Das Handwerk der Freiheit - Peter Bieri - E-Book

Das Handwerk der Freiheit E-Book

Peter Bieri

4,9

Beschreibung

Was bedeutet es, frei zu sein? Gibt es eine absolute Freiheit des Willens? Der Philosoph Peter Bieri präsentiert die unterschiedlichsten Antworten auf die Frage der Willensfreiheit wie auf einer Bühne: In kleinen, immer wieder abgewandelten Szenen verstrickt er scheinbar zwingende Vorstellungen von Freiheit so lange in Widersprüche, bis sich am Ende die Prinzipien einer wirklichen Freiheit erkennen lassen. "Das Buch entdeckt die Freiheit, die wir haben - ob wir wollen oder nicht -, wieder neu. Es ist klar bis zur Schönheit und spannend wie ein Roman." Rüdiger Safranski

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 614

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (28 Bewertungen)
24
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hanser eBook

Peter Bieri

Das Handwerk der Freiheit

Über die Entdeckung deseigenen Willens

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-24200-5

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München 2001/2012

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für Heike

Há duas sortes de filósofos aos quais não me fio. Os primeiros são os técnicos, que tomam a exactidão da matemática por modelo e crêem que a clareza reside na fórmula. Os segundos são os hagiógrafos, em cujas mãos a filosofia se converte em interpretação interminável de textos sagrados. Caso haja deveras uma compreensão filosófica, haveria esta de gerar-se de maneira diversa: a través de um reflexionar cuja clareza, exactidão e profundidade consistam na proximidade à experiência que cada qual faz consigo próprio, sem perceber-la completamente e sem compreendê-la.

Pedro Vasco de Almeida Prado,

Da Ilusão e do Auto-Engano na Filosofia

Lisboa 1899

Es gibt zwei Arten von Philosophen, denen ich mißtraue. Die einen sind die Techniker, die sich die Genauigkeit der Mathematik zum Vorbild nehmen und glauben, die Klarheit liege in der Formel. Die anderen sind die Hagiographen, in deren Händen Philosophie zur endlosen Auslegung heiliger Texte wird. Sollte es tatsächlich philosophische Einsicht geben, so müßte sie auf andere Weise zustande kommen: durch ein Nachdenken, dessen Klarheit, Genauigkeit und Tiefe in der Nähe zu der Erfahrung bestünde, die ein jeder mit sich selbst macht, ohne sie recht zu bemerken und ohne sie zu verstehen.

Pedro Vasco de Almeida Prado,

Über Täuschung und Selbstbetrug in der Philosophie

Lissabon 1899

VORWORT

Nachdem ich eine Unzahl von Texten über Willensfreiheit gelesen und mich an ihnen gerieben hatte, schob ich sie eines Tages alle beiseite und fragte mich: Was hast du an dem Thema nun eigentlich verstanden? Und: Was glaubst du, was das ist: hier etwas zu verstehen? Aus dem Versuch, mir diese Fragen zu beantworten, ist das vorliegende Buch entstanden.

Es sollte ein genaues Buch sein, und ein Buch, in dem auch über philosophische Genauigkeit nachgedacht würde. Auf der anderen Seite wollte ich kein akademisches Buch schreiben, kein Buch also, das schwerfällig wäre, indem es den Leser über die Schlachtfelder der Fachliteratur schleifte. Nicht über die Texte anderer Autoren sollte gesprochen werden, sondern einfach über Phänomene und Gedanken. Deshalb fehlen im Hauptteil die üblichen Fußnoten. Über die vielen Einsichten und Überlegungen, die ich der Literatur verdanke, berichte ich in einem gesonderten Teil am Ende des Buches.

Und noch ein Ziel habe ich mir gesetzt: Ich wollte über ein zum Verzweifeln komplexes Thema in einfacher, mühelos fließender Sprache schreiben, die ohne unnötige Fremdwörter und ohne Jargon auskäme. Die befreiende Erfahrung war: Es geht!

Berlin, August 2000

P.B.

INHALT

Prolog: Der Irrgarten

ERSTER TEIL: BEDINGTE FREIHEIT

1.  Etwas tun - etwas wollen

Wie beginnen?

Etwas tun: die Idee einer Handlung

Der Wille: was ist das?

