Das Zeichen seiner Liebe - Junia Swan - E-Book

Das Zeichen seiner Liebe E-Book

Junia Swan

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Beschreibung

Aufgrund ihrer Gehörlosigkeit wird Dorothy von klein auf für dumm gehalten. Man verbietet ihr am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Abgesehen davon wird sie tyrannisiert und soll sprechen lernen. Als sie zwölf Jahre alt ist, erträgt sie diese Qual nicht länger und flieht. Thomas Beaufort, dritter Sohn des Earls of Somerset, muss heiraten, um in Zukunft ein angenehmes Leben führen zu können. Am besten die Tochter eines Adligen, der keinen männlichen Erben vorzuweisen hat. Ein Glück, dass er in Sylvia Carmichael genau die Frau gefunden hat, die alle Voraussetzungen erfüllt. Doch kurz nach der Verlobungsfeier, fallen sie und ihre gesamte Familie den Pocken zum Opfer. Da erinnert sich Beaufort an Dorothy, die jüngste, aber verschwundene Tochter der Carmichaels. Um seine Träume zu retten, begibt er sich auf die Suche nach ihr. Nachdem er Dorothy gefunden hat, nimmt er sie mit sich, heiratet sie und bringt sie in ihr Elternhaus zurück. Beaufort gewinnt das Vertrauen seiner jungen Frau, doch als diese denkt, in Sicherheit zu sein, steht er nicht für sie ein und bricht Dorothy das Herz.

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Das Zeichen seiner Liebe

Junia Swan

Copyright © 2019

Independently published

Titelbild: trueLOVErlag

Alle Rechte vorbehalten

Für Claudia R., meine Lehrerin der Deutschen Gebärdensprache in großer Dankbarkeit

PROLOG

Manchmal in ihren Träumen hörte Dorothy Stimmen, ohne zu verstehen, was sie sagten. Viel zu selten stahl sich ein Lied des Nachts in ihre Ohren und ließ ihr Herz höher schlagen. Doch wenn es geschah, fühlte es sich an, als würde sich der Himmel über ihr öffnen und wenn es verstummte, fiel es ihr unglaublich schwer, in ihre stille Realität zurückzukehren. Wenn sie erwachte, war es ihr als würde man eine Kerze ausblasen und sie nur mehr von Dunkelheit umgeben sein. Die Klänge verstummten, wenn sie die Augen aufschlug und wurden von der Dichte einer undurchdringlichen Stille verschluckt. Dafür, wie dies gelingen konnte, fand sie keine Erklärung, doch war sie sicher, dass es sich um einen bösen Geist handeln musste, der alle Geräusche von ihr fernhielt. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es eine weitere Welt gab, jene Welt der Melodien und Stimmen, an der alle anderen Menschen teilhatten, nur sie nicht.

Langsam setzte sich Dorothy auf und die Decke glitt auf ihre Hüften hinab und bauschte sich dort zu einem kleinen Hügel. Sie blinzelte, rieb sich die Augen und blickte zum Fenster. Regen ergoss sich in dicken Schnüren, wie sie annahm, aus dunkelgrauen, schweren Wolken. Es fröstelte sie, als sie ein Bein unter der Decke hervorschob und mit den Zehenspitzen den kalten Boden berührte. Sie wollte viel lieber liegenbleiben. Allerdings wäre es müßig, diesem Gedanken nachzuhängen, denn in wenigen Minuten würde Mary die Tür aufreißen und die Decke mit einem Ruck von ihrem Körper ziehen. Alle in diesem Haushalt gingen davon aus, dass dies die einzige Möglichkeit war, Dorothy zu wecken. Deswegen zog sie es vor, allein zu erwachen und die Dienerin, bereits in ihren Morgenmantel gehüllt, zu erwarten. Zitternd trat sie vor den Spiegel und sah sich forschend an. Seit sie denken konnte, versuchte sie den Mangel an ihrem Körper zu entdecken, der sie so anders machte. Doch sie konnte ihn einfach nicht finden! Es war zum Haareraufen! Nicht einmal ihre Ohren waren anders geformt als die ihrer Geschwister. Kein einziger Hinweis machte auf den kleinen Unterschied aufmerksam, der für sie jedoch alles bedeutete. Mit ihrer Unfähigkeit zu hören, hatte sie das Anrecht auf ein erfülltes Leben verloren. Traurigerweise konnte sie sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie es davor gewesen war. Bevor sie diese schrecklichen Ohrenschmerzen bekommen hatte, an denen sie beinahe gestorben wäre. Keine Erinnerung war ihr daran geblieben, sie war zu jung gewesen. Alles, was sie mit dieser anderen, heilen Welt verband, waren ihre Träume.

Ein Luftzug strich um ihren Körper und sie fuhr herum. Mary zog die Tür hinter sich zu und steuerte mit strengem Gesichtsausdruck auf sie zu. Dorothy schluckte schwer und zuckte nicht einmal zusammen, als die Frau grob nach ihr griff und sie zum nächsten Stuhl bugsierte.

Dorothy starrte ihren Hauslehrer entsetzt an, der sie mit strengem Blick musterte. Sie konnte nicht glauben, was er soeben gesagt hatte. Wenn man klar und deutlich mit ihr sprach, hatte sie keine Probleme damit, von den Lippen abzulesen, doch in diesem Augenblick glaubte sie, etwas falsch verstanden zu haben. Sie machte eine fragende Geste, was den Lehrer die Augenbrauen noch grimmiger zusammenziehen ließ.

„Wage es nicht mit deinen Händen zu sprechen! Einmal noch und ich binde sie dir auf den Rücken!“

Entsetzt ließ sie die Arme sinken und ballte die Hände zu Fäusten, die sie zwischen den Falten ihres Rockes versteckte. Zweifellos wollte er, dass sie sprach. Den Mund öffnete, um mit ihrer Zunge Worte zu formen, die sie nicht hören konnte und die so schwierig waren, dass es sie bis zur Erschöpfung anstrengte, diese herauszupressen. Die Reaktionen der ihr zuhörenden Personen ermutigten sie außer-dem nicht, sich dahingehend anzustrengen. Sie verzogen angeekelt die Gesichter, wandten sich ab oder baten sie, still zu sein. Deswegen setzte sie sich an das schmale Pult und schrieb auf einen Block: „Wie bitte?“

Diesen reichte sie ihrem Lehrer, der ihre Frage kurz überflog und sich ihr wieder zuwandte.

„Dein Vater wünscht, dass du zu Weihnachten ein Lied vorträgst“, wiederholte er ungeduldig und Dorothys Schultern sackten nach unten. Ein Lied vortragen? Sie sollte ein Lied vortragen? Wie, um alles in der Welt, sollte das gehen? Fragend und ratlos erwiderte sie den Blick des Lehrers.

„Du wirst dich eben anstrengen müssen! Das ist nur eine Sache des Wollens! Wenn du dich sträubst, werde ich deine Zunge mit der Zange zurechtbiegen!“

Erschrocken presste Dorothy beide Hände über ihren Mund. Mit der Zange! Sie hasste diese Zangen und den festen Griff der Hände des Lehrers, mit denen er ihre Kiefer auseinanderzwang, um ihr die richtige Stellung der Zunge zu demonstrieren. Jedes Mal meinte sie daran zu ersticken. Allein bei dieser Vorstellung, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Auch wenn sie es wollte, wie sollte sie jemals singen? Wie einen klaren Ton über die Lippen bringen?

Der Lehrer beugte sich näher zu ihr und hielt ihren Blick gefangen.

„Bis du aufhörst, dich zu widersetzen.“

Er richtete sich wieder gerade auf und deutete Dorothy, sich zu erheben. Mit zitternden Knien stand sie auf und stützte sich mit den Händen an dem Tisch ab. Er fühlte sich kalt unter ihren schmalen Fingern an.

„Du kennst den Text“, erinnerte er sie gnadenlos. „Und jetzt singe ihn!“

Aber sie wusste doch nicht wie! Doch es half nichts, irgendwie musste sie es schaffen! Sie öffnete den Mund und sprudelte Laute in den Raum, um ihren Lehrer zufriedenzustellen, dessen Gesicht zunehmend einer steinernen Maske glich. Mit einer herrischen Geste befahl er ihr, innezuhalten.

