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Der mitreißende Abschluss der Gutshaus-Saga ist da! Das lange Lese-Wochenende kann beginnen.
So langsam scheint Ruhe im Gutshaus eingekehrt zu sein. Franziska hat ihre alte Heimat wiedergefunden und in Walter ihre große Liebe. Ihre Enkelin Jenny tut alles, um sich mit dem alten Anwesen eine Zukunft aufzubauen, und ist glücklich mit Uli, der neuen Schwung in seinen Bootsverleih gebracht hat. Aber so rosig ist leider nicht alles: Das neu eröffnete Restaurant läuft nicht richtig, und bei Bauarbeiten im Keller tritt ein Fund zutage, der längst Vergangenes wieder lebendig werden lässt. Franziska befürchtet, dass er etwas mit ihrer Schwester zu tun haben könnte. Und sie fragt sich: Wird ihre Vergangenheit sie niemals loslassen?
SPIEGEL-Bestsellerautorin Anne Jacobs bei Blanvalet:
Die Gutshaus-Saga:
1. Das Gutshaus. Glanzvolle Zeiten
2. Das Gutshaus. Stürmische Zeiten
3. Das Gutshaus. Zeit des Aufbruchs
Die Tuchvilla-Saga:
1. Die Tuchvilla
2. Die Töchter der Tuchvilla
3. Das Erbe der Tuchvilla
4. Rückkehr in die Tuchvilla
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Seitenzahl: 760
Buch
So langsam scheint Ruhe im Gutshaus eingekehrt zu sein. Franziska hat ihre alte Heimat wiedergefunden und in Walter ihre große Liebe. Ihre Enkelin Jenny tut alles, um sich mit dem alten Anwesen eine Zukunft aufzubauen, und ist glücklich mit Ulli, der neuen Schwung in seinen Bootsverleih gebracht hat. Aber so rosig ist leider nicht alles: Das neu eröffnete Restaurant läuft nicht richtig, und bei Bauarbeiten im Keller tritt ein Fund zutage, der längst Vergangenes wieder lebendig werden lässt. Franziska befürchtet, dass er etwas mit ihrer Schwester zu tun haben könnte. Und sie fragt sich: Wird ihre Vergangenheit sie niemals loslassen?
Autorin
Anne Jacobs begeisterte bereits mit ihrer Trilogie um Die Tuchvilla die Leser und stürmte die Bestsellerlisten. Mit Das Gutshaus knüpft sie an ihre Erfolgstrilogie an und erzählt von einem alten herrschaftlichen Gutshof in Mecklenburg-Vorpommern und vom Schicksal seiner Bewohner in bewegten Zeiten.
Von Anne Jacobs bereits erschienen:
Die Tuchvilla-Saga:
Die Tuchvilla
Die Töchter der Tuchvilla
Das Erbe der Tuchvilla
Die Gutshaus-Saga:
Das Gutshaus. Glanzvolle Zeiten. Band 1
Das Gutshaus. Stürmische Zeiten. Band 2
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ANNE JACOBS
Das
GUTSHAUS
Zeit des Aufbruchs
Band 3
Roman
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Kristina Lake-Zapp
Covergestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com
(Artiste2d3d; Fiona Ayerst; Flegere; Maxim Mitsun;
mistervlad; Nikos Keramidis) und Ildiko Neer/Arcangel
NG · Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-20832-5V003
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Frühjahr 1995
Da war er! Enno Budde. Pünktlich wie die Uhr – genau um halb elf. Parkte seinen silbernen Opel Corsa auf dem Gästeparkplatz gleich neben dem neu erbauten Inspektorenhaus, das Jenny boshaft »Simons Nostalgiehütte« nannte. Blieb noch ein Weilchen im Wagen sitzen, um die Papiere in seiner Aktentasche zu sortieren.
Kacpar stand von seinem Arbeitstisch auf und trat näher zum Fenster. Von seiner Zweizimmerwohnung im Dachgeschoss des Gutshauses hatte er einen ausgezeichneten Blick über das gesamte Anwesen – ein unerwarteter Bonus an dieser bescheidenen Bleibe. Grimmig stützte er beide Hände auf das Fensterbrett, das immer noch auf den zweiten Anstrich wartete, und sah zu, wie Enno Budde langsam ausstieg, die abgegriffene braune Aktentasche unter den linken Arm geklemmt. Lang und hager war der Gerichtsvollzieher aus Waren, ging vornübergebeugt, als müsse er gegen den Küstenwind ankämpfen, und wenn er mit den Leuten redete, hatte er immer ein bedauerndes Lächeln in den Mundwinkeln. Eine scheinbare Solidarität mit den armen Schweinen, die jetzt zahlen oder bluten mussten. Enno Budde hatte keine Probleme, seine Kundschaft bluten zu lassen.
Kacpar fluchte leise vor sich hin. Er war zur Tatenlosigkeit verdammt, sein wiederholtes Angebot, sich finanziell an dem Projekt »Gutshotel Dranitz« zu beteiligen, war abgelehnt worden, die Damen Franziska und Jenny wollten unter sich bleiben.
»Nee, Kacpar – kommt nicht in die Tüte«, hatte Jenny noch vorgestern lautstark getönt. »Da hätten wir ja auch Simon als Teilhaber aufnehmen können.«
Der Vergleich hatte ihn tief getroffen. Simon Strassner war ein Aasgeier, einer, der über Leichen ging, um Geld zu machen. Hätten sie Simon als Partner aufgenommen – keine drei Monate wären vergangen, und der Gutshof samt Park und See hätte ihm allein gehört. Er, Kacpar, war genau das Gegenteil. Ein nützlicher Idiot, der seit fast fünf Jahren die Planung und Bauleitung innehatte und dafür monatlich einen lächerlich kleinen Betrag erhielt. Er hatte sein Wissen und Können, seine Arbeitskraft und fünf Jahre seines Lebens in dieses Projekt investiert, und nun, da ihnen das Wasser bis zum Hals stand, wollte er nichts weiter, als ihnen mit seinen Ersparnissen unter die Arme zu greifen. Freilich mit einer Absicherung als Teilhaber, darauf glaubte er ein Recht zu haben. Aber nein – die Damen wollten es allein durchstehen. Stur waren sie, diese von Dranitz’schen Frauen, aber das hatte er ja schon immer gewusst.
Was hatten sie denn davon, wenn die Banken den Hahn zudrehten und der Gutshof unter den Hammer kam? Wer würde der Erste sein, der sich Dranitz unter den Nagel riss? Der Herr Architekt Strassner natürlich. Bei der Vorstellung, dass dieses traumhaft schöne Anwesen, das sich während der vergangenen Jahre unter seiner Bauleitung zu einer vielversprechenden Anlage gemausert hatte, schon in wenigen Monaten Simon Strassner gehören könnte, wurde Kacpar schwarz vor Augen. So weit durfte es nicht kommen. Schlimm genug, dass Simon ihnen diese kitschige Bilderbuchhütte von Inspektorenhaus vor die Nase gebaut hatte und in unregelmäßigen Abständen hier auftauchte, um mit seiner Tochter spazieren zu gehen und das arme Kind mit Süßigkeiten vollzustopfen.
Kacpar riss sich von seinen bedrückenden Gedanken los und reckte den Hals, um den Gerichtsvollzieher besser sehen zu können. Die vor zwei Jahren gepflanzte Platanenallee war noch ziemlich kahl, hoffentlich hatten alle Bäume den Winter überlebt. Enno Budde betrat den gepflasterten, von einer niedrigen Schmuckmauer eingefassten Hof und steuerte geradewegs auf das rechte Kavaliershäuschen zu, in das Franziska und Walter Iversen vor einem knappen Jahr eingezogen waren. Im linken Häuschen, das zum Park hin gelegen war, dort, wo Kacpar selbst so gern gewohnt hätte, lebte inzwischen Jenny mit ihrer kleinen Tochter. Die junge Mutter mit Kind hatte Vorrang, also war er zurückgetreten und hatte sich mit der halb fertigen Dachwohnung begnügt. Was Jenny als selbstverständlich hinnahm, sie hatte ihn nicht einmal gefragt.
Um diese Zeit war sie mit der Kleinen im Kindergarten, wo sie ihrer Freundin Mücke stundenweise unter die Arme griff und die kleinen Wildfänge bändigte. Das wusste Enno Budde – in einem kleinen Dorf wie Dranitz und den umliegenden Ortschaften wusste jeder alles –, deshalb klingelte er lieber gleich bei Franziska Iversen, denn dort hatte er die größeren Chancen, jemanden anzutreffen.
Kacpar hörte Falko, den Schäferhund, anschlagen – also hatte Franziska die Tür geöffnet und bat Budde vermutlich gerade ins Haus. Nun würde er ihr also die unbezahlten Rechnungen und die gerichtlich festgesetzten Zahlungsbedingungen präsentieren. Und natürlich würde sie später kein Sterbenswörtchen darüber verlauten lassen, was sie jetzt mit ihm aushandelte.
Resigniert schüttelte er den Kopf und stieß einen tiefen Seufzer aus. Es hielt ihn nicht mehr oben in der Wohnung, daher ließ er die Berechnungen, an denen er gearbeitet hatte, liegen und beschloss, einen Kontrollgang durch das fast fertige Restaurant zu machen. Am Karsamstag, der in diesem Jahr auf Mitte April fiel, sollte die Eröffnung gefeiert werden, der Hotelbetrieb sollte spätestens Anfang Juni, zu Pfingsten, nachziehen. Gestern hatten sie in der Küche die letzten Geräte angeschlossen, wobei es – wie üblich – zu Turbulenzen gekommen war, weil die drei großen Herde nicht auf volle Stärke gebracht werden konnten. Angeblich stimmte etwas mit dem Starkstrom nicht, für heute Nachmittag war der Elektriker bestellt. Ob der Mann kommen würde, stand in den Sternen, er war der dritte Elektriker, den sie beschäftigten, die anderen beiden hatten ihre Arbeit auf Gut Dranitz eingestellt. Wegen der ausgesprochen schwachen Zahlungsmoral der Auftraggeberin. Möglich, dass auch der dritte Elektriker, der aus Schwerin kam, inzwischen Wind davon bekommen hatte. In diesem Fall würde es mit der Eröffnung zum geplanten Termin schwierig werden, denn bis dahin blieb ihnen nicht mehr allzu viel Zeit.
