Das Hagebutten-Mädchen - Sandra Lüpkes - E-Book

Das Hagebutten-Mädchen E-Book

Sandra Lüpkes

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Beschreibung

Ein Toter auf Juist – Wencke Tydmers ermittelt. Shantychöre und Döntjeserzähler der sieben ostfriesischen Inseln treffen sich auf Juist. Doch der feuchtfröhliche Abend endet tödlich: Wer hat den Antiquitätenhändler Kai Minnert in seinem Laden ermordet? Die impulsive und oftmals chaotische Kriminalkommissarin Wencke Tydmers versucht das Rätsel um ein altes Instrument und eine fast vergessene Sturmflutsage zu lösen. Die fieberhafte Suche nach dem Schuldigen beginnt: Noch hat keiner die Insel seit dem Mord verlassen. Zwischen Dünen und Deich lauert ein Geheimnis «Temporeich startet der Inselkrimi ‹Das Hagebutten-Mädchen› von Sandra Lüpkes, und er hält die Spannung bis zur letzten Seite.» (Kölner Stadtanzeiger)

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Seitenzahl: 335

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Sandra Lüpkes

Das Hagebutten-Mädchen

Ostfrieslandkrimi

 

 

 

Über dieses Buch

Die Insulaner von Borkum bis Wangerooge treffen sich im März auf Juist, um gemeinsam nach alter Tradition zu tanzen, zu singen und natürlich zu feiern. Doch am Morgen nach dem feuchtfröhlichen Eröffnungsabend liegt der Vorsitzende des Juister Heimatvereins, der schwule Kai Minnert, tot im Schaufenster seines Antiquitätengeschäftes. Kommissar Axel Sanders, zurzeit als Vertretungs-Inselsheriff auf Juist, ist selbst noch nicht ganz nüchtern und ruft seine ehemalige Vorgesetzte und Konkurrentin Wencke Tydmers als Verstärkung aus Aurich. Ihnen wird bald klar, dass es nicht einfach ist, in einem Haufen eigenwilliger Insulaner das richtige Motiv, die richtigen Tatverdächtigen zu finden. Kurzerhand kappt Wencke die Schiffsverbindungen zum Festland und löst damit ein empörtes Durcheinander aus.

 

«Tröpfchenweise träufelt Sandra Lüpkes das Blut und die möglichen Motive auf das psychologische Insel-Dekor.» (Magazin «bücher»)

 

«Der Roman ist sehr genau und mit Raffinesse konstruiert, mit ständigem Szenenwechsel und damit sich veränderndem Licht- und Ideeneinfall. Sandra Lüpkes´ lakonische, knappe Sprache, die trockenen Dialoge, die selbstkritischen, selbstironischen Überlegungen der beiden Kommissare, das teilweise rivalisierende, teilweise erotische Knistern zwischen ihnen – das alles macht dieses Buch zu einer spannenden und vergnüglichen Lektüre.» (Hessischer Rundfunk/R. Altenhofer)

 

«Amüsantes Wer-war-es?-Spiel à la Agatha Christie.» (FÜR SIE)

 

«Temporeich startet der Inselkrimi ‹Das Hagebutten-Mädchen› von Sandra Lüpkes, und er hält die Spannung bis zur letzten Seite.» (Kölner Stadtanzeiger)

 

«Gehört unbedingt in die Strandtasche.» (LENZ)

Vita

Sandra Lüpkes, geboren 1971, aufgewachsen auf der Nordseeinsel Juist, lebt in Münster, wo sie als Autorin und Sängerin arbeitet. Im Rowohlt Verlag sind bislang acht Kriminalromane erschienen, sechs davon um ihre tatkräftige Kommissarin Wencke Tydmers. Mit «Die Inselvogtin» legte Sandra Lüpkes ihren ersten historischen Roman vor.

Mehr zur Autorin und zu ihrer Arbeit unter: www.sandraluepkes.de

 

Weitere Veröffentlichungen:

Fischer, wie tief ist das Wasser

Halbmast

(In der Serie um die Kommissarin Wencke Tydmers:)

Die Sanddornkönigin

Der Brombeerpirat

Die Wacholderteufel

Das Sonnentau-Kind

Die Blütenfrau

sowie ihr historischer Roman

Die Inselvogtin

und die Novelle

Inselweihnachten. Eine Geschichte von der Liebe

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2012

Copyright © 2004 by Rowohlt Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg

 

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock, unsplash

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-47311-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Wie mit grimmgen Unverstand Wellen sich bewegen!

Nirgends Rettung, nirgends Land vor des Sturmwinds Schlägen!

Einer ist’s, der in der Nacht, einer ist’s, der uns bewacht:

Christ, Kyrie, du wandelst auf der See.

Wie vor unserm Angesicht Mond und Sterne schwinden!

Wenn des Schiffleins Ruder bricht, wo dann Rettung finden?

Wo denn sonst als bei dem Herrn, sehet ihr den Abendstern!

Christ, Kyrie, erschein uns auf der See!

Nach dem Sturme fahren wir sicher durch die Wellen,

Lassen, großer Schöpfer, dir unser Lob erschallen,

Loben dich mit Herz und Mund, loben dich zu jeder Stund:

Christ, Kyrie, ja dir gehorcht die See.

Einst in meiner letzten Not, lass mich nicht versinken.

Sollt ich von dem bittern Tod Well auf Welle trinken,

reiche mir dann liebentbrannt, Herr, Herr, deine Glaubenshand!

Christ, Kyrie, komm zu uns auf die See!

Traditionsreiches Insulanerlied, Evangelisches Gesangbuch Niedersachsen Nr. 592

Text: nach Johann Daniel Falk 1816

Samstag, 20. März, 7.03 Uhr

Erol Radzömir war in seiner Heimat stolzer Besitzer eines Eisenwarengeschäftes gewesen. Und bis eines Tages die kurdischen Rebellen aus den Bergen kamen, um sich, mit schweren Gewehren im Anschlag, in seinem Laden mit Werkzeugen auszurüsten, bis zu diesem Tag also, an dem er für die türkische Regierung zu einem Feind wurde, war er auch ein Mann gewesen, der geachtet war und der sich und seiner großen Familie etwas bieten konnte.

