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In diesem autobiographischen Roman beschreibt Lise Gast ihr Leben und ihren Arbeitsalltag auf dem Ponyhof in Süddeutschland. Hier lebte sie nach dem Tod ihres Mannes zusammen mit ihren 8 Kindern und vielen, vielen Gästen. Der Roman nimmt Ausgang in der Gastfreundlichkeit der Familie und berichtet liebevoll, mal im heiteren und mal im ernsten Ton, von den vielen Ereignissen auf dem Ponyhof. "Das Haus der offenen Türen" ist aber zugleich auch ein Roman über eine selbständige und lebensfrohe Frau, die ihr Dasein als Mutter, Vater, Schriftstellerin und Ponyzüchterin mit unermüdlicher Begeisterung und Freude meistert. Lesenswert!-
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Seitenzahl: 309
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Lise Gast
Saga
Das Haus der offenen Türen
German
© 1964 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711508787
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Nein, kein Roman,
nicht einmal ein Bericht.
Ja, was denn dann?
Ach, lies, und frag mich nicht!
Sei unser Gast wie, ach, so viele,
und freu dich an dem bunten Spiele!
Wir heißen Gast, daran liegt’s. Daran muß es liegen. Und zwar bedeutet dieser Name nicht etwa, daß wir überall in der Welt, in Griechenland und auf den Balearen, in Welzheim oder Berlin zu Gast kommen können, wann wir wollen, gern empfangen, herzlich begrüßt, mit Tränen verabschiedet — sondern das Gegenteil: Wir empfangen Gäste, wir begrüßen herzlich, wir verabschieden mit dem sogenannten großen Bahnhof unter Küssen, Tränen, Winken, bis der Wagen verschwunden ist. Unser Haus ist ein Gast-Haus.
Vielleicht kommt es auch daher, daß wir als erstes — wir bauten es nicht, sondern kauften es — zu der einzigen Tür, die es besaß, zwei weitere herausbrachen. Diese drei Türen stehen immer offen, Tag und Nacht, Sommer und Winter, wenn es nicht gar zu grimmig kalt ist, deshalb „das Haus der offenen Türen“. Soweit gut und schön, kein Hausschlüssel wird je gesucht, kein Spätheimkehrer muß Steinchen werfen — das wär’ bei uns gar nicht nötig, man reicht an alle Fenster heran, und manchmal erscheinen morgens am Frühstückstisch zwei Personen mehr, die uns nicht wecken wollten und sich deshalb in der Nacht oder frühmorgens in irgend einer Ecke zusammenrollten, dem Besuchskaffee entgegenträumend, der dann sofort in tiefer Schwärze aufgebrüht wird. Korrekterweise müßten wir also „Gastgeber“ heißen, aber diesen Namen habe ich noch nie gehört.
Immer habe ich mir gewünscht, viele viele Gäste beherbergen zu können. Seit meiner Kindheit schwebte mir ein Haus vor, das ganze Trakte von Gastzimmern enthielte, alle von außen, vom Flur her, zu heizen, alle mit Schlafcouch und Nachttischlampe bestückt. Letztere vor allem sind wichtig, ja, ausschlaggebend. Ich selbst jedenfalls schlafe, wenn irgendwo zu Gaste, lieber auf der Erde mit einer erreichbaren Lampe als im schönsten Bett unbeleuchtet. „Ohne Lesen macht die ganze Bettliegerei keinen Spaß“, sagte uns mal eine befreundete Forstmeisterin. Früh sollten die Birkenscheite in den Öfen knacken, herrliches, gemütliches Weck-Geräusch, baltischen oder ostpreußischen Geschichten entnommen, und ich selbst würde auf Zehen und Strümpfen von Zimmer zu Zimmer huschen und den „early-in-the-morning-tea“ bringen, an jedes Bett, lautlos, und flüsternd beteuern: „Ihr braucht ihn nicht zu trinken, wenn ihr nicht mögt. Aaaaber ...“
Denn: gibt es eine schönere Tageszeit als den frühen Morgen? Sollte man nicht jeden Besuch an dieser Köstlichkeit teilnehmen lassen? Entweder er ist strahlend in seiner Sonne oder geheimnisvoll neblig, manchmal malt er ganze Farbsymphonien an den Himmel, so daß ich meinen zweitjüngsten Sohn, unsern Fotomann, begeistert aus dem Bett hole, was ihn gar nicht begeistert. Und wenn er dann gähnend auf der Veranda steht und sein Stativ aufbaut, ist das Rot-Gold längst erloschen und der Tag angebrochen, sein Schlaf aber unterbrochen ... Ich selbst fühle mich nie so strahlend jung, so bis unters Hirndach platzend vor Energie und Arbeitslust, so funkelnd frisch und stark wie früh. „Jaja“, seufzen meine Kinder und möchten so gern, so gern weiterschlafen ...
Davon später. Dieser Gästezimmer-Trakt blieb mir vom Schicksal vorenthalten. Gäste nächtigen bei uns auf der Wohnzimmercouch, dem sogenannten „grauen Viech“, in den Betten der Kinder, die irgendwo anders untergebracht werden, oder im Heu. Sie liegen in Schlafsäcken mit oder ohne Luftmatratzen auf der Erde oder versuchen, ihre Formen denen der Eckbänke anzupassen, die wir anschafften, weil wir mit Stühlen nicht mehr nachkamen. Früh, wenn ich die Ofen füttern gehe — merkwürdig, ich denke beim Stichwort „Gäste“ immer an Wintertage —, stolpere ich über Leiber, als Marsmenschen getarnt, oder greife in ein schlafwarmes Gesicht, wenn ich die Schreibmaschine zurechtrücken will. Überall, allüberall schlafen Gäste. Und leider vergesse ich immer wieder zu schleichen und zu flüstern, weil ich eben früh so unerhört stark da bin, was die Gäste gutmütig übersehen und überhören, die Kinder aber wütend registrieren oder sich seufzend damit abfinden. Dabei rufe ich mir immer wieder ins Gedächtnis, daß ich ja leise sein muß, ungemein leise, überaus und maßlos leise ...
