Das Herz der Kurtisane - Junia Swan - E-Book

Das Herz der Kurtisane E-Book

Junia Swan

0,0

Beschreibung

Sie steht für alles, was er verabscheut. Er ist für sie Mittel zum Zweck. Sein Verlangen ist ihre Buße. An der sie zerbricht. Von ihrer großen Liebe im Stich gelassen, klettert Lady Summer auf das Geländer einer Brücke, bereit zu springen. Doch eine Nachtschwärmerin überredet sie, ihr zu folgen und ihren Namen zu ändern. Als Bella lernt sie von nun an Londons Schattenwelt kennen und wird die begehrteste Kurtisane der Stadt. Für den schottischen Duke Rohan MacDougall gibt es nur ein Ziel im Leben. Stellvertretend für alle Prostituierten der Stadt soll eine einzige für ihre Sündhaftigkeit büßen. Keine andere ist aus seiner Sicht besser dafür geeignet als Bella, die Königin der Nacht. Damit sie ihn begleitet, verspricht er ihr eine Reise nach Paris. Als die Fahrt in den schottischen Highlands endet, ist es für Summer zu spät, dem kalten Mann zu entkommen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 590

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Herz der Kurtisane

EB Das Herz d Kurtis LP Teufel 20210317Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. KapitelEpilogNachwortWeitere Bücher der AutorinLeseprobeCabaletta „Weh mir, in dieser dunklen Stunde“Arie „Ach, könntest du in meinen Armen Ruhe finden“Cantabile „Dir ist die Macht gegeben“

Das Herz der Kurtisane

Das Herz der Kurtisane

Junia Swan

Roman

Prolog

„Nein! Du elender Schuft!“

Die Stimme seiner Mutter schallte durch das offene Fenster bis in den Garten hinaus, strich über die langen Gräser hinweg, kroch zwischen Sträuchern hindurch und spürte ihn in seinem Versteck auf. Ein Ton schwang in ihr, der sich Rohan besorgt aufrichten ließ.

„Wie kannst du nur?“

Die Art, wie sie es rief, versetzte ihn in Alarmbereitschaft. Obwohl er keine Erklärung für die Aufregung seiner Mutter hatte, wusste er instinktiv, dass es ernst war – anders als die Wortgefechte, welche seine Eltern normalerweise führten. Behände sprang er zwischen den Büschen hervor, kämpfte sich durch das hohe Gras und gelangte auf die gemähte Rasenfläche vor Roxburghe Hall. Mittlerweile konnte er auch die Stimme seines Vaters, des Dukes of Roxburghe, hören, aber nicht verstehen, was er sagte, da er leise sprach.

„Eine Engländerin? Eine englische Hure?“, kreischte seine Mutter außer sich.

Rohan schlich näher.

„Habe ich recht verstanden und du liebst eine englische Hure?“

„Ja, ich liebe sie.“

In der Zwischenzeit hatte Rohan das offene Fenster erreicht und dort Position bezogen, um mit pochendem Herzschlag die Auseinandersetzung seiner Eltern zu belauschen.

„Ich verlange, dass du sie auf der Stelle verlässt!“, flehte die Duchess – Rohan konnte ihre Verzweiflung mit jeder Faser seines Leibes spüren.

„Das werde ich nicht. Es ist durchaus üblich, dass ein Mann sich eine Geliebte hält.“

„Aber nicht mein Mann! Nicht du!“, schrie sie und klang dabei, als wäre ihre Welt in tausend Stücke zerbrochen.

„Du wirst dich damit abfinden.“

„Nein! Hamish, ich flehe dich an! Ich ertrage es nicht!“

„Ich verlange, dass du es unterlässt, dich derart hysterisch zu verhalten und dich wie eine erwachsene Frau benimmst! Du bist nicht die erste Ehefrau, die von ihrem Mann betrogen wird. Genau genommen wärst du eine Ausnahme, wenn ich es nicht täte. Demzufolge erwarte ich, dass du dich damit abfindest.“

Im nächsten Moment knallte eine Tür. Die darauffolgende Stille dröhnte sekundenlang in Rohans Ohren, bis diese von Schluchzen unterbrochen wurde, das die bedrückte Geräuschlosigkeit in kleine, abgehackte Einheiten teilte. Rohans Herz wurde immer schwerer. Es war ihm unmöglich, den Sachverhalt nachzuvollziehen. Alles, was er verstanden hatte, war, dass sein Vater eine Engländerin mit Namen Hure liebte. Aber das durfte er doch nicht! Das brach seiner Mutter das Herz!

Die Gedanken des Neunjährigen rasten und er überlegte fieberhaft, wie er sie wieder aufmuntern konnte. Er beschloss, ihr einen Strauß Blumen zu pflücken. Sie liebte Blumen, insbesondere das violette und purpurfarbene Heidekraut. Gerade als er sein Vorhaben in die Tat umsetzen wollte, bemerkte er, dass das Weinen verstummt war. Nachdenklich runzelte er die Stirn. Diese Ruhe war doch ein gutes Zeichen, oder etwa nicht? Trotzdem beschloss er, an der Idee, sie mit einem Feldblumenstrauß aufzumuntern, festzuhalten. Seine Augen glitten über den Rasen und zur Wiese. Da entdeckte er die Duchess. Wie eine Wilde rannte seine Mutter über das Feld und auf den Wald zu. Wenige Ellen neben der Stelle, an der er gespielt hatte, verschwand sie zwischen den Bäumen. Rohans Herzschlag begann zu rasen. Wohin wollte sie?

So schnell ihn seine Beine trugen, stürzte er ihr hinterher. Doch er vermochte sie nicht einzuholen. Als er auf den breiten Weg stieß, der in fünfhundert Metern Entfernung über einen reißenden Fluss führte, um eine Stunde später in Oban zu enden, entdeckte er sie. Bereits in der nächsten Sekunde geriet sie hinter einer Biegung aus seiner Sicht. Obwohl Rohan kaum noch Luft bekam, seine Lunge brannte und ihn Seitenstechen peinigte, hielt er nicht an, sondern steigerte die Geschwindigkeit. Am Rande seiner Kräfte erreichte er die sanfte Kurve und der Schock ließ ihn abrupt anhalten. Auf der Mitte der Brücke stand Lady Roxburghe, den Blick auf das gurgelnde Wasser gerichtet, welches sieben Meter unter ihr schmatzend und gierig alles mit sich riss, was nicht fest im Boden verankert war.

„Mummy!“, schrie der Knabe aus voller Kehle, doch sie konnte ihn aufgrund des Getöses nicht hören. „Mummy!“

Da gelang es ihm endlich, die Starre abzuschütteln und weiterzulaufen. Aber er kam zu spät. Vor den Augen ihres Sohnes stürzte sie sich in die Tiefe.

„Nein!“, schrie er außer sich. „Nein!“

Als Rohan die Brücke erreichte und auf den reißenden Strom unter sich starrte, war von ihr nichts mehr zu sehen und die Welt des kleinen Jungen in tausend Stücke zerbrochen.

1. Kapitel

17 Jahre später

Summer liebte es, wenn Harrison Cembalo spielte. Dann stellte sie sich vor, auf dem französischen Königshof zu einem Ball geladen zu sein. Nicht, dass sie schon jemals einen besucht hätte. Aber die prunkvollen Feste der Franzosen waren ständiges Gesprächsthema des englischen Adels. Was man sich vom höfischen Leben in dem südlichen Land erzählte, trieb so manchem jungen Mädchen die Schamröte in die Wangen. Summer atmete ein und drehte sich einmal im Kreis, dann sank sie vor einem kunstvoll getrimmten Buchsbaum in Schwanenform in einen tiefen Knicks. Die nächste Saison gehörte ihr! Endlich würde sie in die Gesellschaft eingeführt werden! Sie konnte es kaum erwarten, in den Londoner Trubel einzutauchen. Als ihre Eltern sie das letzte Mal in die Hauptstadt mitgenommen hatten, war Summer ein kleines Mädchen gewesen. Deshalb waren ihre Erinnerungen diesbezüglich äußerst lückenhaft. Trotzdem hatte sich in ihr das Gefühl, dass an jenem Ort alles möglich wäre, festgesetzt. Oh ja, sie würde die Saison genießen! Insbesondere, da sie längst wusste, dass sie eines Tages Harrison heiraten würde. Sie hatten zwar nie darüber gesprochen, doch ihre Vermählung war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Das Cembalo verstummte und Summer drehte sich zu den weit offen stehenden, breiten Flügeltüren des Musikzimmers. Schnell eilte sie darauf zu und klopfte an. Harrison, der soeben den Deckel des Instruments geschlossen hatte, wandte sich in ihre Richtung.

„Summer“, stellte er mit einem erfreuten Lächeln fest. Nicht zum ersten Mal überlegte die junge Frau, wie er sie trotz seiner Blindheit erkennen konnte.

„Wieso hörst du auf?“, fragte sie statt einer Antwort.

„Ich bin deprimiert“, erklärte er und verzog den Mund.

„Aber weshalb nur?“

Leise trat sie auf ihn zu.

„Darüber vermag ich nicht zu sprechen.“

„Warum nicht? Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst.“

Er atmete mehrmals tief durch.

„Wo ist deine Anstandsdame?“, wollte er wissen und Summer runzelte fragend die Stirn.

„Ach, sie trifft sich mit der Zofe deiner Mutter. Wie immer, wenn ich bei dir bin.“

Diese Antwort schien ihn zu ärgern, denn sein Gesicht verdüsterte sich.

„Siehst du?“, beschwerte er sich. „Als würde von mir keinerlei Gefahr ausgehen.“

„Was meinst du damit?“ Summer musterte ihn verständnislos, doch er winkte ab.

„Machen wir einen Spaziergang. Hoffentlich bringt mich das auf andere Gedanken.“

Er bot ihr den Arm und sie hängte sich bei ihm ein. Vorsichtig führte sie ihn in den Garten und auf einen Weg, der sie vom Haus fortbrachte.

„Willst du mir jetzt berichten, was deine Stimmung trübt?“, ließ Summer nicht locker und bog auf einen Waldweg ab. „Achtung, hier liegt ein Ast auf dem Boden. Du musst den Fuß höher heben.“

Er tat wie geheißen und sie überwanden das Hindernis.

