Schon während sie es sagt, macht sie sich zum Vorwurf, dass sie Salz in die Wunde streut. Doch sie hat Angst, dass alles von vorn beginnt. Für ihre Schwiegermutter ist sie nur jemand, der der Fortpflanzung der Familie dient. In den ersten Jahren ihrer Ehe hat Clarisse sehr darunter gelitten, dann hat sie sich den Verhältnissen gebeugt. Adeline behandelt sie höflich und zuvorkommend, nie ein lautes Wort, aber die beiden Frauen konkurrieren ständig miteinander um die Liebe von Pierre.
»Ich möchte noch eins klarstellen«, sagt Clarisse, »wenn du dieses Haus kaufst …«
»Wenn wir dieses Haus kaufen«, verbessert Pierre sie.
»Also schön – wenn wir Ker Joie zurückkaufen, dann ist es unser Haus. Ich bin dann in meinem Zuhause, nicht in dem deiner Mutter, in Ordnung? Wenn sie jeden Sommer dort sein muss, kannst du sie empfangen. Du kaufst ein, kochst, besorgst den Haushalt, fährst sie herum, und ich ruhe mich derweil in einem Ferienclub aus und tue nichts. Du bist also vorgewarnt.«
»Du bewegst deine Spielfiguren langsam, aber gezielt«, murmelt Pierre, der unsicher geworden ist.
»Ich hasse diese Metapher. Dein Großvater, dieser begeisterte Schachspieler vor dem Herrn, hatte unrecht: Das Leben ist kein Schachbrett, wir sind keine Spielfiguren, wir sind Menschen. Ich bin deine Frau und keine Figur, die vorwärtsgeht und unterwegs alles mitnimmt.«
»Maman hat weniger Zeit vor sich als wir«, entgegnet Pierre.
Clarisse hat ihre Mutter früh verloren, sie starb innerhalb von drei Monaten an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Der Vater gab die Tochter in ein Internat. Er heiratete neu und hatte andere Kinder, für die Stiefmutter war Clarisse nichts als eine Last. Sie hatte gehofft, dass Adeline für sie wie eine Mutter sein würde, wurde aber bald enttäuscht.
»Das kann man nie wissen. Wie auch immer – wenn wir die Eigentümer von Ker Joie sind, bin ich die Hausherrin, nicht deine Mutter.«
»Einzig und allein du«, verspricht Pierre ihr.
»Sehr gut. Wir nehmen das rote Zimmer, und ich möchte ein eigenes Bad.«
Er sieht sie erstaunt an.
»Ich möchte gerne Schaumbäder nehmen und dabei auf das Meer blicken«, erklärt sie. »Wir stellen eine Badewanne in unser Zimmer vor das Fenster.
»Da verlieren wir viel Platz.«
»Aber unser Vergnügen wird größer.«
Er nickt lächelnd, und dann durchfährt ihn ein Schreck.
»Vielleicht haben die jetzigen Eigentümer alles verändert? Vielleicht gibt es unsere früheren Zimmer gar nicht mehr.«
»Vielleicht haben sie auch Teppichboden über das Parkett geklebt und die Wände mit Holz getäfelt.«
»Wir müssen Ker Joie retten«, sagt Pierre entschlossen.
***
Der Abend ist fröhlich und angespannt zugleich. Clarisse taut Gambas auf und brutzelt sie in Knoblauch und Öl. Nach dem Essen stellen sie nicht den Fernseher an, sondern sehen sich alte Alben mit Ferienfotos an. Sie trinken Whisky, essen dazu schwarze Schokolade mit Salzkristallen und blättern eine Seite nach der anderen um. In ihren Smartphones haben sie keine Bilder von Ker Joie. Pierre, weil er zu sehr darunter leidet, dass er es verloren hat, Clarisse, weil dieses Haus für sie Missverständnisse, Spannungen und Stolperfallen bedeutete.
»Schau mal dies hier!«
»Das war an dem Tag, als sich Arthur den Arm gebrochen hat.«
»Erinnerst du dich noch an den tollen Abend an der Plage des Sables Rouges?«
»Mir war eiskalt.«
»Und hier sind wir von Le Gripp zu einem Spaziergang mit allen Mitgliedern der Saint-Jarmes-Familie aufgebrochen. Ziel für die Mutigsten: achtundzwanzig Kilometer um die Insel herum, ungefähr sieben Stunden. Für die weniger Mutigen: das Café Chez Soaz, vierhundertfünfzig Meter, zehn Minuten. Was für ein schöner Tag!«
»Ich hatte neue Turnschuhe an und Blasen an den Fersen, es war grässlich!«
Er erinnert sich nur an lustige und schöne Momente. Sie erinnert sich nur an zu feuchte Luft, Streitigkeiten, Wehwehchen, Gefahren.