„Das wird nichts. Ich denke, wir nehmen die Zange.“

Dorothys Augen schossen zur Tür in der Hoffnung, ihm entkommen zu können, aber er griff nach ihrem Arm, als hätte er ihre Gedanken erraten. Sie schrie, als er sie hinter sich zu einem Stuhl, an dessen Armlehnen Lederriemen befestigt waren, zerrte und wehrte sich mit Leibeskräften. Doch er war stärker. Wenige Augenblicke später hatte er sie bewegungsunfähig gemacht, ihren Mund bereits gewaltsam geöffnet, mit einem Eisengestell fixiert, um mit der verhassten Zange in ihn einzudringen.

Verzweifelt schloss Dorothy die Augen, darum bemüht, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken und die Marter über sich ergehen zu lassen.

Am Nachmittag des gleichen Tages hatte sie ein kleines Kleiderbündel geschnürt, bereit, ihren lang gehegten Plan zur Flucht in die Tat umzusetzen. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wohin sie fliehen sollte, doch diese Ungewissheit zog sie einem Leben auf dem Anwesen ihrer Eltern vor. Nicht einen Tag länger wollte sie hier bleiben: an einem Ort, an dem sie nicht willkommen war und man sie ständig schikanierte. Dorothy atmete tief durch, als sie sich durch den Hinterausgang ins Freie schlich. Ein letztes Mal blickte sie sich um, dann rannte sie auf den eine halbe Meile entfernten Wald zu. Niemals mehr wollte sie hierher zurückkehren! Lieber würde sie sterben, als noch einmal einen Fuß in ihr Elternhaus zu setzen!

1. KAPITEL

Fünf Jahre später

„Es ist eine wahre Tragödie“, erklärte der fünfte Earl of Somerset, in der Hand ein Schreiben zu dem er immer wieder mit seinen Augen zurückkehrte. Das Kuvert mit dem gebrochenen Siegel lag auf dem Arbeitstisch und bezeugte die Echtheit der Nachricht.

Thomas Beaufort, sein drittältester Sohn, lehnte sich nicht sonderlich beunruhigt in seinem Armsessel zurück und folgte seinem Vater mit den Augen. Er war dessen leicht erregbares Temperament und seinen Hang zur Übertreibung gewohnt, deswegen versetzten ihn die unheil-schwangeren Worte nicht in Alarmbereitschaft.

„Lasst hören, Vater, was ist es diesmal?“

„Diesmal?“, brauste der Vater auf und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger nach Luft ringend auf die wenigen Zeilen in seinen Händen. „Diesmal ist es eine Katastrophe! Sie sind alle tot. Alle, bis auf einige der Dienstboten.“

Obwohl Beaufort nicht wusste, von wem genau sein Vater sprach, richtete er sich ein wenig auf.

„Vater, ich verstehe nicht. Wer ist tot?“

Der Earl griff sich an die Brust.

„Deine Verlobte“, stieß er hervor. „Ihre Eltern. Alle Geschwister.“

„Meine …?“

Während diese unglaubliche Meldung langsam in seine Gedanken sickerte, breitete sich in ihm eine bleierne Ratlosigkeit aus. Wenn alle tot waren, dann … Unwillkürlich schnappte er nach Luft.

„Du weißt, was das bedeutet?“

Der Earl spießte seinen Sohn geradezu mit den Augen auf.

„Ich versuche gerade, es zu erfassen“, murmelte Beaufort, stemmte sich schwerfällig aus dem Stuhl und ging zur Bar. „Auch einen Drink, Vater?“, fragte er, während er sich einen Whisky einschenkte.

„Nur zu! Einen doppelten.“

Mit bebenden Händen goss Beaufort auch seinem Vater ein und kehrte mit den Gläsern in der Hand zu ihm zurück. Schweigend stürzten sie gleichzeitig das Getränk hinunter.

„Das bedeutet, deine Zukunft ist wieder vollkommen offen.“

„Verdammt“, fluchte Beaufort und knallte das Glas auf den Tisch. „Verdammt, verdammt, verdammt!“

Er boxte sich mit einer Faust in die eigene Handfläche.

„Wie konnte das nur geschehen? Alle auf einmal!“

„Die Pocken“, murmelte der Earl. „Die verfluchten Pocken haben sie alle ausgelöscht.“

Thomas Beaufort ließ sich zurück auf den Armsessel fallen, vergrub sein Gesicht hinter den Händen. Mit der Hochzeit der ältesten Tochter aus dem Hause der Carmichaels wäre sein weiteres Leben in ruhigen Bahnen verlaufen. Da der Baron selbst keinen männlichen Erben vorweisen konnte, hätte Beaufort nicht nur eine ansehnliche Mitgift zur Hochzeit erhalten, sondern auch den Titel und die Besitztümer nach dem Tod Carmichaels geerbt – eine sehr unübersichtliche Angelegenheit, die ein findiger Advokat durch geschickte Winkelzüge möglich gemacht hatte. Alle betroffenen Parteien hatten die Verträge vor wenigen Wochen unterzeichnet.

All diese Pläne waren jetzt mit einem Schlag zunichte gemacht worden und irgendein entfernter Verwandter würde nun alles erben. Dass das Schicksal Beaufort auch so übel mitspielen musste! Die fünf Töchter der Carmichaels: alle tot. Wobei … Nachdenklich ließ er seine Hände sinken und runzelte die Stirn. Er kannte nur vier von ihnen. Hatte Sylvia nicht einmal erwähnt, dass ihre jüngste Schwester von einem Tag auf den anderen verschwunden wäre? Ja, er meinte sich zu erinnern, dass … Eine kleine Hoffnung keimte in ihm auf. Wenn er sie fände und zur Frau nähme, wäre vielleicht nicht alles verloren!

Mit einem Satz sprang er in die Höhe, was seinen Vater aus dessen Lethargie riss. Als zweifelte er am Verstand seines Sohnes, musterte er ihn forschend.

„Die Carmichaels hatten doch fünf Töchter, nicht wahr?“, wollte nun Beaufort wissen und als sein Vater fragend nickte, fuhr er fort: „Eine von ihnen ist, wenn ich mich nicht täusche, vor einigen Jahren verschwunden. Ist Euch das bekannt?“

Das Gesicht des Earls glättete sich, als ihm dämmerte, worauf sein Sohn hinauswollte.

„Du hast recht! Die Jüngste von ihnen wird noch immer vermisst.“

Als suchte der Earl nach einer Bestätigung senkte er den Blick auf das Schreiben und las es erneut.

„Bei allen Heiligen!“, stieß er hervor. „Es stimmt! Hier werden nur vier Töchter erwähnt. Ich nehme an, das liegt daran, dass man den Tod der Verschollenen bis heute nicht bestätigt hat!“

Beaufort ballte mit neuerwachtem Optimismus die Hände.

„Dann werde ich sie suchen, finden und heiraten!“, beschloss der junge Mann und lächelte zuversichtlich.

„Nun ich hoffe, dass keine Enttäuschung auf dich wartet. Denn, wenn sie noch nicht tot ist und du sie tatsächlich finden solltest, meine ich, mich daran zu erinnern, dass sie geistig eingeschränkt ist. Taubstumm, genau genommen. Unfähig zu sprechen, zu hören und zu denken. Demzufolge dumm und ungebildet und niemals in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Du wirst keine rechte Freude mit ihr haben.“

Beaufort zuckte gleichgültig mit den Achseln.

„Und wenn schon? Kinder gebären wird sie wohl können und für mein restliches Leben gibt es Möglichkeiten, dieses angenehm zu gestalten. Ich werde mein Weib, sobald es mir einen Erben geschenkt hat, auf irgendein Anwesen auf dem Land verbannen und danach tun, was mir beliebt. Es ist kaum zu fassen, wie hold mir das Glück ist!“

Der Earl schmatzte ein paar Mal mit glasigen Augen, dann kräuselte er seinen Mund.

„Zuerst musst du sie finden.“

Beaufort warf ihm einen siegessicheren Blick zu.

„Bei Gott, das werde ich! Ich begebe mich sofort auf die Suche!“

Dorothy kniete am Flussbett, nur ein paar Fingerbreit vom Wasser entfernt, das träge an ihr vorbeirauschte. Angespannt hatte sie sich vorgebeugt und starrte in die Fluten, als gäbe es dort etwas Aufregendes zu sehen. Mit klopfendem Herzen wartete sie darauf, dass sich ein weiterer Fisch zeigte, der kraftvoll stromaufwärts schwamm. Diese Art hatte sie das letzte Mal vor ungefähr einem Jahr gesehen. Das war überaus interessant und sie fragte sich, weshalb die Tiere zu dieser Jahreszeit hier auftauchten, als strebten sie einem Ziel entgegen. Das war jedoch unmöglich. Tiere hatten keine Ziele. Sie konnten nicht denken.