Nun war er dafür zuständig, dass auf den Straßen einer kleinen Insel in der kalten Nordsee keine Pferdeäpfel auf der Straße lagen. Die Einheimischen mochten ihn, manche grüßten sogar freundlich, wenn sie ihn mit dem Fahrrad überholten, während er mit Besen und Schaufel den faserigen Kot von den steinigen Straßen kratzte. Er wusste, es gab niemanden auf Juist, der diesen Job übernehmen wollte. Vielleicht riefen sie deswegen so dankbar ihr knappes «Moin» im Vorbeifahren. Er war der Köttelfeger. Doch seine Familie war sicher, nur das zählte. Die Älteste hatte gerade auf dem Festland die ersten Abiklausuren geschrieben und der Jüngste lernte am Nachmittag im Inselhuus Plattdeutsch. Die Kinder waren hier zu Hause. Sie tranken morgens lieber Tee als den starken, süßen Kaffee, den seine Frau so wunderbar zubereitete und der nach Heimat schmeckte. Es war nicht schlecht hier. Viele Schicksalsgenossen hatten es weit schlechter erwischt: Sie lebten in Containern in wirklich endlos scheinenden Großstädten, atmeten Tag für Tag die schmutzige Luft ein und mussten sich sogar manchmal gegen Fremdenhass zur Wehr setzen. Schlimm musste das sein, dachte Radzömir.

Er war morgens immer einer der Ersten auf den schmalen, hellbraun gepflasterten Straßen der Insel. Hinter den Fenstern der rot geklinkerten Pensionen und Hotels und Geschäftshäuser war es noch dunkel an diesem Samstagmorgen im März. In zehn Tagen ging die Saison wieder los, dann sah es um sieben Uhr früh schon ganz anders aus, dann fuhr der Bäcker mit dem schweren, schwarzen Fahrrad die warmen Brötchen zur Filiale am Kurplatz und die ersten Pferdekutschen brachten Gepäck von abreisenden Gästen zum Hafen. Doch heute war es wie ausgestorben. Sie schliefen ihren Rausch aus, die Insulaner.

Gestern Abend hatte im Haus des Kurgastes auf der Düne ein lautes, feuchtfröhliches Folkloretreffen stattgefunden. Die anderen Inseln waren zu Gast. Borkum, Norderney, Baltrum, Langeoog, Spiekeroog, Wangerooge. Alle Mann auf Juist. Sie trugen dicke Trachten und Holzschuhe an den Füßen. Radzömir mochte Folklore. Ob Ostfriesland oder Kurdistan, die gemeinsamen Lieder und die uralten Tänze waren sich überall ähnlich. Sie erzählten immer Geschichten von Liebe und Heimweh. Nur, dass man in seiner Heimat nicht so viel Alkohol dabei trank.

Gestern Abend musste es wirklich hoch hergegangen sein. Er fand leere Bierdosen im Rinnstein und zwei Häuserecken waren mit den angetrockneten Resten von Erbrochenem beschmutzt. Wie nach einer Schlacht, dachte Radzömir. Bis nächste Woche musste alles sauber sein. Schon am Montag würden sie alle vor ihren Häusern stehen und die Fenster putzen und die Grassoden zwischen den Pflastersteinen herauskratzen. Denn bald fingen die Osterferien an und dann kamen die Gäste auf die kleine, idyllische Insel, auf ein sauberes Stückchen Erde ohne schmutzige Luft und Fremdenhass, dann …

Er ließ den schweren Griff des Handkarrens fallen und starrte in das Schaufenster. Da die Beleuchtung noch nicht angeschaltet war, konnte er sich nicht sicher sein, ob das, was er zwischen den alten, dunklen Bildern, den messingfarbenen Kompassrosen und dem anderen wild durcheinander geworfenen Kram zu erkennen glaubte, ob das wirklich ein Mensch war. Er zögerte. Wenn es ein Mensch war, dann wollte er keinen Schritt weiter gehen. Er hatte in seiner Heimat schon zu viele Tote gesehen. Eigentlich hatte er gehofft, dass er nie wieder einen sehen müsste.

Und doch näherte sich Radzömir dem kleinen Trödelladen. Vielleicht schlief diese Gestalt auch nur. Vielleicht.

Er wandte sich ab. Das kleine Polizeirevier war nicht weit von hier entfernt. Er ließ den Holzwagen mit dem Pferdemist mitten auf der Straße stehen und rannte los. Radzömir kannte den Mann im Schaufenster. Es war ein guter Mann.

Samstag, 20. März, 7.05 Uhr

Bumm bumm bumm.

Axel Sanders’ Kopf machte Musik. Hämmernde, kreischende Rummtata-Musik. Früher hatte er nicht so viel Alkohol getrunken. Als er noch in Aurich lebte, vor etwas mehr als einem halben Jahr also, da hatte er sich ganz selten einmal einen edlen Tropfen gegönnt. Trockene deutsche Weißweine waren seine Favoriten gewesen. Aber diese Zeit schien zu einem anderen Leben zu gehören. Die letzten sechs Monate waren ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen.

Gestern Abend hatte er süffiges deutsches Bier getrunken. Und zwar viel zu viel. Seit er auf der Insel lebte, hatte er Bekanntschaft mit dem Vollrausch, dem Brummschädel und dem heftigen Nachdurst gemacht. Vorher waren ihm diese drei Halunken fremd gewesen.

Er wusste nicht, warum er auf Juist so viel soff. Er hatte auch keine Angst, dass er zum Alkoholiker werden würde, weil es ihm jetzt viel zu dreckig ging und ihm der Schwur, nie wieder ein Glas Bier anzurühren, viel zu ernst war. Gott sei Dank waren die neun Monate Vertretung auf der Polizeidienststelle Juist bald vorbei. Noch zehn Wochen und drei Tage, dann würde er nach Nordhorn gehen, zur GER, einer Sondertruppe von Polizei und Zoll, die sich mit Drogendelikten an der niederländischen Grenze beschäftigte. Er war als Ermittlungsleiter vorgesehen, das heißt, genau genommen gab es ihn und einen weiteren, ihm unbekannten Anwärter auf diesen ziemlich begehrten Job. Aber er selbst rechnete sich gute Chancen aus. Er hatte sich wirklich noch nie etwas zu Schulden kommen lassen und stets sauber und effizient gearbeitet. Als Beweis seines Engagements hatte er sogar diesen verdammten Job hier auf Juist angenommen. Man munkelte intern, dass ihm der Job im Emsland so gut wie sicher war. Noch zehn Wochen und drei Tage!