„Es ist ein Geheimnis. Wenn du es wissen willst, musst du uns an einen Ort bringen, an dem uns keiner finden oder belauschen kann.“

„In Ordnung.“

Summer lächelte und führte ihn vom Weg ab. Im Laufe der folgenden Minuten konzentrierte sie sich darauf, Harry zu leiten und zu verhindern, dass er gegen einen Baumstamm lief oder über eine Wurzel stolperte. Nach einiger Zeit erreichten sie eine kleine, sonnendurchflutete Lichtung.

„Ich denke, hier wird uns niemand finden“, murmelte Summer.

„Bist du sicher?“

„Ja.“

„Gut. Können wir uns setzen?“

„Ja, dort drüben.“

Summer dirigierte ihn unter einen Baum, dessen Äste sich weit über ihnen wie ein Dach ausbreiteten.

„Du kannst dich an den Stamm lehnen“, erklärte sie fürsorglich und half ihm dabei, sich im Schatten des Baumes niederzulassen.

Dann ging sie gegenüber von ihm auf die Knie. Gespannt musterte sie ihren Freund und tiefe Liebe für ihn durchflutete sie. Seit Kindheitstagen trafen sie einander regelmäßig. Im Laufe der Jahre war Summer so etwas wie seine Beschützerin geworden. Sie genoss es, für sein Wohlbefinden zu sorgen – auch jetzt würde sie alles geben, um seine miserable Laune zu verbessern oder sein Leid zu lindern.

„Es verhält sich folgendermaßen, Summer“, begann er und Nervosität färbte seine Stimme dunkler.

„Ja?“ Aufgeregt beugte sich das junge Mädchen vor. „Los, berichte!“

„Es ist mir reichlich unangenehm“, gestand Harrison und eine Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen.

„Dafür gibt es keinen Grund! Bis jetzt haben wir alle Geheimnisse miteinander geteilt, oder etwa nicht?“

Er nickte, doch etwas in seinen Gesichtszügen machte sie stutzig. Als belöge er sie. Summer schüttelte diesen irritierenden Gedanken ab. Harry würde sie niemals hintergehen. Nicht er. Schließlich liebten sie einander und Liebende waren stets ehrlich und ...

„Die anderen machen sich über mich lustig.“

„Die anderen?“

„Deine Brüder Julian und Andrew. Und natürlich James, dieser Taugenichts.“

Summer stieß die Luft aus.

„Pah, was interessiert dich das?“

„Sie haben recht!“

„Das vermag ich kaum zu glauben! Welchen Grund könnten sie denn haben?“

„Meine Unwissenheit.“

„Deine Unwissenheit?“, wiederholte Summer verständnislos. „Du bist weitaus mehr gebildet als diese Angeber.“

„Das ist in vielen Bereichen wahr. Aber in einer überaus wichtigen Sache bin ich ein unbeschriebenes Blatt.“

„Was mag das wohl sein?“, überlegte die junge Unschuld laut.

Sie konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen, worauf er hinauswollte.

„Mädchen“, murmelte er und wandte den Kopf ab.

Summer richtete sich ratlos auf.

„Was soll das heißen? Was meinst du damit?“

„Ich habe keinen blassen Schimmer, wie eine Frau aussieht“, erklärte er säuerlich. „Während meine Freunde nur einen Blick auf ein weibliches Wesen werfen können und wissen, wie sie aussehen, bleibt mir nur ihre Stimme, um zu erkennen, dass sie sich von mir unterscheiden. Verdammt, ich bin bald achtzehn und habe nicht die leiseste Ahnung von der Beschaffenheit des anderen Geschlechts!“

Summer zog verwundert die Augenbrauen zusammen.

„Aber du weißt doch, wie ich aussehe!“

„Ich kenne dein Gesicht, Summer, mehr nicht.“

Sein Frust war deutlich zu spüren und sie zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie ihm helfen könnte. Schweigen dehnte sich zwischen ihnen aus.

„Siehst du?“, stellte er nach einer Weile wütend fest. „Daran vermagst sogar du nichts zu ändern.“

Summer senkte den Blick zu seinen schlanken Pianistenhänden. Was, wenn sie seine Hand führte? Wenn sie ihm gestattete ... Aber das wäre eine Sünde! Von klein auf hatte man ihr eingebläut, dass es nur ihrem Ehemann zustünde, sie zu berühren. Allerdings war das hier etwas anderes. Hier ging es genau genommen gar nicht um Unsittlichkeiten, sondern darum, ihrem über alles geliebten Freund das Leben zu erleichtern. Abgesehen davon wäre sie ohnehin bald Harrisons Frau.

„Ich könnte dir helfen“, schlug Summer leise vor und ihre Wangen färbten sich rosig.

Sofort hellte sich seine Miene auf.

„Das würdest du für mich tun?“, fragte er hoffnungsvoll und ihr Herz weitete sich.

„Ich würde alles für dich machen, Harry! Das weißt du doch.“

Er setzte sich aufrecht hin und streckte eine Hand auffordernd nach ihr aus.

„Dann lass uns nicht länger warten“, drängte er, sofort Feuer und Flamme.

Mit einem mulmigen Gefühl rutschte das Mädchen näher und direkt zwischen seine Beine, die er aufgestellt hatte.

„Führe mich“, bat er und hielt ihr beide Hände hin.

Nervös legte sie seine Handflächen auf ihre Schultern und wölbte ihre Hände darüber. Hoffentlich machte sie keinen Fehler! Ihre Gedanken rasten und sie kämpfte darum, die aufsteigende Sorge zu unterdrücken und ihr schreiendes Herz zu beschwichtigen. Es ist alles in Ordnung. Harry braucht meine Hilfe. Ich tue nichts Unrechtes!

„Hier ist mein Hals“, flüsterte sie und seine Daumen strichen über ihre Kehle.

„Meine Arme.“

Sie schob seine Hände entlang ihrer Arme, bis hin zu den Fingerspitzen.

„Mein Rücken.“ Jetzt musste sie sich etwas verrenken und er lächelte.

„Warte, das kann ich allein“, schmunzelte er und glitt mit seinen Fingern tiefer.

Bevor er geheime Regionen erreichte, umklammerte sie ihn an den Unterarmen und zog diese wieder vor ihren Körper.

„Mein Bauch.“

„Nun ja“, brummte er. „Wie mir scheint, unterscheidet sich eine Frau kaum von einem Mann. Ist es so?“

Summer schloss die Augen und atmete tief durch. Dann nahm sie seine Hände und legte sie auf ihre Brüste. Er stieß die Luft aus.

„Oh, mein Gott!“, stöhnte er und bewegte seine Finger, um sie genauer zu untersuchen. „Bist du weich! Das ist unglaublich!“

Summers Herz pochte wie verrückt, während er sie eingehender abtastete. Im nächsten Moment schob er ihr Dekolleté tiefer und die junge Frau hielt erschrocken die Luft an, als er ihre jetzt nackten Brustspitzen berührte.

„Nein, das darfst du nicht“, wimmerte sie verwirrt.

„Keine Angst, ich werde dir nicht wehtun. Aber welchen Sinn hat deine Bereitschaft, wenn ich erst wieder nicht erfahre, wie ein Frauenkörper beschaffen ist?“

Er hatte recht. Sie hatte versprochen, ihm zu helfen, deswegen durfte sie keinen Rückzieher machen. Abgesehen davon behandelte er sie überaus sanft und es war nicht unangenehm, was er mit ihr anstellte. Sie vertraute ihm vorbehaltlos.

Nach einer Weile zog er die Hände zurück und es schien, als wartete er auf etwas. Schnell rückte Summer ihr Dekolleté zurecht.

„War das schon alles?“, fragte er da und das Mädchen schluckte.

„Den Rest kann ich dir nicht zeigen.“

„Bitte, Kleines! Jeder lacht über mich, weil ich keine Ahnung von der weiblichen Anatomie habe. Es ist nicht zu ertragen! Sie haben meine Selbstachtung in den Staub getreten.“

Summer ballte die Hände und rang mit sich. Wieder gewann ihre Liebe für den jungen Mann, der ihr so nahe war wie kein anderer Mensch auf dieser Welt. Deswegen drehte sie sich um und lehnte ihren Rücken an seinen Brustkorb. Sie winkelte die Beine an und schob die Röcke ihres Kleides bis über die Knie. Dann legte sie seine Hände auf ihre Oberschenkel. Sein Herz pochte ebenfalls, sie konnte es deutlich spüren. Schon glitten seine Hände höher, als kannten sie den Weg, um das Geheimnis der Weiblichkeit zu lüften, genau. Summer keuchte auf, als er sie an ihrer intimsten Stelle berührte. Unbeirrt tastete er sich langsam weiter, während sich die Atmung der jungen Frau beschleunigte. Sie konnte nicht verstehen, weshalb seine Berührung sie fast um den Verstand brachte. Es war nicht das erste Mal, dass sie einander nahe waren – nie hatte ihr ganzer Körper dabei gekribbelt wie jetzt.

„Und hier? Wohin geht es hier?“, fragte er rau.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte sie matt.

„Dann werde ich es herausfinden“, erklärte er entschlossen und schob sich tiefer.

Summer keuchte auf und versuchte, ihr Gefühlschaos in den Griff zu bekommen, doch es war unmöglich. Ihr ganzer Körper hatte sich auf ihn ausgerichtet. Trotzdem verkrampfte sich ihr Herz und ein Schluchzen stieg in ihre Kehle. Das, was Harry hier tat, war verboten! Er durfte sie nicht auf diese Weise berühren, nicht ihr Verlangen und ihre Neugierde schüren! Sie vertraute ihm und er riss dieses Geschenk, ohne sich der Kostbarkeit und Einzigartigkeit ihrer Liebe bewusst zu sein, auf. Sie unterdrückte einen Aufschrei, als ein undefinierbares Gefühl sie wie eine mächtige Welle überrollte und ihren Leib zucken ließ. Ein merkwürdiger Laut entrang sich seiner Kehle und Summer meinte, sich niemals zuvor so verletzlich und hilflos gefühlt zu haben wie in dieser Sekunde. Aber Harry bemerkte davon nichts und liebkoste sie weiter. Vollkommen durcheinander wagte sie nicht, sich ihm zu entziehen. Wollte seine Freundschaft, seine Liebe nicht verlieren. Summer entglitt jegliches Empfinden für Raum und Zeit und sie kämpfte eine gefühlte Ewigkeit lang gegen die Tränen an, die in ihren Augen brannten. Sie verstand nicht weshalb, aber sie wünschte sich, an einem anderen Ort zu sein und fühlte sich gleichzeitig wie eine Verräterin. Als Harrys Freundin war sie es ihm schuldig, ihn zu unterstützen, wenn er Hilfe benötigte. Trotzdem ahnte sie instinktiv, dass ihre Freundschaft sich durch diesen Vorfall verändert hatte. Sie war nicht mehr rein und unbekümmert wie in all den Jahren zuvor. Seine Berührungen hatten ihr die Leichtigkeit genommen und etwas unwiederbringlich zerstört. Als Harry sich endlich zurückzog, war Summer erleichtert, dass es ihm unmöglich war, die Tränen auf ihren Wangen zu sehen.

