Showdown der Liebe in Diggers Creek - Junia Swan - E-Book

Showdown der Liebe in Diggers Creek E-Book

Junia Swan

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Beschreibung

Die Schienen der neuen Eisenbahnlinie zerrissen die Prärie in zwei Teile. Genauso, wie Jack es mit meinem Herzen getan hat, bevor er auf sein Pferd gestiegen und davongeritten war. Jack Duncon besitzt jenen Charme, der Frauenknie erzittern lässt. Deswegen mangelt es ihm nicht an Bettgenossinnen, die seinen Weg durch den Wilden Westen säumen. Nachdem er Shannon Highmore, die Tochter eines Pastors, verführt hat, überlässt er auch sie ihrem Schicksal. Er ahnt nichts von dem tragischen Verlauf, den ihr Leben alsbald nimmt. Jahre später kreuzen sich ihre Wege und sie werden zu erbitterten Feinden. Doch Hass und Liebe liegen nah beieinander. Im Wettstreit der Gefühle tragen sie vor der atemberaubenden Kulisse der Sierra Nevada das leidenschaftlichste Duell ihres Lebens aus, das in einer einzigen Frage mündet: Kann Liebe die Fehler der Vergangenheit überwinden?

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Showdown der Liebe in Diggers Creek
Sammelband
Über das Buch:
Über die Autorin
I
II
III
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
XIV
XXV
XXVI
XXVII
XXVIII
XXIX
XXX
XXXI
XXXII
XXXIII
Epilog
Thanks
Neuerscheinungen:
Weitere Bücher der Autorin:
Leseprobe Mona Lisas Traum

Showdown der Liebe in Diggers Creek

Sammelband

Jack

Über das Buch:

Die Schienen der neuen Eisenbahnlinie zerrissen die Prärie in zwei Teile. Genauso, wie Jack es mit meinem Herzen getan hat, bevor er auf sein Pferd gestiegen und davongeritten war.

Jack Duncon besitzt jenen Charme, der Frauenknie erzittern lässt. Deswegen mangelt es ihm nicht an Bettgenossinnen, die seinen Weg durch den Wilden Westen säumen. Nachdem er Shannon Highmore, die Tochter eines Pastors, verführt hat, überlässt er auch sie ihrem Schicksal. Er ahnt nichts von dem tragischen Verlauf, den ihr Leben alsbald nimmt.

Jahre später kreuzen sich ihre Wege und sie werden zu erbitterten Feinden. Doch Hass und Liebe liegen nah beieinander. Im Wettstreit der Gefühle tragen sie vor der atemberaubenden Kulisse der Sierra Nevada das leidenschaftlichste Duell ihres Lebens aus, das in einer einzigen Frage mündet:

Kann Liebe die Fehler der Vergangenheit überwinden?

Über die Autorin

Junia Swan entdeckte schon als Kind ihre Leidenschaft, Geschichten aufzuschreiben. Heute lebt sie ihren Kindheitstraum Tag für Tag. Nach sechzehn Jahren in unterschiedlichen Städten, kehrte sie vor einiger Zeit in ihre Heimat zurück und wohnt nun in einer historischen Kleinstadt in der Nähe ihrer Geburtsstadt Salzburg. In einem versteckten Zimmer, hinter dem gefüllten Bücherregal, schreibt sie ihre bewegenden Liebesromane. Jeder von ihnen hat eine besondere Entstehungsgeschichte. In ihrem Alltag kommt sie mit Themen in Kontakt, die sie zutiefst bewegen. Für die Autorin macht eine gute Geschichte eine Handlung aus, welche die Komplexität der Beziehungen und Situationen spiegelt. Sie träumt davon, eines Tages an einem Strand entlang zu gehen und jemanden zu sehen, der eines ihrer Bücher liest.

Copyright © 2022, E-Book-Ausgabe, August 2022

Junia Swan

Independently published

Titelbild: Princess Dimples

© Junia Swan, Santa Cruz, Bolivien

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 9783756816262

Für Berni, in tiefer Dankbarkeit, dich kennen zu dürfen

I

Diggers Creek, Kalifornien, im Jahre 1883

Die Schienen der neuen Eisenbahnlinie zerrissen die Prärie in zwei Teile. Genauso, wie Jack es mit meinem Herzen getan hat, bevor er auf sein Pferd gestiegen und davongeritten war.

Die heiße Glut der untergehenden Sonne färbte den trockenen Staub, der die gewundene Straße nach Diggers Creek überzog, scharlachrot. Spirits Hufe tauchten bei jedem Schritt in diesen makaberen Blutsee ein und Jack erlag sekundenlang dem Trug, er ritte über leblose, blutverschmierte Körper, wie einst in Wounded Knee, South Dakota. Er schüttelte den Kopf, um die unerfreulichen Erinnerungen abzuwehren und verbot sich, die längst vergangenen Ereignisse als Vorsehung für die vor ihm liegende Zukunft in Betracht zu ziehen. Das Schürferdorf Diggers Creek schmiegte sich in das Tal, das sich unmittelbar vor ihm öffnete. Es schien sich im Schatten eines mittelhohen Gebirges zu verstecken und wirkte beunruhigend düster. In einem Anflug von Argwohn zügelte er Spirit, der sogleich zu tänzeln begann, als hasse er den Stillstand. Mit der Hüfte glich der Reiter die unsteten Bewegungen seines Hengstes aus, während sein Oberkörper so ruhig blieb, als stünde er auf festem Grund. Lässig legte Jack die Zügel in eine Hand, um sich mit der anderen an den Nacken zu fassen und ihn nachdenklich zu massieren. Dabei streifte er mit dem Handrücken den schwarzen Stetson – ein willkommenes Gefühl, das ihn an die sanfte Berührung seines Mädchens erinnerte. Shannon, die er nie vergessen hatte. Wild wie der Fluss. Er gab sich einen Ruck, zog die Hand zurück und griff wieder nach den Zügeln. Mit einem leichten Schenkeldruck signalisierte er Spirit, sich in Bewegung zu setzen. Dieser nutzte die ersehnte Geste und schoss mit einem gewaltigen Satz nach vorne, verfiel blitzschnell in gestreckten Galopp. Jeden anderen Reiter hätte der Hengst aus dem Sattel geschleudert, doch Jack, der das Temperament seines Tieres kannte, hatte sein Gleichgewicht verlagert und sich in die Steigbügel gestellt. Er lachte übermütig auf und beugte sich tiefer über den Hals seines Gefährten.

„Aber pass auf, mein Junge, du kennst diese Gegend nicht“, rief er Spirit zu und genoss den Wind, der ihm ins Gesicht peitschte.

Nicht lange, da hatten sie die Anhöhe hinter sich zurückgelassen und passierten das verwitterte Schild, auf dem mit neuer Farbe „Willkommen in Diggers Creek, 50 + 3 lebendige Seelen, 12, 15, 30 Tote, 4000 + glückliche Goldgräber“ geschrieben stand.

Jack riss überrascht die Augenbrauen in die Höhe und murmelte: „50 + 3? Hier nimmt´s wohl jemand sehr genau.“ Bei näherer Betrachtung erschien es ihm einleuchtend, dass die Bürger dieser Gemeinde in allen Lebensbereichen auf einer derart ausgeprägten Penibilität bestanden. Angesichts der legendären Goldmenge, die man hier zu schürfen gewohnt war, benötigte es einen findigen Buchhalter, der über die Weitsicht verfügte, um den Reichtum in der Stadt zu halten. Seine Mundwinkel bogen sich nach oben, während er gemächlich die breite Hauptstraße entlang trabte. Um diese Zeit spielte sich das Leben im Inneren der Häuser ab und der Kerzenschein, der durch die Fenster ins Freie fiel, bestätigte seine Vermutung. Er kannte ähnliche Orte zuhauf – seit er ein junger Mann gewesen war, reiste er auf der Jagd nach dem vollkommenen Glück von einem zum nächsten. Er führte ein hartes aber abwechslungsreiches Dasein, insbesondere, da das Geschäft mit dem Gold immer mehr in die Hände ausgefuchster Unternehmer geriet. Deren bemitleidenswerte Arbeiter trieben unermüdlich tiefe Stollen in die Berge. Doch auch wenn sie auf eine ergiebige Goldader stießen, erhielten sie zu wenig Lohn, um sich aus den versklavenden Fängen ihrer Arbeitgeber zu befreien.

Die munteren Klänge eines außer Rand und Band geratenen Pianos verdrängten die sich wie eine Schlinge um den Ort legende Stille und vermittelten dem Fremden so etwas wie ein Heimatgefühl. Jack saß ab, band Spirit neben einem Wassertrog an einen Pfahl und tätschelte ihm den Hals.

„Ich schicke gleich einen Jungen zu dir, der dich verwöhnen wird“, versprach er, tastete nach seinem breiten Ledergürtel und kontrollierte, ob sein Colt richtig saß. Auf dem Weg zu den halbhohen Saloontüren durchforstete er seine Jackentaschen nach einem Penny. Diesen warf er einem der Halbwüchsigen zu, die sich aus dem Schatten der Holzveranda gelöst hatten, um ihm zu Hilfe zu eilen.

„Reib ihn ab und fütter ihn. Ich bleibe über Nacht“, rief Jack dem Knaben zu, der seine Bezahlung flink mit einer Hand auffing und nickte.

„Wird erledigt, Misser“, antwortete er und trat neben Spirit.

Jack stöhnte unterdrückt, bevor er die Schwingtüren aufstieß. Misser ... verdammt, wie er den hiesigen Dialekt verachtete!