Kacpar zog rasch eine Jacke über und stieg die Treppe hinunter. Hier im Dachgeschoss waren die Stufen noch im Urzustand, voller Farbreste, einige sogar durchgefault und brüchig, er musste aufpassen, wohin er die Füße setzte. Weiter unten war aus der verkommenen Stiege ein Schmuckstück geworden. Sie hatten das Holz abgeschliffen, Stücke eingesetzt, das geschnitzte Geländer restauriert und alles gründlich mit Wachs behandelt. Im ersten Obergeschoss, wo Franziska und Walter Iversen eine Weile gewohnt hatten, waren inzwischen acht geräumige Gästezimmer mit Nasszellen entstanden, dazu drei weitere, kleinere Zimmer, die als Wäschekammer, Geräteraum und Bibliothek genutzt werden sollten. Alle Räume waren bereits tapeziert, in einigen fehlten noch die Fußböden, auch die Bäder waren noch nicht fertig. Das Mobiliar würde »echt antik« sein, es gab ein Abkommen mit dem holländischen Antiquitätenhändler, der früher in den Räumen der ehemaligen LPG ein Lager gehabt hatte. Mittlerweile war er nach Neustrelitz gezogen, weil er mehr Platz benötigte. Dort standen all die schönen, alten Möbel, die er den ahnungslosen Ossis gleich nach der Wende billig abgeluchst hatte und die er aufarbeiten ließ, um sie für teures Geld in aller Herren Länder zu verscherbeln. Kacpar prüfte die Wasserhähne und Duschen in zweien der Bäder, sie funktionierten einwandfrei. Nur der Fliesenleger war seit zwei Wochen nicht mehr an der Arbeit. Kacpar vermutete stark, dass sich dessen unbezahlte Rechnung in Enno Buddes Unterlagen befand, die dieser Franziska Iversen wohl gerade unter die Nase hielt.
Ach, es war so ärgerlich, dass sie jetzt, kurz vor dem Ziel, solch einen Mist verzapften! Gewiss – das Restaurant würde vorerst nicht viel abwerfen, da mussten der Koch und die Küchenhilfe bezahlt werden, dazu zwei junge Frauen aus dem Dorf, die bedienten, aber die hatten sie vorerst nur als Aushilfen engagiert, damit sie Kosten sparten und flexibler waren. Elfie und Anke würden vorerst auf Abruf arbeiten. Was sich hoffentlich ändern würde, wenn sie ab Pfingsten die ersten Hotelgäste aufnehmen würden. Mit Vollpension. Alles war bereit. Vier Ruderboote und ein kleiner Badestrand am See. Dazu drei Reitpferde, die stellte Bernd Kuhlmann zur Verfügung, Jennys Vater, wie sich erst vor einiger Zeit herausgestellt hatte. Die perfekte Erholung für gestresste Städter. Auch für Familien. In Sonja Gebauers »Tiergarten Müritz« gab es inzwischen einen kleinen Streichelzoo und einen Rundweg durch das Gelände. Wo allerdings außer Wiesen und Bäumen nicht viel zu entdecken war. Das heimische Wild war scheu und versteckte sich vor den laut einhertrampelnden Besuchern.
Aber wie auch immer – die Talsohle war durchschritten. Die ersten Einnahmen konnten fließen. Es war zum Verrücktwerden. Da stand er mit seinem Bankkonto, das er durch kluge Aktiengeschäfte gefüllt hatte und das vorerst alle Geldsorgen von Gut Dranitz fernhalten konnte, und sie wollten es nicht. Lieber mit Volldampf in den Abgrund segeln, als Kacpar Woronski die Hand zu reichen. Es war deprimierend. Manchmal fragte er sich, warum er nicht seinen Koffer packte. Schließlich gab es hier in der Nähe genügend lohnende Objekte, die man günstig erwerben, sanieren und einem sinnvollen Zweck zuführen konnte. Aber er hing an Dranitz. Vielleicht, weil er schon so viel an Kraft und Begeisterung in das Projekt investiert hatte. Vielleicht auch aus anderen Gründen. Aus Gründen, über die er besser nicht nachgrübelte. Er hatte keine Chance. Jenny liebte ihren Ulli. Und zu allem Unglück war der ein netter Kerl.
Die Treppe hinunter ins Restaurant hatten sie mit dunkelgrünem Teppichboden ausgelegt. Hier im Erdgeschoss war so weit alles startbereit, der Gastraum mit den großzügigen Fenstern zum Park hin, der Tresen mit der Zapfanlage, die rustikalen Möbel, dazu passende dunkelgrüne Sitzkissen und Tischdecken aus grobem Leinen, ein schlankes Sideboard aus den Zwanzigerjahren und drei schöne alte Schränke aus Weichholz, in denen Geschirr, Gläser und Besteck aufbewahrt wurden. Für die Inneneinrichtung des Restaurants war Jenny zuständig gewesen, und er hatte ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Er hatte die Zeit genossen, als sie täglich miteinander Kataloge gewälzt und Preise verglichen hatten, dreimal waren sie gemeinsam losgefahren, um sich Tische und Stühle vor Ort anzuschauen, einmal hatten sie in Travemünde in einem Hotel übernachtet. In getrennten Zimmern natürlich, aber es war trotzdem schön gewesen, sie zwei Tage lang ganz allein für sich zu haben. Er wusste, dass sie ihn nicht liebte. Aber sie mochte ihn. Mehr sogar – sie hörte auf seinen Rat. Meistens. Er hatte noch nicht ganz verloren. Sie brauchte ihn, zählte auf ihn. Und er war für sie da. Das war etwas wert. Darauf konnte man bauen. Die Liebe konnte einen auch ganz plötzlich erwischen. So wie es Mücke bei ihrem Kalle passiert war. Die beiden kannten sich schon seit ihrer Sandkastenzeit. Bei Kalle hatte es gleich gefunkt, aber Mücke war erst sehr viel später von dem berühmten Blitz aus heiterem Himmel getroffen worden. Dann aber richtig. Die zwei waren inzwischen glücklich verheiratet und hatten Zwillinge. Zwei Mädels. Mandy und Milli hießen sie.
Nicht so viel grübeln, dachte er. Jetzt ist erst mal der Gutshof wichtig. Enno Budde mit seinen popeligen Rechnungen war das kleinere Problem, den konnte Franziska vielleicht noch beschwatzen, zumal sie früher seine Familie gekannt hatte. Seine Eltern oder Großeltern – so richtig einschätzen ließ sich Enno Buddes Alter nicht. Der hatte bestimmt schon als Kind grau ausgesehen. Richtig gefährlich waren die Banken, da ließ sich nichts drehen. Wenn er auf dieses Thema zu sprechen kam, schwiegen sich die beiden Damen aus, und würde er nicht zufällig eine zärtliche Beziehung zu einer Bankangestellten in Schwerin unterhalten, wüsste er so gut wie nichts. Was seine momentane Liebste ihm neulich unter dem Siegel der Verschwiegenheit eröffnet hatte, ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Wenn es stimmte, dann konnte ihnen der Gutshof von heute auf morgen weggenommen werden.
Er ging hinüber zu den Tischen, die bei den Fenstern zum Hof standen, tat, als müsse er die Stuhlkissen gerade rücken, und schaute hinaus. Von Enno Budde war noch nichts zu sehen. Vermutlich verhandelten sie im Kavaliershäuschen über eine Abschlagssumme, die die heute fällige Pfändung verhindern würde. Zu pfänden gab es hier im Restaurant leider eine ganze Menge, vom nagelneuen Mobiliar über die Zapfanlage, das neue Geschirr und die Bestecke bis hin zu den Hightechanlagen in der Küche. Möglicherweise hatte Enno es sogar auf die neu gerahmten Ahnengemälde abgesehen, die Franziska Iversen gemeinsam mit ihrem Mann im Eingangsbereich des Restaurants aufgehängt hatte. Sie waren seinerzeit bei Bauarbeiten auf dem Dachboden zum Vorschein gekommen und Franziskas ganzer Stolz.