Auf dem Rückweg schwiegen sie und schlichen sich unbemerkt ins Musikzimmer zurück. Da beugte er sich zu ihr und flüsterte: „Morgen wieder, Summer?“

Die junge Frau schluckte, hin- und hergerissen zwischen Neugierde und Scham.

„Du zögerst? Hat es dir nicht gefallen?“

Da sie nach wie vor schwieg, seufzte er bekümmert.

„Es tut mir leid, dass ich so tollpatschig war. Ich hätte wissen müssen, dass ich unfähig bin, eine Frau glücklich zu machen.“

„Nein“, entgegnete Summer tonlos. „Das stimmt nicht. Du bist atemberaubend! Ich ... ich komme dich morgen wieder besuchen.“

Dieses Mal drückte sie ihm nicht wie sonst einen flüchtigen, heimlichen Kuss auf die Wange, sondern eilte auf der Suche nach ihrer Anstandsdame aus dem Raum.

An jenem Abend konnte sie lange nicht einschlafen. Erinnerungen wirbelten durch ihre Gedanken und ihr Herz schmerzte, obwohl sie sich einzureden versuchte, dass es dafür keinen Grund gäbe. Harry liebte sie und würde im kommenden Herbst um ihre Hand anhalten. Somit hatte er sich nur genommen, was ihm ohnehin zustand. Es war vollkommen in Ordnung, wenn sie morgen wieder zu ihm ginge. Und übermorgen. Und überübermorgen. So lange, bis sie seine Frau wäre.

2. Kapitel

Was hatte sie nur getan? Wie hatte sie sich in Harry nur so irren können? All die Jahre! Wenn er jemandem erzählte, welche Intimitäten sie ihm gestattet hatte? Man würde sie verstoßen und aus der Gesellschaft ausschließen. Sie wäre ruiniert, kein Mann, der etwas auf sich hielt, würde sie heiraten. Oh Gott, was hatte sie nur angestellt? Wie leichtsinnig war sie gewesen, ihm zu vertrauen und ihre Zukunft in seine Hände zu legen. Nun hatte er alles zerstört und es gab keinen Ort mehr, an dem sie in Sicherheit war. Womit hatte sie das verdient? Warum war er so grässlich zu ihr? Weshalb hatte er sie nicht gewarnt und kaltblütig ins offene Messer laufen lassen?

Wie eine Blinde rannte Summer durch immer einsamer werdende Gassen, bis ihre Lunge brannte und die Tränen auf ihrer Wange getrocknet waren. Als sie innehielt und sich umsah, bemerkte sie, dass sie sich verlaufen hatte. Aber das war belanglos. Ihr Leben hatte keinen Sinn mehr. Der Mann, den sie von ganzem Herzen liebte, hatte sie verraten und zurückgestoßen. Das tat so schrecklich weh, dass sie es nicht ertragen konnte. Nicht eine Sekunde länger. Wie von Sinnen rannte sie weiter. Die Abstände zwischen den Gaslaternen wurden größer, der Gestank der Themse drang immer intensiver an ihre Nase. Nur nebenbei stellte sie fest, dass sie zweifellos durch eines der schäbigen Stadtviertel hetzte. In ihrem jugendlichen Kummer war sie überzeugt davon, dass es nichts gab, was sich mit dem soeben erlittenen Schmerz zu messen vermochte, deswegen fürchtete sie sich nicht und verschwendete keinen Gedanken an ihre Sicherheit.

Plötzlich fand sie sich am Ufer des breiten Flusses wieder und hielt sekundenlang inne. In fünfzig Metern Entfernung spannte sich eine Brücke über den langsam fließenden Strom. Als hätte die Laterne, welche auf deren Mitte platziert worden war, sie mit einem Netz eingefangen, um sie näher zu ziehen, huschte sie darauf zu. Bis auf jenen spärlich beleuchteten Lichtkreis blendete Summer die restliche Umgebung aus. Deswegen bemerkte sie die einsame Kutsche nicht, die am Ufer stand. Außerdem entging ihr der dunkle Schatten eines Menschen, der sie auf ihrem Weg reglos beobachtete.

Summers Dasein hatte keinen Sinn mehr. Auf Dauer würde sie es nicht ertragen, ohne Harry zu leben. Das hatte sie in der letzten halben Stunde erkannt. Deswegen konnte sie sich genauso gut sofort in den Tod stürzen und mit einem Schlag all ihre Probleme lösen.

Ihre Hände zitterten, als sie sich am Holzgeländer nach oben zog und mit den Armen den Laternenpfahl umschlang. Dann richtete sie sich schniefend auf. Der Fluss war in der Dunkelheit kaum wahrzunehmen, die Welt um sie herum, bis auf die Lichtglocke, die sie umspannte, tiefschwarz.

„Schätzchen, er ist es nicht wert“, durchbrach eine Stimme die Unwirklichkeit dieses Augenblicks und Summer zuckte erschrocken zusammen. Um nicht zu fallen, klammerte sie sich fester an den Pfeiler.

Langsam wandte sie den Kopf und entdeckte den Umriss einer Frau, die einen knappen Meter neben ihr stand und zu ihr aufblickte.

„Glaube mir, ich weiß, wovon ich spreche.“

„Ich kann nicht länger leben“, schluchzte das verzweifelte Mädchen. „Ich bin ruiniert und er hat mir das Herz gebrochen.“

Wieder sprudelten Tränen über ihre Wangen und Summer war unfähig, diesen Gefühlsausbruch zu unterbinden.

Kurz war es still und die schattenhafte Frau trat näher.

„Nur wenn du es zulässt“, erklärte sie nach einer Weile. „Nur wenn du ihm gestattest, dein Leben zu ruinieren.“

Ein winziger Hoffnungsschimmer entzündete sich in Summers Herz.

„Weißt du, Schätzchen, es gibt ausgezeichnete Möglichkeiten, sich als Frau an der männlichen Gattung zu rächen.“

Trotz der aufkeimenden Hoffnung schüttelte Summer weinend den Kopf.

„Ich habe keinen anderen Ausweg! Ich bin vollkommen allein!“

„Hör zu, Mädchen: Komm da runter und ich werde dir helfen!“

Summer schniefte und überlegte sekundenlang. Dann ging sie vorsichtig in die Knie und ließ sich auf den Boden hinab. Hoffnungsvoll suchte sie den Blick ihrer Retterin. Bei genauerer Betrachtung erkannte sie, dass diese vornehm gekleidet war und teuren Schmuck trug. Außerdem war sie unerhört attraktiv. Was machte eine solch elegante Frau bloß ohne Begleitung in der Nacht an einem Ort wie diesem? Die geheimnisvolle Dame erwiderte Summers Blick mit einem aufmunternden Lächeln.

„Ich bin Madame Aury“, stellte sie sich mit weicher Stimme vor.

„Summer Davies“, murmelte die Jüngere, da legte ihr die schöne Frau einen Finger über die Lippen.

„Pscht! Dieses Mädchen gibt es nicht mehr. Es ist soeben in den Fluss gesprungen, oder etwa nicht?“

Verwirrt blinzelte Summer, dann nickte sie zustimmend. Diese Vorstellung vermittelte ihr Trost.

„Ich werde einen neuen Namen für dich finden“, erklärte die Frau und zog sie weiter in den Schein der Gaslaterne.

Eingehend musterte sie das hoffnungslose Mädchen.

„Bella“, erklärte sie nur Augenblicke später. „Ab jetzt bist du Bella. Du hast etwas an dir, womit du erheblich Macht erlangen wirst.“

„Macht?“, wiederholte Bella verständnislos.

„Ja, Macht“, bekräftigte Madame Aury und nickte nachdrücklich. „Denn eines musst du wissen, Schätzchen: Alle Männer sind gleich. Sie brechen Frauenherzen, ohne etwas dabei zu empfinden. Sie verfügen über unsere Körper und benutzen uns ohne schlechtes Gewissen. Trotzdem sind sie schwach. Ich werde dir zeigen, wie du es anstellen musst, damit sie dir verfallen und du sie beherrschen kannst. Wenn sie dir aus der Hand fressen, wirst du ihnen alles nehmen können! Sie werden dich mit Schmuck überhäufen, dir Häuser kaufen und aus Angst, von dir verlassen zu werden, zittern.“

Bella konnte den Worten ihres Gegenübers nicht folgen. Deswegen schluckte sie und schüttelte ablehnend den Kopf. „Ich hasse Männer! Ich will mit ihnen nichts mehr zu tun haben!“

„Das ist sehr gut!“, lobte Madame Aury. „Dein Hass wird dich bis an die Spitze führen. Aber sehnst du dich nicht danach, sorgenfrei und in Luxus zu leben?“

Bella verstand nicht, worauf die andere Frau hinauswollte.

„Ja, trotzdem bin ich ruiniert! Verstehen Sie das doch!“

„Das bist du nicht. Ab jetzt ruinierst du die Männer. Das ist deine Rache. Dein Herz wird erst Linderung erfahren, wenn sie dir zu Füßen liegen. Dann wirst du ihnen jenen Schmerz bereiten, den dieser Mann dir zugefügt hat.“

Bella schloss die Augen und dachte angestrengt nach.

„Was muss ich tun?“, fragte sie leise.

„Zuerst einmal kommst du mit mir. Ich habe ein Zimmer, das du für kurze Zeit bewohnen kannst.“

„Oh, vielen Dank!“

Das erste Mal, seit Harry sie von sich gestoßen hatte, fühlte sie sich etwas besser. Madame Aury griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich von der Brücke und auf eine Kutsche zu, die am Straßenrand wartete. Wie Summer jetzt feststellte, zierte diese kein Wappen. Nacheinander stiegen sie ein. Nachdem sich das Gefährt in Bewegung gesetzt hatte, beugte sich die ältere Frau vor und umschloss Bellas Unterarm.