2.  Tun und lassen, was man will

Handlungsfreiheit: die Grundidee

Spielräume: von der Welt zu mir selbst

Was man wollen kann: Begrenztheit als Bestimmtheit des Willens

3.  Die Freiheit der Entscheidung

Instrumentelle Entscheidungen

Das Paradox des widerwilligen Tuns

Substantielle Entscheidungen

Die Macht der Phantasie

Abstand und Engagement

Die Offenheit der Zukunft

»Ich könnte auch etwas anderes wollen«

4.  Erfahrungen der Unfreiheit

Der Getriebene

Wenn das Nachdenken übergangen wird

Der gedankliche Mitläufer

Der zwanghafte Wille

Der Unbeherrschte

Der erzwungene Wille

»Ich kann nicht anders!« – ein Zeichen der Unfreiheit

5.  Zeiterfahrung als Maß der Unfreiheit

Die flache Zeit des Getriebenen

Die fremde Zeit des Hörigen

Die langweilige Zeit des gedanklichen Mitläufers

Die aufgeschobene Zeit des Zwanghaften

Die übersprungene Zeit des Erpreßten

ERSTES INTERMEZZO

Ideen verstehen – Erfahrungen verstehen

ZWEITER TEIL: UNBEDINGTE FREIHEIT

6.  Unbedingte Freiheit: die Motive

Ist das Freiheit genug?

Der unbedingt freie Wille: eine erste Auskunft über eine vage Idee

Zwei Arten von Überlegungen

Bedingtheit als Ohnmacht

Überlegen als Donquichotterie

Entschiedenes Wollen als unfreies Wollen

Bröckelnde Urheberschaft

Verantwortung als haltlose Idee

Moralische Empfindungen als unsinnige Tortur

Einfach wollen - einfach tun

Der innere Fluchtpunkt

Was nun?

7.  Unbedingte Freiheit: eine Fata Morgana

Der losgelöste Wille: ein Alptraum

Der begriffliche Zerfall des unbedingten Willens

Die Aufgabe

Wörter, die gefangennehmen

Der heimliche Homunculus

Moderate Unbedingtheit?

8.  Freiheit von innen und von außen

Phantasie: die wirkungsvollen Möglichkeiten

Bei der Sache sein

Farblose Freiheit

Gläserne Freiheit

Die Vergeßlichkeit des Fatalisten

9.  Lebensgeschichte und Verantwortung:Raskolnikov vor dem Richter

Die Eröffnung

Kein Streit um Worte

Erschaffene Verantwortung

Entschuldigungen

Die Crux

Der falsche Zug

Die richtigen Züge

Wovon handelt Reue?

ZWEITES INTERMEZZO

Ideen mißverstehen – Erfahrungen mißverstehen

DRITTER TEIL: ANGEEIGNETE FREIHEIT

10.  Die Aneignung des Willens

Die Idee

Der freie als der artikulierte Wille

Der freie als der verstandene Wille

Der freie als der gebilligte Wille

Die fluktuierende Freiheit eines fließenden Selbst

11.  Facetten der Selbstbestimmung

Selbständigkeit des Willens und die anderen

Leidenschaftliche Freiheit

Willenskitsch

Eigensinn

Epilog: Philosophische Verwunderung

Quellen

PROLOGDer Irrgarten

1

Unsere Idee der Welt ist die Idee einer verständlichen Welt. Es ist die Idee einer Welt, in der wir verstehen können, warum etwas geschieht. Zwar gibt es darin vieles, was wir nicht verstehen, und vermutlich wird das immer so bleiben. Trotzdem, denken wir, ist die Welt eine Gesamtheit von Phänomenen, in die wir Licht bringen können, indem wir uns erklären, warum die Phänomene so sind, wie sie sind. Selbst wenn dieser Gedanke eine Täuschung wäre: Anders können wir über die Welt nicht denken.

Phänomene zu erklären und dadurch verständlich zu machen, heißt, die Bedingungen zu entdecken, von denen sie abhängen. Wenn sie erfüllt sind, und nur wenn sie erfüllt sind, tritt das Phänomen auf. Für jede einzelne Bedingung gilt, daß sie notwendig ist: Wäre sie nicht erfüllt, würde das betreffende Phänomen nicht auftreten. Zusammengenommen sind die Bedingungen jeweils hinreichend: Wenn sie alle erfüllt sind, kann es nicht ausbleiben, daß sich das Phänomen einstellt. Wenn wir die Bedingungen kennen, die das Phänomen möglich machten, und die Bedingungen, die zusammen sein Eintreten festlegten, haben wir den Eindruck zu verstehen, warum es vorliegt. Wenn uns das Phänomen, umgekehrt, rätselhaft erscheint, dann deshalb, weil wir nicht wissen, welche Bedingungen es waren, die es ermöglichten und die zusammen dafür sorgten, daß es auch wirklich eintrat.