Kacpar starrte hinüber zum Kavaliershäuschen. Wenn Franziska jetzt einen Teil der Rechnungen bezahlte, würde sie vermutlich die monatliche Rate ihres Bankkredits nicht bedienen können, was die schlechtere Variante war. Sollte Enno ruhig seinen Kuckuck aufkleben, es musste ja nicht gerade in der neuen Restaurantküche sein. Die Banken ließen nicht mit sich spaßen, die standen vermutlich schon in den Startlöchern, um sich ihr Geld zurückzuholen. Wenn er ihr das doch nur klarmachen könnte! Mit Jenny konnte er auch nicht darüber reden. Die war ja mitunter noch schlimmer als ihre Großmutter. Ja, sie hatte einen sicheren, um nicht zu sagen wunderbaren Geschmack, aber musste es eigentlich immer vom Teuersten sein? Er wusste, dass sie als Mitbesitzerin des Gutshauses einen Kredit aufgenommen hatte. Wie sie die Bank in Schwerin dazu gebracht hatte, ihr das Geld zu geben, war ihm schleierhaft – schließlich hatte sie keinerlei Sicherheiten, und verdienen tat sie auch nicht, aber offenbar glaubten die Bankleute fest an das Projekt und dass es in irgendeiner fernen Zukunft viel abwerfen würde. Nun, manchmal versetzte der Glaube eben Berge. Das Geld steckte in der Einrichtung des Gastraums und in der Küche des Restaurants. Wie Jenny die monatlichen Raten bezahlte, war ihm schleierhaft. Das einzige Einkommen, das sie bezog, war ein kleines Entgelt für ihre Arbeit in Mückes Kindergarten, wo sie nach Bedarf aushalf. Viel blieb davon sicher nicht übrig, weil sie ja Julchens Kindergartenplatz bezahlen musste. Die goldenen Zeiten der kostenfreien Kinderbetreuung waren hierzulande längst vorbei – Mückes Kindergarten war eine Privateinrichtung und kostete siebzig Mark im Monat pro Kind. Schlaues Mädel, die Mücke, und ausgesprochen geschäftstüchtig. Neben dem Kindergarten hatte sie einen kleinen Laden eröffnet – alles rund ums Kind, dazu ein paar preiswerte Klamotten und anderen Kram für die Mütter. Man konnte dort auch einen Kaffee trinken und Kuchen essen. Die geborene Unternehmerin – wer hätte ihr das zugetraut? Aber einer musste ja das Geld verdienen, und auf Kalle war in dieser Beziehung wenig Verlass.
Die Verhandlungen im Kavaliershäuschen schienen sich in die Länge zu ziehen, und Kacpar musste sich stark am Riemen reißen, um nicht hinüberzulaufen und Franziska Iversen zum wiederholten Mal seine Hilfe anzubieten. Gerade jetzt war ganz sicher der falscheste Zeitpunkt dafür, weil der Stolz der Frau Baronin tief verletzt war und ihre Ablehnung entsprechend heftig ausfallen würde. Er hatte bessere Aussichten, wenn er es später über Walter Iversen versuchte. Franziskas Ehemann war ein kluger, besonnener Mensch, und wenn Kacpar Glück hatte, hörte sie auf ihn. Mit Jenny zu reden war im Augenblick vollkommen sinnlos, sie war völlig mit den Nerven runter, weil nicht nur der Termin der Restauranteröffnung nahte, nein, bald musste sie die Probeklausuren von der Fernschule für die Abiturzulassung schreiben, wofür sie noch eine Menge zu lernen hatte.
Ein kleiner Lieferwagen, der durch die Platanenallee zum Gästeparkplatz fuhr, erlöste ihn aus dem quälenden Kreislauf seiner ungeklärten Probleme. Täuschte er sich, oder war das die Firma Bauer & Co, die im Keller die Grube für den Pool ausschachten sollte? Tatsächlich – jetzt hatte der Wagen das Ende der Allee erreicht und hielt auf dem Parkplatz. Drei kräftige Männer in Arbeitskleidung stiegen aus, schulterten Schaufeln und Hacken und eilten tatenfroh in Richtung Gutshaus.
Wunderbar, dachte Kacpar erfreut. Es geht voran im Keller – sobald der Pool fertig ist, haben wir das Wichtigste geschafft. Wenn jetzt bloß nicht Enno Budde mit seiner verflixten Aktentasche aus dem Kavaliershäuschen tritt, das würde alles vermasseln. Enno war in der Gegend bekannt wie ein bunter Hund. Was vor allem an den gewitzten Versicherungsverkäufern und an den bunten Katalogen der großen Versandhäuser lag. Da hatte mancher im Konsumrausch bestellt und nicht ans Bezahlen gedacht. Vor allem wenn man den Job verloren hatte wie so viele in der Gegend, konnte man mit seinen unbezahlten Rechnungen schnell bei Enno Budde landen.
»Gerichtsvollzieher und Totengräber, das sind die einzig krisenfesten Jobs hierzulande«, hatte der Bürgermeister Paul Riep neulich in Heiko Mahnkes Kneipe gesagt. Galgenhumor.
Sie hatten ausnahmsweise einmal Glück. Das arbeitsfreudige Trio überquerte den Hof und betrat das Gutshaus, ohne auf den Gerichtsvollzieher zu treffen.
»Tag auch, Paul Bauer, wir haben telefoniert«, grüßte der kräftigste der drei Männer und schüttelte Kacpar die Hand. »Wir können heute anfangen, wenn es Ihnen passt.«
Bevor sie die Firma beauftragt hatten, hatte sich Kacpar informiert. Bauer & Co bestand erst seit einigen Monaten. Paul Bauer und seine beiden erwachsenen Söhne hatten verschiedene Baumaschinen aus einem DDR-Betrieb erworben, der geschlossen worden war. Sie übernahmen Erdarbeiten jeglicher Art, fällten auch Bäume oder rissen Altbauten ab. Zu ihrer eigenen Überraschung waren die Auftragsbücher voll; vor allem in den Städten, wo viel gebaut wurde, waren Männer wie Paul Bauer und seine Söhne heiß begehrt. Ein Wunder, dass sie für diesen vergleichbar kleinen Auftrag Zeit gefunden hatten.
»Schön, dass Sie gekommen sind.« Kacpar schüttelte Bauers Hand. »Gehen wir hinunter, ich habe die Stelle für die Ausschachtungsarbeiten mit Kreide auf den Boden gezeichnet.«
Einen Moment lang verspürte er ein schlechtes Gewissen. Es war keineswegs sicher, ob Franziska Iversen die Firma bezahlen konnte, vermutlich konnte sie es nicht. Dennoch war es ungemein verlockend, wieder ein Stück voranzukommen. Kacpar nahm sich vor, die Truppe notfalls einfach aus eigener Tasche zu entlohnen.
Die Kellertreppe war gemauert und schmal. Es handelte sich um die alte Dienstbotentreppe, die einst zur Gutsküche und zu den übrigen Wirtschaftsräumen geführt hatte. Hier unten war es dämmrig, da die Fenster nur zur Hälfte über das Hofpflaster hinausragten. Auf der linken Seite hatten sie die alte Raumaufteilung gelassen. Waschküche, Holz- und Kohlelager sowie der Weinkeller konnten ohne größeren Aufwand zu Massageräumen mit Badewannen umgestaltet werden. Auf der rechten Seite sah es anders aus, dort hatten sie die große Küche mit den beiden Vorratsräumen zusammengelegt, die Mauern abgetragen und mehrere Stützen eingebaut, die später zu fantasievoll gestalteten Säulen ummantelt werden sollten. In dem so gewonnenen großen Raum sollte der Pool entstehen, für den auch ein kleineres Außenbecken geplant war. Zum Schluss sollte rund um das Becken eine Terrasse mit großer Liegewiese und weiter zum See hin ein Kinderspielplatz entstehen. Das war freilich ferne Zukunftsmusik, in die sich hörbar die Rufe der Pleitegeier mischten, aber man durfte bei allen Sorgen und Problemen seine Visionen nicht aus den Augen verlieren. Wenn man das tat, konnte man gleich alles hinwerfen.
»Den Bagger kannste hier vergessen«, knurrte einer der beiden Söhne und hackte probeweise in den Zementboden. Ein paar Brösel lösten sich, Staub stieg auf.
»Hier geht nur Muskelschmalz«, belehrte Bauer seine Söhne. »Wenn wir erst durch die Zementdecke sind, wird es leichter. Viel Sand, vielleicht ein paar Steinbrocken. Kann auch sein, dass wir auf Grundwasser stoßen.«
Das Gutshaus befand sich zwar einige Meter über dem Niveau des Sees, aber trotzdem war es möglich, dass Bauer mit seiner Vermutung richtiglag. Wenn sie hier auf Grundwasser stießen, würde man eine Pumpe und viel Strom benötigen, was die weiteren Arbeiten extrem verteuerte. Deutlicher ausgedrückt: Es würde einen vorläufigen Baustopp bedeuten. Sie brauchten also viel Glück. Wobei es mit dem Glück so eine Sache war, denn das war während der ganzen Zeit hier nicht immer auf ihrer Seite gewesen.
Kacpar ging nicht weiter auf dieses Problem ein, stattdessen sah er wortlos zu, wie Vater Bauer schon mal die ersten Schläge mit der Hacke setzte, immer schön an der Kreidelinie entlang, dann wandte er sich zufrieden um und verließ die Unterwelt, um die Entwicklungen im Kavaliershäuschen nicht zu verpassen.
Dort hatte sich inzwischen einiges bewegt. Als Kacpar die Stufen zum Hof hinunterstieg, rannte Falko, der treue Schäferhund, an ihm vorbei, gefolgt von seinem heiß geliebten Quälgeist Julchen. Jennys Tochter Julia war im März vier geworden, ihr Körper hatte sich gestreckt, der Babyspeck war verschwunden, dafür hatten sich an Nase und Stirn eine Menge Sommersprossen angesiedelt. Genau wie Jenny war auch Julchen mit einer Flut krauser kupferroter Locken gesegnet, die ihr im Kindergarten den Spitznamen »Pumuckl« eingetragen hatten.
Wenn Julchen hier war, konnte auch Jenny nicht weit sein. Seine Vermutung erwies sich als richtig, Jenny stand an der Haustür des Kavaliershäuschens gleich neben ihrer Großmutter, ins Gespräch mit Enno Budde vertieft. Kacpar staunte. Wie es schien, war man sich einig geworden. Franziska Iversen lächelte auf Gutsherrinnenart, Jenny schwatzte laut daher und gestikulierte dabei mit den Händen, wie es typisch für sie war. Enno Budde grinste leutselig, reichte Franziska die Hand und schritt eilig in Richtung Parkplatz davon.
