Das Hospital der Hoffnung - Tania Juste - E-Book
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Das Hospital der Hoffnung E-Book

Tania Juste

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Beschreibung

Barcelona, 1892: Der Bau eines neuen Krankenhauses, des Hospital de Sant Pau, begeistert die Stadtbewohner. Maria, die Tochter einer Amme, träumt davon, Krankenschwester zu werden. Ein Wunsch, mit dem ihre reiche Freundin Aurora sich nicht begnügt. Die Tochter eines angesehenen Arztes schreibt sich als erste Frau zum Medizinstudium ein - gegen den erbitterten Widerstand ihres eigenen Vaters. Und auch der junge Bildhauer Lluís, der in einem Waisenhaus aufgewachsen ist, hat große Pläne. Doch er birgt ein dunkles Geheimnis, das die drei auf schicksalhafte Weise verbindet ...

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungMotto18921899 - Kurz vor Weihnachten1906 - Frühling1910 - Erste Herbsttage1916 - Frühling192119291933 - Sommeranfang19361938 - Ende OktoberDer Einmarsch von Francos TruppenDanksagung

Über das Buch

Barcelona, 1892: Der Bau eines neuen Krankenhauses, des Hospital de Sant Pau, begeistert die Stadtbewohner. Maria, die Tochter einer Amme, träumt davon, Krankenschwester zu werden. Ein Wunsch, mit dem ihre reiche Freundin Aurora sich nicht begnügt. Die Tochter eines angesehenen Arztes schreibt sich als erste Frau zum Medizinstudium ein – gegen den erbitterten Widerstand ihres eigenen Vaters. Und auch der junge Bildhauer Lluís, der in einem Waisenhaus aufgewachsen ist, hat große Pläne. Doch er birgt ein dunkles Geheimnis, das die drei auf schicksalhafte Weise verbindet …

Über die Autorin

Tània Juste wurde 1972 in Barcelona geboren und hat dort Geografie und Geschichte mit dem Schwerpunkt Kunstgeschichte studiert. Danach hat sie einige Jahre im Modebereich gearbeitet und ein eigenes Reisebüro eröffnet, bevor sie das Schreiben für sich entdeckt hat. Inzwischen ist Schreiben für sie »genauso lebensnotwendig wie Atmen, denn ohne zu schreiben, bin ich nicht ich selbst. Meine Geschichten gehören zu mir, und meine Figuren sind Teil meiner Familie«, wie Tània Juste selbst sagt. Sie hat mehrere Romane veröffentlicht und arbeitet außerdem als Übersetzerin.

TÀNIA JUSTE

DAS HOSPITALDERHOFFNUNG

Roman

Aus dem Katalanischenvon Constanze Gräsche

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

Deutsche Erstausgabe

  

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2014 by Tània Juste

Titel der katalanischen Originalausgabe: »L’hospital dels pobres«

Originalverlag: Columna, Barcelona

  

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Ann-Catherine Geuder, Lübeck

Umschlagmotive: © Richard Jenkins Photography; © shutterstock: Lukasz Szwaj | Cafe Racer | MAX SAYPLAY | edithpifpaf | Vasya Kobelev | AlexSmith | David M. Schrader

Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7325-8801-5

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

Für Josep,

den besten Reisebegleiter

im großen Abenteuer des Lebens

 

»Sollte das Krankenhaus verschwinden,die Seele Barcelonas wäre nicht mehr dieselbe.«

Dr. Josep Cornudella

1892

Die Nachtschwester kämpfte gegen die Müdigkeit an, die sie zunehmend erfasste. Gerade einmal zwei Stunden waren vergangen, seitdem sie sich auf den Stuhl gesetzt hatte, den sie vorsichtig dicht neben die Drehlade gestellt hatte, damit in ihrer ersten Nachtschicht ja kein Säugling unbeobachtet abgegeben würde.

Als die Tür des Findelhauses in der Carrer Ramelleres an diesem Donnerstag mit Einbruch der Dunkelheit geschlossen wurde, hatte ihr die Oberschwester eingeschärft: ja nicht einschlafen. Ein kurzes Nickerchen, und schon vernachlässigst du deine Aufsichtspflicht. Dabei hatte sie sie mit diesem Blick angesehen, mit dem sie sie bereits etliche Male in ihrem ersten Arbeitsjahr ermahnt hatte, doch diese Nacht war anders. Dieses Mal bedeutete der Blick: Hab Vertrauen in dich selbst, du bist bereit.

Deswegen wollte sie kein Risiko eingehen, auch wenn sie wusste, dass selbst die erfahrensten Schwestern ab und zu während ihres Dienstes einnickten. Von jetzt an war sie die jüngste Schwester an der Drehlade des Findelhauses.

Doch für jemanden mit unruhigem Charakter waren zwei Stunden ohne Bewegung sehr viel Zeit. Zunächst war sie ein wenig auf und ab gegangen, dann hatte sie sich eine Weile an die Wand gelehnt, und schließlich hatte sie einen Stuhl neben die Drehlade gestellt, um sich ein wenig auszuruhen und trotzdem jedes Geräusch von der Straße her wahrnehmen zu können.

Es musste so gegen drei Uhr morgens gewesen sein, als sie Schritte hörte. Die Person musste genau auf der anderen Seite der Mauer stehen geblieben sein, die das Innere des Findelhauses von der Carrer Ramelleres trennte. Jetzt herrschte absolute Stille. In der Ferne bellte ein Hund, sonst nichts. Vielleicht habe ich mir die Schritte nur eingebildet. Vielleicht habe ich ja geträumt. Aber dann hörte sie deutlich, wie Stoff raschelte. Jemand schluchzte. Und genau in diesem Augenblick der Schrei eines Säuglings. Ja, es gab keinen Zweifel. Die Schwester sah zur Drehlade, ob sie sich wohl bewegen würde. Noch machte sie keine Anstalten dazu. Die Schwester stand auf und spitzte die Ohren, um genau zu hören, was auf der anderen Seite der Mauer vor sich ging. Eine Frau weinte, und ein Säugling tat es ihr mit der Unruhe eines ausgehungerten Tieres gleich. Die Zeit verstrich, der Körper der Schwester war angespannt. Seit dem ersten Schrei war ihr Blick auf den in der Mauer eingelassenen Drehapparat gerichtet, eine Art Trommel, wo – so machte es den Anschein – jeden Augenblick ein Neugeborenes abgelegt würde. Die Drehlade würde sich bewegen, die Glocke läuten, und die Schwestern des Findelhauses wüssten, dass ein neues Findelkind abgelegt worden war. Ein Kind ohne Vater und ohne Mutter, das es galt in dieser Welt großzuziehen. Die Schwester würde die Mutter niemals zu Gesicht bekommen, da die Mauer sie voneinander trennte. Nur das kleine Wesen – ein weiteres uneheliches Kind – würde zum Vorschein kommen, sobald die Mutter die Trommel drehte.

Die Schwester wusste, dass dies tagtäglich geschah, ihre Kolleginnen hatten all die Säuglinge empfangen, die bereits den Stillsaal des Findelhauses füllten. Dies jedoch war ihr erstes Neugeborenes, das erste, das sie in Empfang nehmen und um das sie sich kümmern würde, bis zum nächsten Morgen, wenn sie der Oberschwester die Nachricht überbringen konnte. Schließlich drehte sich die Lade, langsam, zögerlich. Die Schwester sah das rötliche Gesicht und die kleinen Händchen mit den winzigen in die Höhe gereckten Fingern, wie sie aus dem Bündel hervorragten. Diese Kreatur war kaum ein paar Tage alt! Es kam erst gar nicht dazu, dass die Glocke läutete, denn die Schwester rief, ohne nachzudenken, damit man sie auf der anderen Mauerseite hörte: »Ich hab es schon! Gott hab Erbarmen mit dir.«

Zu hören waren ein ersticktes Schluchzen, das Rascheln von Stoff und schließlich sich entfernende Schritte.

Die Schwester nahm das Kind an sich und brachte es ins Haus. Im Vorbereitungssaal traf sie die diensthabende Amme an, welche ihr das Kind aus den Armen nahm. Mit einer gekonnten Bewegung befreite sie es aus dem Kleiderbündel, das für ein Findelkind eigentlich zu sauber war, und gab ihm Sirup. Die Regeln waren streng, und auch wenn das Neugeborene schrie, durfte die Amme ihm nicht die Brust geben, bevor es nicht vom Arzt untersucht worden war.