Nichtsdestotrotz verstand man es hier, zu feiern, wie er mit einem prüfenden Blick in die Runde feststellte. Die schleppende Stimme des Klavierspielers, der soeben zu singen begonnen hatte, stritt mit dem Instrument um die Vorherrschaft. Erst jetzt bemerkte Jack den Banjospieler, der beherzt in die Saiten griff und hin und wieder den richtigen Ton traf. Unten in Leadville, Ohio, hätten sie ihn längst für diese ohrenbetäubende Darbietung erschossen. Jack runzelte sekundenlang die Stirn, ließ sich dann aber von dem vorherrschenden Tumult ablenken. Weiter hinten im Raum hatte man eine Zielscheibe an die Wand gehängt, die in regelmäßigen Abständen durchlöchert wurde. Eine Gruppe Männer hatte sich einige Meter davor aufgebaut. Unter grölendem Gelächter zielten die angeheiterten Gesellen abwechselnd mit ihren Pistolen darauf und feuerten, wobei sie zumeist ihr Ziel verfehlten. Wie man von einer Stätte wie dieser erwartete, saßen Kartenspieler an über den Raum verteilten Tischen und spielten Poker. Im Pott lagen Goldnuggets und eine Menge unterschiedlicher Münzen. Vermutlich befanden sich darunter auch australische oder europäische Prägungen, denn die ganze Welt war in einem Dorf wie diesem zu Gast. Soweit sich Jack erinnerte, gelangte Diggers Creek vor einigen Monaten zu neuem Ruhm, als außergewöhnlich zahlreiche Goldfunde jedes Schürferherz höherschlagen ließen. Mal sehen, ob die Gerüchte halten, was sie versprechen. Ohne sich lange aufzuhalten, steuerte Jack die Bar an und schnippte seinen Hut nach hinten, der durch ein Band an seinem Hals im Nacken gehalten wurde. Der Wirt, ein fülliger, behäbiger Mann in kariertem Hemd, schleppte sich zu ihm und wischte sich mit dem Ärmel des Unterarms den Schweiß von der Stirn.

„Misser, was darf´s sein?“, wollte er knapp wissen, so, als wären die Worte, die er am Tag zu sprechen hatte, genau abgezählt und gingen zur Neige.

„Whisky“, erwiderte Jack und setzte jenes Lächeln auf, das schon so manches Mädchen in erhebliche Schwierigkeiten gebracht hatte.

Ohne eine Miene zu verziehen, musterte ihn der Wirt, als warte er auf etwas. Da Jack ihn unverändert freundlich betrachtete, sah er sich dazu genötigt, eine Frage nachzuschieben: „Was hast du?“, brummte er und ein ungeduldiger Ton schwang in seiner Stimme mit.

„Äh? Was ich habe?“ Jack kratzte sich irritiert das Kinn. Er konnte sich nicht vorstellen, was der Wirt von ihm wollte. Er hatte bestellt, das war es doch, worum es hier ging. Besonders helle wirkte sein Gegenüber auf den ersten Blick jedenfalls nicht, schien aber zu begreifen, dass er mit Schweigen hier nicht weiterkam.

„Was zahlst du?“, formulierte der Gastwirt deshalb seine Frage um. „Wohl noch nich lange hier?“

Jack atmete aus. „Richtig, bin gerade angekommen und auf der Suche nach einem ruhigen, sauberen Zimmer. Ich hoffe, ihr habt noch eines frei?“

Wieder setzte er ein harmloses Lächeln auf.

„Was hast du?“, wiederholte der Wirt stoisch, weshalb Jack in die Jackentasche griff, um seinen Geldbeutel hervorzuziehen. Mit einem dumpfen Laut ließ er ihn vor sich auf die Tischplatte plumpsen. Anstatt zu antworten, deutete er lässig darauf.

Erst jetzt wanderten die Mundwinkel des Bartenders einen Fingerbreit nach oben.

„Es is noch ein Zimmer frei“, murmelte er, krallte sich die Geldbörse und steckte sie ein. „Wie lange willst du bleiben?“

„Das hängt ganz von meinem Glück ab“, erwiderte Jack, verschränkte die Arme vor sich auf der Tischplatte und stützte sich darauf ab. „Hab gehört, eine beachtliche Anzahl Schürfer verlässt diesen Ort als reiche Männer.“

Der Wirt zuckte mit den Achseln, griff nach einer Whiskyflasche und einem Glas und schenkte schweigend ein. Das leise Plätschern wurde von den Umgebungsgeräuschen verschluckt. Soeben fiel ein Stuhl hinter Jacks Rücken laut krachend um, ein erstes Anzeichen dafür, dass hier bald eine ordentliche Schlägerei in Gang sein würde. Jack machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen. Stattdessen umschloss er das Glas, welches ihm der Wirt hinschob. Augenblicke später hatte er es zur Hälfte gelehrt und rülpste zufrieden.

Der Mann, der neben ihm auf einem Hocker saß, trommelte mit den Fingern auf dem polierten Tresen, was die Aufmerksamkeit des Gastwirtes auf ihn lenkte.

„Is es dir noch nicht laut genug, Windmill Luke?“, brummte der Bartender und wandte sich wieder dem Neuankömmling zu. „Du kannst ein paar Tage bleiben. Länger, wenn du nachlegst.“

„Alles klar, das ist ein üblicher Deal in einer solchen Situation“, erwiderte Jack und grinste. Dachte der Wirt, er übernachtete das erste Mal in einer Gaststätte? Windmill Luke gluckste: „Ein üblicher Deal in einer solchen Situation ... das gefällt mir!“ Er lachte in sich hinein, drehte den Kopf und sah Jack in die Augen, wobei er ihm eine Hand entgegenstreckte. „Windmi...“, er brach ab und zog die Augenbrauen zusammen, während er ihn entgeistert musterte. Dabei sank sein Arm langsam tiefer.

„Jack Duncon“, erwiderte Jack. „Sind wir uns schon mal begegnet?“

Statt einer Antwort glitt Windmill Luke vom Hocker. Krankhaft erbleicht, erweckte er den Eindruck, eines Geistes ansichtig geworden zu sein.

„Bleib, wo du bist. Ich bin gleich zurück“, murmelte er und stürzte davon. Auf dem kurzen Weg zur Tür prallte er mit einem betrunkenen Dandy zusammen, den er verärgert am Kragen packte, um ihn dann ungeduldig von sich zu schleudern. Der Goldjunge verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Tisch hinter sich, direkt in den Pott einer fortgeschrittenen Pokerrunde. Die dadurch hervorgerufene Prügelei ignorierend, verschwand Windmill Luke im Freien. Jack, der ihm mit verzogenem Mund nachgesehen hatte, drehte sich wieder zum Wirt.

„Merkwürdiger Kauz“, murmelte er. „Hast du eine Ahnung, was ihn dermaßen aus dem Tritt gebracht hat?“

„Nein, aber Windmill Luke is der Hilfssheriff von Diggers Creek.“

Abwartend blickte der Neuankömmling sein Gegenüber an. „Ja, und?“, hakte er nach, als er einsah, dass der Mann verstummt war.

„Nichts weiter. Nach Tiny Sheep arbeitet er am engsten mit dem kleinen Doc zusammen und das will was heißen.“

Langsam stieg in Jack die Gewissheit auf, hier von einigen Wahnsinnigen umzingelt zu sein. Kein Wunder. Bevor Diggers Creek in neuem Glanz erstrahlt war, musste es ein leidlich kleines Nest Zurückgebliebener gewesen sein. Der neu ausgebrochene Goldrausch hatte sich offenbar keineswegs positiv auf den Geisteszustand der alteingesessenen Bewohner ausgewirkt.

„Alles klar, verstehe“, seufzte Jack und klopfte mit dem Zeigefinger gegen sein Glas. „Der kleine Doc ist so etwas wie ein guter Geist, der euch die Welt erklärt.“

Sekundenlang musterte ihn der Wirt überrascht, dann schüttelte er den Kopf. „Er is kein Geist, sondern ein Doktor. Seit er mit seinem Enkelsohn in die Stadt gezogen is, geht‘s bei uns bergauf.“

Da entsann sich der Glücksritter der Willkommenstafel vor Diggers Creek.

„Ha, ihr habt euch verrechnet. Es sind + 2, nicht + 3!“

„Wie?“ Diesmal starrte der Wirt ihn an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank.

„Auf dem Schild steht + 3“, erinnerte Jack den Barmann, der endlich verstand und abwinkte.

„Der Dritte is Tiny Sheep. Also drei. Es stimmt, was dort steht. Immerhin hat uns der kleine Doc angesagt, was wir hinschreiben sollen. Und was der kleine Doc uns sagt, hat Hand und Fuß.“

„Ah“, Jack tippte sich an die Schläfe. „Der kleine Doc rechnet also auch für euch.“

Der Wirt griff nach einem alten Lappen und wischte damit über die Holzfläche. Ein unangenehmer Geruch kroch Jack in die Nase und er hielt sich sekundenlang den Ärmel davor. Er bezweifelte, dass die Platte jetzt sauberer als zuvor war.

