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Verteufelt und in den Himmel gehoben, oft totgesagt und doch immer wieder auferstanden. Das Kabarett hat in den letzten Jahrzehnten einen weiten Weg zurückgelegt. Die Frage, wie Kabarett funktioniert und wie es sich als eigenständige Kunstform beschreiben lässt, ist dabei weitestgehend auf der Strecke geblieben. Die Integrative Kabaretttheorie analysiert das Phänomen noch einmal von Grund auf und ergänzt die bisherigen kabaretttheoretischen Ansätze um weitere ästhetische, soziologische, poetologische, kognitionswissenschaftliche, kommunikationstheoretische und semiotische Fragestellungen. Anhand zahlreicher Beispiele illustriert Natalie Dunkl den Professionalisierungsprozess des Kabaretts, direkte und indirekte Kommunikationsformen mit dem Publikum und schließt auch die Debatte, wer und was noch (oder schon) Kabarett ist, mit ein. Der Band verspricht somit einen unkonventionellen Blick auf das Kabarett, viele Aha-Effekte und eine neue Art, das Kabarett zu verstehen und zu erleben.
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Seitenzahl: 633
Natalie Dunkl
Das Kabarett
Natalie Dunkl
Das Kabarett
Eine integrative Theorie
Tectum Verlag
Natalie Dunkl
Das Kabarett
Eine integrative Theorie
© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019
E-Pub: 978-3-8288-7258-5
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4318-9 im Tectum Verlag erschienen.)
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Zugl. Diss. Ludwig-Maximilians-Universität München, 2018
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Inhaltsverzeichnis
VorWORT
1 Das Kabarett ist tot, es sterbe das Kabarett
2 „Ja, hallo erst mal. Ich weiß gar nicht, ob Sie’s wussten, aber …“
2.1 Was also ist das Kabarett?
2.2 Demaskierung einer Rampensau
2.3 Kabarettgeschichte von gestern bis heute
2.4 Erste Meilensteine der Kabarettentwicklung
2.5 Die Disziplinierung des Brettls
2.6 Die Evolution des Solokabaretts
2.7 (Hinter-)Gründe für die Institutionalisierung einer performativen Konstante
2.8 Das Kabarett als Katalysator der Retheatralisierung
2.9 Kabarettgeschichte von morgen
3 Der lange Weg der Kabarettwissenschaft
3.1 Terra incognita: Aufbruch in unbekanntes Terrain
3.2 Auf Abwegen: Die Kabarettwissenschaft lässt sich gehen
3.3 Entscheidende Schritte im Professionalisierungsprozess
3.3.1 Jürgen Henningsen: Das Spiel mit dem erworbenen Wissenszusammenhang
3.3.2 Michael Fleischer: Zeichenkomplex und plurimediale Nachricht
3.3.3 Benedikt Vogel: Halbierte Fiktion
3.3.4 Kerstin Pschibl: Soziologie des Kabaretts
3.4 Bis hierher und weiter: Kabarettwissenschaft for Runaways
4 Gewusst wie: Kabarett im Kopf
4.1 Wissenswertes über das Wissen
4.2 Ausflug in die Frame-Forschung
4.3 Die Frame-Semantik
4.3.1 Das Evokationspotenzial des Ausdrucks ‚Kabarett‘
4.3.2 Frau(h)menbrüche – der Haha-Effekt
4.4 Frames und soziales Handeln
4.5 Frames im Kontext ästhetischer Phänomene
4.6 Nix gwiss woaß ma ned
4.7 Rezeptionsparadoxon: Gut gemeinte Selbsttäuschung im Zeichen der Hyperillusion
4.8 Intermezzo cum figuris
4.9 Es liegt was in der Luft: Die Fiktionsblase
4.10 Der kleine Kabarett-Knigge
5 Kabarett – die Kunst, den Mund aufzumachen
5.1 Das Kabarett – ein komisches Kommunikationsereignis
5.2 Nonverbale Kommunikation im Kabarett
5.3 Das Aufgeführte Gespräch im Offenen Dialog
5.4 Figur – Dialog – Handlung
5.5 Quatsch(en) mit System: Direkte und indirekte Kommunikation
5.5.1 „Er steht so gern im Rampenlicht und hofft, man sieht die Wampe nicht“: Der Kabarettist
5.5.2 Das emotionale Band unter der phonetischen Kette: Die offene Figur
5.5.3 Hör mal, wer da schweigt: Das verdeckte Gegenüber
5.5.4 „Krieg ich sie heute?“: Die Bestie Publikum
5.6 Die fünf Dimensionen des Kabarettraums
5.6.1 Die Kabarettlandschaft
5.6.2 Theatraler Raum
5.6.3 Bespielter Raum und gespielter Raum
5.6.4 Wort für Wort und Schritt für Schritt: Mentale Räume
5.7 ‚Quod licet …?‘: Machtgerangel in der Kabarettgemeinschaft
5.7.1 Killing Manfred: Materialisation als Gewaltakt
5.7.2 Wer nicht lacht, ist ein Nazi: Die Publikumsbeschimpfung
5.7.3 Exozentrische und egozentrische Figuren
5.8 Die Gattung, die auszog, das Belehren zu lernen
5.8.1 Homo loquens – Homo loquax
5.8.2 Machtbalance im sozialen Haifischbecken
5.9 Die Kabarettformel(n)
6 Zugabe: „Man denkt, es kommt noch was“
7 Bibliografie
7.1 Primärquellen
7.2 Sekundärquellen
Notation der Textbeispiele
Die Integrative Kabaretttheorie orientiert sich an den Transkriptionskonventionen des Gesprächsanalytischen Transkriptionssystems (vgl. hierzu S. 7). Bei allen Textbeispielen handelt es sich um Basistranskripte, welche insbesondere die Lesbarkeit gewährleisten und die Simultaneität der theatralen und fiktiven Kommunikationsebene nachvollziehbar machen sollen. Die Texte berücksichtigen auch dialektale Abweichungen von der deutschen Standardsprache.
[
Überlappungen und Simultansprechen
schneller Anschluss neuer Turns oder Einheiten
(.)
Mikropause
(-), (--), (---)
kurze, mittlere und längere Pausen von ca. 0,5, 0,75 und 1,0 Sekunden
(2.0)
Pause in Sekunden
ja(h)a
Lachpartikeln beim Reden
akZENT
Haupt- oder Primärakzent, Betonungen
((gelächter))
außersprachliche Handlungen oder Vorgänge
VorWORT
Vorworte sind eine Sache für sich. Mal sind sie zu lang, mal zu kurz, oft sehr schwülstig und oft so freizügig, dass Fachleute für Datenschutz schier das nackte Grauen packt. Loriot findet für sein Vorwort zu Menschen Tiere Katastrophen eine elegante Lösung: Er beginnt mit einem souveränen „Ja äh“, um dann nur unterbrochen von einem bedeutungsvollen „oder“ überhaupt nichts mehr zu sagen. Auch Dieter Hildebrandt hat sich für Vater unser – gleich nach der Werbung mit dem Thema Vorwort auseinandergesetzt: „Meistens hat ein Buch so ein Vorwort. […]. Und in dem Vorwort steht dann das, was in dem Buch stehen sollte, nämlich da wird erklärt, was in dem Buch stehen wollte. Nur denk ich mir manchmal, dann les ich halt das Vorwort, das Buch brauch ich gar nicht mehr zu lesen.“
Ganz so einfach macht es die Integrative Kabaretttheorie nicht. Dieses Vorwort greift den Erkenntnissen des Hauptteils weder vor noch plaudert es zur Unzeit Geheimnisse aus. Nur so viel sei verraten: Diese Arbeit dringt viele Lichtjahre vom Mainstream entfernt in wissenschaftliche Galaxien vor, die nie eine Kabarettforscherin oder ein Kabarettforscher zuvor gesehen hat. Erbärmlich größenwahnsinniges Geschwafel?! Na, und ob! Aber darum nicht weniger wahr – und gerade im Kontext einer Kunstform, die schon aus nostalgischen Gründen gerne mal eine dicke Lippe riskiert, mehr als verzeihlich!
Der Fairness halber sei neben dieser verheißungsvoll-großspurigen Ankündigung darauf hingewiesen, was in dieser Arbeit alles nicht stehen wollte und sollte. Sie ist kein Schwanengesang auf das Ende des Kabaretts, auch singt sie nicht das Hohelied auf das einzig wahre, allein seligmachende politische Kabarett oder entwirft eine Gebrauchsanweisung à la ‚Wie starte ich in der Kabarettszene voll durch?‘. Wer sich allerdings eine definitive Antwort erhofft auf die Frage ‚Was ist Kabarett?‘, wer verstehen will, wie es funktioniert und schwarz auf weiß besitzen möchte, was Intuition und Unterbewusstsein ihr oder ihm im Hinblick auf das Kabarett schon immer eingegeben haben, ist auf den nachfolgenden Seiten goldrichtig.
Bevor sich die Leserin oder der Leser nun ins Vergnügen stürzt, zuletzt noch ein kleiner Warnhinweis: Neue Wege verlangen auch im Reich der Erkenntnis eine gewisse Rigorosität. Aus diesem Grund stellt die Integrative Kabaretttheorie schonungslos Bezüge her und ungeniert Namen nebeneinander, an denen Verfechterinnen und Verfechter eines aufklärerischen, bissigen Kabaretts erst einmal zu knabbern haben. Jenseits der Bereitschaft, Unkonventionelles zuzulassen und über den Tellerrand nicht nur hinauszublicken, sondern ihn zu zerschlagen, winken jedoch Aha-Effekte und eine neue Art, das Kabarett zu verstehen und zu erleben.