Mit dem ersten Tageslicht kam der Kaplan des Findelhauses. Als er den Neuankömmling sah, seufzte er und fragte die Schwester automatisch, ob er zusammen mit einer Nachricht oder irgendeiner Habe abgegeben worden war.

»Eine Holzschatulle mit einer Fotografie darin von einem Kind, das auf einem Pappmachépferd sitzt. Und ein Zettel, auf dem ›Lluís‹ steht«, antwortete die Schwester, welche sich keinen Zentimeter von dem Säugling entfernt hatte, obwohl dieser mittlerweile friedlich schlief.

Der Kaplan nickte still, bevor er das Neugeborene taufte: »Wir nennen dich Lluís, so wie es geschrieben steht«, begann er.

Auf der Suche nach zwei Namen, die dem Jungen als Nachnamen dienen sollten, ging er das Heiligenverzeichnis durch. Er entschied sich für Amadeu und Julià und ließ die Namen so im Register festhalten. Der Sekretär notierte Eingangsnummer, gewählte Vor- und Nachnamen, Geschlecht, Uhrzeit und Datum der Ankunft sowie eine Beschreibung der Kleidung, mit der man ihn im Findelhaus abgegeben hatte. Die Holzschatulle mit der Kinderfotografie wurde in einem anderen Register vermerkt.

Die Amme gab dem Säugling die Brust, nach der er gierte, dann öffnete er ganz langsam die Fäustchen. Die Brust bewegte sich auf und ab, auf und ab, während er hungrig an der Brustwarze der Amme sog. Die Schwester konnte nicht anders, als zumindest ein bisschen stolz darauf zu sein, dass das Kind gesund schien und vernünftig aß. Es war schließlich auch ihr Verdienst. Mit einer beiläufigen Bewegung schob sie ihm das Bleisiegel zurecht, das sie zuvor an seiner Leibbinde befestigt hatte, einen Anhänger mit dem Jahr und der Eingangsnummer, den er immer sichtbar bei sich tragen musste.

1899

Kurz vor Weihnachten

In den Straßen Barcelonas war die Dezemberkälte bereits seit einigen Tagen zu spüren, doch im Haus von Doktor Rovira war es mollig warm. Seine Ehefrau, stets ein wenig sensibel und verfroren, bestand darauf, alle Zimmer gut einzuheizen. Darius Rovira beklagte sich oft darüber, verärgert und verstimmt befahl er dann dem Dienstmädchen, die Fenster ein wenig zu öffnen und frische Luft hereinzulassen. Diesen Dezember jedoch schwieg der Arzt und riss sich zusammen, denn die Familie hatte etwas zu feiern: die Geburt seiner Tochter.

Darius war wie immer früh aufgestanden und hatte in seiner Privatpraxis die Krankenakten überprüft. Jetzt beendete er gerade das Mittagessen im Esszimmer, zusammen mit seiner Frau Eulàlia. Seit gerade einmal zwei Tagen war sie wieder dazu übergegangen, gemeinsam mit ihrem Ehemann am Tisch zu essen, zuvor war sie, wie angeraten, einige Tage im Bett geblieben. Darius schwieg, da er sich mittags nicht gern unterhielt, außerdem las er Zeitung. Ab und zu legte er sie zur Seite und nippte am dampfenden Kaffee, den ihm das Hausmädchen immer nach dem Dessert brachte, wenn er am Nachmittag Dienst im Krankenhaus hatte. Darius Rovira nutzte den Augenblick, um seiner Frau einen kurzen Blick zuzuwerfen, sie lächelte. »Geht es dir gut?«, fragte er eher als Arzt denn als Ehemann. Dann nahm er die Zeitung wieder zur Hand und führte seine Lektüre fort.

Eulàlia betrachtete die weißen Servietten, das angerichtete Mahl, die Obstschale, die noch auf dem Tisch stand. Sie wurde ungeduldig, wollte zu ihrer neugeborenen Tochter zurück, die noch bei der Amme war, und diese rosafarbenen Wangen betrachten – wie hübsch sie war! Stattdessen aber nahm sie die Tasse mit dem Kräutertee in die Hand und trank in kleinen Schlucken daraus. Sie betrachtete den Teil des Kopfes ihres Mannes, der über der Zeitung hervorlugte, und ab und zu schaute sie zum großen Fenster des Erkers, der einen Ausblick auf die Kreuzung zwischen der Rambla de Catalunya und der Carrer de València gewährte. Sie zählte schon die Tage, bis sie wieder draußen spazieren gehen durfte.

Als die Uhr im Esszimmer halb drei schlug, faltete Rovira die Zeitung zusammen und legte sie auf den Esstisch. Er stand auf, strich sich die Falten aus dem Anzug und richtete seinen Hemdkragen. Er ging zu Eulàlia, beugte sich leicht zu ihr herab und gab ihr einen fast nicht wahrnehmbaren Kuss auf die Stirn. Eulàlia schloss die Augen und seufzte. Ungeduldig sagte Darius zu ihr: »Sag Antonio Bescheid, er soll die Kutsche fertigmachen.«

Während Eulàlia die Glocke läutete, um dem Kutscher die Anweisungen zu geben, ging Rovira in sein neues Schlafzimmer, das direkt neben dem noch bis vor Kurzem gemeinsam genutzten Schlafzimmer lag, welches er jedoch nach der Geburt seiner Tochter geräumt hatte. Er öffnete den Kleiderschrank, um sich im Ganzkörperspiegel zu betrachten. Ein letzter Blick auf sein Äußeres, bevor er zur Arbeit aufbrach, ins Hospital de la Santa Creu, wo er seit einigen Jahren ordentlicher Arzt war, zuständig für einen der Krankensäle für bessergestellte Patienten. Für solche, die ihren Krankenhausaufenthalt bezahlen konnten und dementsprechend auch besser behandelt wurden. Denn die meisten Betten im Krankenhaus waren von Armen, Obdachlosen, Prostituierten und Elenden jeder Art belegt, allesamt mit einer traurigen und unglückseligen Geschichte im Gepäck. Männer, Frauen, Kinder, die zumindest während ihres Krankenhausaufenthalts eine warme Mahlzeit am Tag zu sich nehmen konnten. Manchmal bedurfte es kaum mehr, als sie vom angesammelten Schmutz sowie von Läusen und Krätze zu befreien, um sie dann in deutlich besserem Zustand zu entlassen. Sie kehrten zurück in die schlecht belüfteten Fabriken, in ihre dreckigen Behausungen, in ihr Leben, das eigentlich kein Leben, sondern nur ein Überleben war. Es dauerte nicht lange, und sie waren wieder im Krankenhaus.

Rovira war darauf bedacht, auf sein Äußeres zu achten und immer makellos zu erscheinen, auch wenn er sich jeden Nachmittag dem Schmutz der Leute widmete, die im Krankenhaus keuchend und eingeschüchtert auf Krankenschwestern und Ärzte wie ihn warteten. Denn schließlich war sein Aussehen seine Visitenkarte, in den besten, aber auch in den ärmsten Gesellschaftskreisen der Stadt. Ein paar Augenblicke gab er sich der Betrachtung seines Spiegelbildes hin: ein hochgewachsener Mann, kantige Gesichtszüge, welche ihn durchaus vornehm wirken ließen, der gut gestutzte Bart, der weder zu breite noch zu schmale Rücken, das zurückgekämmte glänzende schwarze Haar, welches ihm Eleganz und Attraktivität verlieh. Es war um keinen anderen Arzt so gut bestellt wie um Darius Rovira, das war in ganz Barcelona bekannt, und auch er selbst war sich dessen bewusst. Er richtete seinen Krawattenknoten, als würde er eine der reichsten Damen der Stadt empfangen, die ihn in seiner Privatpraxis aufsuchten, und trat auf den Flur hinaus. Er ging die wenigen Schritte zum Spiel- und Studierzimmer. Dort müsste sein Sohn Llorenç sein, der im Begriff war, seinen Nachmittagsunterricht mit dem Hauslehrer Ripoll zu beginnen. Im kommenden Jahr sollte er dann auf die Jesuitenschule in Sarrià gehen, so wie alle Söhne aus gutem Hause in Barcelona. Darius Rovira wollte gut darauf Acht geben, dass sein Sohn sich anstrengte und alles gab, um eines Tages ein genauso bekannter und angesehener Arzt wie er selbst zu werden.

