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Thomas Schuster und Ben Cooldridge, zwei Goldsucher, erreichen nur wenige Tage vor Weihnachten mit letzter Kraft eine abgelegene Hütte am Yukon. Hier suchen sie Schutz vor einem Schneesturm. In der Hütte treffen die beiden auf einen merkwürdigen Mann, einen Mexikaner in einem Nikolauskostüm. Der Mann hat ein verletztes Bein, will aber so schnell wie möglich nach Dawson. Ist der Mexikaner verrückt? Oder hat er ein Geheimnis? Gold? Der Gedanke an das kostbare Metall beginnt die beiden Freunde zu entzweien.
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
Their sickness no warning can cure … Hamlin Garland, Die Goldsucher
Der Wind blies ihnen eisig in die Gesichter. Ihre Nasen und Wangen waren taub. Die Bärte mit Eis verkrustet. Die Augenbrauen weiß wie bei alten Männern. Thomas Schuster hatte ein Gewehr über der Schulter hängen. Es war geschützt von einem festen Futteral aus Bisonleder. Außerdem trug der eher schmächtige Mann einen Rucksack auf dem Rücken, dessen Gewicht ihm von Stunde zu Stunde mehr zu schaffen machte. Auch sein Freund Ben trug ein beachtliches Gewicht. Ben Cooldridge war allerdings von deutlich kräftigerer Statur. Seine mit Schafwolle gefütterte Wildlederjacke und seine Fäustlinge unterstrichen diese Erscheinung noch. Ben war ein Naturbursche, aufgewachsen in Montana, wo er von frühester Jugend an Wind und Wetter ausgesetzt gewesen war.
Doch nun war auch Ben Cooldridge am Ende seiner Kräfte. Die stundenlangen Anstrengungen machten seine Gedanken müde und schwer. Dass sein Freund Thomas sich noch auf den Beinen halten konnte wunderte ihn. Es steckte wohl mehr Kraft und Ausdauer in diesem schmächtigen Körper, als man Thomas Schuster zutrauen würde. In diesem Moment verlor Thomas den Halt und fiel hin. Es war als hätte ein im Verborgenen wirkendes Schicksal nur darauf gewartet, dass Ben seine Aufmerksamkeit auf seinen Freund lenkte. Ben verharrte reglos. Der Fuß, den er eben vor den anderen setzen wollte, rührte sich nicht. Er stieß seinen Atemnebel in die Eiseskälte, war aber nicht in der Lage, sich sofort nach seinem Freund zu bücken. Erst nach einigen langen Sekunden wandte er sich Thomas zu und half ihm unter Einsatz aller seiner Kräfte auf die Beine. Das schmale Gesicht sah Ben eisverkrustet an. Verdammt. Dem Deutschen ging es nicht gut. Er war am Ende. Sein Atem ging stoßweise. Doch in Thomas' Augen leuchtete noch ein Funken Trotz. Ben schob seinen Unterkiefer nach vorne und stieß seinen Atem energisch aus, während er Thomas stützte und sich, die unförmigen Schneeschuhe an den Füßen, weiter vorwärts kämpfte.
Das Schneetreiben war so dicht, dass die beiden Männer das Waldstück, auf das sie sich bereits seit einer Stunde zubewegten, nur in Umrissen ausmachen konnten. Die geisterhaften Bäume waren nur noch wenige hundert Fuß von ihnen entfernt. Erschwerend kam das diffuse Licht hinzu, das im Dezember hier oben ihm Hohen Norden herrschte. Ein Licht, das aus dem Schnee zu kommen schien. Es war hell genug, um phantastische Schatten zu erzeugen, aber zu kraftlos, um die arktische Nacht zu beenden. Die hohen Fichten trotzten den Schneewolken wie Geisterbäume, die zwischen dem Nirgendwo und der diesseitigen Welt hin und her wanderten. Hinter diesen Fichten, jenseits des Waldstückes, musste sich ein Seitenarm des Yukon Rivers befinden. An ihm wollten die beiden Freunde sich orientieren, und den Rest des Weges auf dem Eis des Flusses zurücklegen. In der gegenwärtigen Situation würde ihnen das Erreichen des Yukons allerdings nicht weiterhelfen. Dawson City lag einige Tage Fußmarsch entfernt. Was sie jetzt brauchten, war ein Platz, um Feuer zu machen, ein geschützter Ort, um sich auszuruhen, um etwas zu essen. Ein solcher Platz war jedoch weit und breit nicht zu sehen.
Thomas Schuster stützte sich nur für kurze Zeit auf Ben's Arm. Dann ließ er ihn wieder los. Thomas wollte keine Last für Ben sein. Doch er wollte leben. Wie jeder andere auch. Jeder Schritt mit den Schneeschuhen musste bedacht sein, eine falsche Bewegung und er konnte stürzen. Mit jedem Schritt, den er voran kam, gewann er eine Handspanne Leben. Dieser Gedanke begann Thomas zu beherrschen. An nichts anderes konnte er mehr denken. Ein Schritt – leben. Noch ein Schritt – leben. Überleben. Als er erschöpft stehenblieb, stellte Thomas Schuster fest, dass er als Erster den Rand des Waldstückes erreicht hatte. Wie viel Zeit die kurze Strecke in Anspruch genommen hatte? Er wusste es nicht. Die Erschöpfung saß in jeder Faser seines Körpers, hing wie Blei an seinen Beinen.