„S’is so: Der kleine Doc hat uns wieder auf die Beine geholfen. Was er anschafft, wird gemacht. Bis auf Creepy Amanda hat das hier jeder kapiert.“

Jack lüpfte die linke Augenbraue und verbiss sich eine ironische Bemerkung. Hinter ihm krachte es laut. Zweifellos hatte ein Tisch den, durch die Handgreiflichkeiten verursachten, heftigen Stößen nicht länger standgehalten und war zusammengebrochen. Goldnuggets und Münzen schepperten, als sie sich über den Boden verteilten. In dem Moment brach die Hölle los, denn weder Schürfer, noch Revolverhelden können es ertragen, wenn derlei Wertgegenstände ohne Besitzer herumliegen. Kurz überlegte Jack, sich ins Getümmel zu stürzen, doch lenkte Windmill Luke, der wieder in den Saloon gepoltert kam, seine Aufmerksamkeit auf sich. Das Gesicht des Hilfssheriffs war unverändert von einer unnatürlichen Blässe überzogen und seine Augen glänzten fiebrig. Ihm auf den Fersen folgten zwei Männer und Jack beobachtete, wie sie, auf dem Weg zu ihm, herumfliegenden Flaschen, Fäusten und Stühlen auswichen. Unmittelbar vor ihm hielt Windmill Luke inne, hob ein Stück zerknittertes Papier in die Höhe, von dem er mehrmals abwechselnd zu ihm und wieder zurück sah.

„Er ist es“, stellte er zufrieden fest und die Männer an seiner Seite nickten zustimmend.

„Wer bin ich?“, wollte Jack perplex wissen und eine erste Beunruhigung, dass hier etwas ganz und gar im Argen lag, sorgte für ein Kribbeln in seinem rechten Zeigefinger - wie stets, kurz bevor er abdrückte.

„Jack Duncon, ein gemeiner Dieb, hinterhältiger Betrüger, Trickspieler und was es sonst noch so gibt.“ Windmill Luke drehte den Zettel so, dass Jack die Skizze eines Mannes betrachten konnte. Unverkennbar prangte sein Konterfei darauf. Aber wie, verdammt, war es hierher und in die Hände des Sheriffs geraten?

„Ich bin mir keiner Schuld bewusst“, erklärte er seelenruhig und hoffte, dass es ihm gelang, diese traurige Ansammlung der Verkörperung kalifornischen Rechts davon abzubringen, ihn ins Gefängnis zu sperren.

„Kurz nachdem der kleine Doc nach Diggers Creek gezogen ist, hat er diese Zeichnung angefertigt und im Büro des Sheriffs aufgehängt. Er hat uns gewarnt und uns eingebläut, dass der Tag, an dem Jack Duncon einen Fuß in dieses Dorf setzt, verflucht ist, da du mehr als Unglück bringst. Und deshalb“, fassungslos beobachtete Jack, wie die beiden Männer an Windmill Lukes Seite ihre Revolver auf ihn richteten, „werden wir dich einsperren, bis der kleine Doc entschieden hat, welcher Strafe wir dich zuführen sollen.“

Jack fluchte ungehalten, streckte aber, angesichts der Übermacht seiner Gegner, eine Hand in Richtung Wirt aus. „Wie’s aussieht, habe ich für die kommende Nacht eine andere Bleibe. Gib mir mein Geld zurück!“

Der Bartender schüttelte den Kopf. „Du wolltest das Zimmer, du hast das Zimmer und dabei bleibt‘s.“

„Verdammt, was ist das hier nur für ein höllischer Ort!“, schimpfte Jack und verfolgte verdattert, wie ihm Handschellen angelegt wurden.

Er wehrte sich nicht, als sie ihn ins Freie und die dunkle Hauptstraße entlangführten. Mittlerweile glühte sein Zorn heißer als die Sonne im Death Valley. Der kleine Doc sollte ihm nur unter die Augen treten! Er wäre schneller tot, als er überhaupt begriffen hätte, dass Jack seinem elenden Leben ein Ende bereitete.

Sie mussten nicht weit gehen und erreichten das Gebäude des Sheriffs wenige Minuten später. Als sie eintraten, erhob sich ein Bär von einem Mann aus einem Stuhl und musterte den Gefangenen finster.

„Ich nehme an, du bist der vielzitierte kleine Doc?“, stellte Jack, mit der Intention keine Schwäche zu zeigen, sarkastisch fest und wunderte sich nicht im Geringsten, dass der Name des Riesen überhaupt nicht zu seinem Gegenüber passte. In diesem abgehalfterten Kaff war zweifellos niemand ganz richtig im Hinterstübchen. Trotzdem musterte ihn der Bär, als wäre er, Jack, unzurechnungsfähig. Dies war himmelschreiend lächerlich und äußerst beleidigend!

„Sperrt ihn ein“, befahl der Riese, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Wir haben lange auf dich gewartet.“

Mittlerweile hoffte Jack, zu träumen. Er hatte es aufgegeben, eine schlüssige Erklärung für die aktuellen Vorgänge zu finden, da es an ihnen mangelte. Ja, er gab gerne zu, kein Kind von traurigen Eltern zu sein – war es nie gewesen. Außerdem sprach gegen ihn, dass er nichts hatte anbrennen lassen und so manchen übervorteilte. Doch er hatte stets seine Schulden bezahlt und fair gespielt. Er hatte niemanden erschossen, der es nicht verdient hätte, oder gar bestohlen. Was hier geschah, war rätselhaft und zutiefst unrecht! Mitleidlos bugsierten ihn die Männer in eine Zelle, bevor sie ihm die Handschellen abnahmen, als wäre er einer der Dalton Brüder. Unfassbar!

Jack war schon mal für eine Nacht eingesessen. Das war vor über einem Jahr in Cripple Creek, Colorado, gewesen. Der Sheriff hatte ihn, aus Mangel an Beweisen, am nächsten Tag freigelassen. Desgleichen erwartete er auch in dieser Situation. Niemand kannte ihn hier, demnach gab es keinen ernstzunehmenden Ankläger. Denn vor einem kleinen Doc fürchtete er sich nicht. Wirklich lächerlich die ganze Angelegenheit!

„Also Leute“, begann er, trat ans Gitter und ballte die Fäuste um die Stäbe, „ich bin sehr dafür, die Sache abzukürzen. Was haltet ihr davon, wenn ihr den Sheriff sofort holt? Als Dank für eure Bemühungen gebe ich eine Runde aus. Klingt das nicht verlockend?“

Windmill Luke wechselte einen schnellen Blick mit dem Riesen, auf dessen Wangen ein buschiger Bart wild spross. Als Letzterer ablehnend den Kopf schüttelte, verdrehte Jack die Augen.

„Um diese Zeit dürfen wir den kleinen Doc unter keinen Umständen stören. Du musst dich also bis morgen gedulden“, erklärte der Hüne ohne Mitgefühl und fügte höflich hinzu: „Trotzdem danke für das Angebot.“

Jack, am Rande der Verzweiflung, rüttelte an den Gitterstäben, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden wieder auf sich zu lenken.

„Ich dachte, du bist der kleine Doc?“, wunderte er sich. „Aber egal, der kleine Doc wird in der Angelegenheit nicht gebraucht. Denn ich verlange nach dem Sheriff!“

„Der kleine Doc ist doch der Sheriff!“, rief Windmill Luke aus und sein Gesichtsausdruck offenbarte dem aufmerksamen Beobachter, dass er überlegte, was er von dem Gefangenen halten sollte.

„Was?“, stöhnte Jack Duncon und gab auf.

Während er zischend Luft ausstieß, trat er zurück und ließ sich auf die spartanische Pritsche fallen. Welch ein Albtraum!

„Der kleine Doc und der Sheriff sind ein und dieselbe Person“, wiederholte der Bär geduldig. „Nebenbei bemerkt ist er der beste Sheriff von hier bis Houston, Texas.“

„Bis Houston, Texas“, murmelte Jack und ließ sich nach hinten sinken. Schicksalsergeben ergriff er den Hut und zog diesen über sein Gesicht. Der verbeulte Stetson half ihm dabei, die Welt um sich herum auszublenden.

II

Virginia City, Nevada, im Jahre 1875

An dem Tag, als Jack Duncon in mein Leben trat, verbrachte ich den Vormittag damit, bei der Schneiderin die Schnittmuster für mein Hochzeitskleid – Michael MacKanzie hatte am vergangenen Abend bei meinem Vater um meine Hand angehalten – durchzusehen. Sie hatte sich geweigert, meine Maße zu nehmen. Bis zu meiner Trauung mit Michael MacKanzie in einem halben Jahr könne sich die Figur einer Frau dreimal verändern, so ihre Begründung. Ich ahnte in dem Moment nicht, wie Recht sie damit hatte und hätte ich vermutet, was bald darauf geschehen würde … wahrlich, ich hätte einen anderen Heimweg eingeschlagen oder ein paar Minuten länger die feinen Stoffe inspiziert, die ein Händler vor wenigen Tagen geliefert hatte. Aber ich ahnte nichts von Jack Duncon, seinen breiten Schultern, den dunkelblauen Augen und dem rastlosen Herzen, das immer auf der Suche nach Abenteuer ist. Jack erzählte nichts über seine Vergangenheit, zog es vor, im Augenblick zu existieren und die Zukunft auszublenden. Denn sie bot keinerlei Sicherheit, da sie von einer Sekunde auf die nächste erlöschen konnte. Hier, im Wilden Westen, ist es keine Seltenheit, den Tag mit einer Kugel im Kopf zu beenden. Deswegen füllte er jeden Augenblick mit Leben, kostete von all seinen Facetten und feierte bis spät in die Nacht.