Vorsichtig tauchte sie die Fingerspitzen ins Wasser, als sie plötzlich fühlte, dass sich die Stimmung hinter ihr änderte. Kälte kroch ihr über den Rücken und sie erstarrte. Die einzige Bewegung, zu der sie noch fähig war, war jene, die Hand aus dem Wasser zu ziehen und in ihren Schoß zu legen. Sonst fühlte sie sich wie gelähmt. Auch konnte sie sich nicht dazu aufraffen, einen schnellen Blick über die Schulter zu werfen, um herauszufinden, woher die Bedrohung kam.

Als sich eine Hand um ihren Oberarm schloss und sie in die Höhe zog, meinte sie vor Angst in Ohnmacht zu fallen. Heute war der Tag gekommen, vor dem sie sich seit ihrer Flucht gefürchtet hatte: man hatte sie gefunden. Aber warum jetzt? Sie wollte sich nicht ausmalen, was das für sie bedeutete.

Starke Hände drehten sie herum und sie presste die Augen fest zusammen, um nicht sehen zu müssen, was um sie herum geschah.

Thomas Beaufort hielt betroffen die Luft an, als er auf das zarte Mädchen herabsah, das mit geschlossenen Augen in seiner Umklammerung hing. Er hätte nicht gedacht, dass sie so jung wäre. Sechzehn vielleicht, kein Jahr älter. Allerdings war sie die Jüngste und Sylvia bereits zweiundzwanzig Jahre alt gewesen. Er hätte daran denken können, wenn er nicht so sehr mit ihrer Suche beschäftigt gewesen wäre.

Da kein Mensch Dorothy in den vergangenen Jahren gesehen hatte, war ihm in den letzten Wochen nichts anderes übrig geblieben, als durch die Wälder zu streifen und sie hinter jedem Baum zu suchen. Wie er sich nun eingestand, hatte er nicht mehr damit gerechnet, sie zu finden. Es war seiner Gründlichkeit zu verdanken, dass er diesen Landstrich noch durchkämmen hatte wollen, bevor er gezwungen gewesen wäre, sich seine Niederlage einzugestehen. Doch das Glück war ihm hold geblieben. Eine Hasenfalle mit einem darin gefangenen Tier hatte ihm die Spur gewiesen und Beauforts Herz hatte schneller zu schlagen begonnen. Sie hatten weitere Spuren entdeckt und wenn dieses Mädchen nun ihre Identität bestätigte, würde er triumphieren können. Dann hatte er Dorothy tatsächlich gefunden.

Ihr erbärmlicher Zustand schreckte ihn nur ein wenig – er hatte damit gerechnet. Ihr Haar war lange und verfilzt, als wäre es vor Jahren das letzte Mal gekämmt worden, was vermutlich stimmte. Ihr Kleid war aus einfachem, verschlissenem Stoff, jedoch sorgfältig geflickt. Ihre Gesichtsfarbe hatte einen goldenen Schimmer, zu natürlich, um vornehm zu sein und Sommersprossen schienen geradezu zahlreich auf ihrer Nase zu gedeihen. Abgesehen davon wirkte sie zart und zerbrechlich, so, als hätte sie schon lange nichts Kräftiges mehr gegessen. Trotzdem ließ nichts an ihrer ärmlichen Erscheinung ihren minderbemittelten geistigen Zustand erahnen.

Um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, schüttelte er sie leicht und ihre Augenlider zuckten, bevor sie diese schließ-lich zögernd öffnete. Die Klarheit ihres Blickes aus dunkelgrüner Iris überraschte ihn und er musterte sie forschend, wobei ihm ihre Angst nicht entging. Doch er hatte zu lange gesucht, um sie jetzt einfach freizugeben.

„Bist du Dorothy Carmichael?“, fragte er, obwohl er nicht damit rechnete, dass sie ihm antworten würde.

Trotzdem wusste er keinen anderen Weg, sich ihr mitzuteilen, denn er hatte keine Ahnung, wie man sonst mit einer Taubstummen kommunizieren könnte. Da nickte sie zaghaft, was ihn verblüffte. Konnte sie ihn verstehen? War das Gerücht, sie wäre dumm, womöglich falsch?

„Gut“, sagte er und räusperte sich. „Ich bringe Nach-richt von deiner Familie.“

Ihre Augen ruhten auf seinen Lippen und als er ihre Familie erwähnte, hob sie ihren Blick und sah ihn fragend an. Wieder nickte sie. Wie es aussah, hatte sie sich so weit gefasst, dass er nicht damit rechnen musste, sie würde im nächsten Augenblick zu fliehen versuchen.

Dessen ungeachtet fragte er sich, wie wohl ein Mädchen, das vor seiner Familie geflohen war, reagierte, wenn es von deren Tod erführe. Einerlei. Er würde es in wenigen Sekunden wissen.

„Sie erlagen vor wenigen Wochen den Pocken. Allesamt.“

Dorothy blinzelte und starrte weiterhin auf seine Lippen. Wartete, ob er noch etwas sagen würde. Dann runzelte sie die Stirn, suchte erneut seinen Blick.

„Hast du verstanden, Mädchen? Sie sind alle tot.“

Da zuckte sie etwas zusammen und machte einen Schritt zurück. Tränen glitzerten in ihren Augen, während sie ungläubig den Kopf schüttelte.

„Doch, du kannst mir glauben. Du bist die letzte lebende Carmichael und ich bin hier, um dich zurückzubringen.“

Verwirrt hob sie abwehrend eine Hand, als verstünde sie ihn nicht.

„Hör zu“, versuchte es Beaufort noch einmal, „ich sollte in einem Monat deine Schwester Sylvia heiraten. Dazu wird es, aus offensichtlichen Gründen, nun nicht mehr kommen. Deswegen wirst du ihren Platz einnehmen und meine Frau werden.“

Entsetzen blitzte in ihren Augen auf, und sie schüttelte wieder den Kopf. Diesmal wirkte sie überraschenderweise ein wenig stur.

„Natürlich wirst du das tun! Es ist deine Pflicht! Dein Vater wollte, dass ich seinen Titel und die Güter nach seinem Tod erbe. Es ist sein Wille, dass du mir angetraut wirst. Kannst du das verstehen?“

Wieder schüttelte sie den Kopf. Da riss ihm der Geduldsfaden und er umfasste ihr Handgelenk, noch bevor sie es ihm hätte entziehen können. Ein leiser Schrei löste sich von ihren Lippen, während ihr die Hitze seiner Hände unter die Haut drang.

Nein!, schrie alles in ihr, nein! Ich will das nicht! Bitte nicht!

Ohne auf ihren Widerstand zu achten, zog er sie mit sich. Mit Entsetzen bemerkte sie weitere Männer zwischen den Baumstämmen auf die Lichtung treten. Es war der reinste Albtraum!

„Hast du etwas, das du mitnehmen möchtest?“, fragte Beaufort, ihr wieder zugewandt.

Da nickte sie hektisch und er blieb stehen.

„Wo ist dein Zeug?“, wollte er ein wenig abfällig wissen.

Schnell deutete sie in eine Richtung und versuchte, ihn mit sich zu zerren. Er gab nach und ließ sich von ihr führen. Sie mussten nicht lange gehen, bis sie eine Behausung erreichten, die zwischen zwei Felsen errichtet worden war. Machte sie Scherze oder war dies wirklich ihr Heim der letzten Jahre gewesen? Er wollte sich nicht vorstellen, wie sehr sie im Winter gefroren haben musste.

Mit ihrer freien Hand schob Dorothy eine Decke beiseite, welche das Innere vom Wald abtrennte. Augenblicke später stand er in einem dunklen Raum, wenn man das überhaupt so nennen konnte. Ein kleines Feuer brannte innerhalb eines Steinkreises und als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte er eine weitere Person, welche auf einem provisorischen Bett aus Steinen und Brettern lag und sich langsam aufrichtete. Überrascht gab Beaufort Dorothy frei, die sich schnell über die Stelle rieb, an der er sie berührt hatte. Dann begann sie, mit ihren Händen zu gestikulieren, weshalb ihm Angst und Bange wurde. Sie sah wirklich wie eine Geistesgestörte aus!

„Wer sind Sie?“, fragte plötzlich eine müde Stimme, die wirkte, als hätte man sie seit Jahren nicht mehr benutzt.

