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Wolfsweihnacht: Die beiden Freunde Wesley und Elias verlassen ihre Heimat, um in Kanada nach Gold zu suchen. Doch im Hohen Norden herrschen andere Gesetze als im zivilisierten Boston. -- Der Trompetenengel: Tim Kaine hat sich in der Schneewüste des nördlichen Kanadas verirrt. Da taucht eine Gestalt seiner Kindheit auf: Der Trompetenengel. Doch er ist riesig. Ein Racheengel? Oder Rettung vor dem scheinbar unvermeidlichen Tod? -- Little Grizzly: Der vermögende Horatio Wonraight lädt seine Enkeltöchter und -söhne zu seinem siebzigsten Geburtstag ein. Die elfjährige Harper ist neugierig auf ihren Großvater, der nie viel Zeit für seine Familie hatte. Am Tisch, im grünen Salon seiner Villa, lernen die Kinder Großvater Horatio erst wirklich kennen ...
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Inhaltsverzeichnis
Wolfsweihnacht
Der Trompetenengel
Little Grizzly
Historische Personen
Impressum
I saw these dreamers of dreams go byHamlin Garland, Die Goldsucher
Bonanza Creek, Weihnachtsabend 1899. WESLEY schlägt die Augen auf. Es ist still. Er hebt seinen Oberkörper und stützt sich auf die Ellenbogen. Sein Unterleib brennt, als wäre er mit glühenden Kohlen gefüllt. Mit diesem Schmerz ist er zu sich gekommen. Die Erinnerung setzt nur langsam ein: Die Hunde in der Dunkelheit. Sie zerrten unruhig am Geschirr. Siwash jaulte. Der Schnee war so hoch, dass Wesley Mühe hatte, den Hundeschlitten zu erreichen. Er hatte seine Schneeschuhe vergessen und versank bis zu den Knien im Schnee. Ein lebloser Körper. Elias? Am Waldrand hockte eine Gestalt zwischen den Bäumen. Ein unförmiger großer Wolf. Ein wuchtiger Kopf zeichnete sich im schwachen Licht der Sterne ab. Wessley hörte das Rascheln von Tannennadeln. Schnee rieselte herab. Ein Blitz. Mündungsfeuer. Der Knall folgte später. Der nasse Schnee war plötzlich überall. Er kroch in den Kragen von Wesleys Jacke. Die Kälte drang durch seine Kleidung. - Die Kerze brennt noch in der Hütte. Die Kälte um ihn herum betäubt seinen Schmerz.
Die Glaskugeln gaben dem Baum eine feierliche Würde, die im Gegensatz stand zur Heiterkeit der flackernden Kerzen. Es waren die alten Kugeln der Großeltern. Auf einer von ihnen war die Jungfrau Maria abgebildet. Auf einer anderen das Jesuskind. Auch die heiligen drei Könige hatten sich auf einer der glänzenden Kugeln versammelt. Auf einer anderen spiegelte sich ein Mann mit einem weißen Bart wieder. Wesley ahnte, dass die Zeit seiner Kindheit vorüber war. Endgültig. Sally hatte schon wieder von den Süßigkeiten, die am Baum hingen, genascht, obwohl der zweite Weihnachtsfeiertag noch nicht um war. Er sah die leeren Stellen zwischen den Zweigen sofort. Selbst jetzt noch, mit fast achtzehn Jahren, konnte sie diese Unart nicht lassen. Als Kind hatte er sich immer darüber geärgert. Das war unfair. Zügellos. Vielleicht sogar eine Sünde. Jetzt hoffte er, dass seine Schwester nie damit aufhören würde, dass sie immer eine oder zwei der verbotenen Süßigkeiten stibitzen würde. Denn das war Sally. Aufmüpfig. Frech. Süßigkeiten vom Baum zu stibitzen war ein Teil ihrer liebenswerten Persönlichkeit. So sah er es inzwischen. Das alles gehörte zu Wesleys Kindheit wie die liebevollen Berührungen seiner Mutter und die klaren Anweisungen seines Vaters. Eine Zeit der Unschuld. Bald würde er weit weg sein. Von seinen Eltern. Von Sally. Von Boston. Weit weg. Oben, im Norden.