Jene Welt, in der er sich bewegte, war mir gänzlich fremd. Ich ahnte nichts von den Abgründen der Menschheit, die sich vor mir auftaten, als ich mit züchtig gesenktem Antlitz die Hauptstraße entlang eilte. Als Pfarrerstochter und zukünftiges Familienmitglied der MacKanzies musste ich mich durch mein Verhalten von der lasterhaften Umgebung meiner Heimatstadt abgrenzen. Deswegen fixierte ich den Weg vor mir, sah weder nach links oder rechts und hoffte, auf diese Weise niemandem aufzufallen. Als sich mir ein Paar Männerstiefel in den Weg stellte, hielt ich gezwungenermaßen an und schaute langsam auf. Die Hose, welche in den dunklen Stiefeln endete, hatte die gleiche Farbe wie der Sand, der sein Schuhwerk überzog und wurde mit einem breiten Gürtel, in dem ein Colt und Patronen steckten, an der Hüfte zusammen gehalten. Auch auf dem schwarzen Hemd glitzerte eine dünne Staubschicht, doch sein Halstuch war sauber und korrekt gebunden. Sein markantes Kinn ließ mich schlucken, der lächelnde Mund nahm mich für ihn ein, bevor er ein Wort gesagt hatte, und seine blauen Augen ... seine blauen Augen wirkten wie eine Einladung in den Himmel.

„Na, kleine Miss, entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit“, bat er freundlich. Ihn zu hören, diese Stimme ... in dem Augenblick war mir klar, dass ich ihn nie vergessen würde. Nie!

Dennoch war mir zu jenem Zeitpunkt gegenwärtig, wie man sich als junges Mädchen zu verhalten hatte und ich wirbelte auf dem Absatz herum. Dieser Mann bringt Schwierigkeiten – ich erkannte es innerhalb eines Wimpernschlages. Aber ich sollte ihm nicht entkommen, denn er holte mich mit wenigen Schritten ein und versperrte mir erneut den Weg.

„Wieso laufen Sie vor mir davon? Ich will doch nur erfragen, in welche Richtung ich mich wenden muss, um auf den Saloon zu stoßen.“

Ich hielt den Atem an, als ich es zum zweiten Mal wagte, ihm in die Augen zu sehen. Was ich in ihnen lesen konnte, schlug mich in seinen Bann. Noch heute vermag ich nicht zu erklären, mit welchem Trick er mich zu seiner Gefangenen machte. Gut möglich, dass mich der frevelhafte Einfluss dieser Stadt überwältigt und sich in Form von Abenteuerlust in meinem Herzen eingenistet hatte. Ja, so muss es wohl geschehen sein. Ich erkannte mit unfehlbarer Sicherheit, dass ich an der Seite dieses Mannes vom Leben auf eine Weise würde kosten können, wie es mir sonst nie vergönnt wäre. Als ich in jenes fremde Augenpaar starrte, vergaß ich Michael MacKanzie, meinen Verlobten. Gleichsam entfielen mir sämtliche Benimmregeln, die einem unverheirateten Mädchen generell untersagten, mit einem Mann zu sprechen. Mir blieb keine Wahl, ich musste ihn ansehen und versank in den Tiefen seiner Pupillen. Sein verführerisches Lächeln dehnte sich aus, als gelänge es ihm, in mir wie in einem Buch zu lesen.

„Hey“, raunte er und verbeugte sich leicht, ohne den Blick von mir abzuwenden, „darf ich mich vorstellen? Jack Duncon, der größte Abenteurer des Wilden Westens.“

Wie ein Gentleman mit besten Manieren lüpfte er seinen Hut. Ich konnte nicht anders und kicherte hinter vorgehaltener Hand.

„Und Sie sind?“

„Shannon“, stammelte ich. „Mehr darf ich Ihnen nicht verraten.“ Plötzlich fühlte ich die Blicke der anderen Passanten und erinnerte mich meiner Pflichten. „Wenn Sie ungefähr hundertfünfzig Schritt weitergehen ...“, hektisch zeigte ich in die Richtung, aus der ich gekommen war, „werden Sie auf den Saloon stoßen. Sie können ihn nicht verfehlen, Mr Duncon.“

Er lüftete den Hut zum zweiten Mal. „Vielen Dank, kleine Lady. Und wohin muss ich mich wenden, um Sie erneut zu treffen?“

„In Richtung Kirche“, flüsterte ich und errötete.

Ich straffte mich, umrundete ihn und eilte von ihm fort und meinem Elternhaus entgegen. Obwohl ich unter keinen Umständen auf diese Begegnung hätte verzichten wollen, hoffte ich dennoch, dass mein Vater nie davon erfahren würde, dass seine jüngste Tochter mit einem Fremden gesprochen hatte. Und nicht nur er, Michael hatte es ebenso nicht verdient, aufgrund meines mangelhaften Verhaltens unter übler Nachrede zu leiden. Mir der aufziehenden Gefahr bewusst, verbot ich mir, mich ein letztes Mal zu Jack Duncon umzudrehen. Dennoch überkam mich das Gefühl, dass sich sein Blick in meinen Rücken bohrte. Es ergab sich indessen bedauerlicherweise keine Gelegenheit, mich davon zu überzeugen.

Stattdessen zwang ich mich dazu, an Michael zu denken. Er war rechtschaffen und mir zugetan. Meinem Vater hatte er versprochen, bis zu unserer Vermählung ein Blockhaus zu errichten, in das ich als seine Frau ziehen würde. Momentan wohnte er in einem Soddy, einem der Grashäuser. Mein Vater hätte nie eine eheliche Verbindung mit einem Mann ohne ordentlichem Haus gebilligt. Deswegen legte Michael MacKanzie ihm die Verkaufsurkunde eines Grundstückes, das er kurz zuvor erworben hatte, vor. Erst dann willigte Vater unter Vorbehalt ein, mich ihm vor Ende des Jahres als Eheweib anzuvertrauen.

Vier Monate später, war das Blockhaus nahezu fertiggestellt. Mein Verlobter arbeitete hart an der Vollendung unseres Heims und sein unermüdlicher Einsatz bewies mir, wie ungemein er sich danach sehnte, mich endlich über die Schwelle tragen zu dürfen.

Zwei Monate vor dem geplanten Hochzeitstermin präsentierte er mir und meinen Eltern mit einem bescheidenen Lächeln die Fortschritte seines Schaffens. Dieser Tag war dazu auserkoren, einer der schönsten meines Lebens zu werden. Aber schrecklicher Kummer drückte auf mein Gemüt. Auch heute, wenn ich mich an Michaels strahlendes Gesicht, seine stolzgeschwellte Brust erinnere, wird mir schwer ums Herz. Seine euphorischen Ausführungen glichen für mich einer Grabrede, denn mir war zu dem Zeitpunkt schon bewusst gewesen, dass ich niemals in dieses prächtige Haus einziehen würde. Trotzdem brachte ich es nicht über mich, ihm mein schändliches Geheimnis zu beichten. Die Vorstellung, von ihm zurückgewiesen zu werden und mein Gesicht zu verlieren, kostete mich fast den Verstand und verhinderte, dass ich mich ihm offenbarte.

Aber das ist Jahre her. Ich bin davon überzeugt, dass Michael MacKanzie in der Zwischenzeit ein anderes Mädchen gefunden und mit ihm eine Familie gegründet hat. Ohne Zweifel hat er mich längst vergessen und meinen Namen aus seinen Gedanken gelöscht. Ich kann es ihm nicht verdenken. Gewiss hätte ich an seiner Stelle genauso gehandelt.

Im Laufe der Jahre habe ich aufgehört, mich zu fragen, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich Jack Duncon an jenem Tag nicht getroffen hätte. Wäre ich vor dem Blick in diese blauen Augen bewahrt geblieben ... tanzte ich jetzt zweifellos mit dem Glück, das mich in Michael MacKanzies Armen erwartet hätte.

Die Kerze war heruntergebrannt und kurz davor zu erlöschen. Shannon klappte das kleine Notizbuch zu, sank in die Knie und schob es in den schmalen Spalt zwischen Kommode und Fußboden. Sekundenlang verharrte sie gedankenversunken. Jack Duncon hatte ihr alles genommen. Alles. Ein Teil von ihr hoffte, ihm eines Tages zu begegnen, um an ihm Rache üben zu können. Doch der ängstlichere Teil ihres Wesens wünschte, ihn niemals wieder sehen zu müssen und stattdessen in der Lage zu sein, sich mit dem Schicksal, das ihr widerfahren war, endlich abzufinden.

Wieder in Diggers Creek im Jahre 1883

Turk Barns stellte einen verbeulten Blechbecher auf den Tisch, schöpfte mit einem unterdrückten Stöhnen eine Kelle Wasser hinein und ließ sich langsam auf einen rohgezimmerten Holzstuhl sinken. Müde rieb er sich die Augen, griff nach dem Becher und trank ihn in einem Zug leer. Er hörte die leichten, hüpfenden Schritte seines Enkelsohns, der zweifellos jeden Augenblick die Tür aufreißen würde, obwohl er ihm schon tausendmal befohlen hatte, zuvor anzuklopfen. Zum einen Ohr rein, zum anderen raus. Er griff nach dem Tuch, das lose um seinen Hals hing, und zerrte es höher, verdeckte damit Mund und Nase. Dann schob er sich seinen Montana tiefer in die Stirn und drehte den Kopf zur Tür, die in diesem Moment voller Schwung aufgestoßen wurde und mit Karacho gegen die Wand knallte.

„Verdammt!“, brummte Barns, zog die Augenbrauen zusammen und musterte den Siebenjährigen grimmig. „Wie oft soll ich dir noch sagen ...“

„Tiny Sheep ist hier, Großvater!“, unterbrach ihn das Kind aufgeregt. Erst jetzt bemerkte Turk Barns den massiven Schatten, der durch den Türrahmen ins Innere fiel.

Der Alte hustete, klopfte sich auf die Brust und winkte den Riesen näher.

„Was gibt´s?“, wollte er unumwunden wissen und schielte zu der Schüssel mit dem Schmortopf, der gestern übrig geblieben war und darauf wartete, endlich verzehrt zu werden.