Zum Glück lag der Inselwinter fast hinter ihm. Denn im Winter, so hatten ihm Kollegen erzählt, ging es auf Juist ganz besonders hoch her. Wenn die Gäste kamen, dann blieb nicht mehr so viel Zeit zum Feiern. Gott sei Dank.

Prost! Er stürzte das Glas eiskaltes Leitungswasser gierig in seinen trockenen Hals und füllte es gleich wieder nach. Als er sich dabei im Spiegel über dem Waschbecken erblickte, versuchte er krampfhaft, die versoffenen Knitterfalten auf den unrasierten Wangen und das glasige Dunkelrosa seiner Augäpfel zu ignorieren.

Meine Güte, diese Insel hatte ihn ruiniert. Er sah fürchterlich aus. Wäre er sich in diesem Zustand vor einem halben Jahr selbst begegnet, dann hätte er einen weiten Bogen um sich gemacht. Er schleuderte sich Unmengen von kaltem Wasser ins Gesicht, trocknete sich fest mit dem angenehm rauen Handtuch ab, sodass sich seine Haut kühl und glatt anfühlte. Doch man konnte ihm dieses gute Gefühl leider nicht ansehen. Als er wieder in den Spiegel schaute, sah er noch immer jämmerlich aus.

Gnadenlos zupfte er sich mit der bereitliegenden Pinzette ein paar aus der Reihe tanzende Härchen aus den Augenbrauen.

War es das wert gewesen? War der gestrige Abend es wert gewesen, dass er sich heute Morgen fühlte wie ein Spüllappen in der Gemeinschaftsküche einer Studenten-WG?

Er stieg unter die Dusche. Kein Pardon, der Wasserhahn wurde gnadenlos ganz in die blaue Ecke geschoben und die eisigen Wassertropfen, biestig wie Nadeln, quälten seinen noch bettwarmen Körper.

Durchhalten, eine halbe Minute durchhalten, dachte er und schnappte nach Luft. Dann gewöhnst du dich dran. Das bist du deinem Körper schuldig, Axel Sanders.

Es war mehr als eine halbe Minute, mit Sicherheit, aber irgendwann war das kalte Wasser nicht mehr unangenehm, nur noch frisch und sättigend. Er ließ das teure Duschgel in seine Handfläche tropfen und verteilte den duftenden Schaum auf der Brust und unter den Armen. Und dann gelang ihm das erste Lächeln des Tages. Er dachte an gestern Abend.

Ja. Das war es wert gewesen. Abgesehen von der volkstümlichen Musik, die ja eigentlich gar nicht sein Ding war, und abgesehen vom fettigen Grünkohl, den er nicht unbedingt mochte, abgesehen davon hatte er sich noch nie in seinem Leben so amüsiert wie gestern Abend. So viele ungezwungene Jungs mit verrückten Ideen und, was noch viel erfreulicher gewesen war, so viele ungezwungene Mädchen, die zu allem bereit waren. Ja, er hatte seinen Spaß gehabt. Nicht, dass Axel Sanders die Situation irgendwie ausgenutzt hätte, er war kein Mann, der sich eine betrunkene Schönheit ins Bett holte. Doch allein die vielen seidigen, schlanken Arme, die sich ihm um die Schulter gelegt hatten, und die aufgeknöpften Trachtenblusen hatten ihm einen wunderbaren Abend beschert.

Als sich nun der Schaum des Gels langsam an seinen behaarten Beinen hinabbewegte, freute er sich auf eine Tasse Kaffee.

Seike Hikken war schon eine bemerkenswert schöne Frau. Sie war die größte in der Volkstanzgruppe. Wo ihre Beine endeten, begannen bei den meisten anderen Frauen schon die Brüste. Ihre Haare waren blond wie Strandhafer, ihre Augen hellgrün wie die See. Sie entsprach auf angenehmste Art und Weise in jeder Hinsicht dem Klischee einer Friesin. Und sie hatte es auf ihn abgesehen. Er war erst wenige Stunden auf der Insel gewesen, da hatte sie bei ihm geklingelt, ihren zwei- oder dreijährigen Sohn im Tragetuch, und hatte ihn auf eine Tasse Tee eingeladen. Einfach so. Sie wohnte ein paar Straßen weiter direkt an den Dünen, in einer unauffälligen Doppelhaushälfte in der Dellertstraße. Von ihren fünf Zimmern vermietete sie in der Saison drei. Sie hatten damals bis nach Mitternacht in ihrer gemütlichen Küche gehockt, der kleine Peer oder Piet, Axel Sanders konnte sich den Namen des Kleinen nie so recht merken, schlief schon längst oben im Zimmer, und als er dann gehen wollte, hatte sie ihm das Versprechen abgerungen, mal bei der Volkstanzgruppe vorbeizuschauen. Weil man noch Männer brauche und er doch so stattlich sei und einen musikalischen Eindruck mache. Und so war er dann in diese Kreise geraten. Dank Seike Hikken.

Es war ein gutes Gefühl, als er sich das Shampoo mit den Fingerkuppen bis tief in die Kopfhaut einmassierte. Vielleicht würde doch noch etwas aus diesem Tag werden. Trotz aller Anzeichen einer nur haarscharf vermiedenen Alkoholvergiftung. Er hatte überlebt. Es war noch keine halb acht und er war wieder lebensfähig. Vielleicht würde er sich gleich einen kleinen Spaziergang zur Dellertstraße und ein ausgiebiges Frühstück bei Seike Hikken mit dotterweichem Fünf-Minuten-Ei gönnen. Nur noch den Conditioner auf den Kopf, speziell für den Mann ab vierzig. Soll das Haarvolumen steigern und gleichzeitig erste graue Strähnen abdecken. Mindestens zehn Minuten Einwirkungszeit.

Kling kling!

War es wieder dieses Geräusch im Ohr, diese Überreste an Trommelfellschwingungen vom letzten Abend, oder hatte es eben an der Haustür …

Kling kling! Scheiße! Also doch kein guter Tag. Das Geräusch schellte ungeduldig und laut durch seinen leeren Flur. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste tropfnass aus der Duschwanne treten, sich das Laken um die Hüfte und ein Handtuch um die Schultern legen und zur Tür. Inselpolizist war ein mieser Job. Zumindest auf Juist, wo man im Winter der einzige Ordnungshüter weit und breit und somit auch immer im Dienst war.