Denn — Gäste habe ich heute noch gern. Mit dem Servieren des zeitigen Tees aber habe ich längst aufgehört. Im Gegenteil. Die einzige Zeit, in der ich Ich-selbst sein, in der ich arbeiten darf, ist der frühe Morgen. Und jeden einzigen Tag versuche ich, mit diesen Bissen vom Tageskuchen abzuschneiden, ihn wegzuschnappen, ehe die anderen aufwachen, schnell, schnell, ihn hinunterzuwürgen wie ein gieriger Hund ein Stück Rindermagen, um eine, manchmal sogar zwei Stunden arbeiten zu dürfen.
Um es gleich vorauszuschicken: oft gelingt es nicht. Es gibt Gäste, die beim ersten Schritt, den ich tue, aufmerken, emporfahren, sich umdrehen, mich entdecken und dann strahlend verkünden: „Ich stehe auch so gern früh auf.“ Und mein Arbeitskaffee, den ich mir im ersten Morgengraun aus unserm herrlichen, quellfrischen Wasser bärenstark und kohlschwarz aufgieße, duftet wahrscheinlich so verlockend, daß sich jeder sagt: jetzt oder nie. Kann man da antworten: „Ach bitte, legen Sie sich wieder hin, der Kaffee ist für mich allein“? Ich hab’ es bis heute nicht gelernt. Meine einzige Arbeitszeit verrinnt, während wir in der Küche oder auf der Veranda sitzen, ich im Bademantel, der Gast im Schlafanzug mit „was drüber“, Kaffee trinken und ich mir anhören muß, wie schwer es der andere hat. Sicher, es gibt Ausnahmen, aber meist wird geklagt. Die Großstadt, die Hetze, die undankbaren Kinder, die viele, viele Arbeit, das fehlende Geld — ja, wenn man so wohnte wie Sie! Im Grünen und in der herrlichen Luft — und ohne Lärm und ungestört — hab’ ich gezuckt? Ich hoffe, nicht.
Denn ich muß natürlich zuhören oder doch wenigstens so tun. Jedermann möchte sich einmal aussprechen. Ich bekomme den Traum erzählt, den ich mit meinen Schleichschritten zerstörte — ich kann nicht sehr gut schleichen, meistens rutsche ich aus oder werfe etwas um —, oder die Geschichte des im vorigen Jahr enfernten Blinddarms. Die Sonne geht auf und die Uhr weiter, und wenn ich erst die Schulgänger wecken muß oder die Babys nach mir brüllen, ist meine Arbeitszeit wieder einmal vertan.
Und ich möchte, ich möchte so gern arbeiten, Sie werden es nicht glauben, so wahnsinnig gern. Es ist als lechzte ich nach einer verbotenen Droge. Alle, alle Menschen müssen arbeiten, nur ich, ich allein, darf es nicht ...
Es ist vorgekommen, daß ich früh um acht verzweifelt in der Küche stand und jammerte: „Wieder ein Tag herum, und nichts ist geschehen!“ Und da gibt es Menschen — ich kenne welche, ich könnte Ihnen die Namen nennen — die nachmittags um fünf krähen: „Wir haben den Tag ja noch vor uns!“ So unterschiedlich schuf Gott die Krone seiner Schöpfung.
Natürlich gehe ich den Tag über auch nicht müßig. An meiner eigenen Arbeit, die — alle vergessen es immer wieder — unbedingt nötig ist, komme ich einfach nur früh, nur ausgeruht weiter — einzige Ähnlichkeit mit meinem großen Kollegen Thomas Mann. Manchmal, wenn mir erzählt wird, daß „andere Dichter“ bis zwei in der Nacht schreiben, dann schäme ich mich auf eine merkwürdig verstohlene, aber sehr heftige Art. Abends bin ich halbtot und erledigt. Jeder muß leben nach dem Gesetz, nach dem er angetreten, sagt Goethe, und dann höre ich immer wieder, halb belustigt, halb sehnsüchtig: „Ja Sie, Sie haben es gut! Sie können sich Ihre Arbeit einteilen!“
Nun ja. Ich gehöre — Sie haben es bereits handgreiflich gemerkt, — seit über dreißig Jahren zur Gilde der Schreiberlinge, also einem Beruf an, der im allgemeinen nicht allzuviel gilt. Bei einer Rundfrage, so habe ich gelesen, rangierten die Schriftsteller eine Stufe unter den Straßenkehrern und nur zwei über den Berufslosen, während die Professoren stolz obenan prangten. Nichts gegen Straßenkehrer und Professoren, aber es wurmt einen doch, wenn man mit so viel Mühe, dem berühmten Herzblut und unter Einsatz aller Kräfte ein Buch zustande gebracht hat, das tatsächlich, o Wunder!, Widerhall findet und gefällt, und man hört dann — Sie werden es nicht glauben, aber man hört es öfter, als es dem Gemüt zuträglich sein kann — „nett, wirklich. Das könnte ich übrigens auch. Wenn ich Ihnen mein Leben erzählte, Sie würden staunen! Also ich sage Ihnen: ein Roman. Ich wollte es immer schon aufschreiben, aber wissen Sie, mir fehlt die Zeit. Der Beruf frißt mich auf. Sie, ja, Sie haben es gut! In diesem entzückenden Häuschen im Grünen sitzen und dichten, und noch dazu dicke Honorare einstreichen ...“
Nett. Dichten. Dicke Honorare. Wenn ich das schon höre! Ich höre es aber, und zwar immer wieder. Fachkollegen werden es mir bestätigen. Das mildert den Schmerz um einige Grade.
Trotzdem liebe ich meine Arbeit, gerade diese. Sie hat mich mitsamt meiner vielköpfigen Familie durch finsterste Kriesenzeiten getragen, damals, als honorige Berufe versagten, ja, mir sogar ermöglicht, Leuten dieser angesehenen, bürgerlichen Zünfte zu helfen. Ich hab’ es gern getan. Und es ist eine Arbeit, bei der man nie auslernt, bei der einem immer wieder neue Türen aufgehen, neue Ausblicke sich öffnen, neue Zauberschlüssel in die Hand gleiten. Eine Arbeit, die einen selbst bezaubert. Eine Arbeit, die freilich auch verlangt, daß man um sie dient und wirbt und nie aufhört, sich zu mühen.