Was etwas zu einer notwendigen oder hinreichenden Bedingung macht, ist, daß es gesetzmäßig mit demjenigen verknüpft ist, wofür es eine Bedingung ist. Wenn Phänomene nur zufällig aufeinanderfolgen oder nur zufällig zusammen auftreten – wenn also keine Regelmäßigkeit zu erkennen ist –, dann gilt das eine nicht als Bedingung für das andere. Alles, was geschieht, ist also gesetzmäßig mit anderem, was geschieht, verknüpft. Entsprechend bedeutet unser Unverständnis einem Phänomen gegenüber, daß wir die gesetzmäßigen Zusammenhänge, in die es eingebettet ist, nicht kennen.

Dieser Zusammenhang zwischen Bedingung, Gesetzmäßigkeit und Verstehen ist grundlegend für unsere Idee einer Welt, in der wir planvoll handeln können. Die drei Begriffe gehören zusammen. Wachten wir eines Tages auf und verfügten über einen von ihnen nicht mehr, so hätten wir auch die beiden anderen verloren.

2

Der Gedanke, daß eine verständliche Welt eine Welt ist, in der es Bedingungen und Gesetze gibt, die festlegen, wann was geschieht, hat eine wichtige Konsequenz: Die Vergangenheit legt in einer solchen Welt eine einzige, eindeutig bestimmte Zukunft fest. Die tatsächliche Vergangenheit dieser Welt, zusammen mit den in dieser Welt gültigen Gesetzen, läßt nur ein einziges zukünftiges Geschehen zu. Es gibt zu jedem Zeitpunkt nur eine einzige mögliche Zukunft. Um sich eine Abweichung vom tatsächlichen Weltverlauf vorstellen zu können, müßte man entweder annehmen, daß die Vergangenheit anders gewesen wäre, als sie tatsächlich war, oder daß die Gesetze andere wären, als sie tatsächlich sind. Für diese Idee hat man das Wort Determinismus geprägt. Ich werde es meiden. Es trägt gedanklich nichts Neues bei, und es hat wegen seines stählernen Klangs eine Aura von unheilvollen Assoziationen, die uns nur stören würden.

Der bisherige Gedankengang hat den Charakter des Selbstverständlichen, und es gibt auf den ersten Blick keinen Grund, sich daran zu stoßen. Das hat damit zu tun, daß bisher nur von der Welt draußen die Rede war: von der Natur. Doch auch die Menschen gehören zur Welt, und das bedeutet: Auch für das, was sie tun, gibt es Bedingungen, die gesondert notwendig und zusammen hinreichend für ihre Taten sind. Betrachten wir Rodion Raskolnikov, die Figur aus Dostojewskis Roman Verbrechen und Strafe. Raskolnikov erschlägt mit der Axt eine wucherische Pfandleiherin. Diese Tat geschieht nicht ohne vorausgehende Bedingungen. Raskolnikov, ein ehemaliger Student, ist bettelarm, geht in Lumpen und haust in einer schäbigen Dachkammer. In letzter Zeit hat sich seine Lage zunehmend verschlechtert. Der Unterricht, der ihm etwas eingebracht hatte, ist weggefallen, und er hat seit langem die Miete nicht mehr bezahlen können. Er hat kaum mehr etwas zu essen. Alles, was zu versetzen war, hat er der Pfandleiherin bereits gegeben. Von zu Hause hört er mit Schrecken und einem Gefühl der Demütigung, daß seine Schwester einer Ehe nur deshalb zugestimmt hat, weil sich damit die Möglichkeit der Fortsetzung seines Studiums und einer späteren Anstellung eröffnen könnte. Seine Mutter hat ihre winzige Rente aufs Spiel gesetzt, damit sie und ihre Tochter die notwendige Reise machen können. Da beginnt Raskolnikov an das viele Geld zu denken, das die Wucherin hortet. In einem Gasthaus wird er Zeuge eines Gesprächs, in dem jemand laut darüber nachdenkt, was schon dabei wäre, die widerwärtige Alte aus dem Weg zu räumen und sich das Geld anzueignen, um anderen, wertvolleren Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Was er hört, fällt auf fruchtbaren Boden. Schon lange nämlich liebäugelt er mit dem Gedanken, daß es außergewöhnliche Menschen gebe, die über Leichen gehen dürften; sogar einen Aufsatz hat er dazu veröffentlicht. Schließlich dann erfährt er durch Zufall, daß die Alte an einem bestimmten Abend mit Sicherheit allein zu Hause sein würde. All das zusammen führt am Ende dazu, daß er hingeht und zuschlägt.