„Thomas Beaufort“, erwiderte er knapp. „Ich bin hier, um Dorothy nach Hause zu bringen.“

Nach und nach konnte er die Konturen einer alten Frau ausmachen, deren Haar wirr um ihr Gesicht stand.

„Will sie das denn?“

Beaufort zuckte gleichgültig mit den Achseln.

„Das tut nichts zur Sache. Ich werde sie zu meiner Frau nehmen. Das ist vertraglich so vereinbart. Jetzt soll sie ihre Habseligkeiten zusammenpacken und mit mir kommen.“

Nun gestikulierte die Alte ebenfalls und als Antwort schüttelte Dorothy den Kopf.

„Sie will nicht.“

„Sie wird.“

Beaufort verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich breitbeinig vor den Ausgang. Da drehte sich Dorothy zu ihm und deutete auf die alte Frau.

„Hör sofort auf damit!“, herrschte er sie an. „Dieses Gefuchtel will ich niemals wieder sehen!“

Er konnte beobachten, wie sich der Ausdruck in ihren Augen veränderte. Sie sah ihn an, als würde sie nun kein Entgegenkommen mehr von seiner Seite erwarten und als wäre ihre Hoffnung, auf was auch immer, vernichtet.

„Sie möchte mich mitnehmen“, erklärte da die alte Frau.

„Unter keinen Umständen! Ich sprach von Dingen, nicht von Menschen!“

Da wirbelte Dorothy zu der alten Frau herum und stürzte zu ihr. Vor ihr ließ sie sich auf die Knie herab und schlang die Arme um ihren Hals. Dabei schüttelte sie immer wieder den Kopf. Die Alte drückte sie ein wenig von sich weg, griff nach ihrem Kinn und musterte sie streng.

„Du musst dir um mich keine Sorgen machen, Liebes. Du weißt, dass ich gut allein zurechtkomme.“

Wieder Gesten und die Bettlägrige schüttelte den Kopf, während sie Dorothy sanft eine Haarsträhne aus der Stirn strich.

„Doch, ich werde wieder gesund“, versprach sie. „Und nun geh mit ihm! Soweit ich das beurteilen kann, gehörst du ihm.“

Verzweifelt schüttelte Dorothy den Kopf und Beaufort fühlte seine Geduld schwinden. Er machte einen Schritt auf die junge Frau zu und diese klammerte sich noch fester an die Alte.

„Geh mit ihm“, beschwor die Alte das Mädchen, ohne einen Ton zu sagen, aber mit der Bewegung ihrer Lippen. „Er mag zwar streng erscheinen, doch er hat gute Augen. Du musst keine Angst haben.“

Da begann Dorothy bitterlich zu weinen und schüttelte verzweifelt den Kopf. Als Beaufort sie an den Oberarmen packte und in die Höhe zog, begann sie zu schreien. Es kreischte derart schmerzhaft in seinen Ohren, dass er sie losließ und einen Schritt nach hinten machte.

„Herrgott, was ist das?“

„Sie schreit und wenn sie das tut, macht sie es laut und unmelodiös. Deshalb sollte man es sich gut überlegen, bevor man sie derart aus der Fassung bringt.“

„Vielen Dank für den Hinweis“, meinte Beaufort ungerührt, packte Dorothy von hinten und hielt ihr mit einer Hand den Mund zu.

Als er sie hochhob, zappelte sie außer sich.

„Seid gut zu ihr“, bat die alte Frau, während er den Vorhang zur Seite schob. „Sie ist ein wirklich liebes Mädchen.“

Beaufort warf nicht einmal mehr einen Blick zu der Alten, sondern verließ den Verschlag, darauf konzentriert, nicht die Kontrolle über Dorothy zu verlieren. Diese machte allerdings nicht den Eindruck, als wollte sie jemals damit aufhören, sich ihm zu widersetzen.

Keiner seiner Männer wagte etwas zu sagen, als er wutschnaubend zu ihnen zurückkehrte. Ohne ein Wort zu verlieren, hob er Dorothy vor dem Sattel auf den Ansatz des Pferdehalses, die sich sofort wieder auf den Boden fallen lassen wollte. Doch einer seiner Männer hinderte sie daran, während sich Beaufort hinter ihr in den Sattel schwang und einen Arm um ihre Taille legte. Mittlerweile hatte sie zu schreien aufgehört, doch Tränen sprudelten ununterbrochen über ihre Wangen.

„Du kannst schreien, so viel du willst, doch wird es meine Meinung nicht ändern. Du kommst mit mir!“, murmelte er ihr ins Ohr, wohl wissend, dass sie ihn nicht hörte.

Im nächsten Moment setzte sich sein Pferd in Bewegung und ihr Kopf streifte seine Schulter. Als er kurz auf das verwahrloste Mädchen hinunterblickte, fragte er sich, ob es der ganze Reichtum wert war, sich an eine Frau wie sie zu binden.

Dorothy meinte, von Panik überwältigt zu werden. Die Nachricht vom Tod ihrer Familie hatte sie erschüttert und sich wie eine dunkle Wolke über sie gelegt. Doch Susan krank in ihrem Verschlag zurücklassen zu müssen, brachte Dorothy schier um den Verstand. Wie sollte die geliebte Frau auch nur eine Woche ohne sie überleben? Sie war alt und krank! In all den Jahren hatte sie sich wie eine Mutter um Dorothy gekümmert und jetzt, da sie auf Hilfe angewiesen war, brachte man ihre einzige Unterstützung von ihr fort.

„Bättä!“, schluchzte sie leise und hoffte, dass der Mann hinter ihr verstand, was sie zu sagen versuchte. „Bättä! Bättä!“

Doch er reagierte nicht, trieb sogar sein Pferd noch mehr an, was ihre Angst vermehrte. Dies war der erste Ritt ihres Lebens und sie befürchtete, von dem hohen Tier zu fallen. Panisch schlang sie ihre Arme um Beauforts Rumpf und krallte ihre Finger in sein Jackett. Plötzlich packte er sie fester, beugte sich vor und drängte sie so tief, dass sie fast auf dem Pferdehals zu liegen kam. Sie riss ihre Augen weit auf, als sie nur knapp unterhalb eines tiefhängenden Astes hindurchjagten. Entsetzt krallte sie sich nun mit einer Hand an seinem Kragen und Jackett fest und barg mit zusammen-gepressten Augen ihr Gesicht an seiner Brust, während er sich wieder aufrichtete und sie dabei mit sich zog. Schützend schlang er seinen Arm fester um sie und senkte gleichzeitig seinen forschenden Blick auf sie, nur um sich im nächsten Augenblick wieder auf den Weg vor sich zu konzentrieren. Nun war sie ihm so nah, dass er das Zittern ihres Leibes verspürte. Wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, dass ihr Verstand nicht größer als der eines Tieres war, hätte er angenommen, sie würde ihre Situation tatsächlich erfassen. Doch aufgrund des offensichtlichen Mangels an Gehör und Sprache, somit also auch an Verstand, war seine Beobachtung wohl ein Irrtum. Wahrscheinlich hatte er bis zu diesem Augenblick heimlich gehofft, sie wäre trotz ihrer Einschränkung eine normal handelnde Frau. Er musste sich sofort verbieten, solchen träumerischen Gedanken nachzuhängen!

Durch den Stoff seines Kragens fühlte er deutlich, wie kalt ihre Finger trotz der spätsommerlichen Temperaturen waren. Sie war so dünn, dass ihn ihr Frieren nicht wunderte. Deshalb zügelte er sein Pferd, entledigte sich seiner Jacke und hielt sie ihr auffordernd hin. Überrascht studierte sie seine Gesichtszüge und als er nickte, griff sie schnell danach und schlüpfte hinein. Dann setzten sie ihren Ritt fort.

Während der nächsten Stunden bewegte sich Dorothy kaum und Beaufort fragte sich, ob sie in dieser Haltung erstarrt war. Als er und seine Männer vor einem Gasthof ihre Pferde zügelten, hob sie zögernd den Kopf und ließ die Augen über ihre Umgebung schweifen, während sie die Hand von ihm löste und ihn schließlich direkt fragend ansah.

„Wir werden hier übernachten, da wir noch einen halben Tagesritt von Somerset Abbey entfernt sind“, erklärte er, schwang sein Bein über den Sattel und sprang zu Boden, wobei sie fast das Gleichgewicht verlor.