Natalie Dunkl, Juni 2018
1 Das Kabarett ist tot, es sterbe das Kabarett
Das Kabarett ist tot1, so schallt es seit fast zwölf Jahrzehnten durch die deutsche Kulturgeschichte. Die Praxis zierte sich meist ein wenig2, ins selbe Horn zu blasen, die Forschung3 dagegen stimmte begeistert in diesen Refrain ein und wurde nicht müde, ihn zu wiederholen. „Es stirbt täglich, das Kabarett“, übernehmen beispielsweise Klaus Budzinski und Rainhard Hippen die ironische Bemerkung Hildebrandts in ihr Kabarett Lexikon: „Ein Leben lang ist es tot. Über den genauen Todestag ist man sich nicht einig. Vermutlich fiel er mit dem Geburtstag zusammen. Da man auch den Geburtstag nicht präzise benennen kann, wissen wir auch nicht, wann es gestorben ist.“4
Werner Schneyder zumindest weiß, dass das Kabarett zu allen Zeiten davon lebte, „dass es zu jeder Zeit für tot erklärt war“5, und laut Volker Kühn gehört es zur Geschichte des deutschen Kabaretts inzwischen einfach mit dazu, „dass es immer wieder – mit schöner Regelmäßigkeit – totgesagt wird. Das war schon vor 100 Jahren so. Kaum, dass man es in Berlin aus der Taufe gehoben hatte, hieß es: Das Kabarett ist tot.“6 Kein Wunder also, dass selbst ausgesprochene Ehrentage die Züge eines verkappten Leichenschmauses tragen:
Als im Januar 2001 in Berlin unter großer Teilnahme der Öffentlichkeit das hundertjährige Bestehen des deutschen Kabaretts gefeiert wurde – den Anlass gab die Eröffnung von Wolzogens Buntem Theater (Überbrettl) in Berlin am 18. Januar 1901 –, haftete der Jubiläumsfeier auch ein Beigeschmack von Nostalgie oder Abschied an, drohten die Glückwünsche an das Geburtstagskind […] den Unterton eines Nekrologs anzunehmen.7
Das Kabarett – eine Kunstgattung zwischen Wiedergänger- und Siechtum? Der Schein trügt angesichts der heutigen Zuschauerzahlen, die etwa „kabarettistische Sendungen im Fernsehen haben“8. Auch auf die Stimmen, die das Kabarett zur letzten Ruhe schicken, kommen mittlerweile mindestens genauso viele, die ihm posthum doch wieder ein Fünkchen Leben zugestehen. So mag das Kabarett zwar tot sein, erweist sich aber „immer wieder – mit schöner Regelmäßigkeit – […] als ziemlich quicklebendige Leiche.“9 Christian Ehring wagt sogar, zu behaupten: „Das Kabarett lebt und erfreut sich bester Gesundheit.“10
Der kleine Einblick in das Leben und Sterben des Kabaretts hinterlässt vor allem große Fragezeichen. Welches Interesse kann die Praxisreflexion daran gehabt haben, über ihren Gegenstand – ‚in schöner Regelmäßigkeit‘11 – ein derart vernichtendes Urteil zu fällen, und wie konnte sich dieses Thema so hartnäckig halten? Die Antworten fallen leicht, insofern berücksichtigt wird, dass die Kunstform Kabarett stets unter einer bestimmten Programmatik operierte. Das frühe Brettl gab sich einen klaren Auftrag: Die Erziehung des Publikums zur Kunst und die Veredelung des Varietés12. Hinzukommt, dass es schon „seit seiner Anfangsphase zwischen einer ausgesprochenen unterhaltungsmäßigen Ausrichtung einerseits und politischer Kritik und sozialkritischer Satire andererseits“13 schwankte, weshalb es Jürgen Pelzer zufolge bereits von Anfang an „aus den verschiedensten Lagern“ Kritik – und damit Todesurteile – hagelte:
Man verglich es beispielsweise mit dem französischen Cabaret artistique und vermißte die anarchistische Grundhaltung und satirische Schärfe, die dort an der Tagesordnung waren. Einige Schriftsteller, die sich anfangs viel von dem neuen Kunstgenre versprochen hatten, zogen sich bald, angewidert vom politischen Opportunismus oder der rapide einsetzenden Kommerzialisierung, wieder zurück. Kontinuität erzielten unter diesen Umständen nur wenige Kabaretts, eine Lebensdauer von wenigen Monaten oder gar Wochen war zumeist die Regel. Allgemein wurde das Kabarett oder ‚Brettl‘, wie man damals noch meist sagte, als Modeerscheinung gesehen, die nach ein paar Jahren endgültig verschwunden sein würde. Dennoch ist mit den ersten Kabaretts in Berlin und München eine Tradition begründet worden, die zwar zahlreiche tote Punkte aufweist, letztlich aber doch nicht abgerissen ist.14
Der Vorwurf, das Kabarett sei nicht aggressiv, kritisch und scharf genug, zieht sich wie ein roter Faden sowohl durch die Kabarettkritik als auch durch die Kabarettforschung. Insbesondere unter den Kabaretthistorikerinnen und Kabaretthistorikern wurde es Usus, dass sie „dem Kabarett der Lebenszeiten unerreichte literarische Qualität und politischen Löwenmut nachrühmte[n]“, während in Wahrheit jedoch keine dieser Behauptungen je einer Nachprüfung standhielt15:
Jeder Versuch, das Kabarett zu beleben (!) war Anlass, eine Krise zu diskutieren. Erfolgreiche Meister dieser Sparte gaben zu öffentlichem Bedauern Anlass, dass es nicht mehr ihrer Art gäbe. Es handelte sich um eine Forderung nach Verbreitung der Spitze, die sich dieselbe Kulturgesellschaft in anderen Kunstsparten energisch verbitten würde.16
Die Debatte ‚gutes linkskritisches‘ – ‚schlechtes unterhaltsames‘ Kabarett wurde im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts von dem ‚Bruderzwist‘17 Kabarett versus Comedy18 abgelöst und Requiems ab diesem Zeitpunkt insbesondere für das politische Kabarett gesungen19.
Die Befürchtung „Ist dieses Produkt der aktuellen Medienlandschaft womöglich das Kabarett von morgen?“20 steigerte das praktische und theoretische Interesse der Forschung am ästhetischen Profil21 des Kabaretts, an seinen historischen, kulturellen und sozialen Voraussetzungen, an seinem Stellenwert in der postmodernen Mediengesellschaft22, an seiner „relational zum Publikum bzw. zum gesellschaftlichen System [.] kritischen oder affirmativen Botschaft“ und an seiner „integrierenden Funktion, die der kabarettistischen Praxis im Hinblick auf die Ausbildung einer kollektiven Identität beim angesprochenen Publikum zukommt“23. Die Klärung der wichtigsten Frage Was ist Kabarett? kam dabei stets zu kurz, sodass Kühn selbst im Jahr 2007 noch immer bemerken konnte: „Was das [Kabarett] nun eigentlich ist, weiß niemand so recht“24.
Nach Budzinski steht für das Kabarett eine bunte Speiseplatte25 an Definitionen26 zur Verfügung, von der allerdings keine so recht fruchten27 will. Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft definiert ‚Kabarett‘ als „Gattung satirischer Kleinkunst und die zu ihr gehörige Institution“28, was sich zwar prägnant anhört, problematischerweise aber auch all jene kabarettistischen Spielarten ausschließt, die zwar formal, nicht aber inhaltlich ins Schema passen. Alfred Dorfer wagt den originellen Vorstoß, alle Mannigfaltigkeiten für Kabarett zu erklären, die sich „in stilistischer, formaler und inhaltlicher Hinsicht […] auf Kabarettbühnen ereignen“29, um an anderer Stelle unverhofft das Handtuch zu werfen:
Prinzipiell lässt sich festhalten, dass sich aufgrund der absoluten Zeitbezogenheit des Kabaretts keine Definition finden lässt, die über die Stile und Epochen Gültigkeit besitzt. Kabarett ist also primär kein Genrebegriff, eher eine Subsummierung (!) unterschiedlichster, zeitbezogener, zumeist theatralischer Formen, die eine gewisse Reduktion des Aufwands aufweisen.30
Bankrotterklärungen wie diese umgeben das Kabarett nun endgültig mit einer Aura, wie sie etwa die Quadratur des Kreises, die Herkunft Kaspar Hausers oder den Bau der Pyramiden umgibt. Das Kabarett – so scheint es – möchte sein Geheimnis nicht preisgeben, sondern kopiert, anstatt Klartext zu reden, das schwärmerische Motto: Ein ewiges Räthsel will ich bleiben mir und anderen.31
Diese exzentrische Allüre war einmal. Die Kreiszahl π wurde mithilfe modernster Computertechnologie inzwischen auf 22459157718361 Stellen berechnet32, der genetische Code des Nürnberger Findel-Jungen geknackt und die Pyramiden aller Wahrscheinlichkeit nach von Außerirdischen erbaut33; das Kabaretträtsel zu lösen, sollte knapp zwei Jahrzehnte nach dem Millennium nun ebenfalls kein Ding der Unmöglichkeit mehr darstellen, zumal ohnehin eine gewisse intuitive Vorstellung davon kursiert, worum es sich bei Kabarett handelt.
Die vorliegende Integrative Kabaretttheorie leistet nun, was bisher vergessen, vermieden oder gar abgelehnt wurde: Sie formuliert eine Kabarettdefinition, die sich sowohl retrospektiv als auch prospektiv anwenden lässt und eröffnet so ein wesentliches und fundiertes Verständnis dessen, was Kabarett ist und was während einer Kabarettaufführung geschieht. Rainer Otto und Walter Rösler wollten mit ihrer (ersten wissenschaftlichen) Kabarettgeschichte „der Kunst des Kabaretts [noch] neue Freunde [.] gewinnen und dem Kenner einige Anregungen [.] vermitteln“34. Die Integrative Kabaretttheorie aber will mehr. Sie zielt darauf ab, die Kabarettwissenschaft zu revolutionieren, zu legitimieren und aus ihrem selbst beschworenen Nischendasein zu zerren.
