Wie wollen wir leben? - Peter Bieri - E-Book

Wie wollen wir leben? E-Book

Peter Bieri

4,8

Beschreibung

Der Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri alias Pascal Mercier geht zentralen Fragen des menschlichen Lebens nach. Wir wollen über unser Leben selbst bestimmen. Davon hängen unsere Würde und unser Glück ab. Doch was genau bedeutet das? Unser Denken, Fühlen und Tun ergibt sich aus den Bedingungen einer Lebensgeschichte. Was heißt es, dass wir trotzdem Einfluss auf unser Leben nehmen können, sodass es uns nicht einfach nur zustößt? Was für eine Rolle spielt dabei Selbsterkenntnis? Wann sind die Anderen eine Hilfe für Selbstbestimmung und wann ein Hindernis? Wie hängen Selbstbestimmung und kulturelle Identität zusammen? Und welche Bedeutung hat die Literatur für all das? Bieris Überlegungen in diesem Buch sind eine Fortführung seiner Betrachtungen in "Das Handwerk der Freiheit" (2001).

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Peter BieriWie wollen wir leben?

Peter Bieri

Wie wollen wir leben?

Aus der Reihe »UNRUHE BEWAHREN«

Residenz Verlag

Unruhe bewahren – Frühlingsvorlesung & Herbstvorlesung.Eine Veranstaltung der Akademie Graz in Kooperation mit dem Kulturzentrum bei den Minoriten und DIE PRESSE.

Die Frühlingsvorlesung zum Thema »Wie wollen wir leben?« fand von 21. bis 23. März 2011 im Kulturzentrum bei den Minoriten in Graz statt.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2011 Peter Bieri

Residenz Verlagim Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:978-3-7017-4234-9

ISBN Printausgabe:978-3-7017-1563-3

Inhalt

1. Vorlesung: Was wäre ein selbstbestimmtes Leben?

2. Vorlesung: Warum ist Selbsterkenntnis wichtig?

3. Vorlesung: Wie entsteht kulturelle Identität?

Literaturhinweise

Erste Vorlesung

Was wäre ein selbstbestimmtes Leben?

Wir wollen über unser Leben selbst bestimmen. Das sind Worte, die leidenschaftliche Zustimmung finden, und wir haben den Eindruck, daß sie von den beiden wichtigsten Dingen handeln, die wir kennen: von unserer Würde und unserem Glück. Doch was bedeuten die vertrauten Worte eigentlich? In welchem Sinn kann ich über mein Leben bestimmen? Was ist das für eine Idee von Bestimmen und von Selbständigkeit? Wie kann man die Idee entfalten, und was kommt da alles zum Vorschein?

Keine äußere Tyrannei

Nach einer ersten Lesart ist etwas Einfaches, Geradliniges gemeint: Wir wollen in Einklang mit unseren eigenen Gedanken, Gefühlen und Wünschen leben. Wir möchten nicht, daß uns jemand vorschreibt, was wir zu denken, zu sagen und zu tun haben. Keine Bevormundung durch die Eltern, keine verschwiegene Tyrannei durch Lebensgefährten, keine Drohungen von Arbeitgebern und Vermietern, keine politische Unterdrückung. Niemand, der uns zu tun nötigt, was wir von uns aus nicht möchten. Keine äußere Tyrannei also und keine Erpressung, aber auch nicht Krankheit und Armut, die uns verbauen, was wir erleben und tun möchten.

Das ist nicht mit dem Wunsch zu verwechseln, ohne Rücksicht auf andere die eigenen Interessen durchzusetzen. Zwar kann man – ganz formal betrachtet – Selbstbestimmung auch so lesen. Doch dann ist sie nicht das, was die meisten von uns im Auge haben: ein selbständiges Leben in einer Gemeinschaft, die durch rechtliche und moralische Regeln bestimmt ist – Regeln, die soziale Identitäten definieren, ohne die es ebenfalls keine Würde und kein Glück gibt. Was wir nach dieser ersten Lesart der Idee meinen, ist ein Leben, das im Rahmen dieser Regeln frei von äußeren Zwängen wäre, und ein Leben, in dem wir mit darüber bestimmen können, welche Regeln gelten sollen.

