Wie wäre es, gebildet zu sein? - Peter Bieri - E-Book

Wie wäre es, gebildet zu sein? E-Book

Peter Bieri

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Beschreibung

"Bildung beginnt mit Neugierde. Man töte in jemandem die Neugierde ab, und man nimmt ihm die Chance, sich zu bilden. Neugierde ist der unersättliche Wunsch zu erfahren, was es in der Welt alles gibt." "Der Gebildete ist einer, der ein möglichst breites und tiefes Verständnis der vielen Möglichkeiten hat, ein menschliches Leben zu leben."

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Peter Bieri

WIE WÄRE ES, GEBILDET ZU SEIN?

Originalausgabe

1. Auflage 2017

Verlag Komplett-Media GmbH

2017, München/Grünwald

www.komplett-media.de

E-Book-ISBN: 978-3-8312-6950-1

Korrektorat: Redaktionsbüro Julia Feldbaum, Augsburg

Umschlaggestaltung: X-Design, München

Satz: Daniel Förster, Belgern

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

INHALT

WIE WÄRE ES, GEBILDET ZU SEIN?

Bildung als Weltorientierung

Bildung als Aufklärung

Bildung als historisches Bewusstsein

Bildung als Artikuliertheit

Bildung als Selbsterkenntnis

Bildung als Selbstbestimmung

Bildung als moralische Sensibilität

Bildung als poetische Erfahrung

Leidenschaftliche Bildung

DIE VIELFALT DES VERSTEHENS –

ÜBER DIE SPRACHE DER WISSENSCHAFT UND DIE SPRACHE DER LITERATUR

Sprache als Medium des Verstehens

Natur verstehen

Handlungen und ihre Gründe verstehen

Keine Metaphysik

Literatur: die Leidenschaft des genauen Erzählens

Literatur: der Geist der Komplexität

Literatur: Fiktion als Vergegenwärtigung von Erfahrung

Literatur: die Musik der Worte

ÜBER DEN AUTOR

WIE WÄRE ES, GEBILDET ZU SEIN?

Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist keine Wortklauberei, kein spitzfindiges Geplänkel eines Rabulisten. Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein. Diese Art und Weise, der Welt und uns selbst zu begegnen, ist mein Thema.

Bildung als Weltorientierung

Bildung beginnt mit Neugierde. Man töte in jemandem die Neugierde ab, und man stiehlt ihm die Chance, sich zu bilden. Neugierde ist der unersättliche Wunsch zu erfahren, was es in der Welt alles gibt. Sie kann in ganz verschiedene Richtungen gehen: hinauf zu den Gestirnen und hinunter zu den Atomen und Quanten; hinaus zu der Vielfalt der natürlichen Arten und hinein in die fantastische Komplexität eines menschlichen Organismus; zurück in die Geschichte von Weltall, Erde und menschlicher Gesellschaft und nach vorn zu der Frage, wie es mit unserem Planeten, unseren Lebensformen und Selbstbildern weitergehen könnte. Stets geht es um zweierlei: zu wissen, was der Fall ist, und zu verstehen, warum es der Fall ist.

Die Menge von dem, was es zu wissen und zu verstehen gibt, ist gigantisch, und sie wächst mit jedem Tag. Sich zu bilden, kann nicht heißen, außer Atem hinter allem herzulaufen. Die Lösung ist, sich eine grobe Landkarte des Wissbaren und Verstehbaren zurechtzulegen und zu lernen, wie man über die einzelnen Provinzen mehr lernen könnte. Bildung ist also ein doppeltes Lernen: Man lernt die Welt kennen, und man lernt das Lernen kennen.