Kai Bremer, der in einem nicht minder kühnen Unterfangen Peter Szondis Theorie des modernen Dramas fortschreibt, stellt seiner Arbeit folgende Worte voran:
Dieses Anliegen ist doppelt riskant, weil der Verfasser erstens damit versucht, Szondis Überlegungen fortzuschreiben. Er weiß um die Tradition, in die er damit tritt, und damit um die Unmöglichkeit, diesem Anspruch gerecht zu werden. Er hat sich entschieden, trotzdem so zu handeln, wie er Szondis Buch als Auftrag begreift, das Drama als artifizielle Ausdrucksform35 der je eigenen Gegenwart zu betrachten und dieser wiederum verstehbar zu machen.36 Seit Szondis schmaler Dissertation hat niemand versucht, den nächsten ‚Akt‘ zu schreiben – zumindest nicht so zu schreiben, wie es eben durch Szondi notwendig geworden ist: als theoretische Annäherung an die historische Produziertheit eines wesentlichen Kunstgegenstands der Gegenwart. Eben darin liegt das zweite Risiko des Unterfangens. In Abwandlung eines Satzes Heiner Müllers über Brecht kann man sagen: Über Szondi zu sprechen, ohne ihn zu kritisieren, heißt, ihn zu verraten.37
Wissenschaftliche Bescheidenheit dieser Art ist eine Zier, doch weiter kommt frau und man ohne ihr. Die Verfasserin dieser Arbeit zumindest verzichtet darauf, sich an prominenter Stelle ihres Themas für unwürdig zu erachten. Erstens, weil rund 20 Jahre intensive Beschäftigung mit dem Kabarett sie dazu befähigen, das eine oder andere Wort über die Gattung zu verlieren; zweitens, weil dies der Bedeutung der Arbeit im kabarettwissenschaftlichen Kontext nicht gerecht würde. Ein Großteil der Kabarettforschung hat sich jahrzehntelang damit begnügt, das Kabarett zu entschuldigen, anzuprangern, mit Forderungen zu überladen oder gegenüber Anfechtungen und Kritik abzuhärten. Die Integrative Kabaretttheorie weckt die akademische Auseinandersetzung mit dem Kabarett nun endgültig aus ihrem Dornröschenschlaf. Sie markiert innerhalb der Kabarettforschung eine Trendwende: Als erste Kabaretttheorie des 21. Jahrhunderts und als erste Kabaretttheorie überhaupt, die das Kabarett so sieht, wie es gesehen werden muss, nämlich als eine künstlerische Ausdrucksform, die auf einem ganz bestimmten theatralen Modus basiert.
Die Grundlage bilden die vier kabaretttheoretischen Arbeiten Jürgen Henningsens, Michael Fleischers, Benedikt Vogels und Kerstin Pschibls. Die Integrative Kabaretttheorie analysiert alle vier Theorien und vervollständigt sie um weitere ästhetische, soziologische, poetologische, kognitionswissenschaftliche, kommunikationstheoretische und semiotische Fragestellungen. Sie widmet sich den gedächtnistheoretischen Prozessen, die kabarettbezogenes Wissen organisieren und abrufbar machen, beleuchtet das enge Verhältnis, das sich während und über die Aufführung hinaus zu den Figuren auf der Bühne entwickelt, untersucht So-tun-als-ob-Rivalitäten und gruppendynamische Prozesse, die sich aus der Interaktion zwischen Bühne und Schauraum ergeben, beschreibt den ästhetischen Rahmen der Aufführungssituation, berücksichtigt dessen ontologisch grundverschiedene Seinsbereiche und Kommunikationssysteme, rückt das Bild vom direkten Kontakt zwischen Figuren und Personen gerade, eröffnet eine völlig neue Dimension theatraler Illusion, identifiziert das Kabarett als Nachahmung menschlichen Kommunikationsverhaltens und formuliert als wichtigste Gattungskonstituente des Kabaretts das Aufgeführte Gespräch im Offenen Dialog.
Der Offene Dialog verbindet das Kabarett mit den ‚kabarettistischen‘ Spielformen aller Kulturkreise, aber auch mit jeder anderen theatralen Bühnen- und Aufführungssituation, bei der sich Figuren ans Publikum wenden. Um zu verdeutlichen, dass während einer Kabarettaufführung sowohl das Publikum und die Spielenden (indirekt) als auch die Figuren (direkt) einen Dialog führen, lehnt sich die Integrative Kabaretttheorie bei der Transkription der Textbeispiele an das Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem (GAT)38 an, auf das auch die Gesprächs- und Konversationslinguistik zurückgreift:
Ausschnitt aus dem Programm Morgen mach’ ich Schluss! … Wahrscheinlich!?
MB: Kabarettistin Mirja Boes
MB’: Figur Mirja Boes
P: faktisches Kabarettpublikum
P’: fiktives Kabarettpublikum/M’: männliches P’
FR’’: FrauenMR’’: Männer
01
MB/MB’
:
männer ham so was gar nich, ne?
02
männer ham keine biologische uhr=oder?
03
habt ihr eine?
(04
M’
:
nein!)
05
MB/MB’
:
ne. ihr habt andere probleme, ne?
06
P/(P’)
:
((gelächter))
07
MB/MB’
:
kann=schon ma licht anmachen?
08
nur auf die männer?
09
P/(P’)
:
((gelächter))
10
MB/MB’
:
wir müssen na ma=k
11
gibt es hier einen kranken mann im publikum?
12
moment, das ist doppelt gemoppelt,
13
das muss=ich anders formulieren, oder?
14
:
[warte mal
15
P/(P’)
:
[((gelächter))
16
[((applaus und vereinzelte buhrufe))
17
MB/MB’
:
[das is (2.0) das hä (---) höö (4.0) ich WEIß!
18
das is eigentlich meine lieblingsstelle
19
weil die frauen sind dann immer so dann
20
MB/MB’/FR’’
:
JEPPDEDEDAYDE[DEY <tanzt und klatscht>
21
P/(P’)
:
[((gelächter))
22
MB/MB’
:
und die männer so,
23
MB/MB’/MR’’
:
was soll das denn jetzt für=n
24
scheiß kapitel werden?
25
P/(P’)
:
((gelächter))
26
MB/MB’
:
nein, komm, wir machen=s anders
27
gibt es hier ein=mann im publikum,
28
der einen griPPALen infekt hat?
29
was auch ne schwachsinnige frage wär,
30
der würd zu hause im sterben liegen, oder?
31
P/(P’)
:
((gelächter))39
Das Textbeispiel zeigt ein Aufgeführtes Gespräch im Offenen Dialog, während dessen die Figur Kabarettistin Mirja Boes40 (MB’) mit ihrem Publikum (P’) spricht. Mirja Boes mimt zwar ‚sich selbst‘, führt dabei allerdings nicht als Privatperson, sondern als fiktives Bühnen-lch durch das Programm. Die (Klammer) um P’ verdeutlicht, dass zwischen dem faktischen (P) und dem fiktiven Kabarettpublikum, dem sich MB’ unmittelbar zuwendet, ein gravierender (ontologischer) Unterschied besteht. P und P’ reagieren (und agieren) unabhängig voneinander. Da sich Boes zwangsläufig auf die Geschwindigkeit von P einstellt und so dessen Reaktionen ästhetisiert, sprich in die fiktive Ebene integriert, stehen P und P’ im Transkript nebeneinander. Nichtsdestotrotz lassen sich über die ‚wirklichen‘ Reaktionen von P’ – wie beispielsweise die Antwort ‚Nein!‘ (04) der Männer im fiktiven Publikum41 – nur Mutmaßungen anstellen. FR’’ und MR’’42 zeigen, dass MB’, um einen größeren Effekt zu erzielen, die Erzählebene und damit auch die Parameter der Gesprächssituation (Raum, Zeit, beteiligte Personen etc.) wechselt.
Aus aufführungsanalytischer Sicht sind alle verbalen und nonverbalen Zeichen, welche die Figur produziert, gleich wichtig. Die Arbeit konzentriert sich bei den Textbeispielen allerdings auf diejenigen nichtsprachlichen Zeichen, die im Sinne des kontinuierlichen Austauschs zwischen Bühne und Schauraum wie <tanzt und klatscht> auch tatsächlich eine Publikumsreaktion hervorrufen.
In Anbetracht dieser Voraussetzungen ist nun alles gesagt, um die Kabarettforschung fit zu machen für das neue Jahrtausend. Joanne McNallys Urteil, „Vogel’s and Fleischer’s discussions“ würden sich einerseits zu sehr mit „the performance aspects of ‚Kabarett‘ and their influence on the audience“ und andererseits zu wenig „with social criticism“43 befassen, zeigt, dass alternative kabaretttheoretische Interessenschwerpunkte in der Vergangenheit nicht zwangsläufig auf Verständnis hoffen durften. Die Kabarettwissenschaft des 21. Jahrhunderts darf sich von solchen Zurechtweisungen jedoch nicht beirren lassen. Sie muss sich vom rein Inhaltlichen distanzieren und für sich beantworten, warum Kabarett zu spielen und darüber zu sprechen, selbst nach weit über 100 Jahren Professionalisierungsprozess, noch immer eine Sache zwischen Intention und Konvention ist.44
1 Der Kabarettist Georg Kreisler (1922–2011) sang sowohl Das Kabarett ist tot (Georg Kreisler: Vorletzte Lieder. Preiser Records, CD, 1972) als auch Das Kabarett ist nicht tot (Georg Kreisler: Rette sich wer kann. Preiser Records, CD, 2015).