„Du musst mir vertrauen“, sagte sie dann. „Es ist wichtig, dass wir gleich heute beginnen.“

„Womit?“

„Ich nehme an, dieser Mann hat deine Unschuld geraubt?“, wollte die andere Frau statt einer Antwort wissen.

Bella errötete und wandte sich ab. Da sie nichts erwiderte, fuhr die Madame fort: „Es besteht kein Grund, sich zu schämen. Dergleichen gehört ab jetzt zu deinem Geschäft. Je eher du dich daran gewöhnst, frei über Intimitäten zu sprechen, desto schneller wirst du Erfolg haben.“

Bella schluckte.

„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie.

„Du weißt es nicht?“, wiederholte die Ältere fassungslos. „Was soll das heißen? Hat er seinen Pfahl in dich gerammt, oder nicht?“

Bella zuckte erschrocken zusammen.

„Seinen Pfahl? Was soll das sein?“, stammelte sie verwirrt. Das klang ja schrecklich!

„Was genau hat er mit dir angestellt?“

„Er hat mit seinem Finger ...“ Verlegen brach sie ab und die Madame atmete tief durch.

„Dann bist du demnach noch Jungfrau“, stellte sie sachlich fest und Bella zuckte die Achseln.

Eine Zeit lang überlegte die ältere Frau mit gerunzelter Stirn, dann wandte sie sich erneut an ihren Schützling.

„Ein Umstand, den wir schnellstens ändern müssen. Die Frage ist nur, ob du das wirklich willst. Überlege es dir gut! Solltest du dich dafür entscheiden, verspreche ich dir, dass dir kein Mann jemals wieder Schmerzen wird zufügen können, nachdem du die Lehre bei mir abgeschlossen hast.“

Bellas Herz pochte wie verrückt, ihre Gedanken kreisten wild in ihrem Kopf. Die ganze Situation erschien ihr immer unwirklicher.

„Deine Rache wird dich reich machen und du wirst tun können, was immer du möchtest. Nachdem du den richtigen Umgang mit Männern gelernt hast. Willst du dieses Leben?“

Madame Aury hatte ihr die Tür zum einzigen Ausweg aus dieser Misere geöffnet. Warum fühlte sich Summer trotzdem so, als würde sie in eine Falle tappen? Doch die Aufrichtigkeit in den Augen der anderen beruhigte sie. Wenn die Frau davon überzeugt war, dass sie es schaffen würde, durfte sie nicht länger zweifeln. Denn, was sollte sie auch sonst machen? Nach Hause konnte sie nicht mehr zurückkehren. Harry würde allen erzählen, dass sie ein leichtes Mädchen wäre. Abgesehen davon war Summer vor nicht einmal einer halben Stunde in den Fluss gesprungen. Somit war die Entscheidung gefallen. Zögernd nickte sie.

„Ja, ich will das.“

„Der Anfang wird nicht leicht sein“, offenbarte ihr Madame Aury. „Glaubst du, du hältst durch?“

Angst schnürte ihr das Herz noch fester zusammen.

„Ja“, flüsterte sie und die Kutsche hielt mit einem Ruck vor einem stattlichen Haus.

Ein Page öffnete ihnen die Tür und sie entstiegen dem Gefährt. Madame Aury führte ihren Gast in die hell erleuchtete Halle und über eine Treppe in den ersten Stock. Wie Bella überrascht feststellte, war es teurer eingerichtet als ihr Elternhaus.

Das Gästezimmer, in welches Madame sie brachte, war riesig und nobel ausgestattet.

„Siehst du?“, sagte sie mit einem zufriedenen Lächeln und deutete um sich. „All dies habe ich mit verletztem, männlichem Stolz bezahlt.“

Trotz ihres Kummers lächelte Bella zaghaft. Sie fühlte sich bereits etwas besser.

„Ich frage dich ein letztes Mal: Willst du das ebenso?“

„Ja!“, bekräftigte Bella mit neuerwachtem Mut.

„In Ordnung, dann gebe ich dir ein paar Minuten Zeit, um deine Tränen abzuwischen und dich zu entkleiden. Ich werde dir etwas Passenderes bringen und dir zeigen, wie man sich schminkt. In der Zwischenzeit werde ich einen Bekannten kontaktieren, der ein kleines Vermögen dafür zahlt, ein Mädchen zu entjungfern. Der komplette Betrag soll dir gehören. Diesmal verlange ich keinen Anteil.“

Bella nickte wie betäubt, obwohl sie nur die Hälfte von dem verstand, was die andere Frau ihr erklärte. Augenblicke später war sie allein. Nervös trat sie zur Waschschüssel, goss sich aus einem Krug Wasser ein und reinigte ihr Gesicht. Kaum war sie damit fertig, betrat eine junge Frau das Zimmer. Sie war nur wenige Jahre älter als Bella selbst.

„Ich bin Belinda. Madame Aury schickt mich, um dir beim Entkleiden behilflich zu sein“, erklärte diese und Bella wandte ihr schweigend den Rücken zu.

Innerhalb kürzester Zeit hatte sie Kleid, Überkleid, die voluminösen Unterröcke und das Korsett abgelegt. Das Unterkleid ließ sie an. Nachdem Belinda gegangen war, kreuzte Bella die Arme abwartend vor der Brust, um sich nicht so nackt zu fühlen.

Madame Aury kehrte zurück und musterte ihren Körper prüfend.

„Zuallererst wirst du ein Bad nehmen“, erklärte sie aufmunternd und streckte dem Mädchen auffordernd eine Hand entgegen. „Komm mit mir!“

Unbehaglich folgte ihr Bella und fand sich bald darauf in einem prunkvollen Bad wieder, in dessen Mitte eine dampfende Porzellanwanne stand. Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, half Madame ihrem Schützling aus dem Unterkleid und beobachtete Bella abschätzend, als diese in die Wanne stieg.

„Du hast einen erotischen Körper“, stellte sie zufrieden fest. „Es ist wichtig, dass du nie vergisst, dass er dein Kapital ist. Du musst immer perfekt hergerichtet sein, wenn du dich einem Mann präsentierst. Trage stets Parfum und exotische Kleidung. Das alles wird Teil deiner neuen Persönlichkeit sein, der Frau, als die du in der Öffentlichkeit auftrittst. Bella wird so etwas wie einen Schutzwall für dich darstellen, hinter dem du dich verstecken kannst. Zeige dich einem Freier niemals ungeschminkt! Wie du unter all diesen Schichten aussiehst, darf keiner der Herren je erfahren, denn dein wahres Gesicht gehört nur dir. Sie denken, du gibst dich ihnen vollständig hin, doch in Wirklichkeit verachtest du sie und hältst alles, was dich wahrhaftig betrifft, zurück.“

Madame Aury holte tief Luft und streckte zur Unterstreichung des folgenden Rates einen Zeigefinger in die Höhe.

„Merke dir außerdem, niemals einen Mann zu küssen. Das gilt es unter allen Umständen zu vermeiden! Verstehst du das?“

Obwohl Bella nicht gänzlich nachvollziehen konnte, wovon die andere Frau sprach, brannte sich jedes ihrer Worte in ihre Gedanken ein. Sie nahm sich fest vor, diese Ratschläge nie zu vergessen. Instinktiv ahnte sie, dass es überlebenswichtig war, sich an das zu halten, was Madame Aury sie lehrte.

„Mr Delane wird für eine Stunde so viel bezahlen, wie normalerweise für eine ganze Nacht. Auch, wenn er darauf besteht, länger zu bleiben, musst du ihn fortschicken. Vertröste ihn auf nächste Woche.“

„Mr Delane?“

„Dein erster Freier.“

Kälte übermannte Bella und langsam dämmerte ihr, was sie erwartete.

„Wird er seinen Pfahl in mich rammen?“, wollte sie tonlos wissen.

„Ja.“

„Wird es weh tun?“

Madame Aury zuckte mit den Achseln und deutete ihr, aufzustehen. Dann reichte sie ihr ein Badetuch.

„Das kommt sowohl auf ihn als auch auf dich an.“

„Was muss ich tun, damit es nicht schmerzt?“

„Ihn verführen, ihn um den Finger wickeln, bis er dir aus der Hand frisst.“

„Wie soll ich das anstellen?“

Sinnend beobachtete Madame Aury Bella dabei, wie sie sich abtrocknete. Ein Glück, dass Bella nicht ahnte, dass die Stunde mit Mr Delane dazu gedacht war, ihre Abneigung gegen Männer zu verstärken und ihren Hass zu schüren.

„Das ist unwichtig. Du wirst es in den nächsten Tagen lernen“, meinte sie ausweichend.

Sie half Bella in ein aufreizend durchsichtiges Kleid und in einen Morgenmantel. Dann dirigierte sie das verunsicherte Mädchen vor ihren Schminktisch und zeigte ihm, wie man Farbe auf Augenlidern und Wangen verteilte. Fachmännisch tuschte Madame Bellas Wimpern und trug ein dunkles, frivoles Rot auf deren Lippen auf. Vor den Augen der jungen Frau verwandelte sie sich in eine fremde Person, die sich selbst nicht erkannte, als sie fertig war.

„Nun ist es Zeit. Also, komm mit! Ich bringe dich jetzt in den Raum, in dem du Mr Delane empfangen wirst.“

Auf dem Weg pochte Bellas Herz so heftig, dass sie befürchtete, es würde ihr aus der Brust springen. Was machte sie hier eigentlich? War sie von allen guten Geistern verlassen? Nein. Sie ballte die Hände. Sie würde zurückschlagen und Harry nicht gestatten, ihr ganzes Leben zu zerstören.

Ein breites Bett, auf dem sich unzählige Kissen stapelten, zog ihren Blick sofort auf sich.

„Gib mir den Morgenmantel!“

Zitternd gehorchte die junge Frau ihrer Lehrmeisterin. Bevor sich Madame Aury zurückzog, tätschelte sie Bella aufmunternd die Wange.

„Du schaffst das“, sagte sie ernst, wandte sich um und ließ sie allein zurück.