Wenn wir das lesen, verstehen wir Raskolnikovs Tat. Er tat es, weil die Dinge so lagen. Hätten sie anders gelegen, wäre es nicht zu der Tat gekommen. Dostojewski seziert Raskolnikovs Innenwelt, um uns verständlich zu machen, wie und warum er zu seinem Verbrechen getrieben wurde. Er deckt die notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen für die Tat auf.

Wir brauchen nicht bei Raskolnikov zu bleiben. Wir können auch uns selbst und unsere vergangenen Taten auf diese Weise betrachten. Zwar können wir nicht aus uns heraustreten, und wir werden uns nie so äußerlich sein, wie Raskolnikov es ist. Aber wir können auf unsere Taten zurückblicken und sie so sezieren wie Raskolnikovs Tat. Wir sehen sie dann in ihrer kleinteiligen Bedingtheit und verstehen, wie sie sich aus den gegebenen Bedingungen in uns entwickelt haben. Diese Bedingungen sind die Motive unseres Handelns: unsere Wünsche, Gefühle, Gedanken, Überzeugungen und Erwartungen. Sie legen fest, was wir in einem bestimmten Moment tun. Und diese Motive haben ihrerseits Vorbedingungen: Sie entwickeln sich aus dem, was in der Welt draußen geschieht, aber auch aus dem, was wir getan haben, und aus früheren Motiven. Diese Kette können wir in Gedanken zurückgehen, bis in die Zeit vor unserer Geburt: Immer wieder gibt es Bedingungen und Bedingungen für Bedingungen. Und da die Idee der Bedingtheit mit der Idee der Gesetzmäßigkeit verknüpft ist, gilt, daß auch unser Handeln Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Auch für das, was wir tun, schreibt sich die Vergangenheit nach ehernen Gesetzen in die Zukunft fort.

3

»Unser Leben ist eine Linie auf der Oberfläche der Erde, die zu beschreiben uns die Natur befiehlt und von der wir keinen Augenblick abzuweichen vermögen … Nichtsdestoweniger, trotz der Fesseln, durch die wir fortwährend gebunden sind, gibt man vor, wir seien frei …« So schrieb Baron d’Holbach, der französische Atheist und Materialist des 18. Jahrhunderts. Die beschwörende Metapher fängt ein, was wir bisher besprochen haben, sie ist eindrucksvoll, und es scheint keine Frage zu sein, daß der Baron recht hat, wenn er ihren Gehalt als etwas betrachtet, das in schärfstem Kontrast zur Idee der Freiheit steht. Warum?

Weil die Idee der Freiheit mit einer Perspektive auf uns selbst verknüpft ist, die mit der bisher beschriebenen Sichtweise in einem Konflikt steht, der nicht schärfer und unversöhnlicher sein könnte. Es ist die Perspektive von innen, in der wir nicht der Vergangenheit, sondern der Gegenwart und Zukunft zugewandt sind. Aus ihr sehen die Dinge ganz anders aus. Da ist uns keine Linie vorgezeichnet. Ganz im Gegenteil, es macht unsere Freiheit aus, daß wir in ganz unterschiedliche Richtungen gehen können. Die Linie unseres Handelns hat eine Vielfalt möglicher Verzweigungen. Wir können überlegen, bevor wir etwas tun, und in diesem Überlegen zeigt sich ein Spielraum verschiedener Möglichkeiten, zwischen denen wir wählen können. Ich kann überlegen, ob ich jetzt an diesem Buch weiterschreibe oder lieber ins Kino oder essen gehe. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, daß mir all diese Handlungen offenstehen. Wenn schon zum voraus feststünde, was ich tun werde: Was hätte es dann für einen Sinn, darüber nachzudenken, was ich tun will? Es ist aus dieser Perspektive unmöglich, mir vorzustellen, ich hätte keine Wahl. Das verstieße gegen die Logik der Innenperspektive und widerspräche meiner manifesten, unbezweifelbaren Erfahrung der Freiheit. Zu dieser Erfahrung nämlich gehört, daß ich der Urheber meines Tuns bin und nicht ein Wesen, das als bloßer Spielball des Weltgeschehens eine zuvor gezogene Weltlinie entlanggeführt wird.