Er öffnete die Tür ein Stückchen, gerade genug, um zu sehen, was dahinter geschah. Der kleine Llorenç nahm ein Buch mit Illustrationen aus den Händen des Lehrers entgegen. Sie fingen gerade mit dem Lesen an. Und auch wenn Darius gern geblieben wäre, um die Fortschritte seines Sohnes mitzuerleben, so musste er doch aufbrechen. Schließlich wollte er nicht zu spät kommen.

»Ich muss los«, sagte er statt eines Grußes. Den Hauslehrer hatte er bereits am Morgen gesehen, Llorenç allerdings noch nicht. Den Jungen schickten sie zum Essen in die Küche, auch sonst durfte er keinen Lärm machen, nicht einmal in seinem Zimmer, um seine neugeborene Schwester nicht zu wecken. Als Llorenç seinen Vater hörte, blickte er von den Illustrationen auf und sah ihn an, ohne sich vom Stuhl zu erheben. Erst als der Lehrer eine leichte Geste machte, stand Llorenç auf. Er ging auf seinen Vater zu und küsste ihm die Hand. Darius sah zunächst seinen Sohn und dann Ripoll an, dem er zunickte, bevor er ging.

Auf dem Weg in die Diele kam er an dem Zimmer vorbei, in dem die Amme mit der kleinen Aurora saß. Er dachte daran, innezuhalten, um sich noch einmal dieses bildhübsche Wesen anzuschauen, das er zu zeugen vermocht hatte. Doch dann änderte er seine Meinung; er hasste es, zu spät zu kommen. Eulàlia stand in der Tür, seinen Mantel in der einen und seinen Hut in der anderen Hand. Nur die Herren Ärzte und eine bestimmte Art Mann trugen in Barcelona solch einen Hut. Zuerst streifte er sich den Mantel über, dann nahm er den Hut entgegen und setzte ihn sich mit einer gekonnten Bewegung auf. Er knöpfte nur die beiden obersten Knöpfe seines Mantels zu, und nachdem er seinen Gehstock mit goldenem Knauf gegriffen hatte, verabschiedete er sich mit einer kurzen, flüchtigen Geste von seiner Frau. Dann ging er.

Nur ein paar Treppenstufen trennten die Wohnung der Roviras in der ersten Etage von der Straße. Dort wartete bereits Antonio. Er saß zum Aufbruch bereit auf dem Kutschbock, das Zaumzeug straff im Maul des schwarzen Tieres. Das Pferd, eine Rassestute, hatte Darius jüngst anschaffen lassen, ein weiteres unumstößliches Zeichen seines guten Geschmacks.

Die Kutsche setzte sich die Straße hinunter in Bewegung, und Darius Rovira beobachtete das Getümmel der Menschen um ihn herum. Inmitten der Rambla de Catalunya hatten die Bäuerinnen mit ihren dunklen Kopftüchern die Hälfte des Gehsteigs mit mannigfaltigen Exemplaren von Hähnen, Hennen und Küken bevölkert, alle hübsch aufgereiht. Die Tiere gluckten auf Stroh, die ersten Kunden des Nachmittags suchten aufmerksam und kritisch nach dem einen Exemplar, das ein leckeres Weihnachtsmahl abgeben würde. »In ein paar Tagen ist der ganze Spuk vorbei«, sagte Rovira gereizt zu sich selbst. Die Weihnachtszeit langweilte ihn zutiefst. Das ganze Haus füllte sich dann immer mit Eulàlias Familie, Tanten und Nichten, fast nur Frauen, die sein Reich mit ihrem belanglosen Weibergeschwätz einnahmen. Der einzige für den Herrn des Hauses angenehme Abend war der des 26. Dezembers, des Stephanstages, denn dann kam Doktor Robert zu Besuch. Darius’ Vorbild, dem er so gut wie alles zu verdanken hatte, erschien an diesem Tag immer zusammen mit seinen Töchtern, um seinen Pflichten als Eulàlias Patenonkel nachzukommen – im Vergleich zu Darius besaß er sehr viel mehr Geduld mit der Familie, die sich um das Abendessen scharte.

Auf dem Weg hinab zum Krankenhaus wurde Rovira Zeuge eines ganz normalen winterlichen Mittwochnachmittags: Hausmädchen mit weißen Schürzen, die Körbe vor sich her trugen und von hier nach da eilten, Kindermädchen mit einem Kind auf dem Arm oder im Kinderwagen, jede Menge Männer mit grauen oder braunen Kitteln, allerlei Straßenverkäufer und inmitten von all dem Getümmel ein paar Herren, die mit ihrem Gehstockgeklapper auf dem Pflasterstein und festem Schritt irgendeinem wichtigen Ziel entgegeneilten. Kinder rannten von einer Straßenseite auf die andere und liefen dabei Gefahr, von einer Kutsche überfahren zu werden, oder sie jagten so nah an den Kutschrädern vorbei, dass Darius hörte, wie Antonio sie lautstark verfluchte. Kurz hinter der Plaça de Catalunya befanden sich die Floristen, die vor ihren vor Grün und anderen Farben nur so strotzenden Ständen saßen und auf Nachmittagskundschaft warteten, die nicht lange auf sich warten ließ. Auf der rechten Seite, ein wenig oberhalb der Carrer de l’Hospital, war das alltägliche Gewusel des Boqueria-Marktes wahrzunehmen, auf dem die Händler geschlachtete Tiere am Schwanz als Aushängeschild ihres Geschäfts aufhängten, um so die Aufmerksamkeit der Kundschaft auf sich zu ziehen. In dem Augenblick, in dem Antonio dem Pferd die Peitsche gab, damit es in die Carrer de l’Hospital einbog, sah Darius in dem Kutschfenster deutlich das Geschehen weiter unten auf der Rambla: Zahlreiche Matrosen kamen vom Hafen her die Rambla hinauf, dreckige und bedauernswerte Gestalten, die in die engen Gassen rechts und links der Rambla drängten. Beim Anblick der Heimkehrer aus dem Kuba-Krieg machte Darius eine abwertende Geste. Wie zum Teufel sollen wir die auch noch alle versorgen, wenn die Betten des Santa Creu jetzt schon überquellen? Das alte Gebäude in der Carrer de l’Hospital, in dem seit Jahrhunderten die Armen der Stadt versorgt wurden, konnte so viel Misere nicht standhalten, wenn nicht bald etwas getan würde. Entweder musste man anbauen oder die Kranken in ein angemessenes Gebäude verlegen.

Im Innenhof des Santa Creu unterhielten sich Medizinstudenten, während sie auf die Ankunft des Arztes warteten. Eine etwas kühnere Gruppe Studenten hatte ein paar Schneiderinnen angesprochen, die auf dem Weg zu ihrer Arbeit waren und jetzt unverhohlen über die Witze der Studenten lachten. Sie unterhielten sich, als ob es ihnen nichts ausmachen würde, zu spät zur Arbeit zu kommen. Die jungen Männer zeigten sich selbstbewusst und taten so, als wären sie bereits ausgebildete Ärzte. Die Damen hingegen flüsterten sich gegenseitig Kommentare zu und brachen dann in Gelächter aus; mit diesem Spielchen machten sie den jungen Männern Hoffnungen. Der Reigen wurde jedoch jäh unterbrochen, als der Hausmeister die Glocke zum Zeichen der Ankunft des Arztes läutete. »Doktor Rovira!«, rief er aus voller Lunge.

Und plötzlich waren die Schneiderinnen wie unsichtbar. Die Studenten im Innenhof des Santa Creu ließen sie links liegen und versammelten sich am Fuße der Steintreppe, die zum Westflügel hinaufführte. Dort würde Doktor Rovira seinen Patientinnen in dem großen Saal der heiligen Eulàlia einen Besuch abstatten, während an die dreißig Studenten versuchten, den besten Platz zu erwischen, um jeder Bewegung und jeder Erläuterung ihres Lehrers folgen zu können. Darius Rovira stieg die Stufen gemächlich hinauf. Er verlangsamte seinen Schritt absichtlich, denn an solch einem Nachmittag war dies der schönste Moment für ihn. Er spürte die Blicke der Studenten auf seinem Rücken und konnte sich den Glanz der tiefen Bewunderung und des Respekts in ihren Augen ausmalen. Die Tatsache, ein ordentlicher Arzt am Santa Creu zu sein, war für jeden seines Berufsstandes Grund zum Stolz. Es gab keinen Arzt in der Stadt, der dies nicht mit der entsprechenden Plakette an seiner Privatpraxis kundtat, schließlich war dieses Aushängeschild eine Ehrerweisung.