„Doc, Sie werden nicht glauben, wen Windmill Luke in der Nacht verhaftet hat.“

Sofort richtete der Alte seine komplette Aufmerksamkeit auf sein kraftstrotzendes Gegenüber. Er stützte sich auf dem Tisch ab und stemmte sich, um Nackenverspannungen vorzubeugen, in die Höhe.

„Ach ja?“, brummte er. „Dann lass mal hören!“

„Jack Duncon. Der verdammte Jack Duncon is gestern in der Stadt aufgetaucht! Alle Achtung, da schlackern einem die Ohren! Bei allem Indianerscheiß, aber wie konnten Sie nur wissen, dass er kommen wird? Wacky Jane hat schon davon gesprochen, Sie zum Bürgermeister und zum Pfarrer zu ernennen. Dass Sie das wussten, grenzt an ...“

Barns hob Einhalt gebietend die Hand und der Riese verstummte.

„Einen Dreck wird sie! Das hat überhaupt nichts mit Hellseherei zu tun. Ich habe es gewusst, weil der Mistkerl überall dort auftaucht, wo man Gold findet. Es war demnach nicht schwer zu erraten“, schimpfte er unwirsch, holte tief Luft und musterte seinen Getreuen. „Und du bist sicher, dass er es ist?“

„So sicher man nur sein kann. Er hat sich selbst mit dem Namen vorgestellt. Und er ähnelt der Skizze, die im Sheriffbüro hängt.“

„Das Beste wird sein, dass ich ihn mir persönlich vorknöpfe!“

„Ja, Doc. Duncon kann es kaum erwarten, Ihnen vorgestellt zu werden.“

Barns holte tief Luft.

„Ich will mitkommen!“, rief Jordan aufgeregt und hüpfte in die Höhe.

Wieder zogen sich die Augenbrauen des Alten unwillig zusammen.

„Diese Angelegenheit ist nichts für Kinder“, erklärte er streng. „Du solltest lieber deiner Arbeit nachgehen!“

„Ach, Grandpa, die Schafe können warten, aber ein Verbrecher, wie Jack Duncon ... bitte, lass mich ihn ansehen!“

„Keine Widerrede, du kümmerst dich um die Herde!“

Gebückt schlurfte der kleine Doc auf die Tür zu und trat ins Freie. Er schwankte unter einem plötzlichen Schwächeanfall und hielt sich kurz am Türrahmen fest.

„Hör auf das, was dein Großvater dir aufgetragen hat“, befahl Tiny Sheep und folgte dem Sheriff.

„Das ist gemein! Ich bin immerhin alt genug!“, rief ihnen Jordan hinterher. „Und ich kann die Schafe nicht leiden! Old Wallace meinte, dass diese Viecher nur die Gegend verseuchen und in Diggers Creek nichts zu suchen hätten! Ich finde, er hat recht!“

Turk Barns atmete tief ein und drehte sich erneut zu seinem Enkelsohn um.

„Old Wallace irrt sich gewaltig. Es gibt keinen Grund, sich zu beschweren. Um keinen Anstoß zu erregen, beförderst du schließlich jeden Abend gewissenhaft die Ausscheidungen der Tiere in den Fluss, oder etwa nicht?“ Er hob einen Finger: „Es bleibt dabei: Auf meine Schafe lasse ich nichts kommen.“

Der Knabe schob schmollend die Unterlippe vor, doch unterließ er einen weiteren Versuch, seinen Großvater umzustimmen.

Der betrachtete indessen den Zweispänner, der vor dem Zaun auf sie wartete. „Du holst mich mit der Kutsche?“

Der Riese zwirbelte seinen Bart. „Nichts für ungut, Doc. Windmill Luke meinte, ich soll die Kutsche nehmen, da Sie doch nicht mehr so gut zu Fuß sin.“

Turk Barns stieß ein empörtes Pah aus und winkte mit einer abfälligen Geste ab. „Viel eher hat Duncon ihn bestochen. Kann’s wohl kaum erwarten, mich zu treffen. Ist es so?“

Tiny Sheep zuckte mit den Achseln und half dem klapprigen Greis auf den Kutschbock.

„Sie wern auch immer leichter, Doc“, stellte er besorgt fest.

„Ach was“, erwiderte dieser und schloss sekundenlang die Augen. „Das bildest du dir ein. Meine Zeit ist noch lange nicht abgelaufen.“

Der Bärtige sprang neben den Alten, ergriff die Zügel und schnalzte mit der Zunge. Turk Barns warf einen letzten Blick auf seinen Enkel, der mit verschränkten Armen auf der Veranda stand und ihnen wutschnaubend nachblickte.

Er klammerte sich an die Sitzbank und war dankbar für die Lederhandschuhe, die er wie immer übergezogen hatte und die verhinderten, dass er abrutschte.

Jack Duncon hatte schon schlechter geschlafen, als in der Gefängniszelle von Diggers Creek. Einmal hatte er ein Lager inmitten von Eis und Schnee am Rande der Prärie errichtet – wobei sein Stetson als Kopfkissen fungierte. Angesichts dessen war die Unterbringung hier wahrer Luxus und vor allen Dingen kostenlos. Hätte er sein Pech vorausgesehen, hätte er es tunlichst vermieden, sein hart verdientes Geld diesem geizigen Wirt in den Rachen zu stopfen. Aber was soll’s? Ein frischer Tag war angebrochen und mit ihm die Chance auf neues Glück. Sobald er den kleinen Doc von seiner Redlichkeit überzeugt hätte, würde er sich auf den Weg zu einem der sagenumwobenen Schleusenkästen machen und sich einen Überblick verschaffen. Womöglich gelänge es ihm, bei der Gelegenheit einen Claim zu sichern. Dies wäre zwar eine noch härtere Schinderei, allerdings wäre mit größerem Erfolg zu rechnen. Obwohl eine stetig wachsende Zahl an Firmen die Schürfrechte an den Minen erwarben, vermied es Jack tunlichst, für sie zu arbeiten. Er wollte die Förderung allein bewältigen und den Gewinn nicht teilen. Der Goldschürfer gähnte, streckte sich und setzte sich auf. Abwartend lehnte er sich an die Wand und starrte die Tür an, durch die der kleine Doc jeden Augenblick kommen musste. Das hoffte er zumindest.

Als Windmill Luke ihm einen erkalteten Eintopf brachte, schnippte er dem Mann eine Münze zu und bat ihn, sich für ein baldiges Erscheinen des kleinen Docs einzusetzen. Der Hilfssheriff versprach, sein Bestes zu geben. Wie es aussah, hielt er Wort, denn wenig später steckte er den Kopf zur Tür herein und berichtete, dass der Doc just in diesem Moment die Hauptstraße entlangfuhr und gleich eintreffen würde. So weit, so gut. Jack Duncon war davon überzeugt, mit dem Alten in Kürze übereinzukommen. Bei der durchschnittlichen Intelligenz der hiesigen Einwohner zweifellos ein Leichtes. Er erhob sich erwartungsvoll, strich sich übers Hemd, zupfte sein Tuch zurecht und nahm den Hut ab. Jetzt doch ein wenig angespannt, drückte er den Stetson als Zeichen seines Respekts gegen die Brust. Da die Zelle über keinen Spiegel verfügte, blieb ihm nur zu hoffen, dass er passabel aussah. Prüfend fuhr er sich übers Kinn und fühlte einen fröhlich sprießenden Bart. Tja, im Wilden Westen stellten jegliche natürlichen Auswüchse des Mannes das geringste Problem dar. Hier war man froh, wenn sein Gegenüber nicht allzu unerträglich stank.

Er hörte eine Kutsche, die zum Stillstand kam, und jemand sprang ab.

„Danke, Tiny Sheep.“ Die krächzende Stimme eines Greises ließ ihn vermuten, dass der Riese ihm beim Absteigen geholfen hatte.

„Gerne, kleiner Doc.“

Dass es dem Alten nicht zu blöd war, von allen so genannt zu werden? Jack schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf die Tür. Windmill Luke hielt diese seinem Chief auf, obwohl eine derartige Ehrerbietung seines Erachtens völlig übertrieben war. Sei’s drum. Gleich würde er es wissen.

Angestrengt lauschte Jack dem Schlurfen eines alten Menschen, der zweifellos unter der Gicht litt. Als er der gebückten, schmächtigen Gestalt ansichtig wurde, fühlte er sich in seiner Vermutung, jegliche Gebrechen des Sheriffs betreffend, bestätigt. Jack öffnete den Mund, um mit seiner Verteidigungsrede keine Zeit zu verlieren, doch angesichts des Respekts der anderen beiden Männer brachte er kein Wort über die Lippen. Schweigend verfolgte er stattdessen, wie sein persönlicher Richter stehenblieb und langsam den Kopf hob. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass das Gesicht des Mannes fast vollständig verhüllt war. Aufgrund des Gegenlichts, des Tuches und des in die Stirn gezogenen Hutes, konnte er nur ein kurzes Aufblitzen in den Augen seines Gegenübers erkennen, als dieses sein Haupt hob, um ihn eindringlich zu mustern.

„Lasst uns allein“, befahl der verhutzelte Sheriff und die beiden Männer zogen sich sogleich zurück. Verdammt, der Alte musste ein ausgezeichneter Schütze sein und außerdem keine Skrupel besitzen, sein Können anzuwenden! Aus welch anderem Grund würden die zwei kräftigen Kerle hier sonst so schnell den Schwanz einziehen?

„Wir bleiben in der Nähe, sollten Sie Hilfe benötigen, Doc“, erklärte Windmill Luke und schloss die Tür.