Das gilt auch, wenn ich aus dieser Perspektive erneut auf mein vergangenes Tun zurückblicke. Es gehört zu meinem Selbstverständnis als freie Person, daß ich damals auch etwas anderes hätte tun können, als ich tatsächlich tat. Jeder vergangene Moment war auch eine vergangene Gegenwart mit einer vergangenen Zukunft, und in jedem dieser Momente galt dasselbe, was jetzt gilt: Ich hätte auch anders handeln können. Ich hatte die Wahl und die Freiheit der Entscheidung.

Genau so ist es auch bei Raskolnikov, wenn wir uns in ihn hineinversetzen und uns gewissermaßen seine Innenperspektive ausleihen. Gewiß, es gibt vieles, was einen in seiner Lage dazu bringen kann, die Alte aus dem Weg räumen zu wollen. Seine Tat ist, wie gesagt, verständlich. Aber auch er konnte über verschiedene Möglichkeiten nachdenken, sie gegeneinander abwägen und wählen, welche er verwirklichen wollte. Es hätte auch andere Auswege aus seiner Lage gegeben. Er hätte, als die Nachhilfestunden aufhörten, hartnäckig nach anderer Arbeit suchen können. Er hätte trotz Demütigung und Wut abwarten können, was sich aus der Eheschließung seiner Schwester entwickeln würde. Oder er hätte sich ganz einfach sagen können, daß man niemanden umbringt, gleichgültig, wie schlecht es einem geht. Er hätte durchaus anders gekonnt. Denn auch er war der Urheber seines Tuns.

4

Deshalb wird Raskolnikov zur Verantwortung gezogen und bestraft. Bei vielen Gelegenheiten nämlich nehmen die anderen uns gegenüber nicht die zuvor geschilderte neutrale Außenperspektive ein, aus der heraus, was wir tun, den Charakter des Zwangsläufigen und Unabänderlichen hat. Sie ziehen uns zur Rechenschaft, weil sie uns, wie sich selbst, aus der Innenperspektive betrachten als Personen, welche die Freiheit der Entscheidung haben. Die Idee der freien Entscheidung und die Idee der Verantwortung, die jemand für sein Tun trägt, sind aufs engste miteinander verknüpft. Man kann die eine ohne die andere nicht denken. Manchmal, etwa wenn wir einen Irren vor uns zu haben glauben, nehmen wir die reine Außenperspektive ein. Damit hören wir aber auch auf, ihn für sein Tun zur Verantwortung zu ziehen. Es ergäbe keinen Sinn und schiene uns nicht fair, ihn für etwas verantwortlich zu machen, was ihm einfach nur zugestoßen ist, ohne daß er darüber selbst hätte bestimmen können. Und nicht nur die Zuschreibung von Verantwortung geben wir in einem solchen Fall auf. Auch unsere Empfindungen ihm gegenüber verändern sich grundlegend. Jemandem gegenüber, dem wir die Freiheit der Entscheidung zubilligen, entwickeln wir moralische Empfindungen wie Groll und Entrüstung, und wir machen ihm Vorwürfe wegen seines Tuns. Wenn wir unser Urteil ändern und ihm die Freiheit absprechen, verlieren solche Empfindungen ihren Sinn. Und so wäre es auch mit den Empfindungen uns selbst gegenüber: Sollte sich herausstellen, daß wir nie den Hauch einer Chance hatten, von der tatsächlichen Lebenslinie abzuweichen: Was hätte es für einen Sinn, sich Vorwürfe zu machen oder Reue zu empfinden?