Der kühle Märzwind zog durch die undichten Ritzen der Tür und ließ die Haare auf seinen Armen zu Berge stehen. Fast wären seine nassen Füße auf dem glatten Linoleumboden ausgerutscht, und es klingelte immer noch. Dieser Idiot, dessen Gestalt Axel Sanders durch die Milchglasscheibe der Haustür schemenhaft erkennen konnte, dieser fürchterliche Idiot. Endlich war er an der Tür, die er wütend öffnete. Vor ihm stand der Türke. Der die Pferdeäpfel wegmachte. Er hatte ihn schon oft gesehen, dieser große, dünne Mann mit dem tiefschwarzen Vollbart gehörte fest zum Juister Straßenbild, doch gesprochen hatte Axel Sanders noch nie mit ihm. Nun blickte der Türke ihn ganz aufgeregt an.

«Es ist ein toter Mann …», begann er.

Sanders bibberte. «Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann kommen Sie bitte erst herein. Es könnte nämlich sein, dass ich sonst ein toter Mann bin.»

«Es ist kein Witz, Herr Polizei, kein Witz!», überschlug sich der Straßenfeger und lief hektisch mal vor, mal hinter Sanders, als der versuchte, den Flur entlang ins Büro zu gelangen.

«Bitte warten Sie einen Moment hier in meinem Arbeitszimmer. Wie Sie sehen, muss ich mir schnell etwas überziehen.» Sanders schubste den Mann fast in den Raum, dann hastete er zitternd zurück ins Bad und hatte dabei das Gefühl, seine Füße seien bereits abgestorben vor Kälte.

Er überlegte kurz, sich die Spülung aus den Haaren zu waschen, doch das würde zu lange dauern. Wenn er richtig verstanden hatte, dann ging es hier um einen Leichenfund. Und der Türke sah ziemlich aufgeregt aus, kein Zweifel. Also blieb die klebrige Masse auf dem Kopf. Er streifte sich nur schnell seinen Jogginganzug über, die Uniform konnte er später noch anziehen. Fürs Erste musste es so gehen.

Der Mann stand noch immer genau so da, wie Sanders ihn ins Büro geschoben hatte. Mit hängenden Schultern und der dunkelblauen Pudelmütze in der Hand, als sei er beim Anblick des trostlosen, winzigen Zimmerchens vor Schreck erstarrt. Erst als Sanders sich beim Eintreten durch ein kurzes Räuspern bemerkbar machte, wandte der Mann den Kopf.

«Ein toter Mann, sagten Sie eben?», begann Sanders das Gespräch, setzte sich an den Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. «Entschuldigen Sie, wie ist Ihr Name?»

«Erol Radzömir. Ja, ich habe gesehen in Fenster, dass er ist tot und nicht schlafen.»

Sanders wies den aufgeregten Mann an, sich zu setzen, doch der blieb stehen, atmete immer noch schwer, weil er wohl gerannt war.

«Es ist schlimm, sehr schlimm!»

«Moment mal, Sie haben durch ein Fenster einen Toten liegen sehen? In einem Zimmer, im Bett, oder wie genau? Nun beruhigen Sie sich mal, Herr Radzömir, und dann erzählen Sie mir …»

«Mein Arbeit auf die Wilhelmstraße und dann ich gucke in das Fenster von Geschäft und es ist ganz dunkel und ich denken, es ist eine Pullover oder Jacke, aber dann ich sehe, es ist Mann. Toter Mann!»

Sanders stockte der Atem. «In einem Schaufenster?»

«Ja, in Geschäft für Musik und Teller und Schiffe und so, alles alte Sachen. Sie wissen nicht? Geschäft von Kai Minnert. Sie wissen Kai Minnert?» Er drehte aufgebracht seine Wollmütze in den Händen.

Ob er Kai Minnert kannte? Natürlich, jeder kannte ihn. Spätestens seit gestern Abend, wo er die ganze Veranstaltung mit seinen plattdeutschen Witzchen in Schwung gebracht hatte und anschließend noch Grünkohlkönig geworden war. «Sie haben eine Leiche in Kai Minnerts Schaufenster gefunden?»

«Ja», sagte der Mann nur und schaute zu Boden.

Sanders griff zum Telefon. Er kannte die wichtigsten Nummern auf Juist auswendig. Und die des Arztes kannte er, seit er sich nachts nach einer Prügelei um die gebrochenen Nasenbeine kümmern musste, die sich zwei schlagkräftige Brüder gegenseitig verpasst hatten. «Sanders hier, Polizeidienststelle Juist, guten Morgen. Wir müssen uns dringend vor Kai Minnerts Laden treffen, bitte mit Krankenwagen. Dort soll eine bewusstlose Person im Schaufenster liegen.»

Er streifte sich seinen Mantel über den Jogginganzug, kaum dass er den Hörer aufgelegt hatte. Kurz ärgerte er sich über seine nassen, shampoonierten Haare, dann setzte er sich die Wollmütze auf, die er sich nur für die Insel angeschafft hatte und nur bei ganz miesem Wetter über die Ohren zog. «Gehen wir, Herr Radzömir.»

Sanders ahnte, der Doktor war mindestens genau so dienstuntauglich wie er selbst. Als er gestern das Fest verlassen hatte, saß der Arzt noch neben einem Langeooger Akkordeonspieler und sang aus vollem Halse.

Ein verdammt ungünstiger Morgen, um bewusstlos oder was auch immer in einem Schaufenster herumzuliegen, fand Sanders.

Samstag, 20. März, 7.27 Uhr

«Bist du es wirklich?»

Wencke Tydmers war ins Zimmer getreten und hatte versucht, so einen Gesichtsausdruck aufzusetzen, als wenn alles genau so wäre wie jeden Morgen in der Auricher Mordkommission.

Doch Greven und Britzke ließen ihre Kaffeebecher sinken und starrten sie mit offenen Mündern an.

«Was ist los, Chefin? Karneval ist schon vorbei!»

«Lasst mich doch in Ruhe», fauchte sie und verschwand in ihrem Büro. Leider fielen ihre Schritte nicht einmal halb so energisch aus, wie sie es sich gewünscht hätte. Wencke war es nicht gewohnt, hochhackige Schuhe zu tragen, und der enge Rock ihres Kostüms ließ sie eher trippeln als schreiten. Vielleicht hätte sie ihren Jeans doch besser treu bleiben sollen, trotz des Termins mit dem niedersächsischen Polizeidirektor. Früher hatte es ihr nichts ausgemacht, unpassend gekleidet zu sein.