Auch wenn bereits etliche Jahre ins Land gegangen waren, so erinnerte sich Darius Rovira an diesen Krankenhausinnenhof noch immer als den Ort, an dem er beschlossen hatte, Arzt zu werden. Als er damals frisch vom Dorf gekommen war, hatte er etliche Nachmittage in dem Innenhof des Santa Creu verbracht, ganz in der Nähe der majestätischen gewundenen Säule mit dem heiligen Kreuz, das dem Krankenhaus seinen Namen gab, um der Ankunft der damaligen Medizin-Eminenzen beizuwohnen. Das war zu Zeiten, als er in Barcelona aufs Gymnasium ging und niemanden in der Stadt kannte, bis auf Mateu Borrell, einen Unglücklichen aus demselben Dorf wie er. Damals hatte Darius gerade erst seine Eltern verloren, sie waren von der Cholera hinweggerafft worden, die ganze Städte und Dörfer ausgelöscht hatte. Mit dem wenigen Erbe und dem großen Willen, jemand zu werden, hatte es ihn nach Barcelona verschlagen. Die bescheidenen Umstände, unter denen er damals gelebt hatte, waren Teil einer Vergangenheit, die er komplett aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte. So wie eben auch Mateu Borrell, einen Trunkenbold, der nur ein schlechter Einfluss gewesen wäre. Er hatte also gut daran getan, sich von ihm abzuwenden, so wie von allem, was er bis dahin gekannt hatte.

Der junge Darius war im Gegensatz zu diesem Mitschüler jemand, der ganz sicher etwas erreichen wollte. Mit dem Erbe seiner Eltern und einem Aushilfsjob als Wächter konnte er das Medizinstudium bezahlen. In diesen ersten Jahren hatte er oft auf einer der Bänke im Krankenhausinnenhof gesessen, den alle, die hier arbeiteten, durchqueren mussten, und sich seine Zukunft ausgemalt. Immer wenn ein Arzt durchs Tor schritt, liefen alle herbei, folgten ihm und zollten ihm eine Ehrfurcht, die Darius beeindruckte. Natürlich wollte er es in dieser Stadt zu jemandem von Rang schaffen, er wollte Eingang in diesen abgeschotteten Gesellschaftskreis finden, zu einem dieser überlegenen Männer werden. Und dazu musste er Arzt werden.

Die Studenten stiegen die Treppen zum Westflügel in respektvoller Stille hinauf, die nur durch das Gemurmel eines besonders kühnen Studenten gestört wurde. Oben angekommen, trat das Gefolge an die Krankenbetten im großen Saal der heiligen Eulàlia. Sie schritten durch den Hauptgang, welcher die beiden Bettenreihen voneinander trennte. Sie waren unter den gewaltigen Steinbogen aufgestellt, die das Dach dieses Ortes des Schmerzes und der Krankheit stützten. Viel zu viele Betten, dachte Darius bei sich, als er auf dem Weg zu seinen Patientinnen war. Das alte Gebäude konnte gar nicht so viel Elend und Krankheit aufnehmen wie eine Stadt barg, die im vergangenen Jahrhundert maßlos gewachsen war. Jeder wusste, dass eine Lösung hermusste, auch wenn das Geld geradeso für den normalen Krankenhausbetrieb reichte.

Eine Krankenschwester wartete am Fuße eines Krankenbettes, zusammen mit einem Assistenzarzt, der das Studium mit Bravour abgeschlossen hatte und nun unter Rovira arbeitete. Die Krankenschwester hielt eine Handleuchte, deren Licht die Patientin ein wenig erhellte. Darius kam hinzu und begrüßte den Assistenzarzt mit einer einfachen Kopfbewegung.

»Erläutern Sie.«

Daraufhin stellte der Assistenzarzt ihm den Fall vor. Die Patientin in ihrem Bett lauschte verängstigt.

»Weiblich, sechsundvierzig Jahre alt, am frühen Morgen eingeliefert mit erkennbaren Atem- und Bewegungsschwierigkeiten. Bei der ersten ambulanten Untersuchung wurde eine Schwellung der Beine und des Abdomens festgestellt. Mögliche Diagnose« – hier schlug der Assistenzarzt einen bedachtsamen Ton an – »Mitralklappeninsuffizienz.«

Der Assistenzarzt führte seine Ausführungen fort, während die Blicke der Studenten von ihm zum Lehrer und vom Lehrer zur Kranken glitten. Derweil hatte Darius Rovira seine Hand auf das Kopfstück des Bettes gelegt und hörte dem Assistenzarzt ruhig zu. Dabei begutachtete er den Allgemeinzustand der Patientin. Sein Blick war durchdringend, analytisch, sorgfältig und kalt, er entbehrte jeder Art von Zuneigung. Dann begann er mit der Untersuchung, bei der ihm die Schwester half. Mit der Handleuchte erhellte sie die Stellen, die der Arzt betrachtete und betastete. Mit den Händen ertastete er schnell die Leberschwellung, mit einer kurzen Trommelbewegung bestätigte er sie. Mit dem Stethoskop machte er die Umstehenden auf die schnellen unregelmäßigen Herzgeräusche der Patientin aufmerksam, an denen sie zweifellos litt.

»Mitralklappeninsuffizienz«, bestätigte Rovira vor den anwesenden Studenten die Diagnose des Assistenzarztes, der seine Freude über die Richtigkeit seiner Einschätzung nicht verbergen konnte. Er wusste, dass man vor dem Mentor nur mit Bestleistungen bestehen konnte.

Rovira gab die notwendigen Anweisungen zur Behandlung der Kranken, dem Apotheker trug er eine Roter-Fingerhut-Mischung zur Senkung der Herzfrequenz auf, außerdem ordnete er einen Aderlass von zwölf Unzen an, der ausreichend Blut aus dem Körper der Kranken abführen sollte, das Schröpfen der Beine und des Abdomens sowie eine Blutegelanwendung, was eine recht neue Methode war, mit der dem Körper Flüssigkeit entzogen wurde.

Anschließend gingen sie zum Nachbarbett, ein klarer Fall von Bronchitis. Symptome waren hohes Fieber, Husten mit Schleimauswurf, Atemnot und eine ganzen Reihe von Mangelerscheinungen, die auf den Lebens- und Arbeitsort der Kranken schließen ließen. Sobald der Arzt zum nächsten Bett ging, folgte ihm die Schwester mit ihrer Handleuchte. Und wenn eine der Patientinnen zu nervös wurde, als dass der Arzt seine Arbeit machen konnte, ermahnte sie diese. Rovira betrachtete die jeweilige Patientin, tastete präzise und gekonnt ihren Körper ab. Sein Schweigen bedeutete, dass er nachdachte, abwägte, bevor er seine Diagnose stellte. Auch wenn er sich nicht mit Empathie rühmte, war er dennoch ein guter Arzt. Sein Äußeres imponierte, sprach für Hygiene, Sauberkeit, Oberschicht und guten Geschmack, und das nahmen auch diese Kranken wahr, die nichts mit seinen Privatpatientinnen gemein hatten. Auch seine Behandlung war ganz anders. Während er seine erlauchten Damen mit viel Umsicht abtastete und abhorchte, tat er dies bei jenen, die in den Betten des Santa Creu lagen, ohne sie vorher darüber aufzuklären. Manchmal stellte er ihnen Fragen; wenn sie bei der Antwort jedoch zu sehr ausholten, unterbrach er sie abrupt, weil er es für irrelevant hielt. »Die Zeit des Doktors ist rar und kostbar«, flüsterte die Krankenschwester der Kranken dann ins Ohr, »halten Sie sich kurz und antworten Sie nur auf seine Frage.« Wenn für einen Chirurgen das Aushängeschild das Geschick seiner Hände war, so galt es für einen Internisten, einen scharfen Blick zu haben, mit dem er schon im ersten Augenblick Dinge wahrnahm, die andere nicht sahen.