»Hi, Kacpar!«, rief Jenny, als sie ihn entdeckte. »Hast du Julchen gesehen?«
»Die ist mit Falko hinunter zum See!«
»Oh, Mist. Immer wenn sie gerade ihre guten Klamotten anhat!«, schimpfte Jenny.
»Lass sie nur«, mischte sich die Großmutter ein. »Ich stecke die Sachen in die Waschmaschine und fertig!«
Sie begann, die Vorzüge ihrer neuen Waschmaschine, die einen integrierten Trockner besaß, zu schildern, dann deutete sie auf den Wagen der Firma Bauer & Co und erkundigte sich, ob diese schon im Keller an der Arbeit war. Kein Wort zu Enno Budde. Ganz wie er es erwartet hatte.
»Was wollte denn …«, setzte Kacpar zu einer Frage an, doch Franziska fiel ihm ins Wort.
»Kommt doch alle herein, es ist noch Gulaschsuppe da, und Weißbrot kann ich auch aufschneiden. Für einen Mittagsimbiss reicht das allemal.«
Die Einladung war so herzlich ausgesprochen und ihr Lächeln so einnehmend, dass er nicht ablehnen konnte. Allerdings war sich Kacpar sicher, dass sie auch am Esstisch nicht gesprächiger sein würde. Besser, er versuchte es bei Jenny.
»Soll ich vielleicht mal nach Julchen sehen?«, schlug er vor und blieb stehen.
»Wenn du magst«, erwiderte Jenny schulterzuckend. »Ich denke aber, sie kommt gleich von selbst. Normalerweise hat sie um diese Zeit einen Bärenhunger.«
Da Franziska schon im Haus verschwunden war, packte Kacpar die Gelegenheit beim Schopf.
»Wie habt ihr beiden es geschafft, Enno Budde vom Pfänden abzuhalten?«
Jenny kicherte vergnügt und blinzelte ihn mit sieghaften blaugrauen Augen an.
»Ganz einfach – wir haben bezahlt.«
Er musste ein ausgesprochen dämliches Gesicht gemacht haben, denn sie lachte hell auf.
»Tja, Mr. Unke. War nix mit Pfändung und Haus unterm Hammer. Ulli hat mir Geld geliehen. Einfach so. Ohne gleich Teilhaber werden zu wollen.«
Damit drehte sie sich um und eilte ihrer Großmutter nach. Kacpar blieb verblüfft an der Haustür stehen und wusste nicht, ob er froh sein oder sich ärgern sollte. Schließlich entschied er sich für Letzteres. Ausgerechnet Ulli Schwadke! Klar, der hatte in seinen Bootsverleih kaum investieren müssen, weil der Max Krumme das Geld, das Ulli ihm für das Grundstück am Ufer der Müritz gegeben hatte, großzügig in die neuen Boote sowie in den Zeltplatz gleich am Wasser mitsamt Laden, Imbiss und Kiosk steckte. Während der vergangenen drei Jahre hatten die beiden gut verdient, einiges wieder investiert, aber ganz sicher auch ein dickes Polster zurückgelegt. Der Ulli konnte problemlos ein paar Tausender verleihen, und die beiden Damen nahmen das Geld auch noch an. Nur seine Hilfe schlugen sie aus. Verärgert stapfte Kacpar über die regennasse Wiese in Richtung See.
»… ohne gleich Teilhaber werden zu wollen …«, hatte Jenny gesagt. Was für ein gemeiner Seitenhieb. Der edle Ulli rückte die Kohle raus, ohne Forderungen zu stellen, während der böse Kacpar dafür einen Anteil am Gutshof haben wollte. Na und? Ulli konnte sich das leisten. Blieb doch eh in der Familie, wenn er die Jenny heiratete, und genau das würde er früher oder später tun.
Unten am See stand Julchen im matschgesprenkelten Anorak, die Schuhe von Wasser durchtränkt. Sie übte sich in ihrer neuen Kunst, dem Werfen flacher Steinchen, die auf der Wasseroberfläche hüpften, bevor sie untergingen.
»Eins … zwei … drei … vier!«, jubelte sie. »Kannste auch so viele Male, Kacpar?«
Sie war unfassbar lebendig, diese kleine Person. Wurde nicht müde, führte ständig etwas im Schilde. Gebündelte, sommersprossige Energie. Er bückte sich und suchte einen passenden Stein aus, warf und erzielte nur drei Hüpfer. Verflixt. Als Junge hatte er das besser gekonnt. Er versuchte es noch einmal, verbesserte sich um einen Hüpfer, aber jetzt hatte sie fünf und damit wieder die Nase vorn.
»Kommst du mit?«, beendete er den Wettstreit. »Es gibt Gulaschsuppe bei deiner Oma. Und trockene Socken hat sie bestimmt auch für dich.«
»Na gut …«
Sie rief Falko, der am Seeufer nach Enteneiern suchte. Als er nicht gleich kommen wollte, pfiff sie auf zwei Fingern nach ihm. Das hatte ihr ein Junge im Kindergarten beigebracht.
»Mädchen, die pfeifen, Hühnern, die krähen …«, begann Kacpar grinsend, ließ die zweite Zeile aber besser weg.
Zu dritt zockelten sie über die Wiese zurück zum Gutshaus, wobei Julchen pausenlos von ihren Kindergartenerlebnissen erzählte und Falko mehrfach das nasse Fell schüttelte. Kacpar fühlte sich in der Gesellschaft der beiden seltsam heiter und gelassen. Warum regte er sich unnötig auf? Die Zwangsversteigerung war vorerst abgewendet, er hatte sich umsonst die schlimmsten Sorgen gemacht. Zu Ostern würden sie das Restaurant eröffnen, und nicht lange danach konnten die ersten Hotelgäste kommen. Er lachte über Julchens falsche Töne, als sie ihm ein Kinderlied vorsang, und erklärte sich bereit, ihr zu zeigen, wie man Papierschiffchen faltete.
Als sie den gepflasterten Hof erreichten und das Kavaliershäuschen ansteuerten, hielt ihn ein lauter Ruf aus dem Gutshaus zurück. Oben an der Treppe stand Meister Bauer und winkte ihm aufgeregt.
Mist, dachte er. Kann man nicht wenigstens für ein paar Minuten glücklich sein?
»Geh schon mal zur Oma«, bat er Julchen. »Ich komme gleich nach.«
Grundwasser! Na klar. Warum sollte bei diesem Bau auch einmal etwas glattlaufen? Bauer sagte kein Wort, stattdessen gab er ihm ein Zeichen, ihm zu folgen. Ganz blass war der arme Kerl. Hastig stiegen sie die Kellertreppe hinunter, wandten sich nach rechts und blieben dann vor der Grube stehen. Sie hatten die eingezeichnete Fläche erst zur Hälfte aufgerissen und die Zementschicht abgetragen. Die Brocken lagen sorgfältig gestapelt zum Abtransport bereit vor einem der Fenster zum Hof.
»Da!«, sagte Bauer und deutete mit dem Finger auf das Loch im Boden, neben dem die beiden Söhne knieten und fasziniert hineinstarrten.
»Grundwasser?«, fragte Kacpar mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube.
»Nee«, gab Bauer zurück. »Ein Toter.«
»Was?«
Kacpar trat an den Rand der Grube und schaute ebenfalls hinein. Das grelle Licht einer Baulampe fiel auf einen menschlichen Schädelknochen. Gelblich, die weiten Augenhöhlen mit sandiger Erde gefüllt, die Zähne vollzählig, der Unterkiefer noch halb im Boden vergraben.
»Die Frau Baronin hatte offensichtlich eine Leiche im Keller!«, stellte einer der Söhne mit beklommener Stimme fest.
»Nicht aufregen«, sagte Kacpar zu ihr, als er ins Haus trat. Sie saß mit Jenny am Tisch und teilte die Suppe aus, Walter half Julchen, die nassen Schuhe und Socken von den Füßen zu bekommen.
»Was ist passiert?«
»Drüben im Keller … Könntest du vielleicht kurz mitkommen?«
Sie hatte sofort begriffen, dass er etwas Schlimmes zu verkünden hatte. Es lag an seinem Lächeln. Wenn er auf diese sanfte, beschwichtigende Art lächelte, war etwas im Argen, und zwar voll und ganz. In den fünf Jahren, die sie nun gemeinsam am Projekt »Gutshotel Dranitz« arbeiteten, waren sie zu einer Art Familie zusammengewachsen, und es gelang ihm nur schwer, seine Gefühle vor ihr zu verbergen. Jetzt war er selber aufgeregt, auch wenn er von ihr verlangte, ruhig zu bleiben.
»Wir sind gleich wieder da.« Franziska stellte ihren Teller ungefüllt zurück auf seinen Platz und stand auf. »Lasst euch nicht stören.«
»Hat das nicht Zeit bis nach dem Essen?«, knurrte Walter, der vor Julchens Stuhl gekniet hatte und sich jetzt mühsam wieder aufrichtete. »Der Vormittag war eigentlich aufregend genug.«
Franziska warf sich den Mantel über und eilte Kacpar hinterher über den Hof ins Gutshaus. Unerwartete Katastrophen waren an der Tagesordnung, seitdem sie dieses Umbauprojekt begonnen hatten, eigentlich sollte sie längst daran gewöhnt sein. Stattdessen hatte sie das Gefühl, immer dünnhäutiger zu werden, sich über jede Kleinigkeit aufzuregen. Vielleicht lag das am zunehmenden Alter, schließlich war sie schon Mitte siebzig. Jenny dagegen trat den immer neuen Problemen mit weit mehr Gelassenheit entgegen.
Dieses Mal schien es keine Kleinigkeit zu sein. An der Eingangstür des Gutshauses wartete Paul Bauer mit einer wahren Grabesmiene.