5

Was wir vor uns haben, ist ein Konflikt zwischen zwei Gedankengängen, die aus unterschiedlichen Provinzen unseres Denkens schöpfen: auf der einen Seite die Überlegung, die sich an der Idee einer verständlichen, bedingten und gesetzmäßigen Welt orientiert; auf der anderen Seite die Erinnerung an unsere Freiheitserfahrung, die in den Ideen der Urheberschaft, der Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten und der Verantwortung ihren Ausdruck findet. Beide Gedankengänge besitzen ihre eigene Schlüssigkeit, und keinem von ihnen haftet die Willkürlichkeit eines bloßen Gedankenspiels an. Weder die Idee einer verständlichen Welt noch die Idee des freien, verantwortlichen Tuns sind Ideen, die wir einfach aufgeben könnten – nicht einmal, wenn wir gedanklich unter Druck geraten. Das ist nicht deshalb so, weil wir sie beide so sehr mögen. Es ist ernster: Obwohl sie sich widersprechen, brauchen wir beide, um uns und unsere Stellung in der Welt zu artikulieren. Diese Artikulation wäre offensichtlich unvollständig und verzerrt, wenn eine der beiden Ideen fehlte. Und doch gilt hier, was bei jedem Widerspruch gilt: Wenn die beiden begrifflichen Bilder – das Bild der Bedingtheit und das Bild der Freiheit – sich widersprechen, so heben sie sich gegenseitig auf. An eines von ihnen und an seine Negation zu glauben bedeutet, nichts zu glauben und also kein Bild zu besitzen.

Wie vertrackt und tückisch die gedankliche Situation ist, wird deutlich, wenn wir für einen Moment versuchen, den einen Gedankengang gegen den anderen zu wenden. Nehmen wir an, wir sagen: »Ich bin in meinem Tun frei, und das bedeutet, daß ich immer mehrere Möglichkeiten habe. Also kann es nicht sein, daß, was ich tue, Bedingungen hat, die festlegen, was ich tun werde.« Was würde das bedeuten? Es würde heißen, daß unser Handeln, weil es durch nichts festgelegt wäre, auch nicht durch unsere Motive, vollständig zufällig wäre. Was wir täten, hinge von nichts ab. Es könnte genausogut das eine wie das andere Tun eintreten. Es wäre bloßer Zufall, daß Raskolnikov, wenn er vor der Pfandleiherin steht, die Axt hebt und zuschlägt. Es hätte auch etwas ganz anderes eintreten können: daß er die Alte umarmt, daß er sich umdreht und geht, und so weiter. Und seine Tat hätte nichts mit seiner Armut, seinem Wunsch nach Geld, seiner Kenntnis der Wohnung und ihres Alleinseins zu tun. Es wäre, mit anderen Worten, eine völlig unbegründete Tat. Und es wäre deshalb eine völlig unverständliche Tat. Wäre es überhaupt noch eine Handlung? Machen wir die Gegenprobe. Nehmen wir an, wir sagen: »Handlungen sind etwas, was aus Motiven entsteht. Wir tun etwas, weil wir etwas wollen. Deshalb sind Handlungen auch verständlich. Bedingungen aber gibt es nur, wo es Regelmäßigkeiten gibt, also Gesetze, die festlegen, was geschieht. Es steht also, gegeben gewisse Bedingungen, fest, was wir tun werden. Also gibt es keine freie Wahl, und wir täuschen uns, wenn wir beim Überlegen das Gegenteil annehmen.« Jetzt haben wir die Idee der verständlichen Handlung gerettet, aber die Idee der freien Entscheidung verloren, und mit ihr die Idee der Verantwortung.

Wir sind in einem Dilemma: Wenn wir unser Handeln bestimmt sein lassen durch Motive, so erfüllt es die eine Bedingung für ein Handeln; aber weil es ein festgelegtes Handeln ist, ist es kein freies Handeln und erfüllt damit die andere Bedingung für ein Handeln nicht. Wenn es umgekehrt kein durch Motive festgelegtes Handeln ist, ist ihm die Freiheit nicht genommen, und es könnte in diesem Sinne ein Handeln sein; da es dann aber ein zufälliges, unverständliches Geschehen wäre, erfüllt es die andere Bedingung für ein Handeln nicht. Wir bekommen also in keinem Sinne eine stimmige Idee von Handeln. Und was für die Idee des Handelns gilt, gilt gleichermaßen für die Idee des Willens: Seine Bedingtheit droht, ihm die Freiheit und damit den Charakter echten Wollens zu nehmen; seine Unbedingtheit macht ihn zu einem unverständlichen, entfremdeten Willen, dessen pure Zufälligkeit auch nicht der Idee der Freiheit entspricht. Die für unser Selbstverständnis grundlegenden Ideen des Handelns und Wollens, die so vertraut sind und so klar schienen, entpuppen sich als in sich unstimmige Ideen. Und unstimmige Ideen sind keine Ideen.