Innere Selbständigkeit

Wie gesagt: Das ist eine relativ einfache, transparente Idee, die keine grundsätzlichen gedanklichen Probleme aufwirft. Viel komplizierter und undurchsichtiger wird die Idee der Selbstbestimmung, wenn wir sie unter einer zweiten Lesart betrachten. Danach geht es nicht mehr um die Unabhängigkeit den Anderen gegenüber, sondern um die Fähigkeit, über sich selbst zu bestimmen. Nun ist nicht mehr die Rede davon, über mein Leben Regie zu führen, indem ich mich gegen die Tyrannei der Außenwelt wehre. Jetzt geht es darum, in einem noch ganz anderen Sinne der Autor und das Subjekt meines Lebens zu werden: indem ich Einfluß auf meine Innenwelt nehme, auf die Dimension meines Denkens, Wollens und Erlebens, aus der heraus sich meine Handlungen ergeben. Wie kann man sich diesen Einfluß, diese innere Lebensregie, vorstellen?

Wir sind nicht die unbewegten Beweger unseres Wollens und Denkens. Wir sitzen nicht als stille Regisseure im Dunkeln und ziehen die Fäden in unserem inneren Drama. Und wir können nicht nach Belieben, ohne Vorbedingungen und aus dem Nichts heraus, darüber bestimmen, was wir denken, fühlen und wollen. Selbstbestimmung in dieser zweiten Lesart bedeutet weder eine innere Verdoppelung der Person durch einen stillen Homunculus, noch eine Wahl von einem imaginären Nullpunkt aus. Bevor wir soweit sind uns zu fragen, wie wir leben möchten, sind tausendfach Dinge auf uns eingestürzt und haben uns geprägt. Diese Prägungen bilden den Sockel für alles weitere, und über diesen Sockel können wir nicht bestimmen. Doch das macht nichts, denn das Gegenteil wäre ohnehin nicht denkbar: Derjenige, der am Nullpunkt stünde, könnte sich nicht selbst bestimmen, denn er hätte, noch ganz ohne Wünsche und ohne Spuren des Erlebens, keinen Maßstab. Damit unser Wille und unser Erleben die unseren sind als Teil der persönlichen Identität, müssen sie in eine Lebensgeschichte eingebettet und durch sie bedingt sein, und wenn es da Selbstbestimmung gibt, dann nur als Einflußnahme im Rahmen einer solchen Geschichte, die auch eine kausale Geschichte ist, eine Geschichte von Vorbedingungen.

Ist diese Einsicht nicht gefährlich? Unser Erleben ist mit dem Rest der Person kausal – durch Beziehungen der Bedingtheit – verflochten. Doch die Dinge in uns, aus denen es sich ergibt, werden ihrerseits kausal von der Welt draußen bestimmt. Werden mein Denken, Wollen und Fühlen damit nicht zum bloßen Spielball des Weltgeschehens, so daß es ein Hohn ist, davon zu sprechen, daß ich über sie bestimmen kann? Macht uns das als Denkende und Wollende nicht zu bloßem Treibsand? Vieles, was ich will, geht darauf zurück, daß andere mir etwas gesagt und auf diese Weise dafür gesorgt haben, daß ich bestimmte Dinge glaube, fühle und will. Die anderen setzen Kausalketten in Gang, an deren Ende sich mein Erleben und dann mein Tun verändern. Werde ich dadurch nicht zum bloßen Instrument und Spielzeug der Anderen, zu einer Art Marionette? Wenn ich mich in jedem Moment in einem kausalen Kräftefeld von eigener Vergangenheit und fremdem Einfluß befinde: Wie kann da im Ernst noch von Selbstbestimmung die Rede sein? Ist das nicht bloß ein rhetorisches Manöver des Selbstbetrugs?

Doch so ist es nicht. Auch wenn meine Innenwelt aufs engste verflochten ist mit dem Rest der Welt, so gibt es doch einen gewaltigen Unterschied zwischen einem Leben, in dem jemand sich so um sein Denken, Fühlen und Wollen kümmert, daß er in einem emphatischen Sinne sein Autor und sein Subjekt ist, und einem anderen Leben, das der Person nur zustößt und von dessen Erleben sie wehrlos überwältigt wird, so daß statt von einem Subjekt nur von einem Schauplatz des Erlebens die Rede sein kann. Selbstbestimmung zu verstehen, heißt, diesen Unterschied auf den Begriff zu bringen.

Sich selbst zum Thema werden

Am Anfang steht eine Beobachtung von großer Tragweite: Es kennzeichnet uns Menschen, daß wir, was unsere Meinungen, Wünsche und Emotionen anlangt, nicht nur blind vor uns hinleben und uns treiben lassen müssen, sondern daß wir uns in unserem Erleben zum Thema werden und uns um uns selbst kümmern können. Das ist die Fähigkeit, einen Schritt hinter sich selbst zurückzutreten und einen inneren Abstand zum eigenen Erleben aufzubauen.