Ich habe, zugegeben, viel zuviel geschrieben, wie viel, das möchte ich nicht verraten. Vor einigen Jahren zählten die Kinder einmal die Bände und kamen zu einem vernichtenden Ergebnis, das beinahe Karl May oder die Marlitt in den Schatten stellt. Denn natürlich sind meine Bücher keine Werke der Weltliteratur geworden. Ich wende, wenn mir das vorgeworfen wird, meist schüchtern ein, daß auch Maler immer und immer wieder versuchen, an Leonardo oder Picasso heranzukommen. Waren Sie mal in einem Atelier? Wieviel Bilder stehen da an der Wand, das Gesicht dem Beschauer abgedreht. Dem Maler nimmt das keiner krumm. Wenn sich aber auf meinem Bücherbrett die eigenen Werke gegenseitig plattdrücken, weil man immer wieder ein neues dazwischenquetschen muß ... ja dann ...
Genug. Übergenug. Davon wollte ich gar nicht reden. Ich wollte nur vorausschicken, was nötig ist, um unsere Situation zu erklären. Unsere, das ist die meiner Familie. Manchen macht es nervös, wenn er immerzu „Wir“ hört. Es riecht ein bißchen nach Kollektiv, und dieses Wort wurde in den letzten Jahrzehnten gar zu oft, mit häßlichen und traurigen Beiwörtern versehen, ge- und mißbraucht. Ich persönlich finde, daß „Wir“ ein wunderschönes und auf alle Fälle viel besseres Wort ist als „Ich“. Unser großes „Wir“ tritt uns sehr häufig auf Zehen und Nerven, nie aber aufs Herz. Und wir sind altmodisch genug, das Herz wichtiger zu finden als andere Organe.
Zu unserm Wir gehören natürlich auch die zahllosen Freunde und Freundinnen der Kinder, die bei uns ausund eingehen, mehr ein als aus, merkwürdigerweise. Aber das liegt in der Familie. Meine Schwester stellte einmal fest, als die Kinder noch Kinder waren und wir versuchten, uns trotz ihres munteren Treibens um uns herum zu unterhalten: „Ich habe Uli jetzt beobachtet. Er ist siebzehnmal hereingekommen, und ich merkte nie, daß er hinausging.“ Da ich Vater und Mutter in einem bin, sprich Witwe, belaste ich nur meine eigenen Nerven (und meinen eigenen Geldbeutel), wenn die Kinder mir junge Menschen heranschleppen, die sich gerade ausruhen, aufwärmen, aufmuntern lassen müssen oder denen sonst irgend eine Hilfestellung nötig ist. „Ich möchte nie ablehnen müssen, wenn ihr mich für andere bittet“, habe ich ihnen vor Jahren einmal gesagt. Dies ist einer meiner größten Lebenswünsche, und das Leben war bisher liebenswürdig genug, ihn mir zu erfüllen.
Manche Mutter meiner Generation, die ihren Mann behielt, hat mir schon ganz offen (und recht töricht) gesagt: „Du hast es gut. Unsere Kinder müssen abends auf Zehen gehen, sobald der Vater da ist, und Partys können wir nie geben. Immer bringt er Akten mit und muß noch arbeiten.“
Wie überaus taktvoll! Und wie gedankenlos! Übrigens, unser Vater würde nicht stören, kein Zehengehen verlangen und wahrscheinlich noch mehr junges Volk einladen. Er stammte aus einem kinderreichen Pfarrhof, und wenn dort die Jugend tanzte, sagte die alte Kinderfrau: „Ja, Jungvieh hat Mut!“
Keine Abschweifung! Außer den Freunden des Hauses, den jungen, und natürlich auch einigen in meinem Alter, gehören die Ponys zur Familie. Sie wohnen im Stall, der unserm Haus angebaut ist, richtiger: sie dürfen darin ihr Heu fressen. Sonst weiden sie auf den Wiesen rings ums Haus, bekommen Fohlen, reißen mitunter aus und tragen oder ziehen uns durch unsere nunmehrige — die wievielte? Lieber nicht fragen! — geliebte süddeutsche Heimat. Kinder also, Kindeskinder, Freunde und Pferde, so müssen Sie sich unser Leben vorstellen. Und so schön und beneidenswert es oft von außen aussieht, so schwierig ist es manchmal, als Kapitän das Schifflein zu lenken, jedem gerecht zu werden und auch dann noch zu arbeiten, wenn Sommergäste auf meinem Schreibtisch nächtigen oder Ämter seitenlange Fragebögen schicken, die man ausfüllen muß, der Steuerberater mit erhobenem Finger droht, man solle doch nun endlich ... und die Verwandtschaft findet, man müsse Urlaub machen. Diese Forderung ist besonders störend. Freilich braucht jeder Mensch Urlaub, wer aber zwischen Himmel und Erde, so frage ich Sie, ist bereit, mir für vierzehn Tage oder drei Wochen die Oberaufsicht über mein Narrenhaus abzunehmen, damit ich nicht nur Urlaub machen, sondern mich dabei auch erholen kann? Denn jede Erholung wird unterhöhlt und verdorben, wenn ich mir Tag und Nacht vorstellen muß, was jetzt — und jetzt — und jetzt in meiner Hütte lossein wird. Ich habe nun einmal eine zügellose Phantasie, wäre ich sonst Schriftstellerin? Phantasie aber kann sehr beunruhigen und dem Schlaf abträglich sein.
Alle Leute, die ich bitte, mich zu vertreten, sagen mir ab. Bedauernd, aber unmißverständlich. Sie könnten gerade ausgerechnet um diese Zeit nicht, aber ich solle doch trotzdem fahren, natürlich solle ich, jeder Mensch ... siehe oben.