2 Vgl. etwa Werner Schneyder: Von einem, der auszog, politisch zu werden. Die Geschichte eines ‚Meinungsträgers‘. [E-Book] Frankfurt am Main: Westend, 2014, Kapitel Talk täglich: „‚Das Kabarett ist tot.‘ Ich hatte das in Österreich nach dem Ende der Brenner-Qualtinger-Zeit am Theater am Kärntnertor gelesen und seither in deutschen Intelligenzblättern bis in die jüngste Vergangenheit. Das heißt also, ich habe vierzig Jahre Sterben aktiv miterlebt. Recherchen haben aber ergeben, dass das Kabarett schon 1902 für tot erklärt worden war. Irgendwas kann da nicht stimmen.“
3 Vgl. hierzu auch die Zitatensammlung auf der Homepage des Deutschen Kabarettarchivs von Jonathan Heil: Zitatensammlung [Das Kabarett ist tot]. Online verfügbar unter: www.kabarettarchiv.de/wordpress/wp-content/uploads/2017/10/Zitate-zu-Kabaretttheorien-neu.pdf. Letzter Zugriff am 01. Juni 2018.
4 Klaus Budzinski/Reinhard Hippen (Hg.): Metzler Kabarett Lexikon. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1996, S. VII nach Hildebrandt.
5 Werner Schneyder: Gedanken zur Fernsehunterhaltung. Über mediale Spielarten und Schwierigkeiten. In: Humor in den Medien. Hrsg. von Maria Gerhards, Walter Klingler u. a. Baden-Baden: Nomos, 2003 [= Forum Medienrezeption, Bd. 6], S. 15–30. Online verfügbar unter: opus.bsz-bw.de/hdms/volltexte/2004/339/pdf/Humor4.pdf, S. 1–16, hier, S. 11. Letzter Zugriff am 01. Juni 2018.
6 Volker Kühn: Hundert Jahre und kein bisschen leise. In: Politisches Kabarett und Satire. Hrsg. von Tobias Glodek, Christian Haberecht u. a. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin, 2007, S. 9–14, hier S. 9.
7 Joanne McNally/Peter Sprengel: Vorwort. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 7–11, hier S. 7. Ernst Freiherr von Wolzogen (1855–1934) gründete am 18. Januar 1901 in Berlin das Bunte Theater (Überbrettl), welches als erstes deutsches Kabarett angesehen wird. Vgl. auch Peter Sprengel: Literarische Avantgarde und Cabaret in Berlin – Erotik und Moderne. In: Hundert Jahre Kabarett. Zur Inszenierung gesellschaftlicher Identität zwischen Protest und Propaganda. Hrsg. von Joanne McNally und Peter Sprengel. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 29–38, hier S. 29: „Gewiss, man kann sagen: Das Cabaret lag [um 1900] in der Luft, es war die Erfüllung eines schon Jahre zuvor geäußerten Anspruchs. Angesichts des schnellen Abebbens der ersten Welle von Cabaret-Gründungen in Berlin und des frühen Scheiterns bzw. Aussteigens Wolzogens lässt sich aber auch behaupten: Das […] deutsche Cabaret war so neu nicht, es war die letzte Phase und Veräußerlichung eines kulturellen Projektes, das die künstlerische Elite der Jahrhundertwende schon spätestens seit 1896 beschäftigte und in dieser Vor-Phase vielleicht seine beste Zeit erlebte. Folgt man dieser Tendenz zur Überspitzung, so hätten wir heute am 18. Januar 2001 statt des hundertjährigen Bestehens des deutschen Kabaretts eher den Anfang von seinem Ende zu feiern.“
8 Vgl. Volker Surmann: Neue Tendenzen im deutschen Kabarett der 90er Jahre. Schriftliche Hausarbeit im Staatsexamen. Universität Bielefeld, 2003, S. 127. Online verfügbar unter: neu.volkersur mann.de/wpcontent/uploads/2011/03/surmann_examensarbeit.pdf. Letzter Zugriff am 01. Juni 2018. Zitiert aus einem Interview, das Volker Surmann mit dem Kabarettisten Christian Ehring führte.
9 Kühn (2007), S. 9.
10 Surmann, S. 127.
11 In Anlehnung an Kühn (2007).
12 Vgl. das Kapitel dieser Arbeit (Hinter-)Gründe für die Institutionalisierung einer performativen Konstante.
13 Jürgen Pelzer: Kritik durch Spott: satirische Praxis und Wirkungsprobleme im westdeutschen Kabarett (1945 bis 1974). Frankfurt am Main: Haag + Herchen, 1985, S. 12.
14 Ebd.
15 Schneyder (2003), S. 11.
16 Ebd.
17 Vgl. Surmann, S. 27.
18 Vgl. hierzu unter anderem Andreas Dörner: „So schmeckt die Zukunft“. Die humorvolle Rahmung politischer Kommunikation in satirischen Talk-Formaten: grundsätzliche Überlegungen und eine Fallanalyse. In: Politische Kommunikation in der repräsentativen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland. Festschrift für Ulrich Sarcinelli. Hrsg. von Edwin Czerwick. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2013, S. 165–189, hier S. 171: „Charakteristisch für die deutsche Debatte ist die Diskussion eines Gegensatzes zwischen Kabarett und Comedy, meist mit einem normativen Votum für das ‚anspruchsvollere‘ Kabarett“.
19 Vgl. allgemein Heil. Hanns Dieter Hüsch dagegen bestreitet das Ableben des politischen Kabaretts: „Dem würde ich nie zustimmen. Es wird nicht zur Kenntnis genommen. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht hat das Publikum die Schnauze voll. Mit dem politischen Kabarett war es schon immer so ein Auf und Ab. Vielleicht haben wir in ein paar Jahren wieder hochpolitisches Kabarett.“ Helmut Lotz (Hg.): … am allerliebsten ist mir eine gewisse Herzensbildung. Die Interviews. Norderstedt: Books on Demand, 2018 [= Hanns Dieter Hüsch. Das literarische Werk, Bd. 8], S. 431. Surmann, S. 89 bemerkt: „Das politische Kabarett ist nicht tot. Es lebt, aber sein Erscheinungsbild hat sich verändert. Politische Aussagen sind vielleicht nicht mehr möglich, weil es im Zuge des Endes der ‚Metaerzählungen‘ kaum noch allgemeingültige Wahrheiten gibt, doch politisches Nachdenken bleibt nach wie vor möglich.“
20 McNally/Sprengel, S. 7.
21 Ebd.
22 Ebd.
23 Ebd.
24 Kühn (2007), S. 9.
25 Vgl. Budzisnki/Hippen, S. 164: Das Wort ‚Speiseplatte‘ spielt auf die Wortherkunft des Kabaretts von ‚cabaret‘ an, das unter anderem eine Speiseplatte mit eigenen Servierfächern bezeichnete.
26 Vgl. Klaus Budzinski: Das Kabarett. Zeitkritik – gesprochen, gesungen, gespielt – von der Jahrhundertwende bis heute. Düsseldorf: ECON Taschenbuch, 1985.
27 Vgl. das Kapitel dieser Arbeit Was also ist das Kabarett?.
28 Michael Fleischer: Kabarett. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Klaus Weimar. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2007, Bd. 1, S. 209–212, hier S. 209.
29 Alfred Dorfer: Satire in restriktiven Systemen Europas im 20. Jahrhundert. Dissertation. Universität Wien, 2011, S. 88.
30 Ebd., S. 89.
31 Ausspruch König Ludwigs II. von Bayern.
32 Vgl. k. A.: Pi Nachkommastellen Rekorde. Online verfügbar unter: 3.141592653589793238462643383279502884197169399375105820974944592.eu/pi-wissen/pi-nachkommastellen-rekorde/. Letzter Zugriff am 01. Juni 2018.
33 Hier ist natürlich der polemisch-ironische Kontext zu beachten!
34 Rainer Otto/Walter Rösler: Kabarettgeschichte. Abriß des deutschen Kabaretts. Berlin: Henschelverlag, 1977 [= Taschenbuch der Künste], S. 10.
35 Vgl. Kai Bremer: Postskriptum Peter Szondi. Theorie des Dramas seit 1956. Bielefeld: transcript, 2017, S. 10, Fußnote 2: Bremer spricht im Hinblick auf Szondi „bewusst von ‚Form‘ und nicht von ‚Gattung‘ [.], da dieser Begriff literaturtheoretisch vielfältig problematisch ist – zumal für das neuere Drama.“ Mit Bezug auf Norbert Otto Eke: Der Verlust der Gattungsmerkmale: Drama nach 1945. In: Handbuch Drama: Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Peter Marx. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2012, S. 310–322.
36 Bremer, S. 10 mit Bezug auf Martin Esslin: Die Suche nach neuer Form im Theater. In: Jenseits des Absurden. Aufsätze zum modernen Drama. Hrsg. von Martin Esslin. Wien: Europaverlag, 1972, S. 13–19.
37 Bremer, S. 10.
38 Peter Auer/Birgit Barden u. a.: Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem (GAT). Online verfügbar unter: www.mediensprache.net/de/medienanalyse/transcription/gat/gat.pdf. Letzter Zugriff am 01. Juni 2018.
39 comedyde: Mirja Boes – Männer, Mücken, Kinder. [YouTube-Video, 28. November 2012] Online verfügbar unter: www.youtube.com/watch?v=sJE3ziEZudI, 00:00:01–00:00:43. Letzter Zugriff am 01. Juni 2018. Ursprünglich: Mirja Boes: Morgen mach’ ich Schluss! … Wahrscheinlich!?. Sony Music Entertainment GmbH, DVS, 2009.
40 Um nachvollziehbar zu machen, wann von Personen oder Figuren die Rede ist, nutzt die Arbeit für Figuren durchgängig kursive Schreibweise.