Nervös und am Rande ihrer Kräfte durchmaß Bella das Zimmer. Da sie barfuß war, machte sie dabei keinen Laut. Sie meinte, eine Ewigkeit wäre vergangen, bis sich die Tür öffnete und ein großer, schwerer Mann eintrat. Angesichts seiner wuchtigen Statur wurde Bella ihre Hilflosigkeit umso deutlicher bewusst. Ängstlich suchte sie in seinen riesigen Pranken nach jenem Pfahl, von dem Madame Aury gesprochen hatte. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf sie und seine Augen glitten ungeniert über ihren Körper. Dann teilte ein zufriedenes Lächeln seinen schmallippigen Mund. Mit einer Hand warf er lässig die Tür hinter sich zu und schob den Riegel vor.

„Also Bella, richtig?“

Sie nickte entgeistert, unfähig, den Blick von ihm zu wenden. Dies war er also, der Mann, der sie zu einer Frau machen würde. Während Madame Aury von ihrer Zukunft gesprochen hatte, war ein anderes Bild in ihrem Inneren aufgestiegen. Es waren Gentlemen gewesen, die sich vor ihr verneigt und um ihre Gunst gebuhlt hatten. Nicht rohe, grobschlächtige Männer wie Mr Delane. Ohne es beabsichtigt zu haben, vergrößerte sie den Abstand zu dem furchteinflößenden Mann.

„Wir haben nur eine Stunde“, erklärte dieser ungeduldig. „Deswegen sollten wir gleich zur Sache kommen.“

Mit drei Schritten war er bei ihr, hob seine Hände und umspannte damit ihre Schultern, was sie erstarren ließ. Ohne Vorwarnung entblößte er ihr Dekolleté und zerrte das Negligé tiefer, bis es zu ihren Füßen lag und Bella nackt vor ihm stand. Das war der Moment, in dem sie vehement bereute, sich auf dieses Unterfangen eingelassen zu haben.

„Bitte“, flüsterte sie ohnmächtig vor Angst, „bitte hören Sie auf! Ich habe es mir anders überlegt!“

„Ha“, lachte er gnadenlos. „Zu spät! Ich bin schon bereiter als bereit!“

Da zerrte er an seiner Hose und Bella wich noch weiter zurück, als sich sein erigiertes Glied in ihr Blickfeld drängte. Instinktiv wusste sie, dass es sich dabei um jenen Pfahl handelte, von dem Madame Aury gesprochen hatte. Ihre Furcht steigerte sich ins Unermessliche und sie wandte verschämt den Kopf ab.

„Bitte“, wiederholte sie entsetzt, als er aus der Hose stieg.

Rücksichtslos packte er sie und warf sie aufs Bett. Er war zu schwer, um ihm zu entkommen, deswegen schloss sie die Augen und stellte sich vor, er wäre ein anderer: ein Mann ohne Gesicht. Sie fand keine Erklärung dafür, aber auf diese Weise war die Qual leichter zu ertragen.

In jener Stunde lernte Bella, wie sich tödlicher Hass anfühlte. Eine Feindseligkeit, die, gepaart mit Ekel und Verachtung, die Kraft hatte, ihr Herz von ihrer Umwelt abzuschotten.

Als Madame Aury, nachdem er gegangen war, neben ihr auf dem Bett saß und ihre Hand hielt, hatte Bella begriffen, was ihre Lehrerin zuvor gemeint hatte. Dies alles geschah einem anderen Mädchen, nicht ihr. Bella war das Mittel zum Zweck, eine Persönlichkeit, die sie nach Belieben formen konnte. Die Eigenschaften besitzen würde, die Summer nie gehabt hatte. Die bis zur letzten Konsequenz bereit war, sich zu rächen. Die niemals weinte, da ihr Herz derart hart war, dass jeder Kummer an ihm abprallte. Die für sie sorgen, sie beschützen würde, weil kein anderer es tat. Weil es niemanden auf dieser Welt gab, dem sie vollkommen vertrauen konnte.

„Erinnere dich ein Leben lang an Mr Delane“, erklärte Madame Aury und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Denn so wie er sind sie alle. Kalte, lüsterne Tiere. Begehren sie dich, hast du Macht über sie und sie können dir nichts anhaben.“

Bella verstand. Heute hatte sie die wichtigste Lektion ihres Lebens gelernt: Es gab keine Liebe auf dieser Welt und um zu überleben, musste man die Oberhand gewinnen.

Madame Aury zählte einen stattlichen Packen an Geldscheinen auf das Nachtkästchen.

„Für den Anfang gar nicht übel“, lächelte sie mit einem Zwinkern, dann griff sie in ihre Tasche und zog eine feingliedrige Halskette hervor, an der ein Anhänger in Schuhform baumelte. Schweigend legte sie Bella die Kette um und diese strich mit den Fingerkuppen darüber.

„Behalte sie“, forderte die Ältere das Mädchen auf. „Sie soll dich immer an diese Nacht erinnern.“

Bella nickte und schwor sich, die Kette niemals abzulegen.

Am nächsten Tag brachte Madame Aury einen jungen Mann namens Morgan und Belinda, jenes Mädchen, das Bella am vergangenen Abend beim Auskleiden geholfen hatte, zu ihr ins Zimmer.

„Mo und Belinda werden dich alles lehren, was sie wissen. Sei eine aufmerksame Schülerin und lass dich zu einer scharfen Waffe formen!“

Bella schluckte unbehaglich und hielt das Laken, in welches sie sich mangels anderer Kleidung eingewickelt hatte, verlegen vor ihrer Brust zusammen. Die Ereignisse der letzten Nacht lagen ihr nach wie vor schwer im Magen.

Nachdem Madame Aury gegangen war, senkte sich Stille über die Anwesenden.

„Also“, durchbrach Belinda das Schweigen, „ich werde dir zeigen, wie du den Essigschwamm einsetzt. Es ist wichtig, dass du ihn stets frisch machst und jederzeit trägst.“

„Wozu soll das gut sein?“, wollte Bella verwirrt wissen.

Sie meinte, eine unsichtbare Grenze überschritten zu haben und dabei in eine andere Welt geraten zu sein. Das Leben, welches sie bis gestern geführt hatte, war so weit weg wie ein surrealer Traum.

„Du willst doch nicht schwanger werden?“

„Oh!“ Röte schoss Bella in die Wangen. „Und letzte Nacht? Da habe ich keinen gehabt.“

„Das Risiko des ersten Mals“, offenbarte Belinda mitfühlend. „Dir bleibt nur zu hoffen, dass es keine Auswirkungen hat.“

Oh nein! Obwohl Bella in Zusammenhang mit der Empfängnis bisher vollkommen ahnungslos gewesen war, stellte sie augenblicklich eine Verbindung zu der vergangenen Nacht her. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich hatte sie kein Kind von diesem Rohling empfangen! Sie biss sich ratlos auf die Unterlippe.

Mo warf sich auf einen Stuhl und blickte gelassen aus dem Fenster, während Belinda sie an ihrem Wissen teilhaben ließ. Mit geröteten Wangen lauschte Bella ihren Ausführungen. In Gegenwart eines Mannes über die intimsten Regionen eines Frauenkörpers zu sprechen, war an Peinlichkeit kaum zu überbieten. Ein Thema, das normalerweise sogar Frauen untereinander vermieden.

Als Belinda fertig und Bellas Schwamm platziert worden war, wandte sich Mo den Frauen wieder zu, erhob und entkleidete sich. Sofort drehte Bella verlegen den Kopf weg.

„Schau her“, befahl er freundlich. „Du musst einen Mann immer ansehen! Und zwar so, als wärest du sowohl von seiner Manneskraft als auch von seinem Körperbau überwältigt.“

Zögernd kam Bella seiner Forderung nach und suchte seinen Blick. Ein spöttisches Lächeln umspielte seinen Mund.

„Na los, versuche es! Stell dir vor, ich wäre Apoll!“

Bella konnte ein kurzes Auflachen nicht verhindern und hob eine Hand über ihre zuckenden Lippen. Mo war mittelgroß und schlaksig, weit entfernt von dem Heldenleib eines muskelbepackten griechischen Gottes.

„Gaanz schlecht“, stellte er fest und Belinda kicherte.

„Also gut!“ Bella holte tief Luft und bemühte sich um Konzentration.

Mit gespielter Bewunderung musterte sie ihren Lehrmeister.

„Du siehst aus wie ein liebeskranker Vogel. Belinda, hast du das gesehen?“

„Ja, habe ich! Soll ich dir zeigen, wie ich es mache?“

„Ich bitte darum!“

Belinda kam behände auf die Füße und verwandelte sich vor ihren Augen von dem netten Mädchen zu einer verführerischen Sirene mit wiegenden Hüften. Bella kam aus dem Staunen nicht heraus, sah, wie die Frau nur durch ihren Blick eine körperliche Reaktion bei Mo hervorrief.

„Wenn sie mich so ansieht, kann ich gar nicht anders“, erklärte der junge Mann entschuldigend.

Bella blieb der Mund offen stehen.

„So, jetzt heißt es kurz abwarten, bis sich mein gutes Stück beruhigt hat. Dann bist du wieder an der Reihe.“

„Ich könnte in der Zwischenzeit einen Witz erzählen“, schlug Belinda vor, die jene Rolle der Circe von einer Sekunde auf die nächste abgelegt hatte. Bella entspannte sich das erste Mal seit dem Moment, als sie Harry neben Prinzessin Elizabeth entdeckt hatte.

Im Laufe der nächsten Tage lernte Bella alles über die Kunst zu verführen und einem Mann Lust zu bereiten. Man brachte ihr bei, zu flirten und mit welchen Gesten man die Aufmerksamkeit eines Gentlemans erregt. Belinda und Mo lehrten sie alles über die Anatomie beider Geschlechter und wie man das Verlangen eines Mannes steigern konnte.