Nun habe ich eine neue Art des Urlaubs erfunden. Ich reite zum Beispiel fünfzehn Kilometer weit weg und schlüpfe bei Ponyfreunden unter, die ein Hotel und eine Schreibmaschine besitzen. Dort klappere ich dann von den vierundzwanzig Stunden des Tages ungestört und voller Genuß sechzehn und verschlafe die übrigen sieben, eine spare ich mir heraus, um gegen Abend mit den Kindern des freundlichen Wirtes zu reiten. Solche Tage bedeuten einen wirklichen Urlaub für mich, ich rufe jeden Abend zu Hause an, habe die Gewißheit, bei etwaigen Pannen binnen kürzester Frist eingreifen zu können, und komme wohlgenährt mit einem fertigen Manuskript und trotzdem ausgeruht, nach Hause. Diese Art des Urlaubs erfand meine Wahltochter, die, im Alter unserer Kinder, den Haushalt führt, die Enkel erzieht, mich bemuttert, wenn es mir dreckig geht, und die Jungen zur Ordnung boxt.
Die zweite Art, mich auszuruhen, übte ich bis dahin. Sie hat mich viele Jahre über Wasser gehalten, von da an jedenfalls, als meine einzige jährliche Erholung, das Wochenbett, zu meiner Betrübnis ausfiel. Man kann dies vielleicht durch einen Vergleich deutlich machen.
Sicher erinnern Sie sich an Kapitän Romer, jenen kühnen Deutschen, der in einem Faltboot, einem Gummikreuzer, wie er es nannte, den Atlantik überquerte. Gleich anfangs kam er in einen so ekelhaften Sturm, daß er fünf Tage und fünf Nächte nicht schlafen konnte. Er mußte sein Schifflein gegen die anstürmenden Wellen lenken, unermüdlich, bis der Sturm sich ausgerast hatte. Da man aber ganz ohne Schlaf nicht bei Kräften bleibt, machte er es folgendermaßen: er schlief die zwei Sekunden, in denen er mit seinem Boot, das er immer rechtwinklig gegen die Wellen halten mußte, gerade auf der Kimme der jeweiligen Woge stand. Zwei Sekunden, wie gesagt. Und dann riß er sich wach, tauchte ins Wellental, hielt das Boot wieder gegen. Diese Schlafsekunden zusammengezählt ergaben in fünf Tagen doch einige Stunden. Ähnlich habe ich es viele Jahre mit dem Ausruhen gehalten. Sobald kein Besuch da, kein Pony weg, kein Kind krank, kein Erwachsener zu betreuen und kein Buch zu schreiben war, nahm ich innerlich Urlaub. Ich schlief — im Heu oder auf einer Couch, stehend im Laden, wenn ich beim Einkaufen warten mußte, oder beim Telefonieren, ehe die handvermittelte Verbindung da war. Sogar auf dem Fahrrad habe ich geschlafen, das aber war ein Alarmzeichen, ich kam immerzu nach links und wachte zum Glück stets auf, wenn ein Autofahrer, begreiflicherweise empört, Zeichen gab oder gar anhielt. Damals fingen meine baltischen Freunde mich ein und steckten mich bei sich ins Bett, was mir sehr gut tat. Ich brauchte gerade alle Gedanken für ein neues Buch und legte mir den Stoff, idiotisch vor mich hinstarrend, während dieser gastlichen Tage und Nächte zurecht. Als dieses Buch später erschien, bezeichnete unser Jüngster es als „alten Käse, frisch garniert“. Er hat recht; freilich kann man auch sagen, daß alter Käse oft der schmackhafteste ist, und frische Garnierung sollte man auch nicht unterschätzen. So wie bei der Ernährung die Grundstoffe die gleichen bleiben, Fleisch (bei uns sehr wenig) und Fett, Eier, Milch, Gemüse und Obst, so sind auch die Grundstoffe der Bücher immer die gleichen. Was der einzelne Künstler daraus mischt, aus Liebe und Haß, Bitternis und Süße, Jugend und Alter, das ergibt das neue Buch.
Aber wo gerate ich hin! Ich wollte mich keineswegs gegen falsche Vorwürfe wappnen oder Ihnen gar vorklagen, wie schwierig unser Leben läuft, sondern Ihnen lediglich eine Episode erzählen, die unser sturmdurchtostes Dasein erheiterte — aber ich sehe schon, sie läßt sich nicht isolieren. Nehmen Sie also bitte alles bisherige als Vorrede und Information, und folgen Sie mir gütigst und mit nachsichtigem Blick — wieviel Nachsicht, ach, haben wir nötig! Wenn ich an andere Familien denke, bei denen immer und immer alles glatt geht, vom Fußabtreter eingangs der Wohnung bis zur Verlobung der Tochter! Bei uns geht nie etwas glatt, nie, nie — immer gibt es Hinder- und Hemmnisse, immer kommt etwas oder jemand dazwischen, immer wird geweint, wo man gelassen abwarten sollte, und gelacht, wo Teilnahme oder gar Mitgefühl am Platz wären, immer ist das Geld zu Ende, wenn eine große Ausgabe kommt, und der Kaffee, wenn Besuch einbricht, immer fetzt das Inlett in dem Augenblick, in dem man ganz, ganz schnell ein Deckbett überziehen muß, ohne daß der Besuch es merkt, und die Federn schweben durchs Zimmer, als habe Frau Holle geschüttelt. Der Stuhl, dem man dem so wichtigen Verlagsvertreter anbietet, kracht in den Gelenken, das Telefon fällt herunter, der Ölofen streikt, und die Jauchengrube sendet würzige Düfte. Das tut sie auch auf jedem Gutshof, wenn das Wetter umschlägt, aber dort findet niemand etwas dabei. Bei uns dagegen — ach, lassen Sie mich schließen. Oder besser: endlich anfangen. Das Leben besteht aus Pannen und Unzulänglichkeiten. Sagen wir ja dazu!