2 „Ja, hallo erst mal. Ich weiß gar nicht, ob Sie’s wussten, aber …“45
… Kabarett ist eine der populärsten künstlerischen Ausdrucksformen und eine der umtriebigsten noch dazu. In kürzester Frist siedelte es von Frankreich nach Deutschland über, schaffte den Sprung vom Brettl auf größere und immer noch größere Bühnen, verzog sich in den Untergrund, suhlte sich im Licht der Öffentlichkeit, verachtete, beschimpfte und umschmeichelte sein Publikum, präsentierte sich bunt, poetisch, schwärmerisch, rational, prosaisch, aggressiv, amüsant, ekstatisch, exaltiert, nachdenklich, heiter, melancholisch, formenreich, spartanisch (oder kreuz und quer alles zusammen), machte auf Ernst, machte bloß Spaß, ersetzte das Solistentum durch Ensembles, fand zum Solovortrag zurück, setzte auf Pomp und bescheidene Zurückhaltung, erbaute sich prächtig ausstaffierte Spielstätten, entschied sich für ein Vagabundenleben, wurde verfolgt, ins Exil geschickt und vernichtet, erstand wie Phönix aus der Asche und mauserte sich schließlich zu einem konstitutiven Bestandteil der Freizeitkultur. Im 21. Jahrhundert angekommen, füllen Kabarettprogramme inzwischen Stadthallen und Messeareale bis hin zu ganzen Stadien. In Hörfunk, Film und Fernsehen geben sich Kabarettistinnen und Kabarettisten die Klinke in die Hand, veröffentlichen augenzwinkernde Kolumnen, praktische Ratgeber und Lebenshilfeliteratur, gastieren in Talkrunden, moderieren eigene Shows und bringen im World Wide Web die Emotionen zum Kochen.
Angesichts der großen Präsenz und Popularität des Kabaretts sollte die Beantwortung der Frage Was ist Kabarett? ein Kinderspiel sein. Richtig? Falsch! Das genaue Gegenteil ist der Fall, denn obwohl es en vogue und seit über 100 Jahren sprichwörtlich ‚in aller Munde‘ ist, haben viele der bisherigen Versuche, dem Phänomen Kabarett auf den Grund zu kommen, vor allem Widersprüchliches zutage gefördert und neue Probleme aufgeworfen. Auch die (Kabarett-)Wissenschaft ist eine definitive Antwort bisher schuldig geblieben, da sie vor der schwierigen Aufgabe steht, populäre Ansichten wie die überkommene Dichotomie gutes gesellschaftskritisches – schlechtes unterhaltsames Kabarett46 misstrauisch zu hinterfragen und sich ihre Meinung direkt am Objekt zu bilden. Dass dieses Objekt eine ganze Reihe von Zuständen durchlaufen und im Zuge seiner Professionalisierung die unterschiedlichsten Erscheinungsformen ausgebildet hat, war der akademischen Motivation eher abträglich, weshalb die Kabarettforschung bislang mehr auf Intuition denn auf gesicherten Kenntnissen beruhte. Roger Stein sieht die Schwierigkeit, all die „vielseitigen Bezugs- und Erscheinungsformen“47 des Kabaretts unter einen Hut zu bringen, und erklärt es für definitorisch kaum fassbar48. Alternativ umreißt er das Kulturereignis als ‚Schmelztiegel‘ und „kulturhistorisches Phänomen, das durch gesellschaftliche, kollektive Übereinkunft als solches von Produzenten wie Rezipienten benannt, wahrgenommen und erkannt wird.“49 Da sich gesellschaftliches Handeln generell an Konventionen ausrichtet, bewahrheitet sich die Lösung, die Stein für das Kabarett vorschlägt, auch in Bezug auf jede andere soziokulturelle Erscheinung – oder wie Josef Hader sagen würde: „Ohne Übereinkünfte geht si goar nix aus, need amoi in da Avantgarde.“50
„Woran erkennt man [also], daß man mit Kabarett zu tun hat?“51 Eine berechtigte Frage, die hinsichtlich des ‚stillschweigenden Pakts‘52, den Spielende und Publikum während einer Kabarettaufführung schließen, noch zusätzlich an Brisanz gewinnt. Um Kabarett spielen, erkennen oder überhaupt darüber nachdenken zu können, muss das Langzeitgedächtnis explizit kabarettbezogenes Wissen verwalten, das Verhaltensanforderungen, Handlungsroutinen, Meinungen, Erfahrungen, Erinnerungen und eben auch Schlüsselreize und Signale enthält, die Alarm schlagen, sobald der Wahrnehmungsapparat über sie stolpert. Diese Signale theoretisch herauszudestillieren, darf kein Hexenwerk sein, zumal sie in der Praxis intuitiv erlernt und landauf, landab tagtäglich ganz automatisch praktiziert, produziert und rezipiert werden. Vor diesem Hintergrund drängt es sich auf, die causa Kabarett noch einmal komplett aufzurollen und die quälende Frage Was ist Kabarett?ab ovo zu beantworten. Die folgenden Kapitel widmen sich daher den Alleinstellungsmerkmalen und Gattungsmerkmalen, die Kabarettaufführungen ihr charakteristisches Gepräge verleihen, vom wissenschaftlichen Diskurs aber bisher vernachlässigt, ignoriert oder weitgehend ausgespart wurden.
2.1 Was also ist das Kabarett?
Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerinti explicare velim, nescio53. Während Archimedes sich im 3. Jahrhundert vor Christus auf Syrakus mit der Quadratur des Kreises herumschlug, zermarterte sich Augustinus ein paar 100 Jahre später und ein paar 100 Kilometer weiter westlich das Hirn mit dem Spannungsverhältnis von philosophischem und natürlichem Zeitbegriff54. Das Wesen der Zeit war für den Kirchenlehrer ein Buch mit sieben Siegeln. Vom Kabarett55 hatte er nun erst recht keine Ahnung. Sein ‚Aperçu‘ passt in diesem Zusammenhang trotzdem wie die viel zitierte Faust aufs Auge, denn intuitiv zu wissen, was Kabarett ist und wie es funktioniert, ist schließlich bedeutend einfacher, als dieses Wissen plötzlich in Worte fassen zu müssen. Darüber hinaus kursieren im kollektiven Gedächtnis mittlerweile so viele unterschiedliche Auffassungen über das Kabarett, dass die Aussicht, ihm jemals auf die Spur zu kommen, äußerst düster erscheint. Stein bemerkt, dass der Begriff ‚Kabarett‘ in den kabaretthistorischen Untersuchungen
kaum definiert [wird] – vielmehr geht man stillschweigend davon aus, dass die historische Beschreibung der Entwicklung des Kabaretts dieses gleichzeitig als ‚Erscheinung‘ definiert. [Klaus] Budzinski führt zum Beispiel in seiner Arbeit ‚Das Kabarett‘56 (1985) eine ganze Reihe von Zitaten berühmter Kabarettisten an, ohne jedoch selbst eine Definition zu erarbeiten. […] Dass sich diese Zitatensammlung sehr humoristisch liest, liegt auf der Hand; in Bezug auf die Definition des Begriffs bringt uns jedoch ein Zitat wie Hans Dieter Hüschs Aussage: „Kabarett ist kein Hobby, sondern eine Infektion“57 nicht sehr viel weiter.58
Das öffentliche Bewusstsein verortet das Kabarett heute irgendwo zwischen darstellender Kunstform, Unterhaltungsmedium, Moralinstitution und journalistischer Methode59. Der nach wie vor gebräuchliche Beiname ‚Kleinkunst‘ („Kleinstkunst!“60) distanziert das Kabarett von ‚hehren‘, etablierten Gattungen wie dem Theater, dem Ballett oder der Oper, wiewohl der Ausdruck ursprünglich kein hierarchisches Verhältnis bezeichnet, sondern ganz einfach auf die Größe des kabarettistischen Aufführungsraums anspielt61. Benedikt Vogel bemerkt außerdem, dass es sich bei dem Attribut ‚klein‘ nicht um ein „Spezifikum kabarettistischer Vorstellungen“62 handelt:
Kabarettensembles sind nicht generell kleiner als Schauspielensembles, solange Ein- und Zweipersonen-Stücke einen gewichtigen Teil der Theater-Spielpläne besetzen. Dass Kabarett auf übersichtliche Spielstätten zurückgreift, ist heute die Regel. Allerdings fällt es schwer, mit Blick auf Fernseh- oder Rundfunkkabarett ein zuverlässiges Größenkriterium anzugeben.63
Im heutigen Kabarett sind riesige Hallen genauso state of the art wie Vogels übersichtliche Spielstätten. Dessen ungeachtet hält sich hartnäckig das Gerücht, Kabarettaufführungen könnten ihre größte Wirkung nur unter klaustrophobischen Bedingungen entfalten. Ein Klischee, mit dem die kabarettistische Praxis stets erfolgreich gebrochen hat64, zumal viele Kabarettistinnen und Kabarettisten die Vorteile eines großen Publikums – und zwar nicht nur aus monetären Gründen – durchaus zu schätzen wissen65.