»Tut mir schrecklich leid, Frau Baronin, so was ist mir noch nie passiert, in dreißig Jahren nicht.«
»Nicht aufregen«, wiederholte Kacpar besorgt, als sie die Kellertreppe hinuntergingen. »Bleib bitte ganz ruhig, Franziska.«
Jetzt regte sie sich erst recht auf. Unten drang nur wenig Tageslicht in die Räume. Rechts der Treppe sah man den grellen Schein einer Baulampe. Zwei junge Burschen, die Bauer-Söhne, standen vor einem in den Boden gehackten Loch und wichen eilig zurück, als sie näher trat.
Franziska blickte in die Grube. Erst wusste sie nicht recht, was dort so Spektakuläres zu sehen sein sollte, dann begriff sie. Sie starrte auf die gelblichen Knochenreste, die eindeutig von einem Menschen stammten, und spürte, wie ihr ein Schauder über den Rücken lief. Oh Gott! Hier, in ihrem Keller, unter den ehemaligen Vorratsräumen, hatte man einen Toten verscharrt.
Kacpar legte den Arm um ihre Schultern.
»Wir werden die Sache der Kripo melden müssen«, sagte er leise. »Oder hast du eine Erklärung für diesen Fund?«
Sie konnte nicht sofort antworten. Starrte auf den Totenschädel, der sie aus blinden Augen ansah, als bäte er um Vergebung für den Schrecken, den er verbreitete. Lange zurückgedrängte Bilder stiegen in ihrem Kopf auf, so schnell und deutlich, dass ihr schwindelig wurde.
»Ich habe keine Ahnung«, stammelte sie. »Es war Krieg. Die Russen waren hier im Gutshaus. Die Flüchtlinge. Auch andere Leute, die damals heimatlos umherzogen …«
»Sie meinen, es könnte ein Russe sein?«, fragte einer der beiden jungen Männer.
Sie hob hilflos die Schultern. Woher sollte sie das wissen?
»Der liegt unter dem Zementboden«, stellte Paul Bauer mit kühlem Sachverstand fest. »War bestimmt nicht einfach, den dort zu verbuddeln. Da hätten sie den Zement aufreißen müssen.«
Er hatte nicht unrecht. Falls man hier im Keller einen Menschen erschossen oder erschlagen hatte, dann hätte man ihn vermutlich draußen im Park oder auf dem Kirchhof vergraben, nicht unter dem Zement. Außerdem hatten die Russen ihre Toten meist auf Lastwagen verfrachtet, um sie in der Heimat zu beerdigen.
Die Erinnerung an die damaligen Zeiten stieg so schmerzhaft in ihr auf, dass sie heftig atmete, um die düsteren Bilder ertragen zu können. Geister der Vergangenheit, die sie glaubte, gebannt zu haben, starrten sie mit schwarzen Augenhöhlen an.
»Damals war der Kellerboden an vielen Stellen aufgerissen«, sagte sie stockend. »Die Russen haben nach versteckten Wertsachen gesucht, silbernem Besteck, Münzen oder Schmuck. Das haben sie in allen Gutshäusern getan, und fast immer haben sie etwas gefunden …«
»Klar«, sagte einer der jungen Burschen. »War ja auch genug da …«
Sie biss sich auf die Lippen und schwieg. Da waren sie wieder, die sozialistischen Vorurteile über den märchenhaften Reichtum und das üppige Leben der Gutsbesitzer. In der Vorstellung der DDRler waren alle »Junker« hartherzige Despoten, die selbst in Saus und Braus gelebt und ihre armen Angestellten und Bauern dem Hungertod ausgesetzt hatten. Brutale Verführer, die sich über die Dorfmädchen hermachten, sie schwängerten und dann ihrem Elend überließen. Gewiss, es hatte solche gegeben, aber die Wirklichkeit hatte anders ausgesehen. Nur dass sie das heute niemandem mehr vermitteln konnte. Die Zeit hatte ihre eigene Geschichte geschrieben, und jene, die mitbekommen hatten, wie es wirklich gewesen war, würden bald für immer schweigen.
»Tja!«, sagte Paul Bauer und kratzte sich unter der Mütze am Hinterkopf. »Das ist dann wohl Ihre Sache, Frau Iversen. Für uns ist hier erst mal Feierabend.«
Er packte seine Hacke und streifte die Erde mit der Hand ab. Auch seine beiden Söhne suchten ihr Werkzeug zusammen, warfen einen letzten Blick auf den unheimlichen Fund und stiegen hinter dem Vater die Treppe hoch. Die Baulampe ließen sie stehen, sie gehörte zum Gutshaus.
»Rufen Sie mich an, sobald Sie die Sache geregelt haben«, sagte Paul Bauer zu Kacpar und reichte ihm zum Abschied die Hand.
Oben kam ihnen Jenny entgegen, ihre Tochter Julchen im Schlepptau.
»Was ist denn nun schon wieder los?«, regte sie sich auf. »Kann man denn nicht mal in Ruhe zu Mittag essen?«
Franziska nahm sie beim Arm und bedeutete Kacpar, sich um die Kleine zu kümmern. Das Kind sollte den schrecklichen Fund auf keinen Fall zu sehen bekommen. »Schau es dir an, Jenny. Aber erschrick nicht …«
Jenny zeigte sich sehr viel gefasster, als Franziska erwartet hatte. Mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination starrte sie auf den Totenschädel, dann stieß sie hörbar die Luft aus.
»Das ist ja wie im Krimi. Die berühmte Leiche im Keller. Hast du eine Ahnung, wer das sein könnte?«
»Nein!«, sagte Franziska. »Aber ich denke, das Skelett stammt aus der Zeit, als die Russen das Gutshaus besetzt hatten. Damals galt weder Recht noch Gesetz, und ein Menschenleben war so gut wie nichts wert. Sie haben meinen Großvater einfach über den Haufen geschossen, als er sich ihnen entgegenstellte, und …« Ihre Stimme brach. Es schmerzte sie, in die Vergangenheit zurückzukehren, sich daran zu erinnern, welche Verluste sie schon so früh in ihrem Leben hatte erleiden müssen.
Jenny nahm die Baulampe, leuchtete die Grube aus und stocherte mit einem langen Holzstab im Erdreich herum. Steine kamen zum Vorschein, weitere Knochen. Etwas, das aussah wie ein dunkler, zerfressener Stoffrest.
»Bestimmt eine Frau. Vielleicht liegt sie ja schon länger hier«, mutmaßte sie. »Am Ende hat irgendeiner unserer Vorfahren seine Ehefrau erschlagen und hier verbuddelt …«
»Rede keinen Unsinn!«, schimpfte Franziska. »So etwas kommt höchstens in schlechten Gruselromanen vor!«
»Sag das nicht, Oma!«
Unfassbar, wie schnodderig das Mädchen über diese grausige Entdeckung redete. Doch womöglich war es ja eine Art Selbstschutz – gewiss war auch Jenny über diesen Fund erschrocken. Auf der anderen Seite hatte sie in ihrem jungen Leben niemals einen Krieg mit all seinen schrecklichen Folgen erlebt. Zum Glück.
»Die Kriminalpolizei wird sich damit beschäftigen, Jenny. Es ist besser, wenn du nicht weiter im Boden herumstocherst.«
Jenny zog den Stab zurück und sah Franziska erschrocken an.
»Du willst das der Kripo melden, Oma? Ist das dein Ernst? Weißt du eigentlich, was dann hier los ist?«
»Es geht nicht anders, Jenny.«
Ihre Enkelin verdrehte die Augen und machte eine beschwörende Geste.
»Mensch, Oma! Wenn das nach draußen dringt, steht es überall in den Zeitungen. ›Skelett im Gutshaus Dranitz entdeckt‹ oder so was. Was glaubst du, wie viele Gäste dann bei uns Urlaub machen wollen? Wer dann noch in unser Restaurant zu einem gemütlichen Abendessen kommt?«
Daran hatte Franziska überhaupt noch nicht gedacht. Natürlich hatte Jenny recht. Wenn die Presse Wind von dem grausigen Fund bekam, hatten sie eine grandiose Negativwerbung. Da würden zur Eröffnung höchstens ein paar sensationslüsterne Reporter kommen.
»Wenn du mich fragst – wir sollten die arme Frau ausgraben und oben auf dem Friedhof anständig beerdigen – wenn es denn eine Frau ist. Vielleicht liegt da ja auch ein Kerl«, meinte Jenny. »Egal. Hauptsache, wir gehen diskret vor. Ohne Presse. Wenn du verstehst, was ich meine.«
Das klang vernünftig, nur leider gab es einen Haken bei der Sache.
»Paul Bauer und seine Söhne haben das Skelett gesehen«, wandte Franziska ein. »Und vermutlich sind sie längst dabei, die aufregende Neuigkeit zu verbreiten.«
»So ein Mist«, stöhnte Jenny. »Wieso hast du denen nicht gesagt, sie sollen die Klappe halten? Für ein kleines Bakschisch hätten die das bestimmt getan.«
Franziska schüttelte den Kopf. Die beiden jungen Burschen hatten nicht so ausgesehen, als könnten sie solch eine Sensation über längere Zeit für sich behalten. Die Sache würde die Runde machen, daran konnten sie nichts ändern. Ob offiziell in der Zeitung oder durch Mund-zu-Mund-Propaganda – das Skelett im Keller des Gutshauses wäre in der nächsten Zeit ganz sicher Gesprächsthema Nummer eins in der näheren und weiteren Umgebung.
»Wir haben gar keine andere Wahl, als uns an die Kripo zu wenden.«
Jenny warf einen letzten missmutigen Blick in die Grube, dann drehte sie sich um und stapfte Franziska voran zur Treppe, wobei sie leise vor sich hin schimpfte.