Die Geschichte, von der ich erzählen will, begann in jenem Jahr, in dem wir zwei Babys, meine beiden ältesten Enkelkinder, bei uns hatten. Das Glück lächelte uns unwahrscheinlich, denn wir bekamen eine Kinderschwester als Hilfe, ohne die ich vermutlich diesen Winter nicht lebend überstanden hätte. Dieses freundliche Wesen — man wird es kaum glauben, aber hier phantasiere ich nicht — hatte zugesagt, einen Winter lang Freud und Leid mit uns zu teilen, obwohl es uns kannte, uns und unseren Wahnsinnsbetrieb.
Am ersten Oktober tauften wir Reiternachwuchs Nummer zwei auf den schönen Namen Kerstin, der aber, wahrscheinlich, damit er nicht abgenutzt werde, zunächst nicht gebraucht, sondern in „Eichhörnlein“, später „Hörnlein“ abgewandelt wurde. Freunde und Verwandte von nah und fern halfen uns, dieses schöne Fest zu feiern, wir borgten uns Bestecks, nachdem wir unter die Veranda gekrochen waren, wo sich im Laufe eines Sommers mancherlei ansammelt, Kaffeelöffel und Kugelschreiber, Scheren, Armbanduhren und manchmal sogar ein Fünfmarkstück, und festgestellt hatten, daß das Silber trotzdem nicht reichte. Unsere Veranda ist aus Holz gebaut und hat natürlich zwischen den einzelnen Planken Ritze, damit der Regen abläuft. Dort hinein fällt bedauerlicherweise vielerlei, und nach jedem einzelnen Stück zu tauchen, hat sich als unrentabel erwiesen. Zur Taufe aber brauchten wir alle Reserven. Dann stellten wir Mengen von Salaten her, deren Reste unsere Ponys gern mögen. Wenn wir auf Vorrat kochen, dann sind das selbstverständlich immer Gerichte, die, falls etwas übrig bleibt, den Vierbeinern wie den Zweibeinern schmecken. Beim Osterkuchen ist das genau so. Am Tag vor Gründonnerstag fahren wir mit dem Ponywagen Teig und Sträußel — wir stammen aus Schlesien — zum Bäcker und holen nachmittags den fertigen Kuchen wieder ab. Dann gibt es ein Ponyfest: Die Ränder der quadratischen Blechkuchen werden ringsherum abgeschnitten und verfüttert. Mancher Besucher hat sich vom Zaun aus sicher verwundert, wenn er sah, wie unsere Kinder, die Kuchenränder bukettförmig in den Händen, zwischen den Ponys umhergingen und sorgfältig darauf bedacht waren, daß jedes einzelne zu seinem Recht kam.
Meist aber bleibt nichts übrig. Haben wir doch Reste, so nehmen die auswärtigen Kinder sie in Plastikdosen mit. Kuchen reicht fast nie, denn zu großen Familienfesten schneien immer, aber auch immer, irgendwelche „Besücher“ herein, die man gut behandeln muß: Verleger, die als Respektspersonen gelten, ernsthafter zu nehmen als Klassenlehrer, Ausländer, bei denen unsere Kinder auf Reisen aufgenommen wurden und denen man die gleiche Gastfreundschaft erweisen will, und ähnliche wichtige Leute. Wir sind langmütig und manches gewöhnt. Einmal aber kam eine schwedische Familie unerwartet an einem Polterabend zu uns, der man alles, aber auch alles übersetzen mußte — unsere Kinder sprechen leidlich englisch, womit man sich ja immer helfen kann, ich weniger gut; ich ersetze das fehlende Vokabular dann durch Gesten und Lautstärke —, die wir klaglos in die Reihe der Feiernden einschoben. Diese Familie aber erschien am Hochzeitsmorgen wieder, wollte herumgeführt werden und bat, ihre Kinder reiten und im Ponywagen sparzierenfahren zu lassen, und das, fanden wir, ging zu weit, bei aller Völkerverständigung. Erklären Sie das mal vorsichtig und taktvoll auf schwedisch! Ich wußte nicht mal, was „Hochzeit“ heißt.
Vielleicht haben die Leute also gar nicht gemerkt, bei welch wichtigem Fest sie störten, und unser Ärger war unberechtigt. Wie gesagt, wir hatten für den einbrechenden Winter eine Hilfe, die Kinderschwester Bruno. Eigentlich heißt sie Brunhilde, aber durch all die Jahre unserer Bekanntschaft hindurch haben wir sie nur Bruno genannt, was sie sich gern gefallen läßt. Bruno weiblichen Geschlechts also stand uns zur Seite. Es sollte ein schwerer Winter werden, mit doppeltem Keuchhusten der nächsten Generation und gestrichen voll von Hausgästen. Das aber ahnten wir noch nicht. Wir tauften, empfingen Besuch, verkauften Fohlen, schrieben Bücher und sammelten Belege für die Steuer, die Kinder verliebten, ver- und entlobten sich, heirateten — kurzum, wir führten das vielbeneidete Leben freischaffender Künstler auf dem Lande. Als der erste Frühlingshauch das Wiesental durchfächelte, war Bruno schwer angeschlagen und mußte auf Sonderurlaub geschickt werden. Trotzdem blieb er uns treu und erschien danach wieder, erneut erbötig, uns beizustehen. Wir vergessen ihm das nie, denn jetzt waren die Babys zu zwei strammen jungen Folterknechten herangewachsen, vor denen nichts mehr sicher war, kein Syruptopf und keine Schere, keine Abführtablette und kein herumliegendes Manuskript, auf dem man „Schreibeschreibe“ machen kann. Nötiger als bei zwei Strampelwichten, die zwar kräftig brüllen, sich aber noch nicht fortbewegen können, ist eine tatkräftige Hilfe bei dieser Altersstufe. Außerdem hatte sich der nächste Reiternachwuchs angesagt, der auch hier aufwachsen sollte. Wir kämpften ums nackte Leben.