Diese Distanz zu sich selbst gibt es in zwei Varianten. Die eine ist eine Distanz des Erkennens und Verstehens: Was ist es eigentlich, was ich denke, fühle und will? Und wie ist es zu diesen Gedanken, Gefühlen und Wünschen gekommen? Zu dieser reflektierenden Einstellung gehört implizit ein wichtiger Gedanke: Es wäre auch möglich, etwas anderes zu denken, zu fühlen und zu wollen. Für Wesen wie uns, denen es um Selbstbestimmung gehen kann, ist die Kategorie des Möglichen von großer Bedeutung: der Gedanke, daß es nicht nur die eine, die eigene Weise gibt, ein menschliches Leben zu führen, sondern viele und ganz verschiedene. Selbstbestimmung verlangt einen Sinn für das Mögliche, also Einbildungskraft, Phantasie.

Noch deutlicher zeigt sich das bei der zweiten Variante der inneren Distanz, wo es um die Bewertung des eigenen Erlebens geht: Bin ich eigentlich zufrieden mit meiner gewohnten gedanklichen Sicht auf die Dinge, oder überzeugt sie mich nicht mehr? Finde ich meine Angst, meinen Neid und meinen Haß angemessen? Möchte ich wirklich einer sein, der diesen überkommenen Haß weiterträgt und diese Angst meiner Eltern weiterschreibt? Oder würde ich mich lieber als einen erleben, der der Versöhnung und Gelassenheit fähig ist? Und entsprechende Fragen können meinen Wünschen und meinem Willen gelten: Ist mir eigentlich wohl mit meinem Willen, der immer noch mehr Geld und Macht anstrebt? Möchte ich wirklich einer sein, der stets das Rampenlicht und den Lärm des Erfolgs sucht? Oder möchte ich lieber einer sein, der in der Stille von Klostergärten zu Hause ist?

Es ist nichts mysteriös an diesem erkennenden und bewertenden Abstand, den wir zu uns selbst aufbauen können. Er bedeutet keine heimliche Verdoppelung der Person. Er besteht einfach in der Fähigkeit, Gedanken, Emotionen und Wünsche zweiter Ordnung zu entwickeln, die sich auf diejenigen erster Ordnung richten. Aus dieser Fähigkeit heraus entsteht etwas, was für die Erfahrung von gelingender und scheiternder Selbstbestimmung von entscheidender Bedeutung ist: unser Selbstbild, unsere Vorstellung davon, wie wir sein möchten. Was wir jetzt sagen können, ist: Selbstbestimmt ist unser Leben, wenn es uns gelingt, es innen und außen in Einklang mit unserem Selbstbild zu leben – wenn es uns gelingt, im Handeln, im Denken, Fühlen und Wollen der zu sein, der wir sein möchten. Und umgekehrt: Die Selbstbestimmung gerät an ihre Grenzen oder scheitert ganz, wenn zwischen Selbstbild und Wirklichkeit eine Kluft bleibt.

Sich in sich auskennen

Doch der Gedanke klingt einfacher, als er ist. Denn woher kommt das Selbstbild, und wie hat man sich den Prozeß vorzustellen, durch den ich mit mir selbst zur Deckung kommen und mich mit dem Drama meiner Innenwelt identifizieren kann?

Der innere Umbau, in dem diese Art von Selbstbestimmung besteht, geschieht nicht von einem inneren Hochsitz aus, der den Fluß des seelischen Lebens hoch und unberührbar überragte. Der Standpunkt, von dem aus ich mich beurteile, ist Teil dieses Flusses und beruht selbst wieder auf bestimmten Gedanken, Wünschen und Gefühlen. Und der Maßstab des Selbstbilds ist nicht unantastbar: Manchmal geht es nicht darum, sich einem solchen Bild zu beugen, sondern eine versklavende Vorstellung von sich selbst über Bord zu werfen. Und auch die Einflußnahme darf man nicht falsch deuten: Die innere Umgestaltung kann nicht einfach beschlossen und durch seelische Alchemie verwirklicht werden. Viele äußere Umwege sind nötig: Kulissenwechsel, neue Erfahrungen, neue Beziehungen, die Arbeit mit Trainern und Therapeuten. Das Ganze ist ein Kampf gegen die innere Monotonie, gegen eine Starrheit des Erlebens und Wollens.

Die beste Chance, den Kampf zu gewinnen, liegt in der Selbsterkenntnis. Wenn wir eine hartnäckige Zerrissenheit erleben, weil wir so ganz anders sind, als wir gerne sein möchten, dann geht es darum, den Quellen