Sie holte aus dem Schrank einen Aktenordner hervor und überflog noch einmal im Stehen die Notizen, die sie sich für das Treffen heute gemacht hatte. Es ging um wichtige Personalumstrukturierungen im Weser-Ems-Bezirk. Natürlich sollte an allen Ecken und Enden gespart werden und das konnte sie auch hier in der Auricher Dienststelle ein oder zwei Kollegen kosten. Und das, obwohl sie seit Axel Sanders’ Versetzung nach Juist ohnehin schon eine Kraft weniger hatten. Entgegen ihren eigentlichen Gewohnheiten hatte Wencke Tydmers sich auf das Gespräch bestens vorbereitet. Sie hatte diesen Ordner angelegt, Argumente abgeheftet und eine Statistik über die Entwicklung von Gewaltverbrechen im Landkreis Aurich ausarbeiten lassen. Und ebendieses dunkelgraue Kostüm mit weißer Bluse und braunen Lederpumps gekauft. Alles nur, weil sie niemanden in ihrer Abteilung missen wollte, jeder war ihr wichtig, sogar Greven mit seinem dämlichen Kommentar eben.

Die Tür öffnete sich langsam und Meint Britzke lugte zum Türspalt herein. «’tschuldige, Wencke. Du siehst wirklich toll aus. Umwerfend sozusagen. Wir sind nur viel zu überrascht, um dir die passenden Komplimente zu machen!»

«Ihr seid echte Trottel!», maulte Wencke. Doch als ihr der liebste Kollege die Hand entgegenstreckte und ein heißer schwarzer Kaffee seinen Duft im Büro verbreitete, musste sie lächeln. «Ich mache das alles nur für euch!»

Nun schob sich Meint ganz ins Zimmer und setzte sich auf die Kante ihres Schreibtisches. «Wir wissen es auch alle zu schätzen, Wencke. Wirklich!» Er schaute sie von der Seite an. «Aber irgendetwas ist doch mit dir los. Abgesehen von dem Stress, den sie dir von Hannover aus aufbrummen. Es ist noch etwas anderes, oder nicht?»

Wencke mochte Britzke sehr. Er hatte immer an ihrer Seite gearbeitet, seit sie in Aurich war, schon vor der Beförderung zur Hauptkommissarin. Er war zwar spießig, hatte einen Schnauzbart und an seinem silbermetallicfarbenen Opel-Familienkombi klebte hinten neben dem Deutschland-Oval noch ein Aufkleber aus dem Harz, wo er mit seiner Frau und den zwei Kindern jedes Jahr Urlaub auf dem Bauernhof machte. Aber er war in Ordnung. Und er hatte sie nie ändern wollen, sie nie belehrt. Nicht so wie Axel Sanders, der, als er noch bei ihnen gewesen war, seine Nase immer gerümpft hatte, wenn sie ihre Unterlagen nicht geordnet hatte oder zu spät zum Dienst erschienen war. Meint Britzke war so zuverlässig und nachsichtig wie ein braver Hund. Doch sie wollte ihm auf keinen Fall erzählen, was mit ihr los war. Sie ärgerte sich, dass man ihr die Krise schon deutlich anzumerken schien.

«Meint, sei so lieb, frag mich nicht nach solchen Dingen.» Dann nahm sie den letzten Schluck vom Kaffee und reichte ihm die Tasse. «Ich danke dir.» Er nickte kurz und man merkte ihm seine Unzufriedenheit an, aber schließlich ließ er sie allein und zog leise die Tür hinter sich zu.

Wencke seufzte. Wie sollte er ihr helfen? Bei einem Problem, das ganz neu für sie war und welches ihr zudem noch albern und lächerlich vorkam?

Wencke war letzten Monat Tante geworden. Ihr Bruder Jasper, Fotograf auf Norderney, hatte vor elf Monaten seine wahre Liebe getroffen, sie geschwängert, geheiratet und nun eine kleine Familie gegründet. Emilie hieß die Kleine, hatte langes, schwarzes Haar und Finger so winzig wie Suppennudeln. Wenn Emilie schlief, machte sie zufriedene Schmatzgeräusche, und wenn sie trank auch. Wencke hatte dieses schmatzende Päckchen auf dem Arm gehabt. Und mit einem Mal gespürt, dass sie auch so etwas wollte. So ein Kind und so eine wahre Liebe und alles, was dazugehörte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt: Biologische Uhr, hatte ihre neue Schwägerin wissend gelächelt. Darüber hatte Wencke sich sehr geärgert, weil sie diesen Ausdruck ganz schrecklich fand, genau wie den Glauben, jede Frau sei zum Mutterdasein auserkoren. Die ersten paar Tage hatte sie sich noch dagegen gewehrt. Und schließlich hatte sie sich dieses Kostüm mit weißer Bluse und braunen Lederpumps gekauft. Und die Haare bei ihrer Friseurin färben lassen und sich nicht wie sonst immer das Rot selbst in die Haare geschmiert. Nun war es an der Zeit, den kupferroten Kurzhaarschnitt in Zukunft der Fachfrau zu überlassen.

Dass Wencke ihren innig geliebten Kater vor sechs Wochen hatte einschläfern lassen müssen, kam noch erschwerend hinzu. So war es also jetzt: Sie war alt, na ja, fast dreiunddreißig, einsam und von Hormonen gepiesackt.

Dieses Problem ausgerechnet in ihrem ausschließlich männlichen Kollegenkreis zum Besten zu geben, war undenkbar.

Wencke schaute ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe an. Es gefiel ihr, was sie da sah. Britzke und Greven würden sich vielleicht an diesen Anblick gewöhnen müssen. Es war ein Samstagmorgen im März und sie hatte noch eine Stunde bis zum Termin. Vielleicht sollte sie sich einmal die Nägel lackieren?

Samstag, 20. März, 7.45 Uhr

Der Türke hatte Recht. Auf den ersten Blick konnte man nicht erkennen, ob die Gestalt im Schaufenster nur schlief oder ob sie tot war.

Was Axel Sanders allerdings auf den ersten Blick erkennen konnte, war, dass es sich bei der Gestalt um den Geschäftsinhaber handelte, um Kai Minnert. Er trug eine auffällige Jacke aus Segeltuch, sie leuchtete gelb zwischen all dem verstaubten Gerümpel. Es war eine Jacke, die man auf hundert Meter Entfernung ausmachen konnte. Als Axel Sanders nun direkt neben der Scheibe stand, da war er sich fast sicher, dass der Mann nicht mehr lebte.