Schnell streckte er seine Arme nach ihr aus, um ihr Stabilität zu geben. Als ihre Füße den Boden berührten, schwankte sie erschöpft, verzog aufgrund ihrer schmerzenden Kehrseite das Gesicht und schlang die Arme hilflos um ihren Oberkörper. Dabei senkte sie ihr Haupt und starrte auf ihre nackten Zehen. Seine Jacke hing an ihr wie ein übergroßer Mantel. Ihr Anblick war kaum zu ertragen und er wusste, dass er heute tief in die Tasche würde greifen müssen, um eine Schar Dienerinnen dafür zu bezahlen, sich ihrer anzunehmen und sie in einen präsentablen Zustand zu verwandeln. Auch hoffte er, eine Magd zu finden, die dazu bereit war, ihm ihr bestes Kleid zu verkaufen. Um diese Angelegenheit sollte sich sein persönlicher Diener kümmern. Er betraute seine Männer mit ihren Aufgaben, dann griff Beaufort nach Dorothys Arm und zog sie mit sich. Willenlos ließ sie sich von ihm ins Innere führen, wartete zusammengesunken in der Schankstube bis er mit dem Wirt einig geworden war, um dann neben ihm die Treppen in den zweiten Stock empor zu steigen.

Außer auf dem Anwesen ihrer Eltern war die junge Frau noch niemals in einem Haus dieser Größe gewesen. Mit bebendem Herzen fragte sich Dorothy, was nun auf sie zukommen würde. Was wollte dieser Mann nun mit ihr anstellen? Sie schlagen? Oder ihr diese schrecklichen Zangen in den Mund stoßen?

Als Beaufort eine Tür aufstieß, Dorothy nach innen schob und diese wieder hinter ihnen schloss, steigerte sich ihre Angst ins Unermessliche. Fest presste sie die Augen zusammen und barg ihr Antlitz hinter ihren Händen, von denen nur die Fingerspitzen aus den Jackenärmeln hervorblitzten. Da fühlte sie eine Berührung und schrie erschrocken auf, während sie gleichzeitig einen Satz nach hinten machte. Dabei knallte sie mit einer Seite ihrer Hüfte hart gegen einen schweren Tisch und sie wimmerte vor Schmerz. Dann riss sie die Augen auf und bemerkte, dass sie der Mann, der sie entführt hatte, mit gerunzelter Stirn beobachtete. Er wirkte tatsächlich ein wenig überfordert.

„Es werden gleich ein paar Dienerinnen kommen“, erklärte er schließlich. „Ich möchte, dass du dich ihnen fügst.“

Fügen? Was meinte er damit?

Als er Ratlosigkeit in ihrem Gesicht erkannte, seufzte er. Natürlich. Wie hatte er auch nur annehmen können, dass sie irgendetwas von dem verstand, was er ihr mitteilte?

„Sie werden dich baden, deine Haare kämmen – du bekommst sogar ein neues Kleid.“

Bei seinen Worten strichen ihre Hände unwillkürlich über ihre Hüften, als könnte sie sich daran erinnern, wie es war, nicht so dreckig zu sein. Dann glitt ihr Blick forschend zum Fenster und wieder zu ihm zurück. Beaufort verengte seine Augen misstrauisch. Sie wirkte viel zu bereitwillig und er meinte, sie hecke einen Plan aus, was natürlich unmöglich war.

Plötzlich trat sie zu ihm, umfasste ihn mit beiden Händen am Oberarm und schob ihn in Richtung Tür. Als ihm bewusst wurde, was sie plante, lehnte er sich gegen sie und es war ihr unmöglich, ihn noch eine Handbreit weiterzubewegen. Stattdessen löste er ihre Finger von seinem Arm und legte seine Hände auf ihre Schultern. Ihre Gegenwehr ignorierend, drängte er sie zum Fenster, öffnete es und deutete hinaus. Nervös warf Dorothy einen Blick ins Freie, nur um Beaufort im nächsten Moment mit großen Augen anzusehen.

„Denke nicht einmal daran zu fliehen“, riet er ihr eindringlich. „Wie du sehen kannst, stehen meine Männer überall bereit. Im Hof vor deinem Fenster, im Gang vor der Tür. Ich habe zu lange nach dir suchen müssen, um dich jetzt aus den Augen zu lassen.“

Er gab sie frei, schloss das Fenster und drehte sich wieder zu ihr. Ihr Blick war von Kummer verhangen.

„Verstanden?“

Sie nickte hoffnungslos, wobei sie sich schon wieder von ihm abwandte. Da klopfte es an die Tür und auf seine Aufforderung hin, traten drei Dienstmägde ein.

„Gut“, sagte er, stupste Dorothy an, damit sie ihm noch einmal ihre Aufmerksamkeit schenkte. „Wenn du fertig bist, werden wir gemeinsam Abendessen. Sei nun brav!“

Sei brav. Wie lange war es her, seit jemand diese Worte das letzte Mal an sie gerichtet hatte? Heute wie damals fragte sie sich, was damit eigentlich gemeint war. Brav sein. Bedeutete es, man war schlimm, weil man eine eigene Meinung hatte oder etwas anders machen wollte, als derjenige, der einem befahl?

Als Hände nach ihrem Kleid griffen, fuhr sie zusammen und kehrte in die Gegenwart zurück. Wie sie sofort erkennen konnte, war ihr Entführer gegangen. Sehr gut!

Ohne Widerstand zu leisten, ließ sie es zu, dass man sie entkleidete und in einen mit warmem Wasser gefüllten Bottich setzte. Sie ertrug mit stoischer Miene, wie ihre Haare gewaschen und gekämmt wurden – letzteres war überaus schmerzhaft. Da, wo die Bürste versagte, griff man zur Schere und kürzte die Strähnen.

Als sie eine lange Weile später nackt im Zimmer stand und darauf wartete, in ein neues Kleid schlüpfen zu können, stellte sie fest, dass ihr Haar nicht mehr bis zum Ansatz ihres Pos reichte, sondern mindestens zwei Handbreit kürzer war. Dorothy zuckte mit den Achseln und bewegte sich nicht, als man das Kleid zuknöpfte. Dann wartete sie sehnsüchtig darauf, dass die Dienerinnen gingen und sie endlich allein war. Sie brauchte dringend ein paar Minuten Ruhe, um nachdenken zu können! Denn es musste einen Weg geben, um zu entkommen! Auch wenn es Tage dauern würde, um zu Susan zurückzukehren, sie würde den Marsch auf sich nehmen! Sie wollte sich nicht damit abfinden, der Frau, die wie eine Mutter für sie war, nicht helfen zu können und sie ihrem sicheren Tod zu überlassen.

Nachdenklich glitten ihre Augen zu dem wuchtigen Schrank, der an einer Wand stand. Ohne länger darüber nachzudenken, griff sie nach der Decke, die auf dem Bett lag, stürzte zu dem Möbel, riss eine Tür auf und glitt ins Innere. Schnell zog sie die Tür hinter sich zu und ließ sich auf den Boden sinken. Dann zog sie die Decke über sich, rollte sich zusammen, wobei sie sich so klein wie möglich machte und hoffte, dass ihr Entführer sie hier nicht suchen würde. Vielleicht wäre er von ihrem Verschwinden so überrascht, dass er sofort aus dem Zimmer stürmte, das Haus und den Hof durchkämmte und schließlich mit dem Pferd ihre Verfolgung aufnahm. In der Zwischenzeit, so dachte sie, könnte sie sich dann heimlich davonstehlen und so lange in der Nähe verstecken, bis sie sicher war, dass der Mann die Suche aufgegeben hatte.

Dorothy war es gewohnt, hart zu liegen und sie kuschelte sich behaglich in die Wärme der Decke. Gähnend schloss sie die Augen und wartete darauf, das Vibrieren seiner Schritte zu spüren. Konzentriert lauschte sie mit all ihren intakten Sinnen auf mögliche Bewegungen im Zimmer. Doch war sie so müde, dass sie nicht einmal bemerkte, wie sie von tiefem Schlummer übermannt wurde.

2. KAPITEL

Als Beaufort bemerkte, dass Dorothys Zimmer leer war, fluchte er leise. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie hatte entkommen können. Er steckte seinen Kopf zur Tür hinaus und fragte die davor stehenden Wachen, ob sie ihren Platz verlassen hätten. Nein. Nachdenklich schloss er die Tür und ging zum Fenster, öffnete es und rief leise in den Hof hinunter, ob jemand der dort postierten Männer, das Mädchen gesehen hätte. Auch hier kam die Antwort, ohne zu zögern. Nein, die Kleine hätte man nicht übersehen. Nachdem er das Fenster geschlossen hatte, bückte er sich, um unter dem Bett nachzusehen. Auch da war sie nicht, nur einige dicke Wollmäuse hatten sich bei einem Bettpfosten gesammelt und wirkten, als würden sie sich dort erschrocken zusammenkauern.