Damals war es gerade Mode geworden, daß Leser meiner Bücher, alte und junge, sich wünschten, signierte Exemplare in ihren Bücherregalen stehen zu haben. Ich mußte also laufend Autogramme in von mir geschriebene, von ihnen gekaufte Bücher setzen. Ob nun zehn Lise Gasts einen Bubi Scholz ergeben, beziehungsweise hundert eine Helga Köhler, das ist mir unbekannt. Da ich sowieso jede Zuschrift — ach, es sind deren viele in einem kurzen Jahr! — beantworte, jedenfalls einmal — viele Leser wollen dann eine dauernde Korrespondenz daraus machen und mir ihr ganzes Leben erzählen, so daß es mir beinah so geht wie der Monika Hunnius, die auf ihr Buch „Mein Weg zur Kunst“ hin so viele Zuschriften bekam, daß sie kein zweites mehr schreiben konnte — wenn ich also grundsätzlich einmal antworte, dann besitzen die Leute ja meine Unterschrift. Meist aber schicken sie Bücher, in die ich eine Widmung hineinschreiben muß, und das, finde ich, ist nett gemeint und zeugt von bibliophilem Interesse. Noch netter allerdings fände ich es, wenn sie daran dächten, Rückporto einzulegen. Wir sind nicht geizig, wahrhaftig nicht, aber alles, was sich ständig wiederholt, läuft ins Geld. Manchmal seufzen wir, wenn man uns früh anruft: „Hier Postamt Lorch. Frau Gast, da liegen wieder ein halbes Dutzend Päckchen. Unser Briefträger, der gerade Ihre Tour geht, hat sowieso so viel zu schleppen ...“
„Natürlich, wir holen es selbst. Lassen Sie auch alles andere gleich dort. In Ordnung.“
Wir rangieren durch unsere entzückende, aber einsame Lage weit ab von der Stadt unter „Landbestellung“. Resigniert verlasse ich meine soeben auf Touren gebrachte Schreibmaschine. — Wenn mich die Muse endlich küßt, darf sie nicht gestört werden, sie ist eine etwas hysterische, jedenfalls sehr feinfühlige Dame. Deshalb arbeite ich ja am liebsten in jenen allerfrühesten Morgenstunden, in denen Folterknechte, Besuch, Telefonate und häusliche Katastrophen nicht zu erwarten sind. Ich begebe mich also in den Stall. Wenn ich sowieso in die Stadt muß, dann mit den Ponys. Das Fahrrad bleibt für Notfälle. Und wenn ich erst im Stall bin, ist wenig Aussicht vorhanden auf eine Rückkehr an den Born des Geldverdienens.
Dreierlei Arbeit schändet nicht, sagt ein chinesisches Sprichwort: die für den Vater, die für den Sohn, die fürs Pferd. Dieser Meinung sind wir auch. Wenn ich lebenslänglich Pferde versorgen müßte, es würde mir nicht langweilig, genau so wenig wie die Pflege von Babys. Früher dachte ich lange Zeit, man könnte ohne Babys gar nicht existieren.
Lassen Sie mich hier einmal kurz abschweifen, das Thema ist allzu verlockend! Im Februar, wenn die Tage länger werden, die Luft um Mittag lau und später wieder herb und frisch, dann setzen wir das Fest des Augias an. Dann wird der Winterstall ausgemistet, bis dahin nehmen wir nur die täglichen Knetel weg und lassen die berühmte, federnde „Matratze“ entstehen, die die Isolierung gegen den kalten Fußboden gibt. Da wir meist Besuch haben, wird der vor die Wahl gestellt: willst du mit ausmisten oder Berliner backen? Es ist stets spannend, wie er sich entscheidet.
Der Februar ist der Monat des Fettgebackenen. Merkwürdig, daß man um diese Zeit automatisch Appetit auf derlei Genüsse bekommt, es muß mit der wiederkehrenden Sonne zusammenhängen. Ein uns bekannter, sehr kluger Schriftsteller hat einmal gesagt: Die Frau, die nicht um Weihnachten herum Lust bekommt, Pfefferkuchen zu backen, und um die Faschingszeit Fettgebacknes, die hat den Instinkt für den Jahresablauf verloren. Früher waren es Opferküchlein, die man der Wiederkehr der Sonne zu Ehren backte, jetzt ist es dies.
Zum Augiasfest also werden Berliner gebacken. Wenn der Besuch es vorzieht, mit in den Stall zu gehen, bleibe ich in der Küche, sonst aber schufte ich draußen mit, was mir lieber ist. Wir wechseln ab im Laden, Abladen und Karrehinausfahren. Es ist eine Wollust, den Wintermist Schicht für Schicht abzubauen. Und wenn der Stall dann leer ist, ausgefegt, getrocknet, neu gestreut, erst mit Torfmull, dann mit frischem Stroh, das so herrlich riecht, — dann möchte ich mich jedes Jahr am liebsten hineinwerfen, darin wälzen und dabei wiehern, so wunderbar finde ich das.
Wie kam ich drauf? Ach ja, es geht mir hier wie beim Start in die Stadt, auf die Post — sobald ich im Stall bin, vertrödle ich mich. Da wird schnell hier, noch zusammengeputzt und dort, hier am Geschirr etwas verschnallt oder ein neues Loch mit der Lochzange in einen Riemen gekniffen, da ein Nagel eingeschlagen. Dabei kommt einem die Kartätsche in die Hand, flink ein paar Striche über den Ponyrücken, an den Flanken entlang — Ponys werden sonst nicht geputzt, keinesfalls täglich wie Pferde, das zerstört das Fell. Sie sind Tag und Nacht draußen und brauchen die Staub- und Fettschicht direkt über der Haut, damit sie nicht frieren. Aber ehe man zur Stadt tackelt, möchte man doch die Rößlein ein wenig schönmachen.
Es dauert also ein Weilchen, bis eingespannt ist, und dann schreit man — bei uns schreit jeder, auch im Haus, damit unnötige Wege vermieden werden. Außerdem ist ein Holzhaus sehr hellhörig, es leitet nicht nur den Schall, sondern verstärkt ihn sogar wie eine gute Geige. Das ewige Von-Zimmer-zu-Zimmer-laufen, um etwas zu fragen, fällt daher weg. — Man schreit also:
„Ich fahre in die Stadt. Was mitzubringen?“
„Ja. Mir einen Reißverschluß.“ „Mir einen Zentner Zement.“ „Kannst du für mich die neue Reithose anprobieren?“
„Nein.“
Empört lehne ich dies Ansinnen ab. Es ist auch der pure Hohn, denn alle meine Kinder, die großen Jungen sowie die Gottlob etwas kleiner geratenen Töchter sind natürlich schlanker als ich. Das Besteigen der Waage ist der Wermutstropfen eines jeden frühen, von mir sonst so heiß geliebten Morgens.