DER Topf steht auf dem Tisch. Er ist leer. Das Fleisch ist verschwunden. Die Schüssel mit dem Teig für die Klöße liegt auf dem Boden. Die Teigmasse war herausgekrochen und gefriert nun auf den Holzbohlen. Vorsichtig sinkt Wesley zurück auf das Bett. Er muss Holz nachlegen. Wasser braucht er. Wasser. Später auch etwas Essen. Bei Kräften bleiben. Zunächst muss er sich um die Wunde kümmern. Hatte der Wolfsmensch etwas zurückgelassen? Die Dosen sind aus den Wandregalen verschwunden. Die Taschen mit dem Proviant sind nicht mehr da. Die Bücher stehen noch im Regal. Kein einziges fehlt. Kant, Jefferson, Watts – sieben weitere Bücher. Der Wolfsmensch hat sie nicht angerührt.
„Habt ihr euch das gut überlegt?“, fragte Wesleys Vater und nippte an seinem Weinglas. Die Fliege saß korrekt, das weiße Hemd leuchtete und der Vollbart war gestutzt. Hinter ihm stand der Weihnachtsbaum mit den Kugeln und den Süßigkeiten. Es sah aus, als würde der festliche Baum etwas von seinem Glanz auf den Hausherren werfen. „Es ist nicht so gefährlich, wie oft behauptet wird“, versuchte Wesley seine Eltern zu beruhigen. „Tausende waren schon dort oben und sind wieder zurückgekommen.“ „Nicht alle sind reich geworden“, warf sein Vater ein und schnitt sich ein Stück vom Braten ab. Sein Messer kratzte über das Porzellan. Er saß kerzengerade, als hätte er einen Stock im Rücken und er schob sich das Stück Fleisch in den Mund, ohne dass er dabei auch nur ein einziges Barthaar berührte. In der Mitte des Esstisches stand ein faustgroßer Engel aus Stoff, dem Sally nun die Kleider glatt strich. „Wesley und Mr. Thorn sind alt genug“, sagte sie. Auf ihren Wangen lag ein rötlicher Schimmer, der immer zu sehen war, wenn sie sich unsicher fühlte. Elias räusperte sich. „Sie können mich gerne Elias nennen, Miss Browning.“ Sally lächelte. Ihre Mutter schlug etwas abweisend die Augen nieder. Die Kerzen im Kronleuchter verbreiteten einen warmen Glanz, der sich im silbernen Essbesteck spiegelte.
DAS Feuer im Ofen ist fast niedergebrannt. Nur mit größter Mühe ist es Wesley gelungen, Holz nachzulegen. Wie lange ist das her? Stunden? Tage? Wochen? Er war unkonzentriert gewesen und schwach. So schwach, dass er sich verbrannt hatte. Zwei seiner Finger sind tiefrot. Brandblasen erheben sich wie Bergrücken. Immer wieder denkt er an die Dose mit dem Fett. Das Fett schützt die Haut vor der Kälte. Er muss die Finger damit behandeln. Doch er ist zu schwach, um aufzustehen. Die Wunde in seinem Bauch tobt, hämmert. Reißt an ihm. Das Tuch, das er fest um seinen Körper gebunden hat, ist nass von Blut. Getrocknetes Blut klebt auch an seinen Händen. Die Talgkerze ist ausgebrannt. Stumm steht sie neben einem Zweig, den Elias in eine Blechkanne gesteckt hat. Dabei ist Weihnachten für ihn als Juden kaum von Bedeutung. Wesley legt sich zurück auf die Matratze. Sie riecht nach Schweiß, nach Pfeifenrauch, nach Blut.
Wesley blinzelte hinauf zu den Wolken. In einiger Entfernung kreiste ein Habicht. Er war vor den dunklen Regenwolken kaum zu sehen. Wesley stellte sich eine Maus vor, die irgendwo im hohen Gras hockt - ahnungslos.
„Nächstes Jahr Weihnachten verbringt ihr doch bei uns in Boston?“, fragte Sally.
„Mal sehen.“
„Wollt ihr in den Bergen feiern? Im Schnee? Wie wollt ihr da in die Kirche gehen?“
„Auch im Hohen Norden gibt es Kirchen“, entgegnete Wesley. „Und Synagogen“, ergänzte Elias, der sich auf der Wolldecke ausgestreckt hatte, den Kopf auf die linke Hand gestützt. „Wir Juden sind Weltbürger.“
Die drei lachten.