Nachdenklich richtete sich Beaufort auf. Dorothy musste hier sein! Es hatte keine Möglichkeit für sie gegeben, das Zimmer zu verlassen. Wobei, vielleicht hatte sie sich mit den Dienerinnen hinausgeschlichen? Mit einem Fluch auf den Lippen spannte er sich an. Wie hatte er diese Option nur übersehen und sie aus den Augen lassen können? Wie es den Anschein erweckte, war sie schlauer, als er angenommen hatte.

Gerade als er aus dem Raum stürzen wollte, fiel sein Blick auf das ungemachte Bett, auf dem sein Jackett lag und er hielt mitten in der Bewegung inne. Das war merkwürdig. Wenn sie sich in die Decke eingewickelt davongemacht hätte, wäre es aufgefallen.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen setzte er sich auf die Matratze und dachte angestrengt nach. Dabei streiften seine Augen den breiten Holzschrank an der gegenüberliegenden Wand. Als hätte das Möbel ihn gerufen, hörte er auch ein schwaches Klopfen, als wäre etwas gegen die Innenwand gestoßen. Erleichtert teilten sich seine Lippen zu einem Lächeln. Dieses Mädchen war überaus gewitzt. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte das Zimmer verlassen und dann hätte sie … Er konnte kaum fassen, dass sie zu einem solchen Plan fähig war!

Auf leisen Sohlen schlich er sich zum Schrank und öffnete die Türen. Ein schlaffer Arm, der wohl gegen die Tür gelehnt geruht hatte, glitt nun über den Korpus heraus, um bewegungslos hängenzubleiben. Beauforts Blick folgte seinem Verlauf, bis er unter der Decke verschwand. Einige rötlichblonde Haarsträhnen quollen ebenfalls unter der Decke hervor. Langsam ging er in die Hocke, beugte sich zu ihr und zog den wärmenden Überwurf vorsichtig von ihrem Kopf. Sie lag wie eine Kugel zusammengerollt, eine Wange ruhte auf ihrer Hand, der Mund war leicht geöffnet und das Gesicht von einem rosigen Hauch überzogen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie anders sie nun, gewaschen, wirkte, und vor allen Dingen, wie jung. Zu jung, um seine Frau zu werden?

Ohne sie aus den Augen zu lassen, zog er seine Hand zurück, noch immer versunken in ihre Betrachtung. Trotzdem. Er straffte die Schultern. Es führte kein Weg daran vorbei, sie zu heiraten, wenn er nicht alles verlieren wollte, was ihm eigentlich zustand. Nun, dann würde sie eben seine Frau werden. Aber es müssten erst noch ein paar Jahre vergehen, bis sie ihm einen Erben schenken konnte. Es war zwar sicherlich nicht das, was er sich wünschte, aber immerhin wirkte es wie ein erträglicher Kompromiss.

Beaufort richtete sich ein wenig auf und schob seine Arme unter ihren Körper. Sie zuckte zusammen und riss erschrocken die Augen auf, als er sie anhob. Sofort begann sie sich zu wehren.

„Pscht“, murmelte er beruhigend. „Ich lege dich nur in dein Bett.“

Dorothy blinzelte verschlafen, doch dann stieß sie ihm mit der flachen Hand gegen die Brust. Er ignorierte ihren Protest und bettete sie auf die Matratze. Fürsorglich zupfte er die Decke, welche fast vollständig von ihrem Körper gerutscht war, zurecht, dann richtete er sich auf. Dorothy blieb jedoch nicht liegen, sondern kämpfte sich in die Höhe. Tränen traten ihr in die Augen, als ihr bewusst wurde, dass ihr Plan misslungen war. Enttäuscht begann sie zu weinen, ihr Gesicht hinter ihren Händen verbergend.

Nachdem Beaufort eine Weile abgewogen hatte, wie er am besten reagieren sollte, ließ er sich neben ihr nieder, zog ihre Hände von ihrem Gesicht fort und wartete darauf, dass sie ihn ansah. Als sie sich endlich ein wenig beruhigt hatte, erwiderte sie seinen Blick.

„So schlimm ist es nicht!“, erklärte er ruhig.

Da begann sie wild mit den Händen zu gestikulieren und seine Miene verdüsterte sich. Doch sie gab nicht auf, stieß ihn an, als er sich abwenden wollte. Griff sich mit einer Hand an die Kehle und tat, als würde sie sterben. Er verstand überhaupt nicht, was sie da machte. Offensichtlich war es nun um den letzten Rest ihres Verstandes geschehen, wenn sie denn überhaupt einen hatte.

„Hör auf!“, befahl er streng, doch sie schüttelte den Kopf, deutete fieberhaft zum Fenster.

„Bättä!“, stammelte sie auf diese merkwürdige Art, doch er verstand.

„Was willst du?“

Da legte sie eine Hand an ihr Kreuz und tat, als wäre sie sehr alt und gekrümmt.

„Du sprichst von der Alten?“, hinterfragte er entnervt und sie nickte wie von Sinnen, sprang aus dem Bett, griff nach seinem Arm und wollte ihn mit sich ziehen.

„Schluss!“, fuhr er sie an und sie zuckte zurück, als hätte er sie gestoßen. „Ich habe bereits gesagt, dass die Alte bleibt, wo sie ist!“

Dorothy schüttelte verzweifelt den Kopf und trat direkt vor ihn. Beaufort legte den Kopf in den Nacken, um den Blickkontakt nicht zu verlieren. Da beugte sie sich ein wenig tiefer, sodass ihre Gesichter einander beinahe berührten, während sie eine Hand an seine Wange hob und sanft darauf legte. Beschwörend hielt sie seiner Musterung stand.

„Bättä!“, wiederholte sie und es hörte sich an, als würde sie flüstern.

Dann deutete sie auf sich, machte mit den Fingern vor seinen Augen ein Zeichen, als würde sie gehen und zeigte dann auf ihn. Sie zog ihre Hand zurück, griff nach der seinen und tat, als würde sie ihm einen Ring anstecken. Er verstand, was sie ihm sagen wollte und war sekundenlang verblüfft.

„Du denkst, es bräuchte deine Zustimmung zu unserer Hochzeit?“, hinterfragte er ungläubig und sie nickte mit einem Lächeln.

„Nein, du irrst dich. Du bist nicht in der Lage zu verhandeln.“

Ihre Gesichtszüge erstarrten und sie machte einen Schritt zurück. Noch bevor er ahnen konnte, was sie vor-hatte, sank sie vor ihm auf die Knie und beugte den Kopf.

„Bättä! Stä-bän.“

„Was stä-bän?“, wiederholte er ungeduldig und da sie nicht reagierte, beugte er sich vor, griff nach ihrem Kinn und hob es an. „Was soll das heißen? Stä-bän?“

Wieder griff sie sich an die Kehle.

„Ach so, sterben.“ Gereizt schüttelte er den Kopf. „Nein, die Alte wird nicht sterben. Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat? Sie ist nur ein wenig krank. Sie hat sich bald erholt!“

Doch Dorothy schüttelte störrisch den Kopf.

„Stä-bän“, blieb sie dabei und es klang merkwürdiger-weise endgültig.

Das Flehen ihrer Augen berührte etwas in ihm und er konnte sich des Mitleids nicht entziehen.

„Du wirst nicht davonlaufen, wenn ich sie holen lasse?“

Ein Hoffnungsschimmer blitzte in ihren Augen auf und sie nickte nachdrücklich. Lange musterte er sie sinnend. Schließlich hob er eine Hand und berührte mit den Finger-spitzen ihre sanft gerundete Wange. Da senkte sie die Augenlider und verweigerte ihm die Sicht darauf, was sie empfand – schloss ihn aus ihrer Welt aus. Deswegen tippte er sie vorsichtig am Kinn an und sie kehrte widerwillig mit ihrem Blick zu ihm zurück.

„Wirst du mir eine folgsame Ehefrau sein?“

Wieder nickte sie.

„Weißt du überhaupt, was das bedeutet?“

Verneinend schüttelte sie den Kopf.

„Das habe ich mir gedacht“, meinte er seufzend und entfernte seine Hand von ihr.