6

Es ist nicht wie bei einer Logelei, einem kniffligen Kreuzworträtsel oder einem raffinierten Puzzlespiel. Die Herausforderung ist mehr als ein Test für spielerischen Scharfsinn. Auch ist die gedankliche Situation, in die wir geraten sind, anders als bei einer Paradoxie – der Frage etwa, wie der schnelle Achill die langsame Schildkröte überholen kann, wo die Schildkröte doch immer schon weiter ist – wenn auch nur ein winziges Stück –, wenn er ankommt, oder der Frage, was wir sagen sollen, wenn ein Kreter behauptet, daß alle Kreter lügen, und damit etwas sagt, das genau dann wahr ist, wenn es falsch ist. Wenn wir feststellen, daß wir, begrifflich gesehen, die Verständlichkeit von Tun und Wollen mit ihrer Unfreiheit bezahlen und die Freiheit mit Selbstentfremdung, so ist das mehr als eine belästigende oder belustigende Irritation. Die Entdeckung bedeutet eine Verwirrung, die das Gleichgewicht der Gefühle in Gefahr bringt. Wir empfanden uns als Teil der Natur und gleichzeitig als frei und verantwortlich, und nun stellt sich heraus, daß die beiden Dinge nicht zusammengehen, wobei es unmöglich scheint, das eine für das andere zu opfern. Und was uns dabei am meisten verstört: Das gewohnte moralische Denken scheint seinen Halt zu verlieren. Der Richter schickt Raskolnikov ins Straflager nach Sibirien und zerstört sein Leben. Wir stimmen zu. Aber dürfen wir das eigentlich? Wenn Raskolnikov nicht anders konnte, als diese eine Linie auf der Oberfläche der Erde zu ziehen, die ihn zum Mörder machte: Ist es dann nicht unfair und grausam, ja unmenschlich, ihn einzusperren? Wenn seine Tat dagegen bedingungslos frei war und ihm als etwas zustieß, das nichts mit ihm und seiner Lebensgeschichte zu tun hatte: Ist es dann nicht vollkommen sinnlos, ihn dafür zu bestrafen? In welche gedankliche Richtung wir auch gehen: Die moralische Einstellung, die unser Leben so nachhaltig bestimmt wie kaum etwas anderes, scheint hoffnungslos konfus zu sein. Es sieht so aus, als seien wir gerade dort, wo es um alles geht, das Opfer einer tiefen, verstörenden Verwirrung.

7

Treten wir einen Schritt zurück. Ist der Widerspruch im Denken, der sich aufgetan hat, etwas, das wir einfach anerkennen müssen? Ist das einzig Redliche vielleicht dieses: ihn als etwas hinzunehmen, das in der Natur der Sache begründet liegt? Ist das am Ende die Pointe des Ganzen? Geht es darum, die Unstimmigkeit nicht als etwas zu sehen, was leider unausrottbar ist, sondern als eine wesentliche Unstimmigkeit?

Aber sie fällt ja nicht vom Himmel, sondern ist etwas, das durch unser Denken entsteht. Muß man deshalb nicht doch erwarten, daß dieses Denken sie auch zu bereinigen vermag? Denn was könnte es heißen zu sagen, es liege in der Natur unseres Denkens, daß es zu solchen Widersprüchen führt? Was könnte das heißen, gegeben, daß man nichts denkt, wenn man etwas Widersprüchliches denkt?

Oder sollen wir sagen, daß der Widerspruch zwar zu beseitigen ist, daß wir das aber nicht vermögen, weil wir hier an die Grenzen unseres Denkens stoßen? Aber was könnte das bedeuten: daß ein Konflikt in unserem Denken von jenseits der Grenzen dieses Denkens her auflösbar ist? Würde man eine solche Auskunft überhaupt verstehen?

Wir sehen: Es gibt nicht nur den einen Irrgarten. Dahinter gibt es noch einen weiteren Irrgarten: denjenigen, in dem wir uns verlaufen, wenn wir über den ersten nachdenken.

8

Können wir das Ganze einfach vergessen und weitermachen wie bisher? Natürlich können wir das. Niemand zwingt uns dazu, nach einem Ausweg aus dem Irrgarten zu suchen. Meistens fällt es ja auch gar nicht auf, daß die Dinge nicht so einfach sind, wie wir glauben. Ein Richter muß ein ziemlich nachdenklicher Richter sein, um zu bemerken, daß er eigentlich gar nicht richtig weiß, wie Lebensgeschichte, Freiheit und Verantwortung zusammenhängen. Doch wenn er einmal die Verunsicherung erfahren hat, zu der unser Nachdenken geführt hat, wird er wissen wollen, wie sich die Sache denn nun verhält. Man lebt nicht gut mit dem Gefühl, gerade über die wichtigsten Dinge keine Klarheit zu besitzen.

