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Ein Mann zieht in eine neue Wohnung. Sie liegt ruhig, in einer alten Straße. Gegenüber steht ein Haus, das leer scheint – still, verwittert, vergessen. Doch nachts sieht er Licht. Eine Frau am Fenster. Ein Klopfen. Dann tauchen Dinge auf, die er verloren glaubte. Und Stimmen beginnen zu sprechen – mit seiner eigenen Handschrift. Er merkt: Das Haus beobachtet ihn. Nicht erst seit gestern. Was folgt, ist kein Spuk, sondern eine langsame Rückkehr. Zu einem Tag, den er vergessen hat. Zu einer Entscheidung, die nie aufgehoben wurde. Das Haus ist kein Ort. Es ist ein Archiv. Für Erinnerungen, die niemand behalten will. Und wer dort hineinblickt, muss wählen: Vergessen. Oder tragen.
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Seitenzahl: 63
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Das Haus, das nicht vergisst
von Andre Wellmann
Impressum
© 2025 Andre Wellmann
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Andre Wellmann, An der Tiergartenbreite 18, 38448 Wolfsburg, Germany .
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Das Haus, das nicht vergisst 3
von Andre Wellmann 3
Impressum 4
Kapitel 1 – Fenster zur anderen Seite 8
Kapitel 2 – Schritte auf nassem Stein 22
Kapitel 3 – Die Stille spricht zuerst 36
Kapitel 4 – Versiegelte Worte, vergilbtes Papier 50
Kapitel 5 – Im Staub vergangener Stunden 64
Kapitel 6 – Wenn Mauern erinnern 76
Kapitel 1 – Fenster zur anderen
Seite
“Der Himmel hing tief über der Stadt, als ich zum ersten Mal die enge Gasse hinaufstieg, in der mein neues Zuhause lag. Es war dieser eigenartige Moment zwischen Tag und Nacht, wo die Welt ihre Farben verliert und alles in jenes fahle Grau getaucht wird, das weder Licht noch Dunkelheit ist – nur ein Zustand des Dazwischen. Der Regen hatte gerade erst aufgehört, der Asphalt glänzte noch, und von den Dachrinnen tropfte es in unregelmäßigem Takt. Eine Taube flog erschrocken auf, als ich den schweren Koffer abstellte, um nach dem Schlüssel in meiner Manteltasche zu suchen.Die Haustür quietschte, als ich sie öffnete, und ich fragte mich, ob ich je Geräusche hören würde, die nicht ein Echo in mir auslösten. Die Wände im Hausflur waren gelblich vergilbt, als hätte hier einst Tabakrauch gelebt, und die Fliesen trugen das Muster zahlloser Schritte, die ihre Spuren hinterlassen hatten. Ich wohnte im zweiten Stock, die Fenster der unteren Etagen waren blind vor Staub. Kein Vorhang, kein Licht, kein Zeichen von Leben.
Oben angekommen, roch es nach alten Büchern und etwas anderem – etwas, das ich nicht benennen konnte, das aber sofort eine Erinnerung in mir weckte, die ich nicht fassen konnte. Die Wohnung war karg, aber sauber: ein schmaler Flur, ein Wohnzimmer mit einem Fenster zur Straße hin, eine kleine Küche, Schlafzimmer, Bad. Ich stellte den Koffer ab und trat an das große Fenster im Wohnzimmer.
Und da sah ich es zum ersten Mal bewusst. Gegenüber, fast genau auf meiner Augenhöhe, stand ein Haus, das sich von den anderen in der Straße unterschied. Es war nicht einfach alt – es war alt auf eine bestimmte Weise. Während die anderen Gebäude der Straße ihre Vergangenheit trugen wie ein abgewetzter Mantel, trug dieses Haus seine wie eine zweite Haut. Der Putz war brüchig, grau und stellenweise abgeplatzt, sodass darunter dunklere Flecken wie alte Narben hervortraten. Die Fenster waren hoch und schmal, manche mit gesprungenem Glas, alle aber geschlossen. Kein Licht, kein Vorhang. Und doch wirkte es, als stünde jemand hinter jedem dieser Fenster – reglos, blicklos, wartend.
Ich fröstelte.
Das Merkwürdige war: ich hätte schwören können, dass ich es schon einmal gesehen hatte. Nicht in der Realität – das hätte keinen Sinn ergeben –, sondern irgendwo in einem Traum, in einem dieser dunklen Träume, die sich nicht wie Träume anfühlen, sondern wie Rückblenden auf etwas, das nie geschehen ist.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, das Haus betrachtend, mit dem Gefühl, es würde jeden Moment den Blick erwidern. Als es endlich dunkel wurde, zog ich die Vorhänge zu – langsam, zögernd, wie jemand, der nicht sicher ist, ob er dabei nicht beobachtet wird.