Unter den Studenten galt Roviras Visite als schnell und effizient. Danach versammelten sich alle wieder im Krankenhausinnenhof, wo sie sich über ihre Eindrücke austauschten. An der Universität lernten sie die notwendige Theorie, doch es gab nichts Besseres für einen angehenden Arzt als die Lehrstunden im Krankenhaus. Nirgendwo sonst waren sie so nah dran an dem, was sie einige Jahre später einmal selbst machen würden. Die Erläuterungen von erfahrenen Ärzten vor Ort schärften ihre Sinne. Wieder zurück an der barocken Kreuzsäule – dieses Mal ohne die Ablenkung durch die Schneiderinnen –, sprachen die Studenten über Roviras Eleganz. Irgendjemand war immer von den glänzenden Schuhen, vom perfekten Krawattenknoten oder von seiner Ausstrahlung, die ihn von anderen Ärzten unterschied, beeindruckt. Andere wiederum kümmerten sich nicht um diese Tatsache, das Aussehen war ihrer Meinung nach nicht ausschlaggebend dafür, ein guter praktischer Arzt zu sein. Letztlich endete diese Diskussion immer in Äußerungen zum Ruf, der Rovira vorausging, schließlich war er seinerzeit einer der Favoriten unter den Studenten von Bartomeu Robert gewesen. Niemandem entging, dass er mit dessen Patentochter verheiratet war, was ihm bei seinem raschen Aufstieg gewiss geholfen hatte. Doch nicht alle waren dieser Meinung.

»Er ist einfach ein guter praktischer Arzt«, argumentierte einer.

Daraufhin sagte ein anderer: »Er ist aber viel zu unterkühlt und viel zu distanziert im Umgang mit den Patientinnen.«

Viele gaben ihm recht, da es sich um einen nicht zu leugnenden Charakterzug Roviras handelte. Die Frage war, ob das wirklich eine Rolle spielte, wenn es darum ging, ein guter Arzt zu sein.

»Ich ziehe die Menschlichkeit der großen Ärzte der Geschichte vor, wie zum Beispiel die des Doktor Robert«, urteilte ein junger Mann mit strahlenden Augen, der normalerweise nicht viel sagte.

»Jeder weiß doch, dass Doktor Robert noch immer jene Arme in seiner Privatpraxis behandelt, die damals an der Cholera erkrankt sind. Und noch heute verlangt er genauso wenig für die Behandlung wie damals, fast nichts.«

»Das kann ich mir bei Doktor Rovira kaum vorstellen«, warf jemand mit kritischem Geist ein.

Daraufhin brachen sie in Lachen aus. Es war gemeinhin bekannt, dass Rovira in seiner Privatpraxis nur die bessergestellten Damen der Stadt empfing. Man tuschelte, Darius Rovira verdiene sogar so viel Geld, dass sein Vermögen das seiner Frau überstieg, auch wenn das nur Gerede war, schließlich war seine Frau eine der reichsten Frauen von ganz Barcelona.

Seit ein paar Tagen schlief Dolors schlecht, was sich mehr als nur einmal auf ihre Arbeit ausgewirkt hatte. Anfang der Woche hatte sie sich mit kochender Brühe verbrannt, und am Dienstag wäre sie beinahe eingeschlafen, während sie das Hähnchen für das Abendessen briet. Den Mittwochmorgen verbrachte sie mit der Oberköchin. Gemeinsam erstellten sie eine ausführliche Liste über die fehlenden Vorräte. Das Öl ging zur Neige, zumal es nur unregelmäßig geliefert wurde, und all die anderen Dinge, die sie für die kommende Woche beim Fleischer bestellen musste. Aber jetzt, wo sie alles vermerkt hatten und auch das Mittagessen abgeräumt war, schien es ihr, als würde sie bis zum nächsten Morgen durchschlafen, sollte sie die Beine hochlegen.

Es ging ihr nicht besonders gut. Und das lag weder an einer Erkältung noch an einer Krankheit, mit der sie ins Krankenhaus gemusst hätte, sondern vielmehr daran, dass sie so früh gealtert war. Schließlich hatte sie ihre kleine Familie immer selbst versorgen müssen. Vielleicht lag es aber auch an der Sache mit Lluís. Wenn sie das nur mit ihrem geliebten Tomás besprechen könnte! Ach, wie sie ihn vermisste! In den vergangenen Jahren hatte sie so sehr um ihn geweint. Davon wusste natürlich niemand, es konnte ja auch niemand etwas daran ändern. Aber wenn die Kinder schliefen, ließ sich Dolors ein wenig gehen, nur ein bisschen, denn neben ihr schlief ihre Kleine, die ihrem Gesicht nach von schönen Dingen träumte. Dolors wollte sie auf keinen Fall wecken. Sie versuchte im Stillen zu weinen, damit ihre Tochter sie nicht so sehen musste. Maria war in letzter Zeit sehr gewachsen. Nachts betrachtete ihre Mutter sie und erkannte dabei das Gesicht ihres geliebten Mannes wieder. Sechs Jahre, fast schon sieben, war es jetzt her, dass sie hochschwanger Witwe wurde. Wenn Tomás doch bloß seine Tochter hätte kennenlernen können! Maria hatte das lockige Haar ihres Vaters geerbt, nicht zu bändigen und kaum zu kämmen. Und dieser traurige Ausdruck in ihren Augen, wie der eines Hundes, ließ sie nicht gerade als Schönheit im Viertel gelten, sprach aber doch für ihre Güte. Und dann war da noch Lluís, Marias Milchbruder, der Dritte im Bunde ihrer kleinen Familie. Dolors hatte das arme Waisenkind bei sich aufgenommen, als sie Milch im Überschuss hatte; sie konnte mindestens zwei, wenn nicht gar drei Säuglinge damit versorgen. Er war in das Leben der frischen Witwe und Mutter einer neugeborenen Tochter getreten, fast so als wäre er ihr eigener Sohn. Dolors hatte ihm genauso lange die Brust gegeben wie ihrer Tochter, niemand konnte ihr vorwerfen, dem einen Kind mehr als dem anderen gegeben zu haben. Sie wusste von etlichen Ammen, die ins Findelhaus kamen, um einen Säugling nur des Geldes wegen zu stillen. Waren sie erst einmal zu Hause mit dem Kind, überließen sie es Gottes Barmherzigkeit, und wenn sie auf dem Land lebten, gaben sie ihm Milch vom nächstbesten Tier, um selbst einer anderen Arbeit nachzugehen. Es gab so viele Kinder, die noch während ihres ersten Lebensjahres starben … So etwas hätte sie niemals zugelassen. Nachdem sie den Säugling in der Carrer Ramelleres in Empfang genommen hatte, hatte sie ihn zu sich nach Hause gebracht, wo er in seinen ersten Lebensjahren prächtig wuchs und gedieh. Er war kräftiger als Maria, die mager war und damit deutlich anfälliger für Krankheiten. Jedoch wusste Dolors, dass der kräftige Kerl sich um seine Milchschwester kümmern würde, wäre sie eines Tages nicht mehr da, weil er sie mehr als alles andere auf dieser Welt liebte. Deswegen war sich Dolors ihrer Liebe für diesen Jungen sicher.

Seit ein paar Tagen schlief Dolors schlecht, und ihre Arbeit als Hilfsköchin im Hospital de la Santa Creu fiel ihr schwer, weil sie nicht bei der Sache und wirklich besorgt war. Wie auch nicht? Schließlich würde Lluís bald sieben Jahre alt werden. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als eine Entscheidung zu treffen. Den Jungen, der wie ein Sohn für sie war, musste sie schon bald ins Findelhaus zurückgeben, oder gleich zur Wohlfahrt. Es gab zwar die Möglichkeit, ihn zu adoptieren und ihn so für immer bei sich aufzunehmen. Ja, es gab diese Möglichkeit, aber Dolors konnte sich das nicht erlauben. Als Amme war sie vom Findelhaus zunächst fürs Stillen und später dann fürs Aufziehen bezahlt worden. Allerdings wurden diese Zahlungen mit dem siebten Geburtstag des Kindes eingestellt. Sie hatte schon mit den Zuständigen im Findelhaus gesprochen, um zu fragen, ob sie ihn weiterhin bei sich aufziehen und dafür bezahlt werden könne. Man hatte ihr zu verstehen gegeben, dass das nicht möglich sei. Wenn sie ihn über das siebte Lebensjahr hinaus bei sich behalten wolle, dann müsse sie alleine dafür aufkommen. »Du kannst ihn zur Wohlfahrt bringen«, hatten sie ihr gesagt, »wenn deine finanzielle Lage das nicht zulässt.« Und genau am Geld haperte es, denn das Gehalt vom Santa Creu reichte nicht für eine dreiköpfige Familie. In schlaflosen Nächten suchte sie nach einer Lösung, damit Lluís bei ihr bleiben konnte. Vielleicht würde sie eine Arbeit für ihn finden, trotz seines jungen Alters, dann könnten sie die Familie gemeinsam ernähren. Sie hatte sogar schon im Viertel herumgefragt, an den Ständen des Boqueria-Marktes und selbst bei den Schwestern im Santa Creu. Vielleicht brauchte ja jemand Hilfe … der Junge sei zwar noch sehr jung, aber sehr aufgeweckt … er würde schnell lernen, egal, was es sei, da war sie sich sicher. Wenn sie eine Arbeit für Lluís finden würde, mit der er ein bisschen Geld beisteuern könnte, würden sie vielleicht die zwanzig Peseten Miete zahlen können, ohne auf das zusätzliche Geld vom Findelhaus angewiesen zu sein. Maria könnte zur Schule gehen, zu dritt würden sie sich schon durchschlagen. Aber es hatte sich einfach nichts ergeben. Spätestens an seinem Geburtstag musste Dolors eine Entscheidung treffen. In den vergangenen Nächten sagte sie manchmal zu sich selbst, dass es nicht so schlimm sein könne, ihn zur Wohlfahrt zu geben, schließlich erhielten die Kinder dort eine gewisse Bildung, sie lernten lesen, schreiben und rechnen … Und das würde ihm für seine Zukunft sicherlich nützen. Was konnte sie ihm schon bieten? Doch dann sah sie sich den Jungen an, wie er selig neben ihr schlief. Er würde Maria fehlen. Ach, meine Kleine, das wird dir gar nicht gefallen!