Die gerne als spezifische Stimmung oder Atmosphäre umschriebene Kabarettdynamik hängt mit der lebendigen Interaktion zwischen Spielenden und Publikum zusammen. Aktion und prompte Reaktion verschmelzen die Interaktanten zu einer komplexen Lach- und Kooperationsgemeinschaft, die alle plan- und außerplanmäßigen66 Vorkommnisse mit den Bedarfen des ästhetischen Rahmens synchronisiert. Da Kabarettistinnen und Kabarettisten ihren Spiel- und Sprechrhythmus an den kontinuierlich fließenden Rückstrom des Applauses und Gelächters ihres Publikums anpassen, ist die unmittelbare Teilnahme unmittelbar Anteil nehmender Zuschauerinnen und Zuschauer für Kabarettaufführungen ein absolutes Muss. Diese Grundvoraussetzung schlug insbesondere Anfang der 50er-Jahre zu Buche, als sich das sehr junge Fernsehkabarett noch um eine individuelle Formensprache bemühte:
Obwohl das Programm [der ‚Stachelschweine‘] in natura ein Erfolg war, konnten bei der Art der Übertragung selbst erprobte Kabarettisten keine Tiefenwirkung erzielen. Ohne Zuschauer, ohne Gelächter, ohne Applaus starrten sie nach jeder Pointe und jedem Bonmot schweigend und beifallheischend in die Kamera.67
Das Kabarett wurde oft kleiner geredet, als es eigentlich ist, was es nicht zuletzt seinem Ruf als multimediale Kunstgattung68 und komplexe Mischform69 verdankt, bei der Stein zufolge vieles kann, aber nicht muss70. Pelzer beobachtet, dass sich das Kabarett
im Zuge seiner geschichtlichen Entwicklung als reichlich flexibles Kunstgenre erwiesen [hat], das eine Vielzahl von literarischen künstlerischen Darbietungsweisen in sich aufgenommen hat, vom erotischen Chanson bis zur literarischen Parodie, vom lyrischen Einakter bis zum politischen Sketch, von der vermittelnden Conference bis zur pantomimischen und musikalischen Einlage. Dementsprechend sind auch die Wirkungsabsichten, die hinter dem Kabarett stehen, unterschiedlich: zwischen gezieltem politischen Engagement und reinem Amüsement gab (und gibt) es alle erdenklichen Spielarten.71
Die hier angesprochene Wirkungsabsicht hat sehr wenig mit der Aufführungsdynamik zu tun, welche sich aus dem intensiven Zusammenspiel mit dem Publikum72 ergibt und die Kabarettgemeinschaft im Innersten zusammenhält. Stattdessen wälzt sie die Frage, was Kabarettvorstellungen in den Köpfen arglos lachender Zuschauerinnen und Zuschauer alles anrichten können und welche positive Bilanz sich daraus für die Gesellschaft ziehen lässt. Eine destruktive73, politisch inspirierte Kunst74 wie das Kabarett sollte schließlich – gerade weil sie kontinuierlich zum Lachen bringt – weitaus tiefere Einsichten eröffnen können als ‚plumpe‘ Erkenntnisse à la Das war ja mal ein lustiger Abend!
Komik und Kritik gingen im Kabarett stets Hand in Hand, wodurch es schon früh ins Kreuzfeuer der alten Rivalität zwischen (Massen-)Unterhaltung und künstlerischem Anspruch geriet. Die Kabarettgeschichtsschreibung75 und mit ihr nicht wenige Kabarettistinnen und Kabarettisten unterstellten dem Kabarett gebetsmühlenartig eine humoristische Schlagseite. Travestien, Parodien, Karikaturen und Entlarvungen76 waren nur erwünscht, solange sie Autoritätsstrukturen erschütterten, eine Ventilfunktion erfüllten77 oder subversive Energie freisetzten. Humorige Stumpfsinnigkeiten, die „nicht den Protest, sondern im Gegenteil“ womöglich noch „das Amüsement der angegriffenen Personen“78 hervorriefen, waren verpönt:
Der wahre Satiriker lässt sich weder auf Diskussionen mit Politikern ein, noch leistet er den Einladungen von Bundeskanzlern Folge, noch lässt er sich das Bundesverdienstkreuz umhängen. […] Unsere öffentlichen Spaßmacher sind die modernen Hofnarren, sie werden dafür bezahlt, und zwar sehr gut […].79
Während nun die einen das Kabarett als eine Art Gewissen der Nation feierten und optimistisch gestimmt auf einen „‚erzieherischen‘ und damit auch gesellschaftsverändernden Einfluss des Genres“80 hofften, gaben (und geben) die anderen auf die Wirkungsmöglichkeiten des Kabaretts
nichts oder nicht viel. Es ist das alte Kabarett-Dilemma: Es gehen die hin oder schalten es sein (!), die es prinzipiell gut finden. Mehr oder weniger bleibt man unter sich. Und wirklich ändern vermag auch das frechste Programm nichts. So wie politische Lieder auch keine Revolution herbei singen.81
Ein Grund, resigniert die Segel zu streichen? Keinesfalls! „Denn ungeachtet der Feststellung, es ändere sich durch Kabarett letztlich fast nichts, kann man doch nur weitermachen und auf die Einzelnen hoffen, die man zusätzlich zu den schon ‚Überzeugten‘ erreicht.“82
Unter diesen Vorzeichen kristallisierte sich mit der Zeit „eine Klassifizierung von ‚gutem‘ Kabarett als ‚links-kritischem‘ Motor der Gesellschaftsveränderung und ‚schlechtem‘ Kabarett als unterhaltsame[r] Komödiantik“83 heraus, die namentlich die Kabarettschaffenden in eine fortwährende Sinnkrise stürzte. Denn das Kabarett selbst gedieh historisch gesehen – mit Ausnahme der Jahre 1933 bis 1945 – im deutschsprachigen Raum stets prächtig84 und eroberte sich durch die mediale Streuwirkung großer Bühnen, des Rundfunks, des Fernsehens und schließlich des Internets sukzessive eine immer breitere Öffentlichkeit. Die Kulturkritik wurde nicht müde, dem Kabarett in „Feuilletonspalten, bei Tagungen und Podiumsdiskussion[en]“85 Volksbelustigung vorzuwerfen. Kabarettistinnen und Kabarettisten, die sich ohne Rücksicht auf Verluste der Zensur aussetzten oder wie Werner Finck86 sogar Leib und Leben riskierten87, ließen die Herzen der Kabarettkritik und -reflexion retrospektiv höherschlagen und wurden zu Galionsfiguren des Kabarettleidmotivs Früher war alles besser! verklärt.
Die strikte Überzeugung, Kabarett müsse ‚etwas‘ aussagen, Veränderungen anstoßen und Lachen mit Mehrwert garantieren, prägt das Selbstverständnis des Kabaretts bis heute, wurde mitunter aber auch selbstironisch persifliert:
Ausschnitt aus dem Programm Niavaranis Kühlschrank
MMN: Kabarettist Michael Niavarani
MN’: Figur Michael Niavarani
P: Kabarettpublikum
P’: fiktives Kabarettpublikum
01
MN/MN’
:
ja, gleich äh vorweg möcht ich folgendes sagen, damit
02
hier keine falschen erwartungshaltungen aufkommen
03
das ist heute abend hier KEIn cabaretabend. (-) ja?
04
nein, s=is a persönlicher abend.
05
möcht gern mit ihnen plaudern,
06
gschichteln erzählen und so (--) äh? oje!
07
MN/MN’
:
etz seh i enttäuschte gesichter.
08
P/(P)’
:
((vereinzelt gelächter))
09
MN/MN’
:
oi=sie=ham=glaubt, dees=is äh cabaret <babysprache>,
10
[geh? ja?
11
P/(P)’
:
[((vereinzelt gelächter))
12
MN/MN’
:
n=es gibt heute keine message.
13
das=s ganz wichtig.
14
P/(P)’
:
((vereinzelt gelächter))
15
MN/MN’
:
sie können sich nichts mitnehmen,
16
das ist (-)
17
P/(P)’
:
((unruhe))
18
MN/MN’
:
ich weiß, i weiß.
19
gell, man will ins cabaret gehen
20
und man möcht sich etwas mitnehmen.
21
des is (-) dem ist heute nicht so,
22
meine damen und herren […].88
Ausschnitt aus der Verleihung des Bayerischen Kabarettpreises 2012
MA: Kabarettist Michael Altinger
MA’: Conférencier Michael Altinger
P: Publikum
P’: fiktives Publikum
01
MA/MA’
:
sowohl beruflich als auch priVAT (-)
02
ist der kabarettist
03
eine durchgängige frohnaTUR (--)
04
den einfachen schwank oder den billigen witz
05
lehnt er aber strikt ab.
06
sein humor ist tagespolitisch und intellektbestätigt.
07
von werner finck stammt dees berühmte zitat,
08
ein kabarettist ist immer nur so gut
09
wie sein publikum. es heißt mit anderen worten,
10
es gibt keine schlechten kabarettisten,
11
es gibt nur dummes VOLK. [(--) der KAbareTTIST
12
P/(P)’
:
[((vereinzelt gelächter))
13
MA/MA’
:
hat IMMER zu tun. auch tagsüber […].
14
abends betritt er die bühne
15
und sorgt für geistreiche belustigung.
16
((vereinzelt gelächter))
17
anschließend schreibt er neue texte
18
und lernt diese auswendig.
19
er schläft (-) NIEmals.
20
P/(P)’
:
((vereinzelt gelächter))
21
MA/MA’
:
ein kabarettist, der schläft (-),
22
ist eine kabarettisTIN.
23
P/(P)’
:
[((gelächter))
24
MA/MA’
:
[4.0 sie braucht den schlaf
25
zum erhalt ihrer SCHÖnheit.
26
der kabarettist verzichtet darauf (-)
27
und äh u=e unterstreicht dies
28
durch übermäßigen konsum
29
von alkohol und nikotin […].
30
und am ende spendet er
31
sein gesamtes vermögen und samen.
32
P/(P)’
:
[((gelächter))
33
[er bekleidet sich (3.0) (h) er bekleidet sich
34
mit einem blauen ganzkörperanzug
35
und einem roten umhang,
36
hebt die arme und schwebt in ferne galaxien
37
zu weiteren wohltätigkeiten.
38
der kabareTTIST ist gut
39
und über jedes vorurteil erhaben.
40
dankeschön.89
Um die Mitte der 80er-Jahre machte sich auf den westdeutschen Bühnen und in den Medien eine Erscheinung breit, die der Diskussion um „‚politisch-gutes‘ und ‚unterhaltsam-schlechtes‘ Kabarett“90 eine neue Richtung gab: die Comedy.