Sally drückte ihren Strohhut fester. Ein leichter Wind war aufgekommen und zupfte an ihrem Hut und an ihrem Kleid.
„Wie man hört, ist es die reinste Wildnis.“
„Halb so schlimm.“ Wesley biss ein Stück von dem kalten Hähnchenschenkel ab, den er mit spitzen Fingern festhielt. „Das Gefährlichste dort oben ist wahrscheinlich die Langeweile.“
„Ich weiß schon, welche Bücher ich mitnehmen werde“, meinte Elias. „Isaac Watts. Und natürlich Washington Irving.“
Elias zeichnete mit einem Finger die Anfangsbuchstaben der beiden Autoren auf die Wolldecke.
„Ich halte mich an die europäischen Philosophen“, warf Wesley mit vollem Mund ein. „Hegel und Kant.“
„Kant ist so verdammt schwer“, beschwerte sich Elias. „Willst du den wirklich über den Chilkoot-Pass schleppen?“
Der Habicht schoss nach unten und stieg wieder auf. Er hatte etwas zwischen den Krallen. Seine Beute.
„Das moralische Gesetz in uns“, zitierte Sally und schob sich eine Weintraube in den Mund. „Und der Sternenhimmel über uns. - Oder so ähnlich.“
Wesley sah seine Schwester an und hob anerkennend die Augenbrauen.
„Meine kleine Schwester. Bravo.“
Die Sonne wurde immer wieder von den dunklen Wolken verdeckt. Plötzlich riss ein Windstoß Sally fast den Hut vom Kopf. Sie hielt ihn mit einer schnellen Handbewegung fest. Die ersten Regentropfen fielen und die drei sprangen auf, packten die Körbe und die Wolldecke zusammen. Der Habicht war verschwunden.
DIE Kälte zieht durch die Ritzen zwischen den Rundhölzern, an den Stellen, die nicht ordentlich abgedichtet sind. Der Wind pfeift an den Kanten der Blockhütte entlang. Der Frost kriecht aus dem Boden heraus, als wäre der Erdkern gefroren. Aufstehen. Aufstehen. Das Feuer. Holz nachlegen. Sein Körper sehnt sich nach Feuer. Jede Faser seines Fleisches ist durchdrungen von diesem Wunsch. Feuer. Wärme. Keuchend setzt er sich auf. Er sieht, wie sein Atem in der Luft kondensiert. Sein Bauch fühlt sich an, als wäre er aufgedunsen, voller Eiter. Schmerzhafter Eiter. Der Wolfsmensch war schweigsam gewesen wie der Frost und die Dunkelheit. Er hatte die Hütte durchsucht. Das war nicht zu übersehen. Gold hatten sie noch keins gefunden. In diesem Fluss gab es nur Steine und Sand. Und Fische, die sich nicht um Gold kümmerten. Es gab also nichts zu finden bei ihnen. Keine Reichtümer. Ging es dem Wolfsmenschen um Nahrung?
Sie hätten alles mit ihm geteilt, was sie an Essbarem hatten. Das hatte er gelernt, von frühester Kindheit an: Gott ehren, mit den Armen teilen, den Schwachen helfen. Keine Gewalt. Niemals Gewalt gegen andere Menschen. Niemals. Darin war er sich mit Elias einig. Keine Gewalt. Die Decke. Ohne Decke wird er erfrieren. Der Schmerz nagt in seinen Gedärmen, als wäre er ein Tier, das sich von Innereien ernährt. Ein schlichter Zweig auf dem verwitterten Holztisch. Elias hat ihn geholt. Mit einem Messer abgeschnitten von einer Fichte vor dem Haus. Mit einem Messer. Sein Atem stand dabei in einer Wolke vor ihm. In der Hütte gab es keinen Weihnachtsbaum mit Glaskugeln aus denen heraus ein alter Mann mit langem Bart auf die Welt blickt. Ein grüner Zweig. Das war alles. Wie der schlichte Stall, in dem das Kind in der Krippe schläft. Ein grüner Zweig. Mehr nicht.