Dolors hing noch immer ihren Gedanken nach, als die Oberköchin sie anfuhr: »Dolors, wollen Sie denn gar nicht nach Hause? Wenn Sie sich nicht beeilen, kommen Sie zu spät zum Abenddienst zurück!« Also verscheuchte sie ihre Gedanken rasch und sprang auf. Sie streifte ihre Schürze ab und hängte sie an die Türrückseite. In der Küche trocknete das Geschirr, die Töpfe waren bereits abgewaschen, abgetrocknet und im Schrank verstaut, um sie am Abend wieder herauszuholen. Aus dem Brotkorb nahm sie drei Brote von je etwa zweihundert Gramm, das war ihr gestattet, und legte sie zusammen mit vier Kartoffeln und einer Handvoll Gemüse in ihren Korb. Die Arbeit in der Küche des Santa Creu hatte Dolors und ihre Kinder, dem lieben Gott sei Dank, vor dem bewahrt, was so viele ihrer Mitmenschen traf: Hunger. Dann nahm sie ihren dicken Wollmantel von der Garderobe, den sie von einer erlauchten Dame geerbt hatte, die im Krankenhaus gestorben war, zog ihn an und verließ die Vorratskammer, um direkt zum Tor zu eilen, das zur Carrer de l’Hospital führte. Ihre Gedanken waren immer noch woanders, sodass es ein paar Schritte dauerte, bis sie bemerkte, dass sie die Kinder ganz vergessen hatte, die im Innenhof des Santa Creu auf sie warteten. Ach, die Kinder! Sie verbrachten Stunden im Innenhof! Dort spielten sie am liebsten. Wenn Dolors es ihnen erlaubte, spielten sie dort, bis Dolors mit dem Mittagessen für die Kranken fertig war. Danach gingen sie zu dritt zu ihrem Zuhause, das ganz nah am Krankenhaus lag, und die Kinder lugten in den vollen Korb ihrer Mutter, um herauszufinden, was es wohl am Abend zu essen gab. Dolors drehte sich um und ging zurück, um die Kinder abzuholen.

Als die beiden Kinder die Medizinstudenten die Treppen vom Krankenflügel hinuntergehen sahen, schlug Lluís Maria vor, zum schmalen Gang zu gehen.

»Nur kurz, Mia«, drängte er sie.

Zunächst weigerte sich Maria.

»Ich will da nicht hin. Ich mag keine Toten«, antwortete sie ihm, obwohl sie wusste, dass sie doch tun würde, was Lluís von ihr verlangte. Es war immer dasselbe: Wenn Lluís sich langweilte, hatte er die abenteuerlichsten Ideen, und die arme Maria musste mit ihm mit, auch wenn sie viel ängstlicher war als er.

»Ich lasse dich auch nicht los. Versprochen«, sagte Lluís zu ihr, kreuzte Zeige- und Mittelfinger und küsste das so entstandene Fingerkreuz. Seitdem er das bei ein paar Kindern aus dem Viertel gesehen hatte, machte er es immer, wenn er Maria etwas versprach. Das Mädchen sah ihn an, sie wog ab. Vorsichtig schielte sie zum besagten Gang, jenem unheilvollen Weg, der zwischen dem Krankenhaus und der Medizinischen Fakultät lag, wo die Leichen des Santa Creu abgelegt wurden.

»Und du lässt mich wirklich nicht los?«, vergewisserte sie sich.

Lluís nickte triumphierend, er hatte sie, und dann küsste er noch mal seine gekreuzten Finger.

»Versprochen. Nicht mal kurz.«

Er streckte ihr seine Hand hin, nach der sie schnell griff. Das Einzige, was Maria dazu bringen konnte, sich Lluís’ makabren Abenteuern hinzugeben, war die Tatsache, dass er sie bei der Hand nahm und sie sich von ihm beschützt fühlte. Mit all ihrer Kraft konzentrierte sie sich auf die Berührung ihrer Hände und schwor sich, so wenig wie möglich auf die Gesichter der Toten zu schauen, die sie, wie sie wusste – und davor fürchtete sie sich am meisten –, in ihren Träumen der kommenden Nächte heimsuchen würden.

Die Medizinstudenten waren kurz in der Nähe der beiden stehen geblieben, um sich noch zu unterhalten, dann gingen sie weiter in Richtung Fakultät, und Lluís und Maria machten sich hinter ihrem Rücken auf den Weg zum schmalen Gang. Als sie zum Gitter kamen, welches vor dem engen und düsteren Gang angebracht und immer verschlossen war, streckten sie sich, um zu sehen, was sich ganz hinten befand. Und tatsächlich waren dort drei vor Kurzem abgeladene Leichen zu sehen; sie lagen so, dass kaum mehr als ihre gelblichen Fußsohlen zu sehen waren. Maria lief ein Schauer über den Rücken, sie drückte Lluís’ beschützende Hand noch ein bisschen mehr. Er streckte seinen Hals, sosehr er konnte, und drehte ihn nach links und nach rechts, um besser zu sehen.

»Zwei Frauen und ein Mann. Siehst du sie, Mia?«

Das Mädchen nickte und drehte den Kopf weg von den Leichen.

»Los, Lluís, lass uns in den Hof zurück, Mama ist gleich fertig mit der Arbeit.«

Der Junge streckte den Hals noch ein bisschen mehr und schnalzte mit der Zunge.

»Ich kann die Gesichter nicht erkennen«, sagte er enttäuscht.

Maria verstand dieses seltsame Verlangen nicht, und gerade als sie ihm sagen wollte, dass sie keine Toten mehr sehen wolle, dass sie doch bitte zum Innenhof zurückgehen sollten, dass Mutter dort wartete, dass sie nach Hause wolle und nie wieder hierher, kamen von der Carrer del Carme her vier Jungs aus ihrem Viertel auf sie zu, die sie nur allzu gut kannte. Maria zog ruckartig und beharrlich an Lluís’ Hand, die sie trotzdem nicht losließ, doch er schien nichts zu merken. Die Jungs, zwei von ihnen waren ziemlich groß und bestimmt schon elf, zwölf Jahre alt, während die anderen beiden, ihre kleinen Brüder, nicht älter als Maria und Lluís sein dürften, näherten sich mit Bedacht von hinten. Marias Körper erstarrte, sie zerrte an Lluís’ Arm, der seinen Kopf endlich ihr zuwandte. Erst da bemerkte er die vier Jungs. Er drehte sich um, sodass er mit dem Rücken gegen das Gitter lehnte, und hob sein Kinn, so hoch er konnte. Im Gesicht eines Jungen zeichnete sich ein Grinsen ab.

»Du stehst wohl auf Tote, was?«, sagte er zu Lluís.

Lluís antwortete nicht, hielt aber weiterhin seinem Blick stand. Die anderen drei Jungs kreisten die beiden ein.