Der Comedy-Boom brachte Tobias Mann zufolge „eine neue Generation von Künstlern“ hervor, die sich im Rahmen gesprochener Satire auf vordergründig unpolitische Themen konzentrierten91. „Diese Gruppe wollte sich über den neuen Begriff Comedy (!) vom althergebrachten Kabarett abgrenzen. Diese Trennung wurde auch von der anderen Seite dankbar angenommen“92. Warum? Weil plötzlich alles, was dem genuinen Kabarettideal („Kabarett ist clever, schlau und wertvoll“93) schon immer widersprochen hatte, nun unter dem Schlagwort ‚Comedy‘ („Comedy ist dumm, niveaulos und geistiges Fast Food“94) firmieren konnte. Befreit von offen albernen Unsinnsspäßen95 avancierte die Bezeichnung ‚Kabarett‘ endlich zu einem bühnenkünstlerischen Qualitätssiegel. Eine klassische Win-win-Situation, nach der sich weite Teile der Kabaretttheorie und -praxis immer gesehnt hatten, wiewohl die Comedy – im Zusammenhang mit Kabarett natürlich insbesondere die Stand-up-Comedy – stets unter dem Verdacht stand, das klassische politische Kabarett zu einem Nischendasein verdammt zu haben. Schneyder dagegen erinnert sich, dass „alles, was Comedy ausmacht, inklusive der die riesigen Hallen füllenden Spaßvögel, immer schon da [war]. Neu war nur das Wort ‚Comedy‘“96:
Ausschnitt aus der ARD-Sendung Rosenmontags-Comedy-Gipfel97
rh: rüdiger hoffmann
rb: reinhold beckmann98
01
rh
:
bei mir war das früher ja so, dass ich äh (--),
02
a=als s=es das wort comedy noch nicht gab äh,
03
hab ich ja schon das gemacht,
04
was ich eigentlich immer noch mache.
05
und äh
06
rb
:
da warst du nur noch kein comedian in dEM sinne?
07
rh
:
genau, aber es gab kein wort dafür
08
und deswegen war=s auch schwer,
09
weil ich in cabarets gespielt hab und äh (---)
10
man konnte des nicht einordnen.
11
ich hab=s dann selber mal alltagstypenkabarett genannt,
12
rb
:
[(h)
13
rh
:
[damit die leute wenigstens einen begriff hatten, dafür.
14
(-) ähm (---),
15
joa, dann gab=s auf einmal das wort comedy,
16
das hab ich aber immer schon gemacht vorher.
17
auf einmal war ist man dann comedystar.99
Mit der strengen Polarisierung zwischen dem Kabarett als einer „Institution der Belehrung“100 und der Comedy als einem Auswuchs der Spaßgesellschaft nahm jedoch auch „das Unheil seinen Lauf“101. Denn da sich Kabarett und (Stand-up-)Comedy, trotz aller inhaltlichen Unterschiede oft so verdammt ähnlich sahen, wuchs auch das Bedürfnis102 aufzuklären, worin „zwischen den diversen Spaßangeboten gegenwärtiger Fernseh-Shows oder Star-Tourneen und jener spezifischen Tradition der Kleinkunst, der der Freiherr von Wolzogen […] eine erste Plattform eröffnete“ denn nun eigentlich die Grenzen lagen103.
Hugo Egon Balder und Mann betonen, dass es keinen Unterschied zwischen Comedy und Kabarett gibt104. Mathias Richling dagegen resümiert mainstreamgemäß:
Der Unterschied [zwischen Kabarett und Comedy] liegt darin, dass Comedy sehr wohl noch Witze machen darf über Helmut Kohl, über Gerhard Schröder, über (!) auch von mir aus Franz-Josef Strauß. Beim Kabarett verbietet sich das. Kabarett ist dafür da, satirisch politische, gesellschaftliche, soziale Missstände aufzuzeigen, nicht aufzuklären – dafür sind die Journalisten da –, aber das zu analysieren und Formulierungen dem Publikum zu geben, die erhellend wirken, und die haben immer sozialkritisch zu sein, gesellschaftskritisch zu sein. Das macht Comedy nicht, den Anspruch haben die nicht.105
Abgrenzungskriterien wie das Kabarett stehe für „[g]eistvolle und hintergründige Komik“106, während die Comedy auf „bewusst polarisierende[n] Brachialhumor“107 setze und „nur an der äußeren Erscheinung von Personen und Ereignissen“108 kratze, erweisen sich als irreführend, da sich die Äußerungen von verbrieften Kabarettistinnen/Comediennes und Kabarettisten/Comedians mitunter verblüffend ähneln109.
Alternativ zu akademischen Sackgassen entstanden ironische Erklärungsversuche wie Der Comedian macht es wegen dem Geld, der Kabarettist macht es wegen des Geldes110 oder „Der Kabarettist unterscheidet sich vom Comedian in erster Linie dadurch, dass er sich nach wie vor weigert, ein Headset aufzusetzen“111. Dieter Nuhr erkennt ein Kabarettpublikum daran, dass die Älteren „oft mit den Füßen voraus“112 rausgetragen werden, wenn es zu lange dauert, und Michael Altinger räsoniert ironisch: „Kabarettist wird man, weil man eine Wut hat auf Gesellschaft, auf Politik und auf die eigenen Nazi-Eltern – oder man hat Alt-68er-Eltern und will ihnen gefallen. [.] Um Comedian zu werden, reicht die Wut auf Frauen.“113
Die Unterscheidung in gutes und schlechtes Kabarett respektive zwischen Kabarett und Comedy wird gegenwärtig sowohl in der Kabaretttheorie als auch in der kabarettistischen Praxis als zunehmend kritisch gesehen, wiewohl der „‚hohe politische Anspruch‘ an die Kabarettisten“114 nach wie vor Gültigkeit besitzt. Noch heute
werden nicht die Abläufe innerhalb der Interaktionssituation, sondern ausschließlich das (hohe oder niedrige) ‚Kritikpotential‘ der Texte, die daraus folgende angenommene Wirkung auf das Bewusstsein der Zuschauer und damit auch auf deren gesellschaftskritische Einstellung betrachtet.115
Das Bedürfnis, Kabarett und (Stand-up-)Comedy sauber voneinander zu trennen, ließ die Motivation, der performativen Schnittmenge beider Aufführungsformen – von der sich in der Tat behaupten lässt, es gäbe keinen Unterschied – auf den Leib zu rücken, zurücktreten. Die Integrativen Kabaretttheorie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Kabarett als das zu beschreiben, was es ist: Eine theatrale Gattung, die mit Zeichen von Zeichen operiert und spezifische Rezeptionsprozesse freisetzt.
2.2 Demaskierung einer Rampensau
Auf die Enterbung folgt der Vatermord betitelte die FAZ116 den Zwist, den Richling und Hildebrandt 2009 in aller Öffentlichkeit um das neue Gesicht der Kabarett-Sendung Scheibenwischer austrugen. Ersterer hatte angekündigt, im neuen Satire Gipfel auch Comedians politisch-satirisch zu Wort kommen lassen zu wollen. Hildebrandt reagierte entsetzt und beteuerte, Richling die Leitung einer politischen Kabarettreihe nicht zuzutrauen117; Richling warf dem „Übervater der Branche“118 im Gegenzug Humor-Fundamentalismus119vor. Die politisch-kabarettistische Schlammschlacht endete „in kleinen Scheißereien“120. Der kriegsmüde Richling schwenkte zwar nicht unbedingt die weiße Fahne, glaubte aber, es sei „jetzt Zeit, dass man das mal wirklich beendet, weil jetzt ist es, glaube ich, auch schon allmählich gut gewesen. Der Titel [Scheibenwischer] ist weg, die Sendung ist beerdigt, wir machen eine neue, fertig.“121
Zwei Jahre später übernahm der ‚Kabarett-Comedy-Zwitter‘ Dieter Nuhr den Satire Gipfel, der 2014 in nuhr im Ersten umbenannt wurde und in dem sich seither regelmäßig sowohl Comediennes und Comedians (Carolin Kebekus, Ingo Appelt, Enissa Amani) als auch ausgewiesene Kabarettistinnen und Kabarettisten (Gerburg Jahnke, Max Uthoff, Christoph Sieber) tummeln. Ende gut alles gut? Weit gefehlt.
(Stand-up-)Comedy und (politisches) Kabarett in einen Topf zu werfen, war und ist ein absolutes Sakrileg. Wo es passiert, kann es sich Elke Reinhard zufolge nur um ein Versehen handeln122. Die Integrative Kabaretttheorie geht – auch auf die Gefahr hin, den einen oder anderen Fehdehandschuh abzubekommen – noch einen Schritt weiter. Sie behauptet zwar nicht, zwischen Comedy und Kabarett bestünde kein Unterschied – wo so viele Stimmen unabhängig voneinander Abweichungen vermuten, sollten schließlich auch welche zu finden sein123 – aber sie unterstellt dem Stand-up-Format und dem Kabarett124 eine gemeinsame performative Basis. Um das Fass zum überlaufen zubringen, verzichtet die Arbeit zusätzlich auf die Bezeichnung ‚Comedian‘. Michael Mittermeier und Frank Lüdecke, Mario Barth und Volker Pispers, Mirja Boes und Simone Solga heißen hier völlig gleichberechtigt ‚Kabarettistinnen‘ oder ‚Kabarettisten‘ – frei nach dem ‚richlingschen Viersatz‘: Die Vorurteile sind weg, der alte Streit ist beerdigt, wir wagen was Neues, fertig.