Er erhob sich, umfasste sie an den Schultern und zog sie auf die Beine. Nun musste sie ihren Kopf in den Nacken legen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

„Ich verlange, dass du normal mit mir sprichst und nie wieder mit deinen Händen fuchtelst, wie du es gerade getan hast.“

Seine Worte drangen schmerzhaft in ihr Herz. Mit seiner Forderung nahm er ihr jegliche Möglichkeit, sich ihm mitzuteilen. Konnte er das denn nicht verstehen? Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Dann nickte sie unglücklich.

„Auch erwarte ich, dass du es lernst, normal zu sprechen.“

Die Verzweiflung in ihr wuchs. Wie sollte sie das jemals bewerkstelligen? Wie sollte sie etwas erlernen, wofür ihr die Grundlagen fehlten?

Egal, sie würde ihm jedes Versprechen geben, wenn sie damit Susans Leben rettete!

„Ja“, krächzte sie und eine Gänsehaut überzog Beauforts Arme.

„Nicht so. Ich will diese Misslaute nicht hören. Wenn du es nicht anders kannst, dann flüstere gefälligst!“

Folgsam legte sie eine Hand auf ihren Kehlkopf und versuchte sich daran zu erinnern, wie es sich anfühlte, wenn sie flüsterte.

„Ja“, hauchte sie und er nickte zustimmend.

„Geht doch“, meinte er zufrieden. „Also, sind wir uns einig?“

„Ja.“

„Gut. Ich werde die Alte holen lassen.“

„Danke!“, formten ihre Lippen, doch nicht einmal ein Flüstern stahl sich aus ihrem Mund.

„Hast du Hunger?“

Dorothy nickte und Beaufort wandte sich ab, um an einem Klingelzug zu ziehen und kurze Zeit später bei einem Diener Essen aufs Zimmer zu bestellen.

Es war lange her, dass Dorothy das letzte Mal mit Messer und Gabel gegessen hatte und wenn sie ehrlich war, fand sie es bei weitem praktischer und zielführender die Finger zu benutzen. Deswegen ignorierte sie das Besteck, nahm eine kleine Menge Reis zwischen die Finger und tunkte diese in die Sauce. Ihre komplette Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, schnell zu essen, weshalb ihr entging, dass Beaufort vor Entsetzen die Gabel aus der Hand fiel, welche mit einem Klirren auf dem Teller zu liegen kam. Sekundenlang starrte er sie an, als würde er sie das erste Mal sehen, dann beugte er sich vor und legte eine Hand über ihren Unterarm. Schmatzend sah sie auf, ihre Augen funkelten vor Freude über diese Köstlichkeiten auf ihrem Teller. Im nächsten Moment konzentrierte sie sich jedoch wieder auf ihr Essen. Mit Schaudern konnte er beobachten, wie sie das komplette Fleischstück aufnahm und davon abbiss, nicht, ohne ein wenig daran zu zerren. Diese Geste erinnerte ihn an seine Jagdhunde, wenn sie sich über frische Schweineohren aus der Küche hermachten. Fest drückte er Dorothys Arm, was sie ihr Antlitz wieder anheben ließ. Dabei versuchte sie mit den Schneidezähnen einen Fettrand zu zertrennen. Es sah wirklich entsetzlich aus! Fürwahr fühlte es sich an, als säße er mit einer Wilden am Tisch. Genau genommen war sie das auch. Ihr lieblicher Anblick hatte ihn offensichtlich abgelenkt.

„Lege das Fleisch sofort auf den Teller und nimm das Besteck!“

Er sah sie dermaßen streng an, dass ihr vor Schreck das Essen aus den Fingern glitt und auf den Teller fiel. Natürlich spritzte die Sauce in alle Richtungen und er bemerkte einen Fleck in Höhe ihrer Brust. Na, wunderbar!

Mehrmals atmete er tief durch, bis er sich wieder in der Lage fühlte, ruhig zu sprechen. Gerade, als er ansetzen wollte mit seiner Rüge fortzufahren, griff sie nach dem Tischtuch und wischte die Hände daran ab. Ohne ihn weiter zu beachten, nahm sie Messer und Gabel in ihre Fäuste, was sehr ungehobelt wirkte und begann das Fleisch hektisch zu bearbeiten. Dabei rutschte das Essen bedrohlich von einer Seite auf die andere und schob sogar einige Reiskörner über den Tellerrand. Ein frustrierter Laut löste sich von ihren Lippen. Ungeduldig legte sie das Besteck ab und wollte gerade wieder mit den Händen nach dem Essen greifen, was er jedoch zu verhindern wusste, indem er ihren Teller in letzter Sekunde zu sich zog.

Überrascht, mit großen Augen, suchte sie erneut seinen Blick. Hungrig leckte sie sich über die Lippen. Grund-gütiger!

Irgendwann konnte sie seine finstere Miene nicht länger ertragen und deutete auf den Teller.

„Bättä!“, stieß sie hervor, was ihn erneut zusammenzucken ließ.

„Du sollst flüstern!“, erinnerte er sie mahnend.

Sogleich legte sie eine (schmutzige!) Hand an ihre Kehle und er musste sich mit aller Gewalt zurückhalten, um nicht aufzuspringen und sie vom Tisch zu scheuchen.

„Bättä“, wiederholte sie flüsternd.

„Iss ordentlich! Oder hat man es dir nicht beigebracht?“

Mehrmals blinzelte sie.

„Vereiung!“, murmelte sie angestrengt und er war kurz davor, sich die Ohren zuzuhalten.

Würde er diese Laute eines Kleinkindes für den Rest seines Lebens hören müssen! Das war keine sonderlich erfreuliche Zukunftsprognose, musste er sich eingestehen und seufzte unter dieser Bürde.

Murrend nahm sie das Besteck wieder in die Hände und machte eine auffordernde Geste. Da erhob er sich und trat neben sie. Mit sanfter Gewalt löste er das Messer aus ihrer Faust und zeigte ihr, wie sie es halten musste. Das gleiche machte er mit der Gabel. Mit zusammengekniffenen Augen musterte Dorothy diese Haltung und erinnerte sich daran, vor langer Zeit auf diese Weise gegessen zu haben. Eifrig begann sie auf dem Tischtuch zu üben und hinterließ dabei Saucespuren auf dem strahlendweißen Leinen. Eilig, damit sie nicht noch mehr Unheil anrichten konnte, kehrte er an seinen Platz zurück und schob ihr den Teller hin. Auch, wenn sie sich nun mit der rechten Haltung ihrem Essen widmete, war die Art, wie sie damit verfuhr, weit davon entfernt, manierlich zu sein. Deswegen senkte er den Blick und weigerte sich, noch einmal zu ihr hinüberzusehen. Wie er sich nun schweren Herzens eingestehen musste, war es bei weitem nicht damit getan, Dorothy auf das Gut seines Vaters zu bringen. Sie musste Jahre der Unterweisung in den rechten Umgangsformen der Etikette nachholen. Himmel, ihm blieb auch nichts erspart! Er würde ein Kind heiraten!

Plötzlich bemerkte er, dass es auf der anderen Seite des Tisches still geworden war und er hob entgegen seines Vorsatzes den Kopf, sah Dorothy an. Sie linste zu ihm, die Hände im Schoß gefaltet und mit dem Gesichtsausdruck eines unschuldigen Engels. Geduldig wartete sie darauf, dass er etwas zu ihr sagte.

„Ja?“, fragte er misstrauisch.

„Mäh!“, bat sie mit einem freundlichen Lächeln.

„Wie bitte?“

Mit einer Serviette tupfte er sich den Mund ab, während er sie eindringlich musterte.

„No mäh!“

Beaufort legte die Serviette neben seinen Teller und presste die Kiefer so fest aufeinander, dass seine Wangenmuskeln zuckten.

„Sprich ordentlich! Ich verstehe kein Wort!“

„Nooo määääähhhhh, bättääää!“, wiederholte sie ungeduldig, hob die Hände und sah ihn fragend an.

Widerwillig nickte er und sie deutete auf die Platte mit weiterem Essen und dann auf ihren Teller.

„Du willst mehr?“

„Ja, meaah!“

Sie hatte die Bewegungen seiner Lippen genau beobachtet und versuchte nun seine Worte korrekt nachzuahmen. Er beugte sich vor, griff nach dem Vorlegebesteck und gab ihr auf den Teller.

Als Zeichen des Dankes nickte sie, griff nach dem Besteck, wobei sie es wieder in ihre Fäuste nahm und zu essen begann. Resigniert wandte er den Blick ab. Er war noch nicht einmal eine Stunde mit ihr im gleichen Raum und hatte ihr bereits gestattet, zu gestikulieren, laut zu sprechen und in einer unbeschreiblich schändlichen Weise zu essen. Wie würde das weitergehen? Er setzte alle Hoffnung auf Dorothys alten Lehrer, der, dem Himmel sei Dank, die Pocken überlebt hatte. Dieser Mann wusste sicherlich, was zu tun war, um Dorothy zu zivilisieren!