Minnert lag seltsam und unbequem auf der Auslage, sein rechter Arm umfasste einen riesigen, hölzernen Leuchtturm, die linke Hand lag nach hinten verdreht auf einer Reihe silberner Teestövchen. Minnerts Kopf war dem Fenster zugewandt, seine dunkelblaue Schirmmütze war ihm tief ins Gesicht gerutscht und bedeckte die Augen, die schlaffen Lippen berührten fast das Glas der Scheibe. Es schlug sich darauf kein Nebel nieder. Wäre da noch ein klein wenig Atmungsaktivität gewesen, dann hätte man es gesehen. Sanders war froh, als er sich umschaute und den Arzt mit dem Fahrrad herbeieilen sah. Es war dessen Aufgabe, einen genaueren Blick auf diesen leblosen Körper zu werfen, nicht seine. Nicht, dass er sich darum gerissen hätte.

«Moin, Doktor», sagte Sanders deshalb nur knapp und holte sein Handy hervor. «Wissen Sie zufällig die Nummer vom Büro der Reederei?»

Der Arzt zog seine schwarze Tasche vom Gepäckträger und sah ihn verwundert an. «Ja, natürlich, 9 10 10. Aber wofür brauchen Sie die?»

«Wir müssen so schnell wie möglich in den Laden kommen, die Tür ist verschlossen, und ich dachte mir, bevor wir das Schloss aufbrechen, versuchen wir, Henner Wortreich zu erreichen. Er müsste jetzt im Dienst sein, das Schiff von Norddeich legt gleich an. Er hat sicher den Schlüssel. Der wird schneller hier sein, als wir beide die Tür knacken können.»

Sanders sah das anerkennende Nicken des Arztes und wählte die Nummer. Es klingelte ewig. So ein Mist. Es kam gerade jetzt auf jede Minute an, sie brauchten den Schlüssel, Himmel, und die Herren im Hafenbüro tranken in aller Ruhe zuerst ihren Tee zu Ende, bevor sie ans Telefon gingen. «Verdammt noch mal …», fluchte Sanders und er spürte den ersten leisen Stich hinter den Schläfen. Nun kamen die Kopfschmerzen, verdient hatte er sie, aber er konnte sie jetzt beim besten Willen nicht gebrauchen.

Endlich ein Knacken in der Leitung, ein ausgiebiges Rascheln, als ob es sich jemand am anderen Ende erst gemütlich machte, bevor er sich meldete. «Reederei Frisia auf Juist, Wortreich?»

«Herr Wortreich? Polizeidienststelle Juist, Sanders hier. Wir brauchen so schnell wie möglich den Schlüssel zu Kai Minnerts Laden. Können Sie uns da aushelfen?»

«Guter Mann, wie stellen Sie sich das vor? Wir haben gerade Anreise. Wenn Sie noch eine halbe Stunde warten …»

«Unmöglich. Es ist mehr als dringend. Haben Sie den Schlüssel dabei?»

«Ja, natürlich, in meiner Jackentasche. Tun Sie mir den Gefallen und kommen Sie eben selbst mit dem Rad hierher, dann …»

Sanders wusste, man sollte nahe Angehörige nicht am Telefon mit einer Schreckensbotschaft behelligen, doch in diesem Fall war Eile geboten, sie mussten unbedingt so schnell wie möglich in diesen Laden. «Herr Wortreich, kommen Sie bitte sofort in die Wilhelmstraße. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihrem Lebensgefährten etwas zugestoßen ist.»

«Wie? Ich komme sofort!», hörte er nur kurz, dann wurde das Gespräch unterbrochen, Sanders vermutete, dass am anderen Apparat aufgelegt worden war. Er blickte in Richtung Inselkirche und ahnte, dass er nicht weiter als bis fünfzig würde zählen müssen, bis sein Gesprächspartner dort mit dem Fahrrad auftauchte.

«Es hat schon sein Gutes, wenn jeder jeden kennt», murmelte der Arzt, während er in aller Seelenruhe die ersten Instrumente aus der Tasche holte und sich das Stethoskop um den Hals hängte. «Man weiß wenigstens genau, wen man zuerst benachrichtigen muss, wenn jemand das Zeitliche gesegnet hat.»

«Sie meinen wirklich, er ist tot?», fragte Sanders und wagte wieder einen Blick auf den verdrehten Körper. Natürlich war er tot, man konnte es sehen. Nicht auf den ersten Blick, aber wenn man genau hinsah.

«Der Mann liegt in einem winzigen, abgeschlossenen Raum, wer weiß, wie lange schon. Viel Luft zum Atmen bleibt da wirklich nicht.» Der Arzt trat neben ihn und zog sich ein Paar gepuderte Handschuhe über. «Will lieber keine Fingerabdrücke hinterlassen», sagte er knapp. Dann standen sie nebeneinander, schwiegen und schnauften ihren verkaterten Atem in die frische Morgenluft. Der kalte Wind kroch in Sanders Hosenbeine und erinnerte ihn daran, dass er einen unschicklichen Jogginganzug trug.

Er war noch schneller gewesen, man hätte es nicht bis zur Fünfzig geschafft, als Henner Wortreich mit offener Jacke um die Ecke gerast kam, die Krawatte wehte über die Schulter nach hinten und ein Schlüsselbund schlackerte gegen den Lenker. Schon von weitem rief er: «Was ist passiert?» Man hörte die kaum unterdrückte Panik in der Stimme. «Was ist mit Kai?»

Als er das Rad abbremste, wäre er fast gestürzt. Sofort entdeckte er den Körper im Schaufenster, drückte Sanders wortlos die Schlüssel in die Hand und rannte zur Scheibe. Das Gesicht und die flachen Hände gegen das kalte Glas gepresst, starrte er Kai Minnert an. «Um Himmels willen, sagen Sie mir endlich, was mit ihm ist!»

Sanders rannte zur Ladentür, die in einer Art Windfang etwas abseits des Bürgersteigs lag. Meine Güte, es waren beinahe ein Dutzend verschiedene Schlüssel am Bund. Er versuchte es mit dem ersten, der passte nicht.

«Es ist der gelbe», schrie Henner Wortreich, der das hilflose Klimpern in Sanders’ Hand gehört haben musste. «Machen Sie die Tür auf, helfen Sie ihm! Bitte! Doktor, er ist doch nicht tot, oder?»