Nach einer Woche bat Mr Delane um Bellas Begleitung ins Theater. Sie wollte vehement ablehnen, doch Madame Aury erinnerte sie an ihre Rache. Deswegen stimmte Bella zu, begleitete den verhassten Mann und warf ihm verliebte Blicke zu. Für die junge Frau war es unfassbar, dass er auf ihr Schauspiel hereinfiel. Jede seiner Gesten vermittelte den Eindruck, dass er sich ob ihrer Aufmerksamkeit geschmeichelt fühlte. Wie von selbst wurde sie seine Kurtisane und er schenkte ihr diamantbesetzte Ohrringe, ein Armband. Dann kaufte er ihr eine eigene Wohnung und führte sie täglich aus, wobei stets jene Orte gemieden wurden, an denen die feine englische Gesellschaft verkehrte. Trotzdem gab es Überschneidungspunkte mit Bellas alter Welt. Dieser Umstand beunruhigte Bella nicht sonderlich, da sie Summer, die vor einigen Wochen von einer Brücke in die Themse gesprungen war, nicht mehr ähnelte. Summer war tot. Zumindest hatte Bella diese tief in sich begraben.

Manchmal, wenn sie einsam an einem Fenster ihrer Wohnung stand und in die Dunkelheit hinausblickte, überfiel sie Heimweh. Obwohl sie ihre Eltern früher kaum gesehen hatte, vermisste sie diese derzeit schmerzlich. Doch sie gestattete sich immer seltener, der Vergangenheit nachzutrauern und verbannte die Erinnerungen tiefer in ihr Inneres. Mit jedem weiteren Tag, der verging, gelang es ihr besser und sie schnitt sich kontinuierlich von ihrer Gefühlswelt ab. Damit stärkte sie Bella, die bald den kompletten Raum in ihr einnahm.

Bei einem Hauskonzert, welches Madame Aury in ihrem Salon ausrichtete, traf sie ein halbes Jahr später den Earl of Luxerley, der ihr sofort verfallen war. Da Mr Delane ihre Nerven mit jedem weiteren Tag mehr strapaziert hatte (er war anhänglich wie ein kleiner Hund), gab sie ihm den Laufpass und wurde Luxerleys Kurtisane. Er war gutaussehend, unverschämt reich und ein angenehmer Gesellschafter. Während einer Nacht an seiner Seite hatte sie nahezu vergessen, dass er für ihre Dienste bezahlte und ihn fast gebeten, sie zu küssen. Zum Glück hatte sie sich rechtzeitig besonnen und sich diesen Wunsch verweigert. Davon hatte er gar nichts mitbekommen. Drei Wochen später hatte er sich von ihr getrennt, was Bella zutiefst in ihrem Stolz kränkte. Deswegen beschloss sie, in Zukunft nie zu lange bei demselben Mann zu bleiben. Sie war diejenige, die verließ. Nicht umgekehrt.

3. Kapitel

Zwei Jahre später

Madame Aury hatte recht behalten. Nach nicht einmal einem Jahr besaß Bella ein ebenso prunkvolles Haus wie jene Frau, die ihr das Leben gerettet hatte. Mittlerweile hatte sie den Ruf, Londons begehrteste Kurtisane zu sein und sie konnte sich ihre Liebhaber nach Lust und Laune auswählen. Nicht lange nachdem sie Summer aus ihrer Erinnerung verbannt und sich der erste Erfolg eingestellt hatte, begann die junge Frau ihr Leben sogar zu genießen. Es erfüllte sie mit Zufriedenheit, wenn Männer sie um ihre Gunst anflehten. Sie genoss es, diese bis zum Verlust ihrer Kontrolle zu treiben und zu beobachten, wie ihre Freier Wachs in ihren Händen wurden. Gefühle spielten dabei nie eine Rolle. Aber genau das war der Sinn der Sache und sie verzichtete gerne darauf.

Stanley Fitzroy langweilte Bella. Ein Glück, dass sie geschult darin war, ihre Abneigung zu verbergen und ihn stattdessen strahlend anzulächeln. Seit etwas über einer Stunde hielten sie sich nun in dem prunkvollen Stadthaus eines der begehrtesten Junggesellen Londons auf. Bald würde sie sich Fitzroys Begleitung entziehen und ihrer eigenen Wege gehen können. Es war an der Zeit, sich nach neuen Abenteuern umzusehen!

Fitzroy hatte seinen Arm um ihre Taille gelegt und führte sie zu einem der Spieltische, die in der Mitte des Raumes aufgestellt worden waren. Es war üblich, illegalen Glücksspielen hinter zugezogenen Vorhängen zu frönen.

„Setz dich hierhin“, wies Fitzroy seine Geliebte an und drückte sie auf einen Stuhl, wobei er absichtlich ihre Brust streifte.

Ihre Reaktion erfolgte, wie man es von einer Marionette erwartete, an deren Fäden man zog: Sie seufzte und schloss, als wäre sie erregt, die Augen. Wenn ihr Begleiter ahnte, dass sie das letzte Mal in Luxerleys Armen Lust empfunden hatte? Egal.

Heute oder morgen würde sie dem für sie mittlerweile langweiligen Mann den Laufpass geben. Kein einziges Mal mehr wollte sie einer seiner Anekdoten über die Jagd lauschen! Trotzdem öffnete sie mit flatternden Wimpern die Augen und lächelte ihn verführerisch an. In seinem Blick entzündete sich der altbekannte Funke des Verlangens.

Kaum hatte sie Platz genommen, ließ sie ihre Augen über die anderen Spieler schweifen und zuckte unmerklich zusammen, als sie auf ein Augenpaar traf, welches sie unverhohlen musterte. Sie wusste nicht genau, was sie beunruhigte, aber etwas Geheimnisvolles schimmerte in den unergründlichen Tiefen dieses Blickes. Nur nebenbei registrierte sie, dass der Mann groß war und sich breite Schultern unter dem maßgeschneiderten Anzug abzeichneten. Wenn das schummrige Licht keine falschen Tatsachen vorgaukelte, hatte er dunkelblonde Haare mit einem Kupferstich. Gänsehaut überzog unter seiner eingehenden Musterung ihre Arme und Bella wunderte sich über seine Wirkung auf sie. Außerdem irritierte sie, dass er seinen Blick nicht abwandte, sondern sie anstarrte, als sei sie eine Statue inmitten eines Parkes. Es wäre doch gelacht, wenn es ihr nicht gelänge, ihn zu einer Reaktion zu veranlassen! Sie würde nicht klein beigeben und erst zufrieden sein, wenn sie sein Verlangen nach ihr geschürt hatte. Mit der Zungenspitze leckte sie sich herausfordernd über die Unterlippe. Er bewegte sich nicht, als wäre er zu einer Büste aus Stein erstarrt. Was war mit ihm? Weshalb beeindruckte sie ihn nicht? Angesichts dieser Herausforderung begann ihr Blut zu rauschen und das erste Mal konnte sie nachvollziehen, was Fitzroy meinte, wenn er von Jagdfieber sprach. Bella wollte diesen gelassenen Mann um jeden Preis erlegen. Dafür bedurfte es einer geschickten Taktik. Sie löste sich aus dem Blickwechsel und drehte sich zu Fitzroy.

„Entschuldigt mich kurz“, bat sie, erhob sich und verließ den Spieltisch.

Obwohl sie sich nicht nach dem Fremden umsah, beschäftigte er ihre Gedanken. Äußerlich unbeeindruckt schlenderte sie durch den Raum. Sie hatte diesen Mann von Adel (ein Earl, ein Duke?) nie zuvor gesehen, was an sich kein Wunder darstellte. Es war schlichtweg unmöglich, jeden Bürger des Königreichs zu kennen. Trotzdem vermutete sie, dass sie einen Gentleman seines Auftretens weder vergessen noch übersehen hätte. Der Unbekannte stach aus der Masse heraus, obwohl er nicht vordergründig gutaussehend war. Bezwingend traf es besser. Gespannt wie ein Bogen schlenderte sie in der Hoffnung, er würde ihr folgen, in den Nebenraum und bediente sich am üppigen Buffet.

„Ich überlege, ob es für Sie spricht, dass Ihr Begleiter den Spieltisch Ihrer Gesellschaft vorzieht“, stellte eine tiefe Stimme mit leicht schottischem Akzent neben ihr fest und sie hob den Kopf. Genau genommen musste sie ihn in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Wie erhofft, stand der beunruhigende Mann vor ihr und fixierte sie mit seinem klaren Blick. Der Triumph darüber, dass sie seine Aufmerksamkeit erregt hatte, elektrisierte Bella. Trotzdem ließ sie sich nichts anmerken.

„Womöglich verhält es sich umgekehrt“, erwiderte sie mit einem selbstsicheren Lächeln.

Für den Bruchteil einer Sekunde verengten sich seine Augen und Bella meinte, eine Unbeugsamkeit in ihnen zu erkennen, die sie noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte.

„Darf ich mich vorstellen?“, fragte er, ohne auf ihre Erwiderung einzugehen und deutete eine leichte Verbeugung an. „Rohan MacDougall, zu Ihren Diensten.“

Sie reichte ihm die Hand und er beugte sich formvollendet darüber. Seine Haut war warm, doch sein Griff stahlhart. Ob er der schottische Duke war, über den sich Fitzroy vor einiger Zeit abfällig geäußert hatte? Wenn sie sich recht erinnerte, war er erst vor Kurzem nach London gezogen. Angestrengt versuchte sie sich an Fitzroys Worte zu erinnern. Ja, jetzt entsann sie sich. MacDougall sei ein Miesmacher, der seinesgleichen suchte und humorloser als der Leibarzt Königin Victorias. Außerdem prüde, bigott und jeglichen Fleischesfreuden gegenüber abgeneigt. Sollte das der Wahrheit entsprechen, fragte sie sich, was er an einem Ort wie diesem machte. Offensichtlich handelte es sich demnach bei den unschmeichelhaften Unterstellungen um perfide Gerüchte.

„Bella“, entgegnete sie, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte.

„Und weiter?“

Statt einer Antwort lächelte sie verführerisch.

„Mein Nachname ist ein Geheimnis.“

Er erwiderte ihr Lächeln, trotzdem glänzten seine Augen nach wie vor wie gefrorene Gebirgsseen, so als trüge er die Highlands in sich.

„Was muss ich tun, um dieses Rätsel zu lösen?“

Ausgezeichnet, er hatte angebissen! Genugtuung beschleunigte ihren Puls.

„Gar nichts. Er wird sich Euch niemals offenbaren, Mylord.“

„Oh, das ist eine Herausforderung.“

„Wenn Ihr es so sehen wollt?“

Sie lächelte ihn unverändert freundlich an, obwohl sein Ernst sie zunehmend einschüchterte.