In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich lag lange wach. Das Fenster ließ sich nicht aus meinen Gedanken verbannen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, formte sich das Bild des Hauses aufs Neue: dieselben starren Fenster, dieselbe graue Fassade, dieselbe bedrückende Stille. Es war, als hätte ich mit dem ersten Blick eine Verbindung hergestellt, die sich nicht mehr lösen ließ. Ich sagte mir, es sei nur Einbildung – die Reaktion auf einen Umzug, auf Einsamkeit, auf den Übergang. Doch das half nicht.
Gegen drei Uhr morgens stand ich auf, barfuß, nur im Hemd, und ging zum Fenster. Der Vorhang war halb aufgerutscht. Ich zog ihn zur Seite, kaum merklich, und spähte hinüber.
Da war nichts. Und doch – ich spürte es wieder. Die Fenster gegenüber lagen im Dunkeln, aber ich hatte plötzlich das sichere Gefühl, dass etwas hinter einem der Scheiben stand. Nicht sichtbar. Nicht greifbar. Aber da. Ich konnte es nicht sehen, aber ich konnte es fühlen, als würde mein eigenes Blickfeld getäuscht, um mich zu schützen.
Ich trat zurück. Mein Herz schlug schneller, ohne dass ich sagen konnte, warum.
Der Rest der Nacht war kurz und unruhig. Irgendwann schlief ich ein, mehr aus Erschöpfung als aus Beruhigung.
Der nächste Morgen war grau. Ich machte mir Kaffee, ohne Lust auf ihn zu haben, und setzte mich an den kleinen Tisch am Fenster. Ich zwang mich, nicht sofort wieder hinüberzusehen. Ich wollte Normalität, etwas zum Festhalten.
Dann hörte ich ein Klopfen.
Es war kein hartes, lautes Klopfen – eher ein vorsichtiges, zaghaftes Geräusch. Drei Schläge. Dann eine Pause. Dann erneut. Ich erstarrte. Es klang nicht wie vom Flur, auch nicht von der Tür. Es klang… als käme es vom Fenster.
Langsam drehte ich den Kopf. Nichts. Doch das Klopfen kam wieder. Diesmal war ich sicher: Es kam von der Glasscheibe. Ich stand auf, ging zum Fenster – so leise ich konnte –, zog den Vorhang ein kleines Stück zur Seite und blickte hinaus.
Das Haus gegenüber. Die Fassade. Die Fenster. Und dort – ganz oben im dritten Stock – war plötzlich ein Licht zu sehen. Es war kein elektrisches Licht. Es flackerte. Warm. Unregelmäßig. Wie eine Kerze.
Ich hielt den Atem an.
Das Licht bewegte sich. Es schien zu gleiten. Nicht wie eine Taschenlampe oder ein Handy Bildschirm, sondern langsam, fast schwebend. Als würde jemand mit einer Kerze durch das Zimmer gehen. Die Silhouette einer Gestalt war nur zu erahnen – doch sie war da. Ein Schatten, kaum greifbar, aber menschlich.
Ich trat näher ans Glas. Da war sie.
Eine Frau.
Ich konnte ihr Gesicht nicht klar erkennen. Aber sie stand still. Ganz still. Und sah direkt zu mir herüber. Ich wich zurück.
Nicht schnell, nicht panisch – aber mit einer Bewegung, die mir später seltsam instinktiv vorkam. Mein Atem hatte sich verflacht, meine Finger zitterten. Doch in dem Moment war ich wie gelähmt, stumm staunend wie ein Kind, das etwas sieht, das nicht da sein dürfte. Die Frau stand noch immer im dritten Stock des gegenüberliegenden Hauses. Das Licht um sie herum war schwach, flackernd, wie von einer einzigen Kerzenflamme, die jeden Moment verlöschen könnte. Ihre Silhouette war schmal, der Umriss eines langen, hellen Kleides war zu erkennen. Die Haare wirkten dunkel, beinahe schwarz, aber alles blieb diffus – wie durch einen Schleier aus Nebel oder Glas, das schon zu lange unbeachtet geblieben war. Sie bewegte sich nicht. Auch ich nicht. Wir standen da, getrennt durch Straße, Glas und Stille, doch verbunden durch etwas Unausgesprochenes, das jenseits aller Vernunft lag. Und dann – gerade als ich den Mut fand, genauer hinzusehen – verlosch das Licht. Ein einziger Flackerschlag, dann war das Fenster wieder schwarz.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch dastand. Vielleicht Minuten. Vielleicht länger. Die Stille um mich herum war vollkommen, aber in meinem Kopf rauschte es, als hätte jemand eine Tür geöffnet, hinter der Wind und Stimmen auf mich einstürmten. Ich hörte keinen Lärm – aber ich fühlte