»Wir werden auch dieses Problem lösen, Jenny«, versicherte Franziska ihrer Enkelin, doch sie hörte selbst, dass ihr Tonfall nicht wirklich überzeugend klang. Es lag an den Erinnerungen, die sie nun immer heftiger überfielen. Der Anblick des Skeletts hatte eine Schleuse geöffnet. Geschehnisse, die sie für immer hatte vergessen wollen, drängten mit aller Macht ans Licht. Sie würde die kommenden Nächte nicht schlafen können, so viel stand fest.
In stillschweigendem Einverständnis verschlossen sie den Keller, dessen Tür seit geraumer Zeit klemmte, Franziska steckte den Schlüssel ein, dann sahen Großmutter und Enkelin einander an.
»Ich bringe die Sache am besten gleich hinter mich«, sagte Franziska. »Es wäre peinlich, wenn die Polizei es von anderen Leuten erfährt.«
Jenny tat einen tiefen Seufzer. »Tu, was du nicht lassen kannst, Oma.«
Während ihre Enkelin zu ihrer Gulaschsuppe zurückeilte, begab sich Franziska in den Eingangsbereich des Restaurants, wo sie einen Empfangstresen und dahinter ein kleines Büro eingebaut hatten, das jedoch noch nicht ganz eingerichtet war. Sie blätterte das Telefonbuch durch, dann nahm sie den Hörer von dem Telefon, das noch aus DDR-Zeiten stammte.
»Polizei Waren«, meldete sich eine männliche Stimme am anderen Ende der Leitung. »Was können wir für Sie tun?«
Franziska musste sich zweimal räuspern, bevor sie ihr ungewöhnliches Anliegen in Worte fassen konnte.
»Hier spricht Franziska Iversen, Gutshaus Dranitz. Wir sind heute bei Ausschachtungen im Keller des Haupthauses auf menschliche Überreste gestoßen …«
Schweigen. Vermutlich kamen solche Meldungen nicht alle Tage herein.
»Sie haben einen Toten gefunden?«
»Ja. Ein Skelett.«
»Gut. Fassen Sie nichts an. Wir kommen bei Ihnen vorbei, Frau Iversen.«
Als Franziska den Hörer auflegte, hatte sie das Gefühl, das Richtige getan zu haben. Was ihre Besorgnis nicht minderte. Man konnte das Richtige tun und sich trotzdem jede Menge Probleme einhandeln.
Drüben im Kavaliershäuschen saßen sie noch am Tisch. Walter hatte den Teller von sich geschoben – offenbar hatte man ihn bereits über die Ereignisse in Kenntnis gesetzt –, Jenny löffelte den Rest ihrer Gulaschsuppe, Julchen verteilte Weißbrotkrümel und fütterte heimlich den unter dem Tisch bettelnden Falko. Kacpar sah Franziska erwartungsvoll entgegen.
»Die Polizei kommt vorbei«, sagte sie und setzte sich auf ihren Platz. Essen konnte sie jetzt nichts, der Appetit war ihr gründlich vergangen.
Kacpar nickte. Dann stand er auf und sah freundlich in die Runde. »Danke für die Suppe. Ich geh dann mal rüber und kümmere mich weiter um die Planung des Wellnessbereichs und der Außenanlagen.«
Franziska blickte ihm nachdenklich hinterher. Sie wurde nicht immer schlau aus dem jungen Architekten Kacpar Woronski; vor allem die Flatterhaftigkeit, sein Liebesleben anbetreffend, gefiel ihr nicht, auch wenn sie ihn grundsätzlich für einen feinen, anständigen Menschen hielt. Zuerst hatten sie alle geglaubt, dass er in Jenny verliebt war. Warum sonst hätte er ihr aus Berlin hierher in die Pampa folgen sollen? Dann hatte er sich plötzlich Mücke zugewendet und war eine Weile mit ihr zusammen gewesen, bis die Beziehung schließlich zerbrach. Franziska glaubte sich zu erinnern, dass Kacpar sich damals heftig gegen Mückes Wunsch nach einer Hochzeit gesträubt hatte. Nun – das war sicher gut so gewesen, denn Mücke war inzwischen mit ihrem Kalle verheiratet und restlos glücklich. Danach hatte der junge Woronski eine Liebschaft mit Anne Junkers, der Sekretärin des Bürgermeisters, begonnen, doch schon nach wenigen Monaten war es wieder aus zwischen den beiden gewesen. Was Franziska schade fand, denn Annes kleiner Sohn Jörg hatte sich damals eng an Kacpar angeschlossen, und alle hatten geglaubt, aus den dreien könnte eine glückliche, kleine Familie werden. Jörg war inzwischen acht und ging in die dritte Klasse, aber hin und wieder tauchte er auf Dranitz auf und fragte nach Kacpar. Der kümmerte sich auch jetzt noch um den Jungen, das musste man ihm lassen, er mochte Kinder und konnte mit ihnen umgehen. Nur wurde Jörgs Mutter jedes Mal fuchsteufelswild, wenn der Kleine wieder zum Gutshaus lief. Anne Junkers hatte Kacpar den Abbruch der Beziehung übel genommen, sie wollte nichts mehr von ihm wissen. Ja, der junge Pole war – was sein Privatleben betraf – in der Tat ein eher unbeständiger Mensch. Angeblich hatte man ihn in letzter Zeit des Öfteren mit einer jungen Frau in Schwerin gesehen, doch Franziska hatte noch nie viel auf Gerede gegeben. Trotzdem wusste sie eines ganz genau: Sie wollte nicht, dass Kacpar Woronski Teilhaber am Gutshotel Dranitz wurde. Einen solchen Schritt würde sie auf alle Fälle verhindern, auch wenn Kacpar ein vorzüglicher Architekt und Bauleiter war. Nein, Dranitz sollte in Familienhand bleiben, und zwar für immer, und auch wenn Kacpar ihrer Familie so eng verbunden war – Blut war nun mal dicker als Wasser.
Walter stand auf und holte ihr einen Teller Suppe aus der Küche. »Ich hab dir vorsichtshalber was warm gestellt«, sagte er und lächelte sie liebevoll an.
Sie freute sich über seine Fürsorge und griff zögernd nach dem Löffel. Vielleicht war es doch besser, wenn sie etwas aß, auch wenn ihr Magen wie zugeschnürt war. Walter war und blieb der ruhende Pol in ihrem Leben, er hörte zu, gab Ratschläge, tröstete und war beständig um ihre Gesundheit besorgt. Das Wagnis einer späten Ehe, das sie vor drei Jahren eingegangen waren, hatte sich als großes Glück erwiesen. Oft hatte sie darüber nachgedacht, wie ihr Leben wohl ausgesehen hätte, hätten der Krieg und die deutsche Teilung sie nicht auseinandergerissen. Ein Haus in Berlin, ein Fotoatelier, Kinder, eine große, glückliche Familie … all das wäre möglich gewesen. Es war anders gekommen, ein Menschenleben verlief selten wie geplant, das Schicksal mischte die Karten immer wieder neu. Sie konnte dankbar sein, dass es ihnen diese letzten, schönen Jahre miteinander geschenkt hatte.
»Ich geh dann mal rüber und setze mich an meine Bücher«, verkündete Jenny und stand auf. »Julchens braune Schuhe stehen ja noch bei euch, oder? Die da sind klatschnass.«
Julchen warf ihrer Mama eine Kusshand zu, dann verlangte sie ihre Buntstifte und den Zeichenblock. Sie war momentan in einer heißen Malphase, wobei sie fast immer eine große gelbe Sonne, ein Haus und mehrere Strichmännchen aufs Papier brachte. Das größte Strichmännchen war sie selbst, danach kam der Strichhund Falko, die anderen waren je nach Wichtigkeit gestaffelt bis hin zur Ameisengröße.
»Möchtest du dich vielleicht ein wenig hinlegen, Franzi?«, fragte Walter, als sie langsam ihre Suppe aß. »Ich könnte eine Runde mit Julchen und Falko drehen, damit du deine Ruhe hast.«
Sie zögerte, weil sie wusste, dass er nicht mehr gut zu Fuß war. Zweimal war er unten am See gestürzt, zum Glück war ihm dabei nichts Schlimmes passiert.
»Geh nicht zu weit«, warnte sie ihn. »Und zieh ihr die Gummistiefel an.«
Der Rat war müßig, weil Julchen inzwischen selbst bestimmte, was sie anzog. Man konnte höchstens mit sanfter Überredung etwas erreichen, doch darin war Walter Meister.
»Wir reden heute Abend«, sagte er lächelnd zu ihr und streckte Julchen auffordernd die Hand entgegen. »Ich denke, es gibt Anlass dazu.«
Franziska nickte. Später, gegen sechs, würden sie Julchen hinüber zu Jenny schicken, dort schaute sie noch die Sesamstraße, bevor die Mama sie zu Bett brachte. Dann war für Franziska und Walter die Zeit gekommen, bei einem Teller mit belegten Broten und einem Glas Rotwein die Ereignisse des Tages zu besprechen.
Franziska trug die Teller in die Küche. Anschließend zog sie sich ins Schlafzimmer zurück, streifte die Schuhe von den Füßen und schlüpfte angezogen unter die Steppdecke. Obgleich es weder draußen noch im Haus kalt war, fröstelte sie. Eine Weile hörte sie zu, wie Walter mit Julchen über die Frage diskutierte, warum sie keine roten Gummistiefel wie ihre Freundin Annegret hatte, sondern bloß grüne, dann entfernten sich die Stimmen. Die Tür fiel ins Schloss, und Franziska war allein.