Maria schluchzte ein wenig, als sie sagte: »Lasst uns in Ruhe, wir haben euch nichts getan.«

Aber die Jungs schenkten ihr kaum Beachtung. Der größte von allen kam Lluís’ Gesicht gefährlich nahe; Lluís konnte ja nicht zurück, da das Gitter ihm den Weg versperrte. Lluís machte sich, so wie Maria es befürchtet hatte, noch ein bisschen größer. »Was hat es dich zu interessieren, worauf ich stehe?«

Er machte einen Schritt nach vorne und der größere Junge einen zurück. Lluís brach damit den Kreis auf, den die Jungs um sie herum gebildet hatten, er zog Maria an der Hand. »Komm, wir gehen, hier stinkt’s.«

Hinter seinem Rücken hörte er einen der Jungs sagen: »Ja, hier stinkt’s nach Bastard!«

Lluís blieb stehen. Ein anderer Junge sagte: »Ich an deiner Stelle, Maria, würde mich nicht mit einem Sündenkind wie ihm sehen lassen.«

Lluís drehte sich um und ging auf den größten Jungen zu, der ihm noch vor ein paar Minuten gefährlich nahe gekommen war und ihn ans Gitter gepresst hatte. Er spuckte ihm vor die Füße, und mit weit aufgerissenen Augen sagte er: »Ihr habt ja keine Ahnung, wer ich bin.«

Der Junge grinste verächtlich und sah seine Kumpels an, während er antwortete: »Er meint, wir hätten keine Ahnung! Dabei weiß doch das ganze Viertel, dass dieser Bastard der Sohn einer Hure ist, die ihn ausgesetzt hat!«

Es war nicht zu unterscheiden, was zuerst geschah, ob es Marias Schrei war oder Lluís’ Fausthieb, der den Jungen am Unterkiefer traf. Darauf unvorbereitet, fiel der Junge zu Boden, und Lluís stürzte sich auf ihn. Die drei anderen Jungen schlugen ebenfalls zu und hängten sich an Lluís’ Rücken. Maria schrie so sehr, dass zwei Männer herbeigeeilt kamen, die gerade den Innenhof in Richtung Carrer del Carme durchquerten, und die auf dem Boden ineinander verkeilten Kinder auseinanderbrachten. Sie rügten alle, ohne einen Unterschied zu machen. Mit einem Ruck löste Maria Lluís aus der Menge; sie entwischten und liefen zum Innenhof, wo die Mutter bestimmt schon auf sie wartete. Maria wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ihres Pullovers aus dem Gesicht, sie war wütend auf die Jungs, aber auch traurig über Lluís’ blaues Auge. Er ließ Maria gewähren und lief schweigsam und mürrisch neben ihr her.

Als sie in der Mitte des Innenhofs angekommen waren und Maria ihre Mutter erblickte, war sie erleichtert.

»Was ist denn mit euch passiert?«, wollte Dolors wissen, als sie Lluís’ geschwollenes Auge sah.

Maria erklärte ihr überstürzt und detailreich, was die anderen Jungs getan und gesagt hatten. Während Dolors ihr zuhörte, beobachtete sie den Jungen. Lluís starrte auf den Boden, sein Blick war nur schwer zu entziffern. Sie unterbrach Marias aufgeregte Erzählung und fragte ihn: »Tut es weh?«

Er schüttelte den Kopf.

»Lass mal dein Auge sehen«, sagte Dolors, nahm sein Kinn in die Hand und hob es an. Doch er wandte sich ab.

Dolors seufzte, das hatte ihr gerade noch gefehlt, so müde, wie sie war.

»Los, wir sind spät dran«, sagte sie und ging in Richtung Straße.

Ihr taten die Beine weh, sie wollte so schnell wie möglich nach Hause. Hoffentlich hatte sie, nachdem sie die Kartoffeln gekocht und das Brot für die Kinder geschnitten hatte, noch Zeit zum Ausruhen, bevor sie zum Abenddienst wieder ins Krankenhaus musste. Die Handvoll Kichererbsen würde sie einweichen, um sie am kommenden Tag zu kochen, damit sie nach dem Abenddienst nichts mehr erledigen musste und endlich schlafen gehen konnte. Zu dritt gingen sie durch die schmalen Gassen, aus denen das Tageslicht zu dieser Stunde an einem Dezembertag floh und in denen sich die Kälte breitmachte, als wäre sie der ärgste Feind der Elenden. Dolors ging voran, die beiden Kinder hinter sich, schweigsam. Zu Hause würden sie wahrscheinlich eine Schimpftirade über sich ergehen lassen müssen, oder aber sie hätten Glück, und Dolors würde sich um das Abendessen kümmern und die Sache darüber vergessen. Sie kamen an ein paar Geschäften vorbei, deren Eigentümer ihre Ware bereits ins Innere brachten und sich selbst in den Wohnbereich zurückzogen. Manche schlossen ihre Geschäfte schon früh und hatten nicht mehr viel zu tun, außer zu Abend zu essen und dann schlafen zu gehen. Vielleicht hatten sie das Glück, sich an jemanden schmiegen zu können, der neben ihnen lag und nachts das Bett zumindest ein bisschen wärmte. Nicht wie Dolors, die seit Jahren schon niemanden mehr hatte, an den sie sich kuscheln konnte, bis auf ihre Tochter.

Als sie an der Haustür ankamen und Dolors nach dem Schlüssel kramte, um aufzusperren, spürte sie plötzlich Lluís an ihrer Seite. Er klammerte sich an ihren Rock und fragte: »Ist meine Mutter eine Hure?«

Dolors zuckte zusammen.

»Wer hat das gesagt?«

Ihre Tochter war schneller: »Das hat der älteste Sohn von den López gesagt. Er meinte, alle wüssten das.«

»Na, dann werde ich wohl ein paar Worte mit seiner Mutter wechseln, wenn ich sie das nächste Mal sehe. Sie soll sich gefälligst um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.«

»Aber stimmt es? Weißt du das?«, bestand der Junge auf einer Antwort.

Dolors öffnete die Tür und ging hinein, die Kinder folgten ihr. Sie hielt kurz inne und wandte sich dann Lluís zu. »Denk nicht weiter darüber nach, mein Sohn.« Sie hob einen Finger. »Hört auf mich. Lasst euch nichts von diesen Einfaltspinseln sagen. Das sind Kinder, die keine Ahnung haben. Und du, Lluís, wärst gut beraten, wenn du nicht immer sofort Streit anfangen würdest, wenn sie dich ärgern!«

Dolors nahm den Korb in die Hand und stieg die Treppenstufen bis zum vierten Stock hinauf, wo sie ihre winzige Wohnung betraten, die aus zwei Zimmern und einer kleinen Küche bestand.

Die Kleine trug Kleider mit Spitze und Stickereien, die ihre Mutter in den Monaten vor ihrer Geburt mit viel Liebe genäht hatte. Auch die Tanten hatten ihren Teil zur Ausstattung beigetragen, die beinahe der einer Königstochter glich. Zudem hatte Aurora Rovira den Anstand gehabt, als bildschönes, rundes und gesundes Kind zur Welt zu kommen, so als würde sie einem Artikel in den Illustrierten über Perfektion entspringen. Llorenç, der Sohn des Hauses, ging häufig zu dem Bündel aus Spitze und Stickerei und betrachtete die rosigen Wangen, die das Gesicht überstrahlten. Das Mädchen konnte kaum die Augen öffnen. Lange ließen sie ihn nie an ihrer Seite gewähren. »Sie ist noch zu klein«, sagten sie ihm, »wenn sie ein bisschen größer ist, kannst du sie auf den Arm nehmen.« Aber der Junge war nicht sonderlich interessiert daran, er war nur ein bisschen neugierig. Es war nicht auszumachen, ob er so etwas wie Liebe oder gar Eifersucht für diesen Neuankömmling im Hause empfand. Mit sechs, fast schon sieben Jahren war Llorenç ein schüchterner, in sich gekehrter Junge, der vor allem in Ruhe gelassen werden wollte. Und die Ankunft seiner kleinen Schwester hatte genau dies bewirkt. Auch wenn dieser Wunsch nach Ruhe nicht unbedingt die Tanten und die Freundinnen seiner Mutter betraf, sondern vielmehr dem Vater galt. Es war beinahe unmöglich, seinem ernsten Blick zu entrinnen, unter dem sich Llorenç immer sehr, sehr klein fühlte.