„Dann gestattet mir, diese Herausforderung anzunehmen.“

„Ich wüsste nicht, wie.“

Kurz dehnte sich Stille zwischen ihnen aus und sie meinte, er würde sich den Kopf über eine Lösung zerbrechen.

„Nun, zuerst einmal gilt es herauszufinden, ob Sie über den benötigten Mut verfügen, mich in die Lage zu versetzen, die weiteren Schritte einzuleiten.“

„Mut?“, hinterfragte sie verwundert.

„Selbstverständlich. Es erfordert Mut, meine Geliebte zu werden und mir die Gelegenheit einzuräumen, mich Ihrem Geheimnis anzunähern. Ich bezweifle, dass Sie dem gewachsen sind.“

Bella verengte sekundenlang ihre Augen. Worauf wollte er hinaus? Er bezichtigte sie doch nicht etwa der Feigheit?

„Mut ist nicht das Problem“, erwiderte sie spitz. „Eher, dass ich zurzeit eines anderen Mannes Gefährtin bin.“

Er lüpfte seine rechte Augenbraue.

„Ich vermag mir kaum vorzustellen, wo darin die Schwierigkeit liegt. Soweit mir bekannt ist, kann man in Ihren Kreisen eine innige Beziehung schnell beenden.“

Bella schwieg, griff nach einem Glas Champagner und nippte abwartend daran. Eine vage Ahnung, diesem Mann nicht gewachsen zu sein, geisterte durch ihren Kopf.

„Gibt es etwas, das ich für Sie tun könnte, um Ihnen eine Entscheidung zu meinen Gunsten zu erleichtern?“

Er versuchte ein Lächeln, das seine Mundwinkel jedoch beängstigend zucken ließ. Ihre Nervosität steigerte sich, trotzdem klammerte sie sich unbeirrt an die letzten Reste ihrer Gelassenheit. Es wäre ja gelacht, wenn es MacDougall gelänge, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen! Er war schließlich auch nur ein Mann.

„Hm ...“, überlegte sie und spielte, um etwas Zeit zu gewinnen, als würde sie nachdenken. In ihrem Leben gab es keinen Platz für einen Mann, der sie aus dem Konzept brachte. Zweifellos verfügte der Schotte über alle Voraussetzungen, um genau das zu tun. Deswegen beschloss sie, ihm einen Vorschlag zu unterbreiten, der zu abwegig war, um umgesetzt zu werden. „Eine Reise nach Paris könnte mich umstimmen.“

Überraschenderweise hellte sich seine Miene auf und für den Bruchteil einer Sekunde stockte Bellas Herz. Dieser Mann war atemberaubend; anders als die Gecken, die normalerweise um ihre Beachtung buhlten. Es war erschütternd, zu erkennen, dass sie seine Andersartigkeit weder festmachen noch genauer definieren konnte.

„Das trifft sich ausgezeichnet“, erklärte er. „Ich plane, in drei Tagen nach Frankreich aufzubrechen.“

Bella riss überrascht die Augen auf. Damit hatte sie nicht gerechnet. Abgesehen davon hatte er ihren Rückzug verhindert. Um ihr Gesicht zu wahren, bliebe ihr keine andere Möglichkeit, als sich darauf einzulassen.

„Ich würde Sie als Reisebegleitung akzeptieren“, fügte er mit steifer Freundlichkeit hinzu. „Nun, wie ist es? Wagen Sie den Sprung?“

Ach, du meine Güte! Wieso überlegte sie noch? Vor einer knappen Stunde hatte sie sich aufs Heftigste gelangweilt. Eine Reise auf den Kontinent wäre eine willkommene Abwechslung. Abgesehen davon hätte sie MacDougall innerhalb kürzester Zeit geknackt und von sich abhängig gemacht. Es bestand kein Grund zur Sorge.

„Darüber muss ich nachdenken.“

Ein Glück, dass sie wenigstens nicht jegliches Verhandlungsgeschick verloren hatte! Eine der unzähligen Regeln in Zusammenhang mit Männern bestand immerhin darin, es dem anderen Geschlecht nicht zu leicht zu machen.

„Tun Sie das! Ich erwarte Ihre Nachricht im Laufe des morgigen Tages. Schicken Sie diese nach Glencruitten House.“ Höflich verbeugte er sich vor ihr. „Bella“, grüßte er und wandte sich abrupt ab.

„Mylord“, murmelte sie überrumpelt und blickte ihm nach, als er durch die Menge davonschritt.

Es war unerklärlich, doch das unangenehme Gefühl, einen schweren Fehler zu begehen, wenn sie mit ihm ginge, ließ sich nicht abschütteln.

Trotzdem benötigte sie keine weiteren drei Minuten, um eine Entscheidung zu treffen. Sie würde diesen geheimnisvollen Mann nach Paris begleiten, ihm auf dem Weg dorthin die Taschen leeren, sich in der französischen Hauptstadt von ihm ein Haus kaufen lassen und gegebenenfalls für ein paar Monate dortbleiben. Oder gar nicht mehr nach England zurückkehren. Gleich nachdem er ihr das Haus gekauft hätte, würde sie ihm den Laufpass geben. So war der Plan. Deswegen schickte sie am folgenden Tag einen Boten mit ihrer Zusage zu seinem Stadthaus und erhielt die Anweisung, sich in zwei Tagen am frühen Morgen bereit zu halten.

Seit langer Zeit stieg Vorfreude in Bella auf. Sie hatte das britische Königreich nie verlassen, jedoch schon als kleines Mädchen davon geträumt, einmal auf Versailles zu tanzen. Tja, den Königshof würde sie nur als Mätresse des Königs betreten, was ein eher aussichtsloses Unterfangen war. Aber keiner könnte verhindern, dass sie unter dem Arc de Triomphe hindurch spazierte.

Sie steckte inmitten der Reisevorbereitungen, als ihr der Butler Fitzroy meldete. Meine Güte, den hatte sie ja völlig vergessen!

Bella seufzte und verdrehte genervt die Augen. Sie würde ihn schnell abservieren und dann mit ihrer Arbeit fortfahren.

„Meine liebe Bella“, empfing sie ihr Liebhaber und kam schnurstracks auf sie zu.

Da hob sie abwehrend eine Hand und Fitzroy hielt mitten in der Bewegung inne.

„Ich bitte Euch, mein Guter, haltet ein! Ich habe Euch etwas mitzuteilen.“

Das Lächeln erlosch und er runzelte die Stirn.

„Was ist es Bella? Begehrst du einen neuen Ring?“

Bella schüttelte anmutig den Kopf.

„Nein, Fitzroy. Ich beende unsere Beziehung. Jetzt.“

Sekundenlang starrte er sie verblüfft an, dann wurde er dunkelrot und die Adern an seinen Schläfen schwollen vor Zorn an.

„Du kleines Stück Dreck wagst es, mich abzuservieren?“

Bella musterte ihn gelassen.

„Ihr könnt es nennen, wie es Euch beliebt. Nichtsdestotrotz ist unser Verhältnis mit der jetzigen Stunde beendet.“

Da machte er einen Schritt auf sie zu und packte sie grob am Arm.

„Du Hure, du billige Dirne! Wage es nicht! Genau genommen bin ich deiner überdrüssig, war aber zu feinfühlig, es dir mitzuteilen, du unverschämte Person!“

Er holte aus und stieß sie so fest von sich, dass sie das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte, wobei sie mit dem Kopf schmerzhaft auf dem harten Stein aufschlug.

„Haltet ein!“, keuchte sie beunruhigt.

„Ja, das werde ich. Aber zuvor nehme ich mir, was mir zusteht!“

Er war über ihr, bevor sie sich in Sicherheit bringen konnte.

„Schluss, Fitzroy! Lasst mich los!“, schrie sie und erkannte erschrocken Summers Stimme. Nein, nein! Bleib wo du bist! Du hast hier nichts zu suchen!

Bella schloss die Augen, kämpfte darum, die Oberhand zu behalten. Sie gab auf und öffnete ihm ihre Beine. Er schien gar nicht mehr aufhören zu können und reagierte sich an ihr eine gefühlte Ewigkeit lang ab. Als er fertig war, spuckte er ihr ins Gesicht.

„Hure, wage es nicht, mich jemals wieder um etwas zu bitten.“

Er richtete sich die Hose und stürmte aus dem Raum. Bella blieb kurz liegen, dann rappelte sie sich auf und tupfte mit einem Taschentuch seine Spucke von ihrer Wange. Sie atmete ein paar Mal tief durch, streifte ihre Röcke glatt und damit gleichzeitig ihr Entsetzen ab und straffte die Schultern. Es gab noch viel zu erledigen.

Im ersten Morgengrauen hielt die Kutsche MacDougalls vor Bellas Haus. Der Schotte persönlich stieg aus, um ihr ins Innere zu helfen, und überwachte das Beladen ihrer Koffer. Dann setzte er sich ihr gegenüber auf die Bank, den Blick ins Freie gewandt. Außer einem knappen Gruß hatte er bis jetzt kein Wort an sie gerichtet. Er gehörte wohl eher dem schweigsamen Menschenschlag an.

„Nun, ich bin schon äußerst gespannt auf die Reiseroute. Werden wir am Hafen ein Schiff nehmen?“, wollte Bella freundlich wissen und nutzte die Gelegenheit, um ihn zu einer Konversation zu animieren.

„Nein. Bedauerlicherweise habe ich verabsäumt, Sie davon in Kenntnis zu setzen, dass wir einen Umweg über Schottland machen. Hoffentlich stört Sie das nicht. Auf meinem Anwesen gibt es einige Gerätschaften, die ich auf den Kontinent mitnehmen muss. Wir werden direkt von Oban nach Frankreich übersetzen. Ich hoffe, das läuft Ihren Plänen nicht zuwider.“

Bellas Gesicht hellte sich auf.

„Nein, natürlich nicht! Im Gegenteil, ich freue mich darauf, Schottland zu bereisen. Ich habe schon viel davon gehört.“

Er wich nach wie vor ihrem Blick aus und starrte ins Freie. Da er nichts erwiderte, versuchte sie auf andere Weise, ihn aus der Reserve zu locken.

„Woher stammt Ihr, Mylord?“

„Oban“, antwortete er knapp und presste den Mund zusammen, als wollte er ihr zu verstehen geben, dass er sich weder eingehender dazu äußern noch mehr von sich preisgeben würde.

Bella runzelte ratlos die Stirn. Es war schwierig, mit dem Mann ins Gespräch zu kommen.