Thomas wartete bei den ersten Bäumen des kleinen Waldes, ohne sich umzudrehen, doch Ben Cooldridge ließ auf sich warten. Er trat nicht neben ihn, sein Atem war nicht zu hören. Soweit es die Schneeschuhe zuließen, wandte Thomas sich um. Da stand er, der Junge aus Montana, der ihn, Thomas, eben noch aus dem Schnee gezerrt hatte. Seine breiten Schultern waren eingesunken. Ben schien nicht mehr imstande zu sein, auch nur einen Schritt zu gehen. Er stand im Schneetreiben, als würden die Schneeflocken ihn auflösen und mit sich nehmen.
„Ben.“
Was ein Schrei werden sollte, war ein kratzendes, gurgelndes Geräusch. Eher der Laut eines Tieres, als der Laut eines Menschen. Ben Cooldridge sah nicht zu ihm herüber. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, als würde er dort oben im wolkenverhangenen Himmel der Polarnacht etwas beobachten.
Kurzentschlossen wandte Thomas sich um. Sein Tritt war unsicher, beinahe wären seine Schneeschuhe miteinander kollidiert. Als er sich in die richtige Position gebracht hatte, marschierte er los, den endlos langen Weg zurück, ohne an irgendetwas zu denken. Er vergaß die Gefahr, vergaß seine schwindenden Kräfte, dachte nur an eines: Leben. Mit jedem Schritt - überleben. Als er Ben erreicht hatte, stützte er beide Hände auf seine Knie und atmete die beißend kalte Luft ein und aus. Das Gewehr in dem dicken Lederfutteral drohte ihm von der Schulter zu rutschen.
„Komm schon“, stieß Thomas zwischen zwei Atemzügen hervor. „Du Naturbursche.“
Als Thomas wieder aufblickte, sah sein Freund ihn an. Es war der Blick eines Menschen, der mit dem Leben abgeschlossen hatte. Ben Cooldridge stand aufrecht im Schneetreiben und war mit den Kräften am Ende.
„Ich schaff's nicht mehr“, keuchte er.
Thomas packte den Arm seines Freundes und zog daran.
„Komm“, stieß er hervor, doch Ben schüttelte seinen schwachen Griff ab.
„Du magerer Bastard“, zischte Ben. „Wo nimmst du diese Kraft her?“
Die Frage war berechtigt. Thomas war über sich selbst hinausgewachsen. Gott sei Dank spürte er von dem Knochenbruch, den er in Fort Selkirk hatte ausheilen lassen, so gut wie nichts mehr.
„Komm.“
Wieder fasste Thomas nach Bens Arm. Diesmal stützte sich der kräftige Mann ein wenig auf ihn. Langsam bewegten sich die beiden erneut auf das Waldstück zu, wobei Thomas seine eigenen bereits ausgetretenen Spuren nutzte. Kurz vor dem Ziel war es dann wieder Thomas Schuster, der im tiefen Schnee den Halt verlor und der Länge nach hinfiel. Er hatte einen Fuß nicht weit genug angehoben und war mit der Spitze des Schneeschuhs am Rand seiner eigenen tiefen Spur hängengeblieben. Ben schaffte es bis zum ersten Baum, dort ließ er seinen Rucksack in den Schnee gleiten, dann kehrte er um, half seinem Freund auf und brachte ihn ebenfalls an den Rand des Waldstückes.
Thomas Schuster begann zu zittern. Ein Schüttelfrost überkam ihn. Ben wusste, dass sie beide an ihrem Endpunkt angelangt waren. Ob der Yukon River sich jenseits des Waldstückes befand oder nicht, spielte keine Rolle mehr. Sie mussten in Bewegung bleiben, doch dazu fehlte ihnen die Kraft. Und da bei diesem Sturm nicht daran zu denken war, Feuer zu machen, würden sie erfrieren. Ohne Feuer waren sie spätestens in einer halben Stunde tot. Ben streifte die Schneeschuhe ab und setzte sich in den Schnee. Er lehnte den Kopf gegen den Baumstamm und schloss die Augen.
„Hast du dir das gut überlegt, Junge?“
Klein und krummbeinig steht der alte Mann auf der Veranda des Farmhauses und zieht an seiner Pfeife. Das rötliche Licht der Abendsonne wirft seinen Schatten über den Holzboden.
„Hab' ich.“
„Gold gab's hier auch mal, hier in der Gegend.“, sagt sein Großvater. „Ich hab's versucht, damals. Aber mit der Farm, damit hatten wir mehr Glück.“
Ben nickt.
„Habt euch krumm geschuftet. Du und Daddy. Und Mum.“
„Und deine Großmutter.“ Der alte Mann zeigt mit dem Finger auf ihn, die Pfeife in der Hand. „Die hat für zwei geschuftet. Jeden Tag, mein Junge. Jeden Tag.“
Sein Großvater lacht. Es klingt, als hätte er Kieselsteine im Rachen. Dann sagt er nach einer längeren Pause: „Es kann verdammt kalt werden da oben, mein Junge. Kälter als in Montana, sagt man.“
Ben denkt an den kaputten Rücken seines Großvaters, an die schwieligen Hände seines Vaters, an die Schufterei auf den Feldern, daran, dass kein Geld für ein neues Paar Schuhe da ist. Sein kleiner Bruder flucht jeden Tag über die zu engen Schuhe. Ben hatte schon als Kind davon geträumt, Gold zu suchen. Jeder sprach damals von der Goldgräbervergangenheit in Helena. Ben hatte sich seine gesamte Kindheit über die wildesten Plätze ausgedacht, an denen man heute noch Gold finden könnte.
„Ja“, sagt er. „Verdammt kalt.“
Sein Großvater stößt ihn an. Ben ist überrascht. Er sieht den alten Mann nicht und doch stößt ihn sein Großvater immer wieder an.