Das ist der Grund, warum es Philosophie gibt. Sie ist der Weg und die Anstrengung, über die grundlegenden gedanklichen Dinge, die uns beschäftigen, Klarheit zu gewinnen. »Darüber kann man lange philosophieren.« Eine solche Einstellung spöttischer Resignation stellt die Dinge auf den Kopf. Sie tut, als müßte es für immer willkürlich bleiben, was wir über die tiefsten Dinge, die uns beschäftigen, glauben. Als gehörte es gleichsam zur Natur dieser Dinge, daß es bei unauflösbaren Meinungsverschiedenheiten bleiben muß. Bei Licht besehen, ist das eine erstaunliche Einstellung. Denn man müßte einen Grund haben – einen sehr starken Grund –, um sie zu verteidigen. Wie sollte er aussehen? In Wirklichkeit ist es umgekehrt: Meinungsverschiedenheiten sind nicht der Endpunkt der Philosophie, sondern ihr Anfang. Eine philosophische Beschäftigung mit einem Thema wie der Willensfreiheit bedeutet den Versuch, in der Sache eine begründete Entscheidung herbeizuführen. Und das geht. Davon handelt dieses Buch.

ERSTER TEILBedingte Freiheit

1. Etwas tun – etwas wollen

Wie beginnen?

Wenn man sich in einem Irrgarten verläuft, so bedeutet das, daß man die Übersicht verloren hat. Wie können wir sie bei unserem Thema zurückgewinnen? Es kann nicht dadurch geschehen, daß wir die beschriebenen Gedanken immer wieder nachvollziehen und uns stets von neuem in sie verstricken. Wir müssen ein anderes, distanziertes Verhältnis zu ihnen gewinnen: Wir müssen sie betrachten wie im Zitat. Statt zu sagen: »Aber Freiheit des Tuns und Wollens ist doch …«, können wir sagen: »Gewöhnlich denken wir, Freiheit sei …«. Und dann können wir uns – besonnener und kritischer als vorher – mit den Wegen beschäftigen, die unser Denken zu nehmen pflegt. Indem wir die Identifikation mit Gedankengängen lösen, bringen wir sie vor uns, statt uns nur von ihnen treiben zu lassen. Dadurch können wir leichter erkennen, wo und warum sie uns in die Irre führen.

Zu diesem Schritt gehört, daß wir die Ideen oder Begriffe, auf die es ankommt, zum Thema machen, statt, wie früher, nur mit ihnen zu hantieren. Wie stellt man das an? Ideen oder Begriffe erschließen sich in Wörtern, oder besser: in Worten. Denn es geht nicht darum, auf Wörter zu starren, wie sie im Wörterbuch stehen. Es geht darum, Wörter in Aktion zu betrachten: in ihrem Beitrag, den sie zur Artikulation von Gedanken leisten. Wörter in Aktion sind der Ankerplatz, wenn man Begriffen auf den Grund gehen will. Die Logik ihrer Verwendung ist Ausgangspunkt und Beleg für die Dinge, die wir über eine Idee, wie zum Beispiel die Idee der Freiheit, sagen. Unsere sprachliche Sensibilität ist ein guter, wenn auch nicht unfehlbarer Führer, wenn es darum geht, über Ideen Klarheit zu gewinnen. Das darf man nicht mißverstehen: Es ist keineswegs so, daß sich , was es an einer solchen Idee zu entdecken gibt, in der Betrachtung von Wörtern und ihrer Logik erschließt. Es gibt viele Entdeckungen ganz anderer Art zu machen, von denen später – namentlich in den beiden Intermezzi – die Rede sein wird. Doch eines bleibt richtig, auch nachdem man den Blickwinkel erweitert hat: Wir können nur dann sicher sein, daß unsere Auskünfte über eine Idee für die anderen nachvollziehbar und damit überprüfbar bleiben, wenn sie in einer übersichtlichen Beziehung zur Logik der entsprechenden Wörter stehen. Nur dann nämlich ist klar, von Idee die Rede ist. Das ist der Grund, warum die Sprache so wichtig ist für die Philosophie.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!