Sofort drang der Straßenlärm nur noch gedämpft ins Innere und eine merkwürdige Stimmung erfüllte den Raum. Jack konnte sich nicht erklären, was hier geschah. Als ließe das ihm widerfahrene, himmelschreiende Unrecht die restliche Welt kalt, tanzte Staub munter in dem breiten Lichtstrahl, der von draußen durch ein Fenster hereinfiel. Ratlos hob der Glücksritter die Augenbrauen und starrte ungerührt zurück. Es misslang ihm, diesen merkwürdigen Gesellen irgendwie einzuordnen, was dazu beitrug, dass ihm der Alte auf eine eigentümliche Art unheimlich war. Er hatte etwas an sich, das einen das Fürchten lehrte. Und das, obwohl der Doc mindestens zwei Köpfe kleiner war als er. Vermutlich lag das an dem stark gekrümmten Rücken, der ihn ganz gewiss ein paar Fingerbreit seiner Größe beraubt hatte.

„Ich habe lange auf dich gewartet, Jack Duncon“, durchbrach die knarzende Stimme des Sheriffs schließlich die Stille.

„Etwas, das mich sehr wundert“, erwiderte der Gefangene und versuchte ein charmantes Lächeln. Er war nicht sicher, ob es ihm gelang und er damit die gewünschte Wirkung erzielte. „Zweifellos handelt es sich um eine Verwechslung.“

Anstatt zu antworten, schlurfte der kleine Doc hinter den Schreibtisch und ließ sich ächzend auf einen Stuhl sinken. Hoffentlich bricht er jetzt nicht zusammen! Wenn er stirbt, werden sie mich dafür verantwortlich machen und noch vor der Mittagsglut hängen!

Besorgt verfolgte Jack die langsamen, mühevollen Bewegungen des anderen Mannes. Dieser zog mittlerweile eine Schublade auf, wühlte darin herum und grunzte zufrieden, als er gefunden hatte, wonach er suchte. Jack kniff die Augen zusammen und meinte zu erkennen, dass es sich bei dem Objekt um ein dicht beschriebenes Blatt Papier handelte.

„Das ist die Liste deiner Vergehen, Jack Duncon“, murmelte der Sheriff und bemühte sich wieder langsam zu ihm. Allein der Anblick dieser gekrümmten, halbtoten Gestalt bereitete ihm körperliche Schmerzen. Der Doc reichte den Bogen zwischen den Gitterstäben hindurch und Jack langte danach, überflog den Inhalt hastig. Als hätte jemand den Docht einer Kerze mit angefeuchteten Fingerspitzen ausgelöscht, erstarb das Lächeln auf seinem Gesicht. Mit ungewohnt engem Hals räusperte er sich.

„Kaum eine der Anklagen entspricht der Wahrheit“, erklärte er unerschütterlich und suchte den Blick des Alten.

„Vermutlich kannst du deine Unschuld beweisen?“ Der Sheriff musterte ihn abschätzend.

„Wie sollte ich?“ Jack warf den Stetson auf die spartanische Holzpritsche und wendete das Blatt, um sich die restlichen Beschuldigungen durchzulesen.

„Nun, es werden sich doch Zeugen finden lassen, die für deinen Leumund bürgen?“, hakte der Doc unbeteiligt nach. Dennoch meinte Jack, Hohn in den Worten zu bemerken.

Er schluckte und fasste sich unbehaglich an die Kehle. Für seinen Leumund bürgen? Außer einer Schar Frauen, denen er das Herz gebrochen hatte, würde sich kaum jemand an ihn erinnern. Er war immerfort unterwegs. Reiste von einem Ort zum nächsten. Verweilte nie lange genug, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

„Ich befürchte nicht“, seufzte der Gefangene schließlich. „Dennoch handelt es sich hierbei um übelste Verleumdungen und ich bestehe darauf, sofort freigelassen zu werden.“

Irgendwie gewann er den Eindruck, dass nichts, was er sagte, den Doc von dem ihm zugefügten Unrecht überzeugte. Bedächtig einen Schritt vor den anderen setzend, kehrte der kleine Mann zu seinem Platz zurück und ließ sich erneut darauf nieder.

„Das Recht ... Gerechtigkeit ist eine flüchtige Angelegenheit, insbesondere an einem Ort wie diesem“, hob der kleine Doc an und klopfte mit seinem behandschuhten Zeigefinger auf die Tischplatte. „Wenn ich dich so ansehe, Jack, überkommt mich das Gefühl, dass du eine Menge verbrannter Erde hinter dir zurückgelassen hast.“

„Gefühle haben hier nichts verloren“, widersprach der Goldwäscher, in dem eine vage Panik aufstieg. „Sie können mich hier nicht festhalten!“

Der Doc lachte kurz auf, es klang wie das Gackern eines Huhns. „Und ob ich das kann. Jeder hier handelt gemäß meiner Befehle. Seit Jahren habe ich die Bürger von Diggers Creek auf diesen Augenblick vorbereitet.“

„Aber weshalb? Was habe ich verbrochen, das ein solches Vorgehen rechtfertigen würde?“ Jack faltete das Papier zusammen und steckte es sich in den Hosenbund. Voll Wut, diesem ausgefuchsten Halunken völlig ausgeliefert zu sein, klammerte er sich an die Gitterstäbe.

„Du, Jack Duncon, bist ein schlechter Mensch.“

„Zur Hölle, sind wir einander irgendwann begegnet?“, murmelte der Gefangene und seine Gedanken rasten auf der Suche nach einer Erinnerung, einem Ort, einem Gesicht, das eine mögliche Erklärung liefern könnte. „Habe ich Ihnen Unrecht getan? Dann lassen Sie uns darüber sprechen! Ich bin gerne bereit, eine jegliche Schuld zu tilgen. Aber ich bitte Sie, sperren Sie diese verdammte Tür auf!“

„Nein, du irrst dich, wir sind uns niemals begegnet“, erwiderte der kleine Doc. „Aber ich traf vor vielen Jahren jemanden, dessen Leben du zerstört hast, Jack Duncon.“

Jack schloss die Hände fester um das Gitter, wodurch seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Angstschweiß bildete sich auf seiner Stirn und rann ihm über die Schläfen. Ich werde hier niemals mehr rauskommen! Verdammt, das überlebe ich nicht!

„So sagen Sie schon! Von wem sprechen Sie? Wem habe ich Unrecht getan?“

Der Doc schüttelte den Kopf und lachte heiser. „Das Geheimnis zu lüften, würde die Sache zu einfach machen, meinst du nicht, Jack?“

„Nein, ich denke, dass ich ein Recht habe, zu erfahren, was hier vor sich geht!“

„Die Liste“, erinnerte ihn der Doc mit funkelnden Augen. „Nimm dir Zeit und sinne darüber nach!“

Der Sheriff beugte sich vor, stützte sich auf der Tischplatte ab und zog sich mit einem Ächzen in die Höhe.

„Zum Teufel, ich will nicht nachdenken! Nehmen wir stattdessen die Abkürzung indem Sie mir frei von der Leber erklären, welche Strafe Sie für mich ersonnen haben!“

Sein Gefängniswärter hielt in der Bewegung inne. Eine kurze Weile verstrich in intensiver Überlegung. Überrascht, dass der Sheriff so schnell einlenkte, runzelte Jack die Stirn, als dieser sagte: „Es ist ein schlichter Handel, der dich deiner Freiheit näherbringt.“

Jack atmete tief ein. Das klingt schon viel besser! Womöglich findet sich doch noch ein Nebelstreifen Hoffnung am Horizont. „Ein Handel? In Ordnung! Ich tue alles, aber halten Sie mich nicht länger in dieser Zelle fest!“

„Nachdem du mir dein Wort gegeben hast, werde ich dich freilassen.“

Jack blinzelte. Die stur anmutende Unnachgiebigkeit seines Gegenübers erstaunte ihn. Dessen körperliche Verfassung erweckte nicht den Eindruck, den kleinsten Widerstand parieren zu können. Entgegen dieser Wirkung entpuppte er sich jetzt als zäher Hund, der sich an seinem Opfer festbiss und keine Anstalten machte, von ihm abzulassen.

„Heraus mit der Sprache! Wie lauten die Bedingungen? Was erwarten Sie von mir?“ Angespannt biss Jack die Zähne zusammen. Seine verfluchten Wangenmuskeln verkrampften, doch er vermochte nicht, sie zu lockern, hing an den Lippen seines Gegenübers. Wobei er die ja nicht sehen konnte.

„Soweit ich weiß, bist du ein Goldschürfer, ein Abenteurer, wie er im Buche steht. Ist das korrekt?“

„Ja, einer der besten, wie ich mit Bescheidenheit anmerken will.“

Der Alte wirkte sekundenlang amüsiert, obwohl für Jack nach wie vor nur die Augen des Mannes auf seine Reaktion schließen ließen.

„Ausgezeichnet! Dann stellt meine Forderung kein Problem für dich dar. Ich verlange 90 Pfund Gold.“

„Was?“ Jacks Augenbrauen schossen in die Höhe, die Kiefermuskeln entspannten sich augenblicklich, was zufolge hatte, dass seine Kinnlade herabfiel. „Das ist ein unfaires Angebot! Wenn der Fluss ergiebig ist, schürfe ich ungefähr 30 Gramm am Tag!“

Der Alte zuckte mit den Achseln. „Hierbei handelt es sich nicht um ein Angebot. Das Gold stellt die Voraussetzung für deine Freiheit dar.“

„Aber das ist absurd! Sie stehlen mir mindestens zwei Monate harter Arbeit!“, empörte sich Jack und Zorn riss an seinen Eingeweiden, wie die Wildpferde, die er mit dem Lasso einzufangen pflegte.