„Habt Ihr Paris schon zuvor bereist?“, brach sie nach einigen Minuten die immer drückender werdende Stille.

Statt einer Antwort griff er nach einer Ledertasche, die neben ihm lag, öffnete sie und zog eine aktuelle Tageszeitung heraus. Ohne Bella weiter zu beachten, begann er zu lesen. Die junge Frau wollte ihm ihren Unwillen angesichts seiner Unhöflichkeit kundtun, beschloss aber, lieber den Mund zu halten. Weshalb nahm dieser einschüchternde Mann sie mit sich, wenn er sich ihr dann nicht widmete? Was auch immer seine Gründe waren: Ihr war es recht. Es war durchaus eine angenehme Abwechslung, nicht ständig Konversation treiben zu müssen. Daher wandte sie sich ihrerseits dem Fenster zu und verfolgte interessiert, was im Freien vor sich ging.

Bald hatten sie die Stadt verlassen und der Verkehr ließ nach. Sie passierten einen hohen Pfeiler, an dem riesige Holzschilder befestigt waren. Darauf standen einige Städtenamen, die in alle Himmelsrichtungen zeigten. Als würden sie soeben das geografische Zentrum Großbritanniens durchqueren. Bellas Herz stocke, als sie Bristol entzifferte, welches nicht weit entfernt ihres Geburtsortes lag. Für den Bruchteil einer Sekunde vergaß sie Zeit und Ort. Brennende Sehnsucht trübte ihren Blick. Wie es ihrer Familie wohl erging? Hatten sie sich mit Summers „Tod“ abgefunden?

Während der ersten Monate nach ihrem Verschwinden hatten diese Fragen Bella ständig gequält. Dann hatte sich ihr neues Leben überraschend exotisch entwickelt und sie hatte sie verdrängt. Bis jetzt. Unwillkürlich legte sie eine Hand über ihr Herz, doch als ihr bewusst wurde, was sie tat, riss sie diese wieder fort und ballte sie zur Faust. Um sicher zu gehen, dass MacDougall nichts von ihrer Gefühlsanwandlung mitbekommen hatte, warf sie ihm einen schnellen Blick zu. Sie hätte sich nicht sorgen müssen. Die Berichterstattung der Zeitung zog den Schotten dermaßen in den Bann, dass er augenscheinlich sein komplettes Umfeld ausgeblendet hatte. Bella lehnte sich erleichtert zurück und schloss die Augen. Sie wollte an etwas Schönes denken. Bereits einen Wimpernschlag später tanzte sie auf Versailles ein kompliziertes Menuett. Wie immer in ihren Fantasien hatte ihr Tanzpartner kein Gesicht. Überall flackerten Kerzen, deren Schein von hunderten Spiegeln zurückgeworfen wurde.

„Meine Dame, darf ich Euch zu einem Stückchen Camembert verführen?“

Ein vornehm gekleideter Galan verbeugte sich vor ihr.

„Was soll das sein, ein Camembert?“, fragte Bella und lächelte angetan.

„Wie bitte? Was?“

„Was soll das sein, ein Camembert?“, wiederholte Bella und fuhr erschrocken zusammen, als sie grob angerempelt wurde.

Sie blinzelte und riss die Augen auf, nur um geradewegs in die von MacDougall zu starren.

„Ist es Ihre Angewohnheit, sinnfreie Selbstgespräche zu führen?“, wollte ihr Gegenüber streng wissen und wirkte nicht im Geringsten amüsiert.

„Verzeihung, normalerweise ist das nicht meine Art.“

„Das ist zumindest beruhigend. Dann ist es nicht unhöflich von mir, darum zu bitten, sich diese Unsitte nicht anzugewöhnen.“

„Nein, Ihr habt recht. Es wird nicht wieder vorkommen.“

Ohne sie länger zu beachten, wandte er sich erneut seiner Lektüre zu und Bella legte eine Hand über ihren Mund, damit ihm ja kein Geräusch mehr entfleuchte.

„Ein spezieller Käse“, erklärte der französische Galan, nachdem sie die Augen zum wiederholten Mal geschlossen hatte. „Ihr müsst ihn unbedingt probieren.“

„Sehr gerne“, erwiderte Bella. „Wenn Ihr so freundlich wäret, mich zum Buffet zu begleiten.“

Ein Räuspern riss sie wieder aus ihren Gedanken. Sie hatte sich doch eine Hand über den Mund gelegt! Oh nein, sie weilte nicht mehr an jenem Ort, sondern hatte sich verräterisch nach der imaginären Käseplatte ausgestreckt. Zögernd öffnete Bella die Augen und ließ den Arm sinken.

„Könnte es sein, dass Sie Hunger verspüren?“, fragte MacDougall gereizt.

„Nein.“ Bella schüttelte den Kopf und versuchte ein beschwichtigendes Lächeln. „Es verhält sich folgendermaßen: ich weile gerade auf einem Fest am Hof von König Ludwig ...“

Sie verstummte, da er sie musterte, als hätte sie den Verstand verloren. Sofort entsann sie sich ihrer Rolle.

„Das war natürlich ein Scherz, Mylord. Mir ist vollkommen klar, dass ich derzeit in einer Kutsche nach Schottland reise.“

Sie beugte sich zu ihm, zupfte an ihrem Dekolleté, damit es tiefere Einblicke ermöglichte und sah ihn von unten herauf mit einem verführerischen Lächeln an.

„Vielleicht wollt Ihr die Zeit nutzen, Euch mir ein wenig anzunähern? Ich stehe Euch jederzeit zur Verfügung.“

Etwas in seinem Blick veränderte sich. Hatte dort zuvor nur Unwillen geschwelt, erkannte sie jetzt Ekel darin. Verwirrt richtete sie sich wieder auf. Was machte sie nur falsch? Weshalb reagierte er überhaupt nicht auf sie?

„Ich werde mich dir eingehend widmen, wenn wir unser Ziel erreicht haben“, erklärte er ausdruckslos und es fröstelte sie. Warum klang das wie eine Drohung? Aber was sollte er ihr schon anhaben können? Sie war eine erfahrene Kurtisane. Es gab kaum etwas, das sie noch erschüttern würde. Er nahm die Lektüre seiner Zeitung wieder auf und Bella blickte erneut zum Fenster hinaus, während die Sonne stetig höher stieg und Grillen ihr Lied anstimmten.

Zu Mittag kehrten sie in einem Gasthof ein. Auch jetzt entpuppte sich ihr Reisebegleiter als überaus verschlossen. Jede seiner Gesten vermittelte ihr, dass er sie verabscheute. Aber weshalb? Was hatte sie getan? Und vor allen Dingen, warum nahm er sie auf eine lange Reise mit, wenn er viel lieber auf ihre Gesellschaft verzichten würde? Doch nicht etwa aus dem Grund, ihren Nachnamen herauszufinden? Warum hatte er sie überhaupt angesprochen, wenn sie ihm dermaßen missfiel? All diese Widersprüchlichkeiten waren unverständlich und obwohl sich Bella stundenlang den Kopf darüber zerbrach, fand sie keine einleuchtende Erklärung für sein Handeln.

4. Kapitel

Am Abend und hunderte zurückgelegte Meilen später führte MacDougall Bella in eines der Gästezimmer eines Hotels und sie starrte irritiert auf die Tür, durch die er sofort wieder verschwunden war. Hatte er nicht gesagt, er wollte sich ihr am Ziel widmen? Hatte er diesen Rasthof gar nicht damit gemeint? Meinte er sein Anwesen? Oder Paris? Wie dem auch sei, Bella war in ihrer Ehre gekränkt. Ein derartiges Desinteresse war sie nicht gewohnt. Normalerweise stand sie im Mittelpunkt einer jeden Gesellschaft. Doch MacDougall strafte sie mit Missachtung, als hätte er sie im Rinnstein aufgelesen. War das denn zu fassen? Nicht mehr lange und sie würde diesem eingebildeten Highlander ihre Meinung über sein inakzeptables Verhalten darlegen und ihm begreiflich machen, dass sie eine derartige Haltung ihr gegenüber nicht akzeptierte. Wollte man sich ihre Gunst erhalten, musste man sie hegen und pflegen, sonst war sie schneller weg, als er sich seines Kilts (wenn er denn einen besaß) entledigen konnte.

Abgesehen davon hatte sie ein Problem. Es wunderte sie nicht, dass ein Mann von dem Kaliber dieses Schotten nicht darüber nachdachte, wie sie aus ihrem Kleid kommen könnte. Den Umstand würde Bella für sich zu nutzen wissen. Sie läutete nach einem Mädchen und bat es, ihr die Zimmernummer ihres Reisebegleiters zu nennen. Nachdem sie die Information erhalten hatte, begab sie sich mit einem zufriedenen Lächeln dorthin. Sie klopfte an die Tür und lauschte. Schritte näherten sich der Tür und diese wurde im nächsten Moment aufgerissen. MacDougalls stechende Augen verengten sich, als er sie erkannte. Er machte keine Anstalten, sie hereinzubitten. Bellas Blick wanderte über seinen kräftigen Hals tiefer. Über sein Schlüsselbein. Die obersten Knöpfe seines Hemdes waren geöffnet und gewährten Einblick auf seine gebräunte, behaarte Brust. Nichts, was sie nicht schon gesehen hätte. Trotzdem schluckte sie und sah wieder auf.

„Also?“, wollte er unfreundlich wissen, da sie noch immer schwieg.

„Darf ich eintreten?“

„Nein.“

Überrascht runzelte Bella die Stirn, blinzelte. Aus diesem Mann wurde sie nicht schlau. Er verhielt sich so anders als die Männer, denen sie bisher begegnet war. Selbstbeherrscht, gleichgültig und bis zum Himmel arrogant.

„Wäret Ihr dann so freundlich, mich in mein Zimmer zu begleiten?“

„Nein.“

„Aber ...“ Bella blieb der Mund offen stehen. „Aber ... es ist wichtig. Ich brauche Eure Hilfe!“

„Wobei?“

Bella warf einen schnellen Blick über die Schulter und überzeugte sich, dass der Gang leer war.

„Das würde ich Euch gerne in einem persönlicheren Rahmen erklären.“

Er seufzte, dann deutete er mit dem Kinn in Richtung ihres Zimmers.

„Gut. Gehen Sie voran!“