Schließlich ist alles aufgeladen, Einkaufkorb und Milchkanne, Eimer mit Asche, die wir selbst wegfahren müssen, ein altes Bettgestell, Kognakflaschen, die niemand zurücknimmt, und eine lebensgroße Schneiderpuppe, die zur Reparatur soll. Ich habe mich wütend gegen die Mitnahme dieser gespenstischen Person gewehrt, hasse überhaupt dieses Monstrum. Überall steht es herum, bald in diesem, bald in jenem Zimmer; — wenn Gäste kommen, rase ich, um es zu beseitigen, manchmal steht es in der Speisekammer oder gar auf dem Örtchen, das sowieso allzu eng ist. Einmal kam unser Jüngster nachts etwas spät heim. Er befindet sich nun auch schon im Alter der Tanzstunde, im Zeitalter der Schlipse und der stereotypen Frage, wenn er heimkommt: „Hab’ ich Post?“ Er wollte katzenleise verschwinden, damit niemand, vor allem aber der größere Bruder nicht, merken sollte, wie spät es war, und kroch im Dunklen ins Bett. Da aber lag schon jemand drin. Er brüllte — die ganze Familie wurde davon wach.
„Müßt ihr denn dieses Scheusal haben?“ fragte ich angewidert, als Esmeralda angeschafft wurde. Vielstimmig belehrte man mich. Junge Mädchen, die schneidern, leben viel billiger als andere, und man könne die Puppe auch verstellen, sogar (sogar, sagten sie, die Kanaillen!) sogar auf meinen Umfang. Und sie würden mir für die Buchmesse ein Kleid nähen, ohne daß ich anzuprobieren brauchte. Ob mich das nicht lockte?
Anprobieren war für mich schon von Kindheit an eine Folter. Ich wollte immer dabei lesen und zum Ärger meiner Mutter und der Hausschneiderin ein dickes Buch halten, ich haßte es, die kalte Schere am Ausschnitt zu spüren oder zu hören: „Geh mal zur Tür!“
Diese Esmeralda also sollte alles Anprobieren überflüssig machen. „Gut, dann kauft sie — aber daß ich damit im Ponywagen in die Stadt fahren muß, finde ich schändlich. Kann man sie nicht wenigstens zudecken?“
„Ich glaube, du mußt Urlaub machen, du bist so gereizt“, sagt Katrin dann ruhig, und ich fahre schweigend, nur innerlich schäumend vor Wut, mit der unzugedeckten Büste in die Stadt, zu Spott und Hohn aller Anwohner. Die Kinder setzen ihren Willen immer durch, und wenn ich erst fort bin, lachen sie sich ins Fäustchen. Ich weiß nicht, wie andere Mütter es anfangen, sich in Respekt zu setzen. Meine haben keinen Funken davon vor mir (dafür eine tüchtige Portion nachsichtiger Liebe. Vielleicht ist dies das Bessere.).
Ich ergreife die Gelegenheit, hier gleich eins der „Kinder“ vorzustellen. Katrin, genannt die Bergstraße (weil sie so viele Kurven hat), vierte Tochter, fünftes Kind, ist Krankengymnastin und viel zu Hause, da sie auch von hier aus Gelegenheit hat, zu arbeiten und Geld für ihre vielen Reisen zu verdienen. Sie ist schwarzhaarig und besitzt grüne Augen, eine Mischung, deren Inhaberinnen im Mittelalter in Gefahr waren, verbrannt zu werden. Weiterer Kommentar überflüssig.
An einem wundervollen Oktobertag — ich muß den Faden meiner Erzählung ja irgendwann einmal wieder zu fassen kriegen — an einem Herbsttag also mit schrägem Licht und warmen Farben, an dem die Geranien noch einmal brennrot und die Wicken in den Kästen auf der Verandabrüstung zartbunt leuchten, die Bienen in der Goldraute summen und die Äpfel schaumig süß aus dem Gras locken, an einem solchen Tag war ich nach Lorch gefahren und hatte den halben Ponywagen voller Buchpäckchen mitgebracht. Als ich heimkam, stand Bruno in der Küche und sang, während sie den größeren der beiden Folterknechte frisierte. Mucke, so heißt bei uns dieses Enkelkind, ist bräunlich von Haut und Haar zu sanftblauen Augen, eine Mischung, die in etwa tausend Wochen lust- und gefahrbringend sein wird. Wir reißen uns drum, dieses Kind zu kämmen, binden ihm einen Pferdeschwanz oder rechts und links Teufelshörnlein und entzücken uns immer wieder an den Abwandlungen seines Gesichts. Eichhörnlein, Nummer zwei, hat Locken von Natur. Ihre Mutter säbelt sie immer ab, wenn sie in den Semesterferien für kurze, aber süße Mutter-und- Kind-Tage aufkreuzt. Sie tut recht daran, denn ewig geschonte Locken bedeuten eine Plage für groß und klein. Dennoch bedauern wir es, und die Freunde unserer Jungen, die fast jeden Tag bei uns sind und an allem teilnehmen, mitunter auch Babysitter spielen müssen, wenn ich allein bin und zu irgend einer Lesung gerufen werde, schimpfen darüber unmißverständlich und echt schwäbisch:
„O Leit, mit Locke sah sie goldrichtig aus ...“
Bruno also kämmte Mucke, und Mucke strahlte mir entgegen.