Es waren nur noch ein paar Tage bis Weihnachten, und der Junge fühlte, wie die Ungeduld in ihm aufstieg. Ihm war, als würde sie ihn von innen her auffressen. Wenn sein Wunsch in Erfüllung ginge, bekäme er in der Weihnachtsnacht eine Märchensammlung mit Farbillustrationen. Die Texte müsste er zusammen mit seinem Lehrer entziffern, denn auch wenn er bereits einige Wörter erkannte und sie zu einem Satz zusammenfügen konnte – besser als jedes andere Kind in seinem Alter, zumindest hatte man ihm das gesagt –, so wollte er die neuen Geschichten doch ganz genau verstehen. Außerdem erklärte Ripoll so gut. Er würde sich noch ein paar Tage gedulden müssen, bis der Lehrer wieder vom Land zurückkam, wohin dieser für ein paar Tage verreist war. Bis dahin würde Llorenç sich also mit den Farbillustrationen begnügen müssen, und vielleicht würde er sogar versuchen, eine davon abzuzeichnen, um sie seinem Lehrer bei der Rückkehr zu schenken.

Llorenç hatte ein wenig Angst vor dem kommenden Jahr, denn dann würde sein Lehrer nicht mehr zu ihm nach Hause kommen, und er selbst würde stattdessen die Jesuitenschule in Sarrià besuchen. Der Vater sprach von nichts anderem mehr. Das machte Llorenç so nervös, dass er Herzrasen bekam. Der Junge hatte kaum Umgang mit anderen Kindern – nur mit seinen Cousinen, und die waren derart mit dem gemeinsamen Spiel beschäftigt, dass sie ihn links liegen ließen. In der Schule würde er von Dutzenden Kindern umgeben sein, und er wusste nicht, wie er mit ihnen umgehen sollte, was er ihnen erzählen sollte, was er sagen durfte. Und erst die Lehrer, die würden bestimmt nicht so herzlich und nachgiebig sein wie sein geliebter Ripoll. Aber ein Junge wie Llorenç, der von einer für sein Alter unüblichen Reife geprägt war – jedenfalls sagten das die Erwachsenen –, nahm das Leben, wie es war, und akzeptierte die von ihm verlangten Dinge.

Ab und zu öffnete seine Schwester die Augen, und dann staunte Llorenç, wie tiefblau sie waren. Aber er bezweifelte, dass Aurora wirklich schon etwas sehen konnte, denn wenn er sich an die Wiege stellte, bewegten sich die Pupillen nach rechts und links, als ob ihr Blick an ein Insekt geheftet war, das über ihrer Wiege herumschwirrte und das nur sie sehen konnte.

Als die Tanten gegangen waren, schickte Eulàlia ihren Sohn Llorenç ins Spielzimmer, weil sie ein paar Minuten mit ihrer Tochter alleine sein wollte. So viel Besuch schmeichelte ihr zwar, aber er hielt sie auch davon ab, Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen. Sie rückte die Wiege ans Fenster, neben den Stuhl im Erker, auf dem sie für gewöhnlich saß, und das letzte Abendlicht floss um das kleine Engelsgesicht. Sie schaute kurz zur Tür, in der Hoffnung, dass die Amme noch beschäftigt wäre und noch eine Weile brauchte. Sie hätte gerne mehr solcher unbeobachteter Augenblicke gehabt. Denn nur dann konnte sie jedes Detail dieses kleinen unruhigen Körpers betrachten. Die kleinen Ärmchen befreiten sich immer wieder von der Decke, als ob sie gegen die Spitze ankämpfen wollten, in der sie gefangen waren. Mit erhobenen Fäustchen drehte das Kind seinen Kopf auf die Seite und atmete ruhig. Alle bestaunten ihr perfektes Gesicht. Wenn Darius bloß bemerkt hätte, dass seine Frau in diesen Tagen, in denen die Familie um ein Mitglied reicher geworden war, ein bisschen mehr Zuneigung und Zärtlichkeit von ihm benötigte, wäre Eulàlia uneingeschränkt glücklich gewesen. Aber so ist Darius nun mal nicht. Und er hat auch immer viel zu tun. Er ist so ein guter Arzt, dass er mit den Gedanken eigentlich stets bei seinen Patientinnen ist. Eulàlia Rovira, die Erbin der Familie Moragues, war so sehr daran gewöhnt, ihren Mann bei den zahlreichen Gästen zu entschuldigen, die sie alleine umsorgte – er ist ein vielbeschäftigter Mann, wenn er nicht gerade Visite im Krankenhaus hat, dann schließt er sich in seiner Praxis ein oder untersucht einen Fall, was will man da machen? –, dass ihr dieselben Entschuldigungen als Erklärung dafür dienten, dass er nachts keine Zeit für sie hatte, dass er sie weder streichelte noch umarmte wie früher.

Zumindest an diesem Abend war er die ganze Zeit an ihrer Seite, denn ihr Patenonkel kam zum Abendessen. Und wenn Darius sich etwas nicht entgehen ließ, dann war es der Besuch von Bartomeu Robert. Eulàlia strich Aurora über die Wangen, während sie darüber nachdachte, wie sehr Darius diesen Mann bewunderte, der sein Lehrmeister gewesen war und der die beiden miteinander bekannt gemacht hatte. Wer hätte gedacht, dass ihr Patenonkel, der immer viel um die Ohren hatte, eines Tages mit diesem Studenten bei ihr aufkreuzen würde, der sie sofort für sich einnahm? Es war zwar schon ein paar Jahre her, dennoch hatte Eulàlia den ersten Eindruck, den Darius auf sie gemacht hatte, nicht vergessen. Damals war er noch ein Fremder für sie. Ihr Patenonkel hatte ihn als einen seiner besten Studenten, den er jemals unterrichtet hatte, vorgestellt, einen jungen Mann mit Zukunft, obwohl niemand so recht wusste, aus welcher Familie er eigentlich stammte, da er weder aus Barcelona kam noch einen bekannten Nachnamen trug. Aufgrund der guten Referenzen ihres Patenonkels gaben ihre Tanten trotz dieses kleinen Makels ihr Einverständnis, den angehenden Arzt zu heiraten. Er hatte zwar kein Geld, sie aber schon, und er kam zwar nicht aus gutem Hause, sie aber schon, und Eulàlia wünschte sich ihn von ganzem Herzen. Während Darius ihr den Hof machte, lernten sie sich besser kennen. Es wurde deutlich, dass er einen perfekten Ehemann abgeben würde, so aufmerksam, so makellos gekleidet, so gebildet, offensichtlich in sie verliebt, wie er war, ganz abgesehen von seiner Zukunft als Arzt, die ihn laut Bartomeu Robert erwartete. Eulàlia Moragues konnte kaum glauben, dass ein so gebildeter und vielversprechender Mann sich in sie verguckt hatte, ganz gleich, wie groß ihr Erbe war. Und es war alles gut gegangen, so wie sie es sich vorgestellt hatte. Als sie jedoch das erste Kind, Llorenç, auf die Welt gebracht hatte, verschloss sich Darius plötzlich hinter einer harten Schale, warb nicht länger um sie. Jedes Mal, wenn Eulàlia ihren Sohn ansah, wurde ihr bewusst, wie viel Zeit bereits vergangen war, seitdem ihr Mann sie nicht mehr so liebte wie früher. Es war fast schon ein Wunder gewesen, dass sie ein zweites Kind zur Welt brachte. Sie konnte die Male an einer Hand abzählen, an denen ihr Mann nach dem ersten Kind Verlangen nach ihr hatte. Wenn sie daran dachte, überkam sie die Sehnsucht eines verletzten Hundes, und damit brachte sie Darius jedes Mal auf die Palme. Er wies sie dann unruhig zurecht: »Du bist doch kein Kind mehr, hör auf, so eigensinnig und weinerlich zu sein. Du denkst, dass du immer noch ein Mädchen bist, das umworben wird, aber dafür sind wir zu alt«, sagte er zu ihr. »Du weißt ganz genau, dass ich anderes zu tun habe. Und du auch. Die Kinder bescheren dir doch genug Ablenkung! Eulàlia, meine Liebe«, fügte er mit Missfallen hinzu, »hör um Gottes willen endlich auf, dich wie ein Kind zu benehmen.« Und wahrscheinlich, so dachte sie, hatte Darius recht.

Wie immer kam Bartomeu Robert auf die Minute genau und konnte so Aurora noch zu Gesicht bekommen, bevor die Amme sie zu Bett brachte.