Der Arzt sagte nichts, Sanders sah nur aus den Augenwinkeln, wie er mit den Schultern zuckte, und als sich die Tür endlich öffnen ließ, da ging der Mediziner zuerst hinein und deutete Sanders mit einer kurzen Geste an, dass er den aufgelösten Henner Wortreich besser außen vor lassen sollte.

«Sagen Sie mir bitte, dass er nicht tot ist!»

Sanders blieb in der Tür stehen und beobachtete den Arzt, der an einer Holzwand den Metallriegel zur Seite schob und die Platte mit einem Ruck zu sich heranzog. «Ich habe zum Glück mal gesehen, wie diese Konstruktion funktioniert, als ich für meine Frau hier eine Uhr gekauft habe, die Kai erst aus dem Fenster holen musste.» Er stellte das mannshohe Brett an der Seite ab. Das eine Bein von Minnert fiel plump wie ein Sack aus dem Schaufenster. Noch keine Leichenstarre, dachte Sanders. Wenn Kai Minnert tot war, so war er es noch nicht lange. Der Arzt beugte sich weit über die Leiche, kroch fast ins Schaufenster, horchte mit dem Stethoskop, leuchtete in die Augen, fühlte den Hals, dann stellte er sich aufrecht hin und sagte nur ein Wort. «Tot!»

Henner Wortreich musste ihm auf der anderen Seite der Glasscheibe die Buchstaben von den Lippen abgelesen haben, denn er heulte im selben Moment los und fiel auf die Knie. Sanders rannte zu ihm, griff dem zusammengesackten Mann unter die Arme und zog ihn hoch. Er versuchte, Henner Wortreich vom Fenster fortzuziehen.

«Bitte, beruhigen Sie sich doch», beschwor er ihn, redete mit auswendig gelernten Phrasen auf ihn ein, bis endlich der Krankenwagen kam und Sanders den herbeieilenden Sanitätern den Fall überlassen konnte. Für Kai Minnert im Schaufenster konnten die Männer ohnehin nichts mehr tun, auch der Arzt winkte ab, da kam jede Hilfe zu spät. Sollten sich die Weißkittel doch lieber um dieses zitternde, aschfahle Häufchen Elend in einem marinefarbenen Dienstsakko kümmern.

Sanders ging nun endlich in den dunklen Laden, der muffelig roch. Scheinbar Tausende von unzusammenhängenden Gegenständen stapelten sich bis an die Decke, Bilder, Kerzenhalter und alte Instrumente, alles querbeet. Er war noch nie zuvor hier gewesen. Trödel war nicht gerade Sanders’ Welt, er liebte klares, schlichtes Design, ganz neu, ohne Macken und Spuren der Zeit. Doch er wusste, dass Kai Minnert Ahnung von diesem Plunder gehabt hatte, dass er nebenbei die Holzmechaniken alter Schifferklaviere restaurierte und einige dieser Stücke hier gar nicht so wertlos waren, wie sie aussahen. Sanders schaute sich um. Nichts war umgefallen oder zur Seite geschoben worden, und obwohl es zweifelsohne ein wenig chaotisch in diesem Raum aussah, schien nichts auf einen Einbruch hinzudeuten. Kai Minnert war aus einem anderen Grund in sein Schaufenster verfrachtet worden.

«Kann ich den Toten herausholen oder besser nicht?», fragte der Arzt. «Ich denke zwar, dass Kai Minnert an einer Kohlendioxid-Vergiftung gestorben ist, doch für die Angaben auf dem Totenschein muss ich ihn näher untersuchen.»

«Die Schaufensterrückwand war von außen verriegelt, nicht wahr?», erkundigte sich Sanders. Der Arzt nickte. «Damit steht eindeutig fest, dass ihn jemand dort eingeschlossen hat. Ob nun in mörderischer Absicht oder nicht, das müssen wir noch feststellen. Aus diesem Grund würde ich lieber alles an Ort und Stelle lassen, bis die Spurensicherung eingetroffen ist. Vielleicht können Sie ja zunächst das Nötigste untersuchen, die Temperatur zum Beispiel.»

Wieder nickte der Mediziner und holte ein Thermometer aus dem Koffer, beugte sich über die Leiche und strich ihr mit dem Messgerät über die Stirn. «Er ist noch nicht lange tot. Nicht länger als ein oder zwei Stunden. Was meinen Sie, wann kommen Ihre Kollegen vom Festland?»

Sanders seufzte. Juist war so verdammt weit weg vom Rest der Welt. Bis die Truppe aus Aurich kam, würde sicher eine ganze Weile vergehen, auch wenn sie den Hubschrauber nahmen. Und bis dahin musste er hier am Tatort bleiben und aufpassen, dass es auf der Hauptverkehrsstraße der Insel keinen Tumult gab. Am besten wäre es, die Schaufensterscheibe mit einem Laken zu verhüllen. Ein Laken, wo sollte er jetzt ein Laken hernehmen? Es gab keinen Kollegen, den er hätte schicken können, er musste den ganzen Scheiß irgendwie allein regeln, und das mit nassem Kopf, aufsteigender Übelkeit und Jogginghose. Vielen Dank auch.

«Ich rufe sie jetzt an», antwortete er endlich, tippte die altvertraute Nummer seiner ehemaligen Dienststelle ins Handy und stellte sich vor, wie Wencke Tydmers in ihren engen Jeans zum Telefon ging.

Samstag, 20. März, 8.51 Uhr

Astrid, hast du es gut, sagten ihre Freundinnen ständig. Astrid, ihr habt ein so schönes Haus und dieser Blick auf den Deich, und die Fliesen im Flur lassen sich so problemlos wischen, und dein Mann ist immer so auf sein Aussehen bedacht, Astrid, hast du es gut.

Und so ein hübsches Kind, der Michel, gut in der Schule noch dazu. Und an Geld mangelt es auch nicht. Jedes Jahr drei Wochen Sonnenbaden auf Mauritius und dann noch eine Woche Schönheitsfarm in der Nähe von Hamburg. Obwohl, wofür Schönheitsfarm? Deine hübschen Naturlocken, das satte Dunkelblond, wie aus den Frisurenillustrierten, beneidenswert, und dazu diese Elfenfigur, kannst ja essen, was du willst, Astrid, deine Konfektionsgröße bleibt sechsunddreißig.

Hatte sie es gut?