„Ein Monat, zwei Monate ...“, der Alte zuckte gleichgültig mit den Achseln. „In dem Moment, wo sich die Waagschale bei 90 Pounds einpendelt, bist du frei und kannst gehen, wohin du willst, und schürfen, so viel es dir beliebt. Du kennst den Ruf unserer Stadt. Unser Goldvorkommen ist gewaltig, obwohl wir erst vor Wochen begonnen haben, das Metall zu erschließen. Vielleicht gelingt es dir, 60 Gramm am Tag zu waschen. Wer weiß das schon?“

Jack löste sich von den Stäben, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Der Alte hatte recht. Mit etwas Glück könnte er das heißbegehrte Edelmetall womöglich in der Hälfte der Zeit abbauen und diesem gierigen Geizhals übergeben.

„In Ordnung. 90 Pfund pures Gold und danach bin ich frei.“

Der kleine Doc nickte zustimmend. „Für die Zwischenzeit benötige ich dein Versprechen, dass du Diggers Creek nicht verlässt, bis deine Schuld beglichen ist.“

Eine akzeptable Forderung, der schnell nachgegeben werden konnte.

„Ich gebe Ihnen mein Wort, Doc. Ich werde Diggers Creek erst den Rücken kehren, wenn wir quitt sind.“

„Ausgezeichnet.“

Um dem Sheriff zu demonstrieren, wie ernst es ihm mit dem Eid war, streckte er die Hand zwischen den Stäben hindurch. Der Greis schlug ein und Jack meinte, jeden Knochen des zerbrechlichen Gegenübers zu erfühlen. Nachdem sie ihren Handel per Handschlag besiegelt hatten, öffnete der Doc die Tür des Büros und befahl Windmill Luke, den Gefangenen freizulassen. Erleichtert setzte sich dieser den Hut auf und tippte sich an die Schläfe, als er sich am Hilfssheriff vorbei zwängte. Vor dem kleinen Doc blieb er stehen und beugte sich tiefer.

„Ich werde sofort beginnen“, erläuterte er und nickte dem Alten zu, bevor er sich abwandte und die Straße in Richtung Saloon entlang eilte.

„Er ist ein verfluchter Bandit“, brummte Tiny Sheep neben dem Doc. „Ich glaube, dass er Sie belogen hat und bei der nächstbesten Gelegenheit türmt.“

Turk Barns schüttelte den Kopf. „Er wird sein Ehrenwort halten, da gehe ich jede Wette ein. Genau aus diesem Grund vermeidet er es normalerweise, eines zu geben.“

„Woher wissen Sie das, Doc?“

„Sagen wir so, ich traf vor vielen Jahren jemanden, der mit Jack Duncon bekannt ist. Jemanden, der genau weiß, dass unser lieber Freund hier nur etwas verspricht, wenn er dazu gezwungen wird. Wie mir scheint, sind seine Eide alles, worauf man sich bei ihm verlassen kann.“

Windmill Luke hängte die Daumen im Gürtel ein und trat auf die Straße. „Zeit, um nach Recht und Ordnung zu sehen.“ Er zwinkerte dem Sheriff zu. „Wir sehen uns, Doc.“

„Ja, bis später, Hilfssheriff.“

Turk Barns sah seinem Mitarbeiter, der mit ausgeprägten O-Beinen Jacks Spur folgte, sinnend nach. Was der Doc von seinem Untergebenen wusste, war, dass er einst als Cowboy riesige Rinderherden entlang des Old Spanish Trails von einem Ende des Landes zum anderen getrieben hatte, bevor er in Diggers Creek hängengeblieben war. Das Geheimnis um den Spitznamen Windmill wurde indessen nie gelüftet. Tiny Sheep riss sich mit den Augen von dem Punkt los, an dem Jack Duncon verschwunden war.

„Die Warteschlange vor Ihrer Arztpraxis reicht schon bis zum Bestatter zurück“, erklärte der Riese dem schmächtigen Mann neben ihm.

Dieser sog die Luft tief ein, weshalb das Tuch sekundenlang an seinen Lippen klebte.

„Es ist immer was los, in Diggers Creek“, stellte der Greis fest und seufzte. „Sperr das Büro ab und dann komm mit mir!“

„Sofort Doc. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.“

„Darauf verwette ich meinen Hintern“, grinste der Alte und begab sich vorsichtig auf den Weg. Wehmütig erinnerte er sich jener Tage, an denen er sich ohne Einschränkungen hatte bewegen können. Aber das war lange, lange her.

III

Ich hatte mir geschworen, nie aufzuschreiben, was damals geschehen ist, kurz nachdem Jack Duncon mir und meiner Familie von der Kirche aus, vor der er auf mich im Schatten eines Baumes gewartet hatte, gefolgt war. Doch etwas in mir drängt mich, die Ereignisse festzuhalten, obwohl mir allein die Erinnerungen die Röte in die Wangen schießen lässt und ich jene Begebenheiten am liebsten vergessen würde. Bis heute frage ich mich, wie er es angestellt hat, am folgenden Abend als Gast meines Vaters an unserem Esstisch zu sitzen. Wie es von mir erwartet wurde, wich ich einem direkten Blickkontakt aus, fühlte aber dennoch seine beunruhigend verführerischen Augen auf mir ruhen. Er fragte meinen Vater über Virginia City und die Bibel aus – Letzteres zog stets weitschweifige Ausführungen nach sich, denn über die Heilige Schrift zu referieren, zählte zu meines Vaters Lieblingsbeschäftigungen. Ihm genügte der Sonntagvormittag bei weitem nicht, um zu predigen. Obwohl ich die meisten seiner Erläuterungen in- und auswendig kannte, wäre ich nach dem Essen gerne länger geblieben. Ich genoss die Gegenwart des fremden Mannes unerklärlicherweise viel zu sehr. Wohlerzogen, wie ich war, half ich meiner Mutter in der Küche und verabschiedete mich nach getaner Arbeit, um mich zu Bette zu begeben. Da meine ältere Schwester vor einigen Monaten geheiratet hatte und ausgezogen war, verfügte ich momentan allein über das Zimmer, das ich mir, solange ich mich erinnern kann, mit ihr geteilt hatte. Ich war zu nervös, um mich für die Nacht umzukleiden, presste stattdessen mein Ohr an die Tür, nur um hin und wieder Jacks Lachen zu vernehmen oder den Klang seiner Stimme zu hören. Als er sich zu vorgerückter Stunde verabschiedete, stürzte ich zum Fenster, öffnete es und beugte mich ein Stück hinaus, um den von ihm zurückgelegten Weg lauschend zu verfolgen. Der Kies knirschte unter Jacks Stiefeln, bis er die festgestampfte Erde der Straße erreichte. Trauer erfüllte mich, als sich die Geräusche, die er verursachte, in der Dunkelheit der Nacht auflösten. Ich schob das Fenster höher und setzte mich auf den Rahmen, lehnte mich zurück und starrte in die sternenklare Nacht. Und doch sah ich nur ihn.

„Pscht, Miss Shannon“, flüsterte plötzlich jemand neben mir und ich schrie vor Schreck auf. Eine Hand legte sich blitzschnell über meinen Mund und erstickte Gott sei Dank jeden weiteren Laut.

Die Wärme der Haut meines Angreifers kroch in mich und versetzte meinen Körper in erwartungsvolle Aufregung. Nie zuvor hatte ich auf diese Weise empfunden; nicht ein einziges Mal, wenn Michael mich flüchtig berührt hatte.

Jack Duncon zog die Hand zurück, stellte sich so, dass ich ihm ins Gesicht sehen konnte und legte einen Finger verschwörerisch an seine Lippen. Ich nickte und mein Herz pumpte mein Blut in einer Geschwindigkeit durch die Adern, weshalb ich befürchtete, ihn nicht verstehen zu können, sollte er denn etwas sagen.

Er beugte sich näher, so nah, dass seine Lippen mein Ohr berührten. „Fühlst du wie ich?“, murmelte er und wonnige Schauder quälten meinen Leib, der nach einer Erlösung schrie, von der ich nichts wusste.

Da mir seine berückende Präsenz die Sprache verschlagen hatte, nickte ich nur. Er schenkte mir ein breites, zufriedenes Lächeln und deutete mit einer Hand in die Dunkelheit.

„Dort hinten steht mein Pferd“, raunte er. „Komm mit mir und ich werde dir etwas zeigen, das du nie vergessen wirst!“

Ein kleiner Widerstand in mir ließ mich zögern. „Es ist ungehörig, mit einem fremden Mann die Nacht zu verbringen.“

„Es sind nur ein paar Augenblicke, nicht die ganze Nacht“, erwiderte er beschwörend und seine Hand legte sich auf meinen Unterarm. Zärtlich strich er mit den Fingerspitzen über meinen Handrücken. „Ich bringe dich wohlbehalten wieder nach Hause“, fuhr er leise fort. „Niemand wird von unserem kleinen Abenteuer erfahren. Es bleibt unser Geheimnis.“

Ich schluckte. Es klang zu schön, um wahr zu sein, und doch ... Die Warnungen meiner Mutter hallten in meinem Kopf wie ein fernes Echo. Es ist eine Sünde.