Sally saß am Klavier. Sie spielte Chopin. Ihre langen Finger tanzten leicht über die Tasten. Kaum schienen sie dabei die Tasten zu berühren. Glänzend weiße und schwarze Tasten, die sich elegant unter ihren Fingern senkten und wieder hoben. Neben ihr stand ein Kerzenleuchter. Die Kerzen flackerten, als würden die sanften Töne des Klaviers durch die Flammen hindurchwehen. Wesleys Mutter hörte andächtig zu. Sie hatte den Kopf etwas zur Seite gelegt, so wie sie es immer tat, wenn jemand am Klavier saß und spielte. Die Gesichtszüge seines Vaters waren weich und entspannt, während er lauschte. Wesley drehte sich zu seinem Freund um. Elias hatte Tränen in den Augen.
ER zittert, trotz der Wolldecke. Er hatte sie unter dem schlichten Bett hervorgeholt. Seine blutige Hand hatte sich in die Decke verkrallt, dann hatte er sie Stück für Stück zu sich gezogen. Keuchend vor Anstrengung. Ein Geschenk seiner Eltern. Für die Winternächte im Norden. Doch die Wolle kann nicht verhindern, dass eine eisige Kälte tief in sein Innerstes kriecht. Unter seine Haut. In seine Muskeln. In seine Venen. In seine Knochen. Ein Schüttelfrost macht es ihm unmöglich aufzustehen, nach dem Feuer zu sehen. Seine Hände zittern so heftig, dass er kein Stück Holz hätte halten können. Kein Schwefelhölzchen zum Entzünden des Feuers. Seine Finger krallen sich in den Saum der Decke, bis die Knöchel weiß hervortreten. Seine Zunge ist geschwollen. Sie klebt an seinem Gaumen. Manchmal glaubt er ein Tier im Mund zu haben. Dann schreit er und will es auskotzen.
Die See war ruhig. Sie hatten sich in die Doppelkabine zurückgezogen, die sie sich nur leisten konnten, weil ihnen Wesleys Vater das Geld für die Reise nach Norden vorgestreckt hatte. Sie würden natürlich alles zurückbezahlen nach der Rückkehr. Jeden Cent.
Wesley überarbeitete die in gestochen scharfer Schrift verfasste Liste der nötigen Ausrüstungsgegenstände, die sie in Dawson noch besorgen mussten. Elias lag auf seinem Bett und las. Die Deckenbalken knackten von den rollenden Bewegungen des Schiffes. Vom Oberdeck drangen Stimmen herab. Passagiere die lachten. Und sangen. Ein Seemann rief etwas in den Wind. Am nächsten Morgen würden sie Dyea erreichen.
„Was liest du da?“, fragte Wesley.
Elias schloss die Augen und legte den Kopf zurück. Das Schlagen von Segeln im Wind. Gedämpft.
„Und hörst du, dass mein Herzschlag bricht,
die Lebensspanne sanft sich neigt.
Färbt Todes Blässe das Gesicht -
Die Seele auf zum Himmel steigt. - Isaac Watts.“
Eine Weile arbeitete Wesley weiter und Elias vertiefte sich wieder in sein Buch. Dann sagte Wesley ohne aufzusehen:
„Weißt du, was ich mir überlegt habe?“
„Nein.“
„Wenn du am Sabbat nicht arbeitest, und ich am Sonntag nicht arbeite, dann werden wir es dort oben nie zu etwas bringen.“
„Dann arbeite doch am Sonntag“, schlug Elias vor.
Wesley grinste.
„Und du am Sabbat.“
Elias schlug das Buch zu.
„Du sturer Protestant.“
„Du sturer Jude.“
Elias warf das Buch nach ihm. Wesley fing es auf und die beiden lachten.
Wesley hob das Buch in die Höhe.
„Isaac Watts. Eine hervorragende Waffe.“
DIE Holzbalken der Blockhütte ersetzen den Himmel. Sie sind verwittert, rissig. Die Risse bilden ein Muster. Eine Flusslandschaft. Es sind ausgetrocknete Flüsse in einem kargen, braunen Landstrich, über den sich langsam eine milchig-weiße Eisdecke schiebt. Die Landschaft liegt in der Dämmerung. Von nun an wird sie immer in der Dämmerung liegen. Da keine Kerzen und kein Feuer mehr die Hütte erhellen. Eines Tages würde sie vollständig bedeckt sein mit Eis und Dunkelheit. Dann würde nur noch der Frost zurückbleiben und die Kälte.
„Ihr seid spät dran“, rief der kleine Ire. Der Lärm im M&M-Saloon in Dawson übertönte seine knarrende Stimme.