Es war keine gute Idee gewesen, sich zu einem Mittagsschlaf hinzulegen, das merkte sie sofort, als sie für einen Moment die Augen schloss. Die Bilder waren da, stürzten auf sie ein, legten sich auf ihr Gemüt und peinigten sie. Nichts hatte sie vergessen. Vor allem nicht die dumpfe Trauer, die sie empfand, als sie damals mit ihrer Mutter auf den hochbepackten Planwagen stieg, um gemeinsam mit einem Lehrerehepaar aus Ostpreußen vor den Russen zu fliehen. Nachdem sie die Nachricht von Walters Hinrichtung erhalten hatte – die sich sehr viel später glücklicherweise als falsch erwiesen hatte –, war sie der Ansicht gewesen, nichts auf dieser Welt könne sie mehr erschüttern. Doch dann, als das vertraute Gutshaus ihren Blicken entschwand, die Felder, auf denen das Korn stand, die Pferdekoppel, der Wald mit dem Familienfriedhof – da begriff sie plötzlich, wie schutzlos sie geworden waren. Sie hatten kein Heim mehr, keine Heimat – alles, was sie besaßen, war auf diesen beiden Wagen gestapelt, und hinter ihnen dröhnten und knatterten die todbringenden russischen Geschütze. Zu dieser Zeit ahnten sie noch nicht, dass ihnen von der hastig zusammengestellten Habe so gut wie nichts bleiben würde, auch nicht die junge Fuchsstute und der brave braune Wallach. Schon am ersten Tag ihrer Flucht fiel eine Gruppe Männer über sie her, es waren tschechische und polnische Fremdarbeiter, die ihre Freiheit zurückerhalten hatten und der Heimat entgegenliefen. Sie hatten Schlimmes durchgemacht und nahmen sich, was sie kriegen konnten – Lebensmittel, Kleidung, Schuhe, auch Decken und Kissen. Hilflos mussten sie und das Lehrerehepaar aus Ostpreußen zusehen, wie sie ihre Sachen durchwühlten, vieles auf den Boden warfen und unbrauchbar machten, anderes davonschleppten. Es war eine ganz neue Erfahrung für die junge Franziska, die bisher als Tochter des Gutsherrn ein privilegiertes Leben geführt hatte. Jetzt waren sie nur noch heimatlose Fremde, Freiwild für die Sieger, verdreckte, verlauste Flüchtlinge, die selbst die einfachen Bauern, die sie früher ehrerbietig gegrüßt hatten, von ihrer Schwelle jagten. Und es sollte noch schlimmer kommen.
Franziska stöhnte und stand aus dem Bett auf, um in der Küche einen Schluck Wasser zu trinken. Doch die peinigenden Bilder folgten ihr, und während sie trank, blickte sie wie durch ein schlieriges Fenster zurück in die Vergangenheit. All die Jahrzehnte über hatte sie geschwiegen, bemüht, das, was sie erlebt hatte, zu verdrängen. Nicht einmal mit ihrer Mutter hatte sie je darüber gesprochen. Auch nicht mit Ernst-Wilhelm, ihrem ersten Ehemann, der doch ebenfalls ein Flüchtling gewesen war. Damals hatten sie alles Schreckliche so schnell wie möglich vergessen wollen. Wenn sie über die Vergangenheit sprachen, Ernst-Wilhelm und sie, dann erzählten sie sich die heiteren Erlebnisse, die es in all dem Elend hie und da gegeben hatte.
Die vielen Toten, die am Wegrand gelegen hatten, erwähnten sie nie. Sie waren beinahe zur Normalität geworden; man ging an den Unglücklichen vorüber, war mit dem eigenen Überleben beschäftigt. Nur wenige Tage nachdem sie aufgebrochen waren, hatte die russische Front sie schon eingeholt. Die Soldaten drangen in die Bauernhäuser und Gutshöfe ein, wüteten in den Dörfern und Städten. Mit Müh und Not waren sie in einem kleinen Ort bei einer Bäuerin untergekommen, fanden einen Stall für die Pferde, ein wenig Milch und Mehl für ihre hungrigen Mägen. In jener Nacht machte sich das ach so liebenswerte Lehrerehepaar in aller Heimlichkeit davon, packte den Wagen voll mit ihren letzten Vorräten, spannte die junge Fuchsstute ein und ließ sie allein zurück. Franziska und ihre Mutter waren vor Erschöpfung tief eingeschlafen und bemerkten den Betrug erst, als gegen Morgen eine Gruppe russischer Soldaten die Tür einschlug. Vor Zorn, dass sie weder Schmuck noch Uhren erbeuten konnten, schleppten sie den armen Inspektor Heinemann, der sie kutschiert hatte, in den Park und schlugen ihn halb tot. Dann führten sie die junge Bäuerin und Franziska in die Scheune. Was dort mit ihnen geschah, war in Franziskas Erinnerung ein schwarzes Loch, eine Lücke in ihrem Bewusstsein, etwas, das so unvorstellbar brutal und demütigend gewesen war, dass es der Erinnerung entglitt. Nur an den Schmerz erinnerte sie sich, der nicht aufhören wollte, sich zu Fieberanfällen steigerte und sie noch wochenlang danach quälte. Wäre ihre Mutter nicht bei ihr gewesen – sie hätte wohl nicht überlebt. Margarethe von Dranitz war über fünfzig, sie hatte vier Kinder in die Welt gesetzt, zwei Söhne waren im Krieg gefallen, sie wusste nicht, ob sie ihren Ehemann und die jüngere Tochter je wiedersehen würde. Umso heftiger kämpfte sie um Franziskas Leben, umsorgte die Tochter liebevoll und setzte alles daran, in Schwerin einen Arzt zu finden, was ihr schließlich auch gelang. Die Mutter war eine beharrliche, mutige Kämpferin, nie gab sie die Hoffnung auf, sogar als sie selbst und später ihre jüngere Tochter Elfriede schwer an Typhus erkrankten, war sie davon überzeugt, dass eines Tages alles wieder gut werden würde.
In Neustadt-Glewe endete der von den Russen besetzte Bereich, westlich davon hatten sich die Briten festgesetzt, und zahllose Flüchtlinge versuchten verzweifelt, aus der russischen Besatzungszone heraus zu den Engländern zu gelangen. Aber die Briten waren nicht bereit, die Flüchtlingstrecks aufzunehmen, sie riegelten sich ab. Die Russen hingegen reagierten zornig auf die Fluchtversuche und sperrten die Fliehenden in Lager ein. Mit Müh und Not gelang es Franziska und ihrer Mutter, diesem Schicksal zu entgehen, doch ihre Flucht nach Westen endete hier, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als nach Dranitz zurückzukehren, halb verhungert, ausgeraubt, in zerrissenen Kleidern. Als sie dort ankamen, waren sie unendlich froh, wenigstens Elfriede, Franziskas um sieben Jahre jüngere Schwester, lebendig vorzufinden. Elfriede, die mit ihrem abgeschnittenen Haar wie ein Knabe daherkam und ihnen mit brüchiger Stimme stockend vom Schicksal des Vaters und Großvaters berichtete …
Franziska kauerte sich unter der Decke zusammen und überließ sich den an ihrem inneren Auge vorüberziehenden Schrecknissen. Der Vater ins Gefängnis abgeführt, der Großvater erschossen. Das Gutshaus voller Flüchtlinge, die alle Zimmer in Besitz genommen hatten, sich dort ausbreiteten und ihnen, den eigentlichen Besitzern, nur eine winzige, verdreckte Dachkammer überließen. Oft gab es Streit unter diesen Menschen, die entwurzelt und verzweifelt waren, man beschuldigte sich gegenseitig des Diebstahls, Prügel wurden ausgeteilt. Immer wieder drangen russische Soldaten ins Haus ein, führten auf Befehl ihres Kommandanten Kontrollen durch, nahmen sich, was ihnen gefiel, führten junge Frauen in den Park, wo sie ein Lager errichtet hatten, am Feuer tranken und Lieder grölten. Kaum eine Frau – von der Greisin bis zum Kind – entging diesem Schicksal. Hatten nicht deutsche Soldaten das Gleiche mit russischen Frauen getan? Jetzt war die Zeit der Vergeltung gekommen.
Franziska richtete sich auf und zwang sich, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. War es möglich, dass einer dieser Flüchtlinge nicht mehr hatte mit ansehen können, wie seine Frau, seine Tochter immer wieder vergewaltigt wurden? Dass er zugeschlagen und das Opfer heimlich im Keller des Gutshauses vergraben hatte?
Sie war erleichtert, als sie hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Sie brauchte Ablenkung, Julchens fröhliches, dickköpfiges Wesen, Walters verständnisvolle Blicke, seine Hand auf ihrer Schulter – all das würde ihr helfen, die Geister der Vergangenheit zurück in ihre Gruft zu schicken.
»Ach, hier steckst du«, sagte er und schaute durch den Türspalt ins Schlafzimmer. »Die Kleine ist drüben bei Jenny – Ulli ist gekommen und hat sie mitgenommen. Leistest du mir in der Küche Gesellschaft?«
Als Franziska in die Küche trat, hatte er schon Kaffee gekocht und den Butterkuchen geschnitten, den sie gestern gebacken hatte.
»Weißt du, was ich mir überlegt habe?«, fragte er und reichte ihr den Kuchenteller, damit sie ihn hinüber ins Wohnzimmer trug.