Als ahnte er, was in mir vorging, griff er unter mein Kinn, drehte es zu sich, beugte sich vor und streichelte mit seinen Lippen die meinen. So sanft und genüsslich, dass jegliche Abwehr in mir zusammenbrach. Ich wollte mehr davon! Verzehrte mich danach, ihn zu spüren, in seiner Wärme einzutauchen und für immer bei ihm zu bleiben! Ich wehrte mich nicht, als er seine Arme unter meine Kniekehlen und den Rücken schob, um mich kurzerhand aufzuheben und ins Freie zu ziehen. Ich schlang meinen Arm um seinen Nacken, lehnte mich an ihn und ließ mich entführen. Wir ritten schweigend durch die Nacht und tauchten in die samtene Dunkelheit, die Virginia City wie eine weiche Wand umspannte, ein. Ich war so aufgeregt, dass ich zitterte, genoss es aber, seine Stärke an meiner Wange zu fühlen. Irgendwann hielten wir an und Jack half mir vom Pferd. Als er seine Jacke auszog und in einem silbrig schimmernden See aus Mondlicht auf der warmen Erde ausbreitete, fühlte ich mich wie losgelöst. Seine sanften Liebkosungen ließen mich alles vergessen, was ich je gewusst und als richtig erachtet hatte. Nie zuvor war ich auf die gleiche eindringliche, ungeteilte Weise mit meinem ganzen Sein, allem, was mich ausmachte, im Hier und Jetzt gewesen. Ich fühlte keinen Schmerz, als er sich nahm, was einem anderen gehörte, sondern nur Freude über diese zärtliche Vereinigung zweier liebender Herzen. Seine Augen funkelten wie Himmelslichter, als er mir sanft eine Haarsträhne aus der Stirn strich.

„Das war umwerfend, Süße. Ich verspreche, das ich dich nie vergessen werde“, flüsterte er und küsste mich erneut, als könnte er nie genug von mir bekommen.

In dem Moment begriff ich. Seine Worte ergossen sich über mich wie ein mit eiskaltem Wasser gefüllter Eimer.

„Du darfst mich nicht verlassen!“, erklärte ich ihm und meine Stimme vibrierte ängstlich. „Morgen musst du bei meinem Vater um meine Hand anhalten!“

Er lachte leise, schüttelte den Kopf.

„Davon war nie die Rede, mein Mädchen.“

Der Aufprall im Hier und Jetzt war schmerzhafter als alles, was ich bisher an leidvollen Erfahrungen gesammelt hatte. Schnell entwand ich mich seinem Griff, setzte mich auf, langte nach meiner Bluse und hielt sie schützend vor meine nackten Brüste.

„Du kannst mich nicht einfach sitzenlassen!“, stieß ich panisch aus. „Du musst dich ab jetzt und für immer um mich kümmern! Du bist mein Mann!“

Meine Worte vermochten nicht das Lächeln aus seinen Zügen zu vertreiben. Seine Augen hingen nach wie vor hungrig an mir.

„Meinetwegen bleibe ich dir noch ein paar Wochen erhalten, doch es wird der Tag kommen, an dem ich Virginia City und dich hinter mir lasse. Aber bis dahin …“, er spielte mit den Fingerspitzen über meine Hüfte, bahnte sich unter der Bluse einen Weg höher. Er wusste genau, was er tat, denn Lust vertrieb das Herzeleid und ich gab mich ihm erneut hin. Ich naives Ding!

Als er Virginia City zwei Monate später den Rücken kehrte, neue Abenteuer zum Ziel, hatte er mir nichts von sich geschenkt. Doch ich, ich hatte ihm alles von mir gegeben und er nahm es mit sich, als er in erwartungsvollem Galopp für immer davongeritten war.

Shannon musste nicht in ihrem Notizbuch nachlesen, um sich an jeden Augenblick bis ins kleinste Detail zu erinnern, den sie mit Jack geteilt hatte. Obwohl sie ihr Zimmer verriegelt hatte, befürchtete sie, jemand könnte ihre Gedanken erraten und ihr auf die Schliche kommen. Als sie die Augen schloss, meinte sie, seine Hände zu fühlen, die ihr unaussprechliche Wonnen bereitet hatten. Aber stets erwuchs tiefe Pein aus jenen Augenblicken des Verzückens. Jack Duncon hatte ihren innersten Kern zerrissen, sodass nichts übrig geblieben war. Nichts, außer einem dunklen Hohlraum, in den sie die Erinnerungen und alles, was danach folgte, einschloss. Sie legte eine Hand über ihre Brust und verscheuchte die Erkenntnis, dass da kein Herz mehr schlug. Es war weit weg und sie befürchtete, dass Jack Duncon es in den Dreck geworfen hatte, während er seinem nächsten Abenteuer entgegenfieberte.

Jack war mit der Ausbeute des ersten Tages überaus zufrieden und überschlug im Kopf, wann er die Schuld beim Doc beglichen haben würde und endlich wieder Herr über sein Leben wäre. Er hatte mehr als das Doppelte wie gewohnt gewaschen und das erfüllte ihn mit Zuversicht. Obwohl er nach wie vor keine Verfehlung gegenüber dem Alten sah, fühlte er sich an das Versprechen, das er ihm gegeben hatte, gebunden. „Was sind schon vier Wochen?“, brummte er und stieß die Saloontüren auf. Wie immer herrschte reger Betrieb und er bahnte sich einen Weg zwischen Abschaum und angesehenen Leuten hindurch, um dann die Treppe in den ersten Stock hinaufzusteigen. Er verriegelte die Zimmertür hinter sich – an einem Ort wie diesem konnte man nie vorsichtig genug sein – und warf das Stoffbündel, in welchem er das Gold eingeschlagen hatte, auf den Tisch. Nachdenklich goss er sich Wasser in die Waschschüssel, schrubbte sich die Hände, tupfte sich das Gesicht ab und rieb mit einem feuchten Tuch über seinen Nacken. Nach der Hitze des Tages war dies eine willkommene Abkühlung. Er beschloss, unten etwas zu essen und danach zu schlafen. Die letzte Nacht hatte fürwahr nicht zu seinen besten gezählt.

Der folgende Tag ließ ebenso nichts zu wünschen übrig und Jack pfiff ein beschwingtes Lied, während er aus dem Sattel sprang und Spiriteinem der Jungen, die vor dem Saloon herumlungerten, übergab. Nachdem er das frischgeschürfte Gold seinem Schatz hinzugefügt und sich gewaschen hatte, begab er sich in den unteren Stock und setzte sich an den Tresen. Obwohl er einen anstrengenden Tag hinter sich hatte, besaß er genug Kraft, um sich heute dem weiblichen Geschlecht zu widmen. Es waren schon einige Tage vergangen, seit er das letzte Mal das Vergnügen gehabt hatte, und er war festentschlossen, dieser Durststrecke ein Ende zu bereiten. Wenn er etwas nicht ausstehen konnte, dann war das der Verzicht auf die vielfältigen Freuden des Lebens und der Leidenschaften. Abschätzend ließ er die Augen über die knapp bekleideten Mädchen gleiten, die sich unter die Feiernden gemischt hatten und schrill lachten, als wären sie für jeden Spaß zu haben. Eine Indianerin zog seinen Blick auf sich. Sie lehnte apathisch am Treppengeländer und er vermutete, dass sie betrunken war. Seit sich der weiße Mann Amerika untertan gemacht hatte, war dies ein weitverbreitetes Problem bei den Ureinwohnern. Dennoch war es, wie er aus Erfahrung wusste, etwas Besonderes, mit einer von ihnen zusammen zu sein. Mal schauen, vielleicht würde er sich ja heute für sie entscheiden. Plötzlich verstummte das Klavier und die Aufmerksamkeit aller richtete sich auf eine Person, die er von seinem Platz aus nicht sehen konnte.

„Der kleine Doc“, murmelte der Wirt und fluchte zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Wie das Meer vor Mose teilte sich die Menge und gab den Weg für den Greis frei, dennoch war alles, was Jack von dem Mann seiner Albträume zu Gesicht bekam, dessen verbeulter Montana. Erst als der kleine Doc vor der Indianerin anhielt, vermochte er den gekrümmten Rücken zu erkennen, beobachtete, wie der verdammte Sheriff die behandschuhte Hand nach der des Mädchens ausstreckte und sie mit sich aus dem Raum führte.

„Man hat nur Scherereien mit den Rothäuten“, brummte der Bartender hinter dem Tresen. „Aber das ist zum Glück nicht meine Sorge. Soll sich Creepy Amanda mit ihr rumschlagen!“

Jack wandte sich wieder um und löffelte gierig den Eintopf, der vor ihm auf der Barplatte stand.

„Was hat der Doc eigentlich für ein Problem?“, wollte er mit vollem Mund wissen und wischte sich mit dem Handrücken darüber.

„Der kleine Doc hat kein Problem“, erwiderte der Wirt ungerührt.

Mit dem Finger fuchtelte Jack demonstrativ vor seinem eigenen Unterkiefer herum. „Offensichtlich doch. Weshalb trägt er sonst das Tuch vorm Gesicht?“

„Ach das.“ Mason machte eine wegwerfende Handbewegung. „Narben. Schwere Narben. Der Doc trägt das Tuch aus Rücksicht.“

„Nun, das ist wohl wirklich überaus feinfühlig von ihm“, spottete Jack und schob sich einen weiteren Löffel hinter die Kiemen. „Und was stellt er jetzt mit dem Mädel an? Zeigt er dem sein entstelltes Gesicht?“

Sein massiges Gegenüber musterte ihn sekundenlang. „Nein. Keiner hier kennt sein Gesicht. Nicht mal Jordan, sein Enkel.“

„Aber das Tuch muss ihn doch dabei behindern, die kleine Indianerin zu erkunden.“ Narben hin oder her, Jack konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, ein Mädchen ohne Zuhilfenahme seiner Lippen zu vernaschen. Das wäre ja nur halb so anregend.