Meine Güte, immer wieder diese Gedanken und am frühen Morgen waren sie am wenigsten zu ertragen. Astrid strich mit dem Tuch über das sanftbraune Holz des Treppengeländers und atmete den Geruch der Möbelpolitur ein. Nächsten oder vielleicht übernächsten Winter würde sie den Flur neu tapezieren müssen, an den Wänden waren feine Streifen zu sehen, die unvorsichtige Gäste bei der An- und Abreise mit den riesigen Koffern verursacht hatten.

Seit mehr als drei Jahren ging das nun schon so, sie beobachtete ihr scheinbar wunderbares Leben wie unter einem Mikroskop und erkannte immer mehr, dass es ein Gewebe mit riesigen Löchern und mit brüchigem Faden war.

Es war nicht so, dass sie ihre Arbeit in der Villa Waterkant nicht gern tat. Sie liebte den Umgang mit den Gästen, die vielen Lebensgeschichten, die in ihrem Haus für ein paar Wochen zur Ruhe kamen. Und sie liebte dieses Haus, in dem sie eine glückliche Kindheit verlebt hatte. Obwohl es mit seinen zwanzig Zimmern nicht gerade klein war, war es doch immer gemütlich und warm. Es machte ihr auch nichts aus, die Zimmer in Ordnung zu halten und das Frühstück zu servieren. Für das Abendessen hatte sie in der Saison eine Köchin engagiert, die fleißig und sauber war, ein Glücksgriff. Den Garten machte ein polnischer Mann, der sonst im Hotel Dünenschloss als Gepäckfahrer angestellt war. Alles lief wie am Schnürchen. Es war nur ein bisschen zu viel.

Und Gerrit mochte tatsächlich ein Mann sein, der auf sein Aussehen bedacht war, ja, er war geradezu attraktiv, wenn man ihn mit seinen Altersgenossen auf Juist verglich. Seine Leidenschaft war die freiwillige Feuerwehr, immerhin hatte er es schon zum Hauptlöschmeister gebracht. Er war zuständig für die Atemschutzgeräte und den ganzen Kram, von dem Astrid noch nie etwas verstanden hatte. Gerrit verbrachte also viel Zeit damit, Gott und der Welt Gefallen zu tun, und wenn dann noch ein bisschen Zeit übrig blieb, dann machte er die Männerarbeit in der Villa Waterkant. Er trank auch nicht, er wurde nicht laut, wenn er anderer Meinung war, und er stieg sicher nicht hinter ihrem Rücken in die Betten anderer Frauen. Doch in ihres stieg er auch nicht. Seit mehr als drei Jahren schon schlief er im Gästezimmer, ohne dass es zuvor einen Streit gegeben hatte.

Alles ging seit Jahr und Tag seinen geregelten Gang. Die Gäste und das Geld kamen ins Haus, der Junge bekam von der ehelichen Flaute nichts mit – oder zumindest tat er so, als ob – und ihre Freundinnen seufzten immer: Astrid, hast du es gut.

Die Stellen neben den Geländerstreben waren nur schwer zu erreichen, Astrid nahm die kleine Kinderzahnbürste zur Hand und fuhr damit in die engen Ritzen. Beim Putzen schweiften die Gedanken viel zu oft ab. Wenn sie nun mit dem Kopf bei der Arbeit blieb, bei der Umsatzsteuererklärung zum Beispiel oder bei der großen Anreise bei Ferienbeginn in ein paar Tagen, aber nein. Ihr Kopf war schwach und dachte über die großen Maschen nach, aus denen das Gewebe ihres heilen Lebens gewebt war, und durch die sie früher oder später einmal fallen würde.

«Sie machen sich aber viel Arbeit», sagte eine Stimme über ihr und Astrid fuhr erschrocken hoch. Die dicke Frau aus Borkum. Sie hatte sich bemerkenswert leichtfüßig aus der oberen Etage herabgeschlichen, jedenfalls hatte Astrid die Schritte nicht gehört. Hinter ihr stand dicht an der Wand ihr magerer Ehemann, den Astrid seit seiner Anwesenheit noch nie ein Wort hatte sagen hören.

«Ich mach das in meiner Pension ehrlich gesagt nicht so gründlich. Meinen Sie denn, die Leute sind bei sich zu Hause so pingelig? Ich glaub das ja nicht!»

«Guten Morgen», sagte Astrid nur und rückte ein Stück zur Seite. Sie hatte fast vergessen, dass Gäste im Haus waren. Na ja, oder so etwas ähnliches wie Gäste. Sie hatte sich bereit erklärt, vier Leute aus Borkum aufzunehmen, auch wenn sie selbst am Inseltreffen nicht teilnahm. Dennoch fühlte sich Astrid als langjähriges Mitglied im Heimatverein verpflichtet, ihren Beitrag für eine gelungene Veranstaltung zu leisten. Zum Glück brauchte sie kein Frühstück zu servieren, es gab Gemeinschaftsverpflegung im Hotel Friesenhof.

«Ist immer viel zu tun so vor Saisonauftakt, ne?», fragte die Dicke aus Borkum, die ihre massige Gestalt gegen die Flurwand lehnte und Lust auf ein Schwätzchen zu haben schien. «Wenn wir morgen wieder zu Hause sind, werde ich auch erst mal die Zimmer lüften und dann, na ja, Sie kennen das ja!»

Astrid nickte.

«War ein toller Abend gestern, nicht wahr?»

Astrid blickte kurz auf und erkannte am übernächtigten Gesicht der Frau, dass es wohl nicht nur am Abend toll gewesen sein musste. «Ich habe keine Ahnung, ich bin nicht dort gewesen. Mein Kind, wissen Sie, irgendjemand muss ja auch auf meinen Sohn …»

«Wir hatten vielleicht ’nen Spaß. Der Moderator, dieser, hmm, wie hieß er auch noch gleich …», sie stieß ihren Mann mit dem Ellenbogen in die Seite und Astrid befürchtete, dass der arme Kerl, schwach, wie er aussah, dieser Wucht nicht standhalten könnte. «Schatz, du kennst ihn doch, hast doch schon mal mit ihm geschäftlich zu tun gehabt. Mein Mann ist auf Borkum nämlich auch Antiquitätenhändler.»

«Kai Minnert», antwortete Astrid leise.

«Ja, genau der. Mann, war der komisch. Hat uns alle richtig in Stimmung gebracht mit seinen Döntjes. Der kann ja erzählen, der Junge …»