»Was denn?«
»Es könnte doch so etwas wie ein mittelalterlicher Friedhof unter dem Gutshaus liegen. Hast du nicht mal erwähnt, dass hier früher ein Kloster stand?«
Drei vermilbte Hasen, ein Dackel mit Durchfall, einen Wurf junger Schäferhunde bei Konradis untersucht und geimpft, einen alten Kater mit Diätnahrung versorgt. Kein schlechtes Ergebnis für einen Mittwochvormittag, aber auch nicht der große Verdienst. Außerdem hatte sie einen Korb mit drei jungen Katzen geschenkt bekommen, den hatte Tine Koptschik, die Tierarzthelferin, Sprechstundenhilfe und Mädchen für alles, mitgebracht. Die Kätzchen stammten von Tines Cousine, die den unerwünschten Nachwuchs eigentlich hatte gegen die Wand werfen wollen. Nun – Sonja würde sie schon unterbringen. Vorläufig hatte sie die grau getigerten Winzlinge in ihrem Schlafzimmer einquartiert. Sie ließen sich bereitwillig aus einer kleinen Plastikflasche mit Gummisauger füttern und nahmen auch schon Fleischbröckchen. Den Fußboden hatte Sonja mit Zeitung ausgelegt, weil die Katzenbabys zwar hie und da schon das Kästchen mit Sand benutzten, aber ebenso oft auch ein Unfall passierte.
Am Nachmittag blieb die Praxis geschlossen, da hatte sie Zeit, hinüber zum Tiergarten zu fahren, um nach dem Rechten zu sehen. Bald war wieder Vorstandssitzung. Diesmal würde es vor allem um die Finanzen gehen, aber auch um die Frage, ob nun endlich die Häuser und Gehege für heimische Kleintiere gebaut werden konnten. Der Verein zählte inzwischen fast fünfhundert Mitglieder, von denen die meisten passive Unterstützer waren, einige jedoch nervten fürchterlich mit schwachsinnigen Ideen wie der Haltung von Elefanten, Löwen, Nilpferden und Affen. Zum Glück bestand der Vereinsvorstand aus vernünftigen Menschen, die über solchen Blödsinn nur lachen konnten. Franziska hatte seit diesem Jahr den Posten als Schriftführerin inne, Gerda Pechstein machte weiterhin die Kasse, und Sonja war stellvertretende Vorsitzende. Das Amt des »Präsidenten« füllte nach wie vor Kalle Pechstein aus; er war zum zweiten Mal wiedergewählt worden und nach wie vor mit Begeisterung bei der Sache. Auf Kalle konnte Sonja zählen – zumindest solange seine Mücke ihn nicht für sich beanspruchte.
Natürlich hatte es wieder angefangen zu regnen. Sonja schützte die frisch gedruckten Poster, die sie von ihren Aquarellen hatte anfertigen lassen, mit zwei Plastiktüten, während sie zu ihrem am Straßenrand parkenden Wagen ging. Sonja war eine leidenschaftliche, sehr talentierte Malerin, und ihre vervielfältigten Bilder fanden in dem kleinen Laden des Tierparks Müritz reißenden Absatz. Etwas umständlich öffnete sie die Tür des hellblauen Renaults und verstaute die Poster auf der Rückbank. Das alte Auto muckte hin und wieder, sprang nicht gern an und verbrauchte viel zu viel Kraftstoff, aber ein neues war momentan einfach nicht drin. Sie konnte nur hoffen, dass der Renault noch ein Weilchen hielt. Achtzigtausend Kilometer waren doch nicht viel für einen guten Motor.
Auf ihrem Weg zum Tiergarten Müritz fuhr sie an einer Reihe neu errichteter Häuser vorbei, schicke grau-weiße Kästen, topmodern, so wie man es jetzt hierzulande liebte und schätzte. Innen mit Luxusausstattung, offener Kamin, Sauna im Keller, Einbauküche vom Feinsten. Das war was anderes als die Wohnungen in den alten Häusern, die noch vor dem Krieg gebaut worden waren. Ofenheizung, Kohleherd und vier Stockwerke ohne Aufzug, dafür aber nur ein paar Mark Miete. Inzwischen waren viele dieser alten Häuser von Privatleuten gekauft und renoviert worden – entsprechend waren die Mietkosten gestiegen. Trotzdem war Sonja skeptisch. Wer in Waren konnte es sich eigentlich leisten, in diesen grau-weißen Luxushäusern zu wohnen? Dafür musste man doch sicher ein Vermögen an Miete hinlegen. Aber vielleicht zogen da ja ein paar Wirtschaftsbosse mit ihren Familien ein und kauften Jahresabonnements für den Tiergarten Müritz? Träumen war schließlich nicht verboten …
Die Zufahrt zum Tiergarten war immer noch nicht befestigt, der Wagen schlingerte auf dem regennassen Untergrund, holperte über Baumwurzeln, ließ das Dreckwasser in den Pfützen aufspritzen. Das konnte man wirklich keinem Besucher zumuten, Kalle musste wenigstens mal Schotter in die Löcher schütten. Bernd Kuhlmann hatte ihnen ein Stück seines gepachteten Lands für den Fußweg vom Parkplatz zum Eingang des Tiergartens zur Verfügung gestellt. Er verlangte nichts dafür, alles basierte auf nachbarschaftlichem Entgegenkommen, und Sonja revanchierte sich damit, dass sie seine Tiere unentgeltlich behandelte. Bernd hatte zu den fünf Kühen, die Kalle bei ihm untergestellt hatte, noch weitere vier angeschafft, dazu hielt er Hühner und Gänse. Auch verlebten Artur und Susannchen, Kalles geliebte Schweine, bei ihm einen geruhsamen Lebensabend, nur ihrem Nachwuchs ging es zuweilen an die Gurgel. Bernd fuhr regelmäßig auf den Markt in Waren und bot neben Gemüse, Brot und Käse auch selbst geschlachtete Fleischprodukte an.
Der Parkplatz war einigermaßen in Ordnung, sie hatten ihn mit Steinen und Schotter befestigt und außerdem mehrere Informationswände und Wegweiser aufgestellt. Kalle hatte alles mit eigener Hand zurechtgesägt und zusammengebaut, auf die Informationswände, die er mit einem schmalen Schindeldach versehen hatte, war er besonders stolz. Leider hatten irgendwelche Vandalen im vergangenen Sommer eine dieser Wände abgefackelt und die Papierkörbe zusammengetreten. Es war ärgerlich, weil es über Nacht passierte war und man die Täter nicht zu fassen bekam. Drei Nächte hatte Kalle gemeinsam mit seinem Freund Wolf Kotischke auf der Lauer gelegen, aber die Burschen hatten sich nicht mehr blicken lassen. Was für alle Beteiligten sicher die bessere Lösung gewesen war, denn Kalle hatte eine unbändige Wut im Bauch gehabt.
Die ehemalige Ölmühle hatte nach den Plänen von Simon Strassner einen Anbau und zwei kleine Nebengebäude im passenden Baustil erhalten und erfüllte gleich mehrere Zwecke. Es gab einen Kassenraum, wo die Besucher ihre Eintrittskarten lösten, und gleich daneben befand sich der Laden, in dem allerlei Bücher, Andenken, Kuscheltiere, Kinderspielzeug und selbst gefertigte Dinge aus Holz wie Futterhäuschen oder Schnitzereien angeboten wurden. Die bastelten Krischan Mielke und Helmut Stock. Vor Weihnachten hatten sie richtig gut verkauft, da hatten die beiden kleine Schlitten gebaut, und Gerda Pechstein, Kalles Mutter, hatte auf jeden Schlitten ein Töpfchen mit einem selbst gezogenen Weihnachtsstern gestellt. Momentan tat sich leider nicht allzu viel, die ersten warmen Frühlingstage ließen auf sich warten, der Wald war noch kahl und der Rundweg voller Pfützen. Auch der Imbissstand, an dem man im Dezember Glühwein und Thüringer Würste verkauft hatte, war seit Januar geschlossen und wartete auf kommende Besucher. Dieses Jahr sollte der gepflasterte Platz vor dem Stand überdacht werden, damit die Kunden bei Regen nicht mit ihren fettigen Würstchen und Pommes im Laden Zuflucht suchen mussten und die Bücher bekleckerten.
Sonja war wenig zufrieden mit der Entwicklung des Tiergartens. Die Besucher interessierten sich weit mehr für einen stärkenden Imbiss und ein preiswertes Bierchen als für die aufgestellten Infoständer über die heimische Tierwelt. Den Vorschlag einiger Vereinsmitglieder, Kindergeburtstage und Familienfeiern auszurichten, um etwas Geld in die Kasse zu bringen, hatte sie mit Empörung abgeschmettert. Sie waren kein Spaß- und Vergnügungspark, sondern eine Einrichtung, die über die heimische Tierwelt informieren und sie dadurch erhalten wollte.
Vor dem Kassenfenster war Gerda Pechstein eifrig mit Besen und Wassereimer zugange, um die weißgrauen Kleckse vom Pflaster zu schrubben. Eine Anzahl von Lachmöwen fand immer wieder den Weg von der Müritz hinüber zum Tiergarten, weil ein paar Dummköpfe sie im letzten Sommer mit Brötchenresten gefüttert hatten. Sonja war nicht böse über die fliegenden Gäste, sie hoffte sogar, die Möwen würden sich hier zum Brüten niederlassen, was eine große Bereicherung für den Tiergarten wäre. Allerdings würde man das Brutgebiet dann im Frühjahr für die Besucher absperren müssen, denn Möwen waren Bodenbrüter …
»Na, wie schaut’s aus?«, rief sie laut.
Gerda, die mit dem Rücken zu Sonja gestanden und sie nicht kommen sehen hatte, fuhr zusammen. »Hach – jetzt hast du mich aber erschreckt, Sonja! Na, siehste doch. Mau schaut’s aus. Eine Familie aus Stralsund war da, die hat sich beschwert, dass man keine Elefanten und Tiger zu sehen kriegt. Dann wollten sie alle Würstchen mit Pommes haben, aber als die Tillie extra Bockwürstchen warm gemacht hat, haben sie es sich anders überlegt. Weil die Kinder Würstchen ohne Ketchup nicht essen!«