Beaufort selbst war der Appetit mittlerweile vergangen und er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, starrte auf das Tischtuch und vermied es, zu der jungen Frau zu blicken.

Nach einer Weile beugte sie sich vor und schwenkte eine Hand vor seinem Gesicht hin und her, weshalb er aufsah.

„Nahspeie bättä!“

Er blinzelte.

„Du sollst flüstern!“, erinnerte er sie ärgerlich. „Und deutlich sprechen! Ich verstehe kein Wort!“

Wieder hob sie fragend die Hände und er nickte mit einem schweren Seufzen. Da spielte sie, als würde sie mit spitzen Fingern etwas aus einer Schachtel nehmen und dieses zu ihrem Mund führen. Sie legte es bildlich auf ihre Zunge, schloss genüsslich die Augen, während sie etwas kaute und dabei ihren Oberkörper wohlig hin und her bewegte. Es war eine überaus anschauliche Darbietung und er verfolgte jede ihrer Bewegungen mit überraschter Aufmerksamkeit. Verwirrt stellte er fest, dass ihn nicht abstieß, was er sah, ganz im Gegenteil. Als sie die Augen öffnete und in ihrer Demonstration innehielt, wusste er, was sie ihm mitteilen wollte. Die Art, wie sie es gemacht hatte, war tausendmal bezaubernder gewesen, als diese schrecklichen Laute, die sie zwischen ihren Lippen hervorpresste.

„Du willst eine Praline!“, stellte er fest und sie nickte mit einem strahlenden Lächeln, hob eine Hand und zeigte ihm drei Finger.

„Drei Pralinen?“

Kichernd streckte sie auch den vierten und fünften Finger aus.

„Vier, fünf Pralinen?“, zählte er und sie hob die andere Hand.

„Zehn Pralinen? Du bist ziemlich gierig!“

Lässig zuckte sie mit den Achseln, nickte aber gleichzeitig. Weil er ihr diesen Wunsch nicht abschlagen wollte, erhob er sich und läutete erneut nach dem Diener.

Nicht lange und die gewünschte Nachspeise stand vor ihr auf einem Teller. So, wie sie es vorhin gemacht hatte, griff sie nach dem ersten Konfekt und legte es auf ihre Zunge, schloss die Augen und kaute genüsslich. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden, so liebreizend wirkte sie auf ihn und er fragte sich, ob Taubheit tatsächlich mit geistiger Behinderung einherging. Er konnte doch sehen, dass sie nicht dumm war. Oder bildete er sich alles nur ein, weil er darauf hoffte, sie wäre „normal“?

Nach der fünften Praline fixierte sie ihn und hob den Teller fragend in seine Richtung, doch er schüttelte den Kopf.

„Nein, vielen Dank“, sagte er rau und räusperte sich.

Seine Gedanken hatten eine Richtung eingeschlagen, die ihm nicht behagte. Ihr Körper war der einer jungen Frau und nicht mehr der eines Kindes. Die anmutigen Bewegungen, mit denen sie sich ihrer Nachspeise widmete, schlugen ihn in ihren Bann. Deswegen erhob er sich mit einem Ruck und ging mit hinter dem Rücken verschränkten Armen im Zimmer auf und ab, wartete darauf, dass sie endlich zu Ende gegessen hatte, während seine Gedanken kreisten. Wie war es möglich, dass sich Dorothy derart klar mittels Gesten mitteilen konnte, ohne eine Sprache zu sprechen? Dass Sprache die Grundlage des Denkens, ja, sogar die Basis der Zivilisation darstellte, war für ihn bisher ebenso unumstößlich gewiss gewesen, wie die Schlussfolgerung, dass ein Mensch, der nicht sprach, unfähig war zu denken. Demzufolge war es unmöglich, dass ein Mädchen wie Dorothy, das weder hören, sprechen, also folglich auch nicht denken konnte, einen eigenen Willen besaß. Oder war der Wille eher mit dem Instinkt eines Tieres gleichzusetzen? Nein.

Mit Schwung machte er auf dem Absatz eine Kehrtwende und schritt die wenigen Meter zurück, die er gerade gegangen war.

Als einer der ersten Mitglieder der Englischen Goethe-Gesellschaft, welche vor ein paar Jahren gegründet worden war, wusste er viel mehr über die Grundlagen der Sprache, als die meisten Bewohner Großbritanniens. Seit er ein Knabe war, hatte er sich für die Strukturen, ja, die Grammatik von Sprachen interessiert und hatte seine Muttersprache bis in die kleinsten Unregelmäßigkeiten enttarnt und aufgelistet: ear, earn, wear, tear. Als wäre das nicht genug hatte er sich eingehend mit der deutschen Sprache befasst und beherrschte diese so gut, dass er sogar Goethe im Original lesen und verstehen konnte. Wir werden, hoff ich, uns vertragen; denn dir die Grillen zu verjagen, bin ich als edler Junker hier … War es als göttlicher Hohn zu verstehen, dass er eine Frau heiraten musste, die niemals davon würde eine Ahnung haben können? Die keinen blassen Schimmer von einem wissenschaftlichen, intellektuellen Diskurs hatte? Nun ja, er übertrieb. Mit welcher Frau konnte man über derlei Dinge schon sprechen? Es war bewiesen, dass eine Konversation, die über die Oberflächlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens hinausgingen, das schwache Geschlecht unnötig überforderte und belastete. Deswegen galt es tunlichst zu vermeiden, das weibliche Gemüt mit derlei Auseinandersetzungen zu erschüttern.

Wie auch immer, mit Dorothy war es sogar unmöglich sich über das neueste Kleid Königin Victorias auszutauschen. Wie sollte sie jemals an seiner Seite einen Empfang geben? Hatte darüber schon einmal jemand nachgedacht? Sein Vater und er waren so sehr damit beschäftigt gewesen, seinen Rang in der Gesellschaft zu verbessern, dass sie darüber hinaus vergessen hatten, über das tägliche Leben eines Barons nachzudenken. Nun, es würde so sein, wie er es sich bereits ausgemalt hatte: Sobald Dorothy ihm einen Sohn geboren hätte, würde er sie auf einen Landsitz verbannen, wo es keinen störte, was sie machte. Unwillkürlich flog sein Blick zu ihr. Wie er erkennen konnte, war sie noch immer mit ihrer Pralinen-Zeremonie beschäftigt und wiegte ihren Oberkörper. Ein Glück, dass sie, bis auf eine, schon alle gegessen hatte!

Ihm war gelungen, was er bezweckt hatte – sie war abgelenkt. Wenn er sie jeden Tag mit Schokolade fütterte, hätte sie die alte Frau sicherlich bald vergessen. Denn, ehrlich gesagt, hatte er nicht vor, sein Versprechen zu halten und nach ihr zu schicken. Eine verwahrloste Frau in seinem Haushalt war eindeutig mehr als genug. Bis Dorothy dies herausgefunden hätte, wäre er längst mit ihr verheiratet. Zweifellos würde sie es dann nicht mehr wagen, vor ihm zu fliehen.

Er hörte, dass sie den Stuhl zurückschob und sich langsam erhob, darum wandte er sich ihr zu. Fragend musterte sie ihn.

„Ich werde eine Dienerin schicken, damit sie dir aus dem Kleid hilft. Du bist müde und solltest schlafen.“

„Ja“, flüsterte sie. „Und Suan?“

„Wie bitte?“

„Suan!“

„Was soll das sein?“

„Suan!“

Sie sagte es so nachdrücklich, dass er resigniert seine Hände hob und die Finger bewegte. Plötzlich teilte ein Lächeln ihre Lippen und kleine Grübchen bildeten sich auf ihren Wangen, während sich der Ausdruck ihrer Augen veränderte und ganz weich wurde. Unwillkürlich stockte ihm der Atem, so schön war sie in diesem Moment. Dankbar machte sie einen Schritt in seine Richtung und dann begann sie mit ihren Händen und Gesten zu erklären, was ihr am Herzen lag. Er konnte nicht alles verstehen, doch meinte er zu begreifen, dass es um die alte Frau ging. Verflucht! Und er hatte gedacht …

„Es wird ein paar Tage dauern, bis sie hier ist. So schnell geht das nicht“, erklärte er mit schlechtem Gewissen.