„Was mitgebracht?“
Ich hatte. Das wenigstens muß eine Großmutter dürfen. Der Inhalt des Einkaufkorbes überschwemmte den Tisch, und die Buchpäckchen wurden auf die Eckbank geschupst. Dort blieben sie zunächst liegen. Wir hatten notwendigeres zu tun als sie zu öffnen und die sich immer wiederholenden Bitten zu lesen. Dabei können wir froh sein, wenn es sich nur um Widmungen handelt. Viele Leute, mehr als Sie für möglich halten werden, tragen uns gleichzeitig an, ihre Kinder in Pension zu nehmen.
„Es sind reizende Kinder“, wird beteuert, „Sie werden Ihre Freude an ihnen haben. Immer schwärmen sie von Pferden und über ihren Betten hängen lauter Pferdefotos. Wir haben sie sehr bescheiden erzogen. Sie nehmen mit allem vorlieb. Am besten wäre es, wenn Sie sich diesen Juni-Juli für sie freihielten, denn da fahren wir nach Teneriffa, mein Mann braucht die Erholung.“
Es gibt auch Mütter, die kommen und uns die Kinder gleich mitbringen.
„Sehen Sie sie doch an, haben Sie nicht Lust, sie hier zu behalten?“ fragen sie mit entwaffnendem Mutterstolz. Manchmal helfen sich unsere Kinder in solchen Fällen, indem sie behaupten, ich sei nicht da, und sie könnten nicht über meinen Kopf hinweg entscheiden.
„Wo ist denn Ihre Mutter?“ Starke Mißbilligung klingt aus der Frage.
„Verreist“, wird gestammelt.
„So? Wozu denn?“
„Zur — zur Erholung.“
Kopfschütteln und ein Blick ringsum.
„Das versteh’ ich nicht. Wenn man so wohnt wie Sie hier — aber die meisten Menschen würdigen ja ihr Glück nicht.“
So verlockend erscheint der Umwelt unser Ponyhof.
In den Päckchen jedoch, die da wieder einmal in Mengen angeschwemmt worden waren, konnten keine ferienhungrigen Kinder sein, und so schoben wir sie bedenkenlos beiseite. Ich ließ sie liegen und half Bruno kochen, hängte Wäsche auf und tat alles, was ich meist tue, wenn ich keine Lust zur Schreibmaschine habe. Es wurde Mittag, die Jungen kamen heim, und wir aßen. Nach Tisch blieb mir keine Wahl mehr, ich fing an, auszupacken.
„Könnte mir nicht mal jemand ein Buch schicken, das ich noch nicht kenne“, murrte ich, „statt immer meinen eigenen Krampf. Ich hab’ grade nichts zu lesen.“ Dabei warf ich Packpapier und Bindfäden in wilden Knäueln vor die Küchentür ins Freie, um alles miteinander später zu verbrennen. Gerade jetzt war der Zeitpunkt, an dem wir alle zum Lesen kamen: die Folterknechte schliefen, erschöpft von Unfug, Frühlingsluft und Mittagessen.
„Sie müssen sich auch hinlegen, Bruno.“
„Ich? Nie im Leben. Ich bügle.“
Diese Art der vorwurfsvollen Pflichterfüllung kann ich nicht leiden. Ich stehe zwar als erste der Belegschaft auf, habe also insofern einen Vorsprung und ein gewisses Anrecht darauf, meine mittägliche Zäsur zu genießen, wenn aber meine jeweiligen Hilfen schuften, liege ich wie auf glühenden Nadelkissen, und ein Fakir, der davon nichts merkt oder es gar genießt — ich ahne das nicht —, bin ich nicht. Wir verhandelten, schließlich versprach Bruno, „hauptsächlich“ für sich selbst zu bügeln. „Hier, nehmen Sie noch das Päckchen mit!“ rief sie mir nach, als ich entschwinden wollte. Seufzend und ungeduldig entknotete ich den Faden — noch ein Buch. Und diesmal — hatte der Himmel meinen Stoßseufzer gehört? — keins von mir.
„Die Abenteuer des Clowns Murillo“ las ich. Bunter Schutzumschlag, gute, etwas reißerische Aufmachung in Bild und Schriftsatz. Ich blätterte.
„Was ich damit wohl soll?“
„Vielleicht haben Sie es bestellt?“
„Bestimmt nicht. Den Titel kenn’ ich nicht.“
„Zeigen Sie. Vorn klebt doch ein Zettel drin.“
Wir lasen gemeinsam, ‚Im Auftrag meines Mandanten mit freundlichen Grüßen. H. J., Rechtsanwalt.‘
„Hm.“
„Ich nehm’ es mal mit rüber. Zum Einschlafen wird es wohl gehen.“
Bruno nickte mir zu, und ich entschwand. Ach, du schönster Moment des Tages, sich auszustrecken, die Decke über die geschundenen Glieder ziehen, das Einschlafbuch aufschlagen und für eine Viertel-, halbe oder gar eine ganze Stunde abschalten! Na, Clown Murillo, was gibt’s?
Erst gab es eine Einleitung. Die überschlug ich wie üblich. Dann ging’s mit einem Satz los, der mir ein kleines Lächeln entlockte:
„Das Remstal ist eine schwäbische Einrichtung.“ Wir wohnen im Remstal oder doch beinah, in einem Seitental der Rems, rechnen uns aber ganz dazu. Als damals die große Überschwemmung war, schickten auch wir Karten mit Lebenszeichen an alle unsere auswärtigen Lieben, die sich zum Teil noch gar nicht geängstigt hatten, denn wer hört immer Nachrichten von A bis Z!
Es ist immer lustig, die Landschaft, in der man wohnt, in einem Buch wiederzufinden. Der, der dieses schrieb, konnte kein Schwabe sein, das merkte man, aber er kannte die Gegend. Freilich waren die Ortschaften umbenannt. Da gab es ein Gastheim — ich stutzte und stand auf.
„Bruno“, sagte ich, nachdem ich barfuß über die Veranda gehüpft war, die die Ecke zwischen meinem Bau und der Küche ausfüllt, „da schreibt einer was aus dem Remstal. Und ein Ort heißt Gastheim. Ulkig, wie?“
„Wirklich? Zeigen Sie! Wahrhaftig. Na, warum soll es kein Gastheim geben, wenn dem Autor kein anderer Name einfallen wollte.“