Dabei entstehen zwei Dinge, die gleichermaßen wichtig sind. Das eine ist ein Sinn für die Proportionen. Man braucht, um gebildet zu sein, nicht die genaue Anzahl der Sprachen zu kennen, die es auf der Erde gibt. Aber man sollte wissen, dass es eher 4000 sind als 40. China ist das bevölkerungsreichste, aber bei Weitem nicht das größte Land. Es gibt nicht Hunderte von chemischen Elementen. Die Lichtgeschwindigkeit ist weder zehn noch eine Million Kilometer pro Sekunde. Das Universum ist nicht Millionen, sondern Milliarden von Jahren alt. Das Mittelalter begann nicht mit Jesu Geburt und die Neuzeit nicht vor hundert Jahren. Zu diesem Sinn für Proportionen gehört auch, dass man die Bedeutung von Menschen, Leistungen und Ereignissen richtig gewichten kann. Louis Pasteur war für die Menschheit wichtiger als Pelé, die Erfindung des Buchdrucks, der Glühbirne und des Computers folgenreicher als diejenige des Regenschirms, des Rasierapparats und des Lippenstifts.

Das Zweite, was im Zuge der Weltorientierung entsteht, ist ein Sinn für Genauigkeit – ein Verständnis davon, was es heißt, etwas genau zu kennen und zu verstehen: ein Gestein, ein Gedicht, eine Krankheit, eine Symphonie, ein Rechtssystem, eine politische Bewegung, ein Spiel. Es gibt niemanden, der mehr als nur einen winzigen Ausschnitt der Welt genau kennt. Doch das verlangt die Idee der Bildung auch nicht. Aber der Gebildete ist einer, der eine Vorstellung davon hat, was Genauigkeit ist, und dass sie in verschiedenen Provinzen des Wissen ganz Unterschiedliches bedeutet.

Bildung als Aufklärung

Der Gebildete ist also derjenige, der sich in der Welt zu orientieren weiß. Was ist diese Orientierung wert? »Wissen ist Macht.« Was die Idee der Bildung betrifft, kann das nicht heißen, mit seinem Wissen über andere zu herrschen. Die Macht des Wissens liegt woanders: Sie verhindert, dass man Opfer ist. Wer in der Welt Bescheid weiß, kann weniger leicht hinters Licht geführt werden und kann sich wehren, wenn andere ihn zum Spielball ihrer Interessen machen wollen – in Politik oder Werbung etwa.

Orientierung in der Welt ist nicht die einzige Orientierung, auf die es ankommt. Gebildet zu sein, heißt auch, sich bei der Frage auszukennen, worin Wissen und Verstehen bestehen, wie weit sie reichen und was ihre Grenzen sind. Es heißt, sich die Frage vorzulegen: Was weiß und verstehe ich wirklich, und was von den Dingen, die ich und die anderen glauben, steht auf wackligen Füßen? Es gilt, einen Kassensturz des Wissens und Verstehens zu machen. Dazu gehören Fragen wie diese: Was für Belege habe ich für meine Überzeugungen? Sind sie verlässlich? Und belegen sie wirklich, was sie zu belegen scheinen? Wie verlässlich sind die Prinzipien, mit denen man von den Belegen zu den Behauptungen kommt, die über sie hinausgehen? Was sind gültige Schlüsse und was Fehlschlüsse? Was sind gute Argumente, und was ist trügerische Sophisterei? Das Wissen, das es hier zu erlangen gibt, ist Wissen zweiter Ordnung. Es unterscheidet den naiven vom gebildeten Wissenschaftler, den ernst zu nehmenden vom einfältigen Journalisten, der noch nie etwas von Quellenkritik gehört hat.

Wissen zweiter Ordnung bewahrt uns davor, das Opfer von Aberglauben zu werden. Wann macht ein Ereignis ein anderes wahrscheinlich? Was ist ein Gesetz im Unterschied zu einer zufälligen Korrelation? Was unterscheidet eine echte Erklärung von einer Scheinerklärung? Das müssen wir wissen, wenn wir ein Risiko abschätzen und uns ein Urteil über all die Vorhersagen bilden wollen, mit denen wir bombardiert werden. Jemand, der in diesen Dingen wach ist, wird skeptische Distanz wahren – nicht nur gegenüber esoterischer Literatur, sondern auch gegenüber wirtschaftlichen Prognosen, Wahlkampfargumenten, psychotherapeutischen Versprechungen und dreisten Anmaßungen der Gehirnforschung. Und er wird gereizt, wenn er hört, wie andere Wissenschaftsformeln nur nachplappern.

Der in diesem Sinne Gebildete weiß zwischen bloßen rhetorischen Fassaden und richtigen Gedanken