Die These Stützen sich alle kabarettistischen Spielformen125 auf den gleichen theatralen Modus? stellt sofort die Frage nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner126. Auf der Suche nach Berührungspunkten fällt auf, dass Kabarettistinnen und Kabarettisten – auch diejenigen, die nebenher noch Klavier spielen, Jonglieren, Zeichnen etc. – während einer Aufführung vor allem eines tun: Sie reden – und zwar ohne Unterlass127. Bezeichnenderweise führen sie dabei niemals Selbstgespräche oder unterhalten sich auch zu mehreren ausschließlich bloß miteinander. Die Sprecherin oder der Sprecher adressiert stets ein Gegenüber außerhalb der konkreten Bühnensituation:
Ausschnitt aus dem Programm Die letzte Tour
PW: Kabarettist Philipp Weber
PW’: Figur Philipp Weber
CW: Kabarettist Claus von Wagner
CW’: Figur Claus von Wagner
MT: Kabarettist Mathias Tretter
MT’: Figur Mathias Tretter
P: faktisches Kabarettpublikum
P’: fiktives Kabarettpublikum128
01
P/(P)’
:
[((applaus und jubelrufe))
02
PW/PW’
:
[(17.0) münchen! (-) münchen! ets dankeschön münchen.
03
des is ja der hammer!
04
CW/CW’
:
[(2.0)129 a ha ja.
05
PW/PW’
:
hua münchen, des is ja der HAmmer!
06
ich muss sagen, also,
07
ein LEbenstraum geht für uns in erfüllUNG.
08
lustspielHAUS – ausverKAUFT!
09
P/(P)’
:
((vereinzeltes gelächter))
10
urban priol, zieh dich warm an, [jeah!
11
P/(P)’
:
[((gelächter; verein-
12
zeltes klatschen))
13
CW/CW’
:
[(4.0) nei, nein,
14
es is schon, nein, nein,
15
wir können das schon einordnen.
16
das dieses man darf da nicht abheben,
17
weil ma einmal ausverkauft is.
18
wir waren neulich scho ma ausverkauft in ingolstadt.
19
na hatten die extra so=n plakat (-) geschrieben,
20
da stand so ZWANGSensemble AUSverKAUFT,
21
warn ma auch sehr stolz,
22
dann weiter unten
23
dieter hildebrandt RESTlos ausverkauft.
24
P/(P)’
:
[((gelächter und vereinzeltes klatschen))
25
MT/MT’
:
[(2.0) a=s hej. (-) ja,
26
MT/MT’
:
herzlich willkommen zu unserm programm
27
die letzte tour.
28
viele haben uns gefragt, bei dem titel (-),
29
wollt ihr mit dem programm abschied nehmen (-)?
30
und die antwort ist (-) ja.
31
P/(P)’
:
((gemurmel))
32
MT/MT’
:
wir wissen nur noch nich wovon.
33
P/(P)’
:
((vereinzeltes gelächter))130
Viele der Bemerkungen Philipp Webers, Claus von Wagners und Mathias Tretters fordern eine sofortige Publikumsreaktion heraus, wodurch der Ausschnitt eine deutliche Dialogstruktur erhält131. Die unausgewogene Verteilung des Rederechts und die Beschränkung seiner Redebeiträge auf kollektivierbare Reaktionen wie Applaus und Gelächter hindern das Publikum nicht daran, sich instinktiv auf die Position des Adressaten und unmittelbaren Gesprächspartners zu setzen. Begrüßungsformeln, die den Zuschauerinnen und Zuschauern zugewandte Körperhaltung und die Rücksichtnahme auf ihre Lach- und Klatsch-Dynamik erhärten die Annahme, mit den Kabarettisten in direktem Kontakt und sprichwörtlich auf Du und Du zu stehen. Die folgenden Beispiele zeichnen ein ähnliches, trotzdem aber völlig anderes Bild:
Ausschnitt aus dem Programm Frauen und Kinder zuerst
GJ: Kabarettistin Gerburg Jahnke
HS: Helene Schiller
P: faktisches Kabarettpublikum
(Passagiere132)
01
GJ/HS
:
ähuä, ja, also (-) willkommen
02
P
:
[((applaus))
03
GJ/HS
:
[(2.0) ja (3.0) ähu (7.0) ähu (2.0) ja
04
GJ/HS
:
willkommen an bord der ms helene, ne?
05
ähuä wir freuen uns natürlich,
06
dass sie mit uns reisen, IS=kla:.
07
wenn sie eine frage haben,
08
dann bitte nicht an mich, ja?
09
ich hab kein zeit. [ich äh
10
P
:
[((gelächter))
11
ich hab dinge zu tun,
12
da machen sie sich überhaupt kein bild von, ja?133
Ausschnitt aus dem Programm Wirklich wahr
BJ: Kabarettist Bruno Jonas
WD: Walter Donhauser (Steuerberater)
P: faktisches Kabarettpublikum
Z: Menschen vor einem Gerichtssaal134
01
BJ/HD
:
jojo. sakradi, gäht nix weida, ha?
02
hm hm hm
03
san sie a geladen?
04
Z
:
[((antwort))
05
P
:
[((gelächter))
06
BJ/HD
:
(-) ois zeugen?
07
Z
:
((antwort))
08
BJ/HD
:
warn sie a olle im kaufhof?
09
Z
:
[((antwort))
10
P
:
[((gelächter))
11
BJ/HD
:
(-) in der elektroabteilung?
12
Z
:
[((antwort))
13
P
:
[((zaghaftes gelächter))
14
BJ/HD
:
sie, dees oane sog i eana glei, gej,
15
so genau wie ich=s gesehen hab,
16
keenan sie=s gor need gseng ham,
17
weil i bin direkt neba dem lechner gstandn.
18
der lechner is do gstandn
19
und i bin wie gsogt do gstandn.
20
na ja, wor ja a a riesenmenschenauflauf,
21
dees hoibe kaufhaus iis a zsammglaffa.
22
ois weega so am mickrigen cd-walkman.
23
dees muaß ma si moi vorstein.
24
weega so am kloana walkman so a gschieß, do!
25
wern a hauffa zeugen geladen, gerichtsverhandlung!
26
geh, hea ma dooch auf, i woaß ganz genau,
27
wie=s war, weil ich=s ganz genau gesehen hab.
28
und zwar bin ich ähm im aufzug nach oben gefahren,
29
in den vierten stock, in die elektroabteilung.
30
oder is die im dritten obergeschoss?135
Ausschnitt aus dem Programm Im Keller
JH: Kabarettist Josef Hader
WT: Werbetexter
P: faktisches Kabarettpublikum
HM: Herr Meister
Z: einzelne Zuschauerin
01
P
:
((applaus; ein pfiff))136
02
JH/WT
:
und wie lang wern sie do brauchn?
[03
HM
:
((antwort))]
04
JH/WT
:
nA, es iis nur, wei=i i äh hätt nocher en termin.
05
P
:
((vereinzelte reaktionen))
06
JH/WT
:
dieses feuchte klopapier.
07
HM
:
((antwort))
08
JH/WT
:
(---) da hod diese firma angrufn
09
mit eanan feichtn klopapier
10
und de ham dann gsogt,
11
sie woin so wos ähnliches wie wia
12
damois gmacht ham für teekannen.
13
P
:
((gelächter))
14
JH/WT
:
wei=äh dieser teekannenspot war (-)
15
da größte erfolg vo unsra agentur, n?
16
jetz ruafn olle nurmehr an kontaktlinsen,
17
stoßdämpfer, babynohrung, winterraafen (1.0)
18
olle wuin an spot hom mit teekannen.
19
(-) hähä.
20
Z
:
hähä.
21
JH/WT
:
jo.
22
P
:
((vereinzeltes gelächter))
[23
HM
:
was sind sie von beruf?]
24
JH/WT
:
wo=äh wos für beruf?
25
werbung, ja, werbung. natürlich ja.
26
(---) wos ham sie glaubt? installateur? ahaha!
27
P
:
((gelächter))137
Alle drei Textausschnitte geben die Unterhaltung einer Person mit einer anderen Person oder Personengruppe wieder. Letztere ist für das faktische Publikum de facto abwesend. Für die Sprecherin oder den Sprecher handelt es sich hingegen um einen ‚realen‘ Interaktionspartner, der mitunter auch ‚selbstständig‘ die Initiative ergreift. Darüber hinaus stellt keine der Gesprächssituationen eine Kabarettaufführung dar. Gerburg Jahnke, die sich später als Helene Fischer vorstellt, wendet sich an eine Gruppe Schiffsreisender, Bruno Jonas spricht in der Rolle des Steuerberaters Walter Donhauser mit Zeugen vor einem Gerichtssaal und Hader spielt einen (namenlosen) Werbetexter, der seinen Handwerker ‚Herr Meister‘ mit Worten zutextet.
Die Konstellationen sprechen für zwei sich produktiv überlagernde Kommunikationssysteme: Ein theatrales, das den indirekten Austausch der Spielenden mit einem faktischen Publikum umfasst, und ein fiktionales, auf dem sich Figuren unterhalten. Die Besonderheit gegenüber anderen Aufgeführten Gesprächen besteht darin, dass der Adressat der anwesenden, offen sichtbaren Figur Teil der Wortkulisse ist, wodurch alle Informationen über das verdeckte Gegenüber138 indirekt erschlossen werden müssen. Vogel nennt diese Art des theatralen Austauschs Offenen Dialog und liefert der Integrativen Kabaretttheorie damit ein ahistorisches Gattungskriterium, das für jede Art von Kabarett konstitutiv ist. Die kürzeste und einfachste Kabarettdefinition lautet folglich: Kabarett ist ein Aufgeführtes GesprächimOffenen Dialog139. Die Definition umfasst auch Kabarettprogramme, deren Dramaturgie keine vom Kabarettkontext abweichende Gesprächssituation vorsieht:
Ausschnitt aus dem Programm 2 Musterknaben
VG: Kabarettist Viktor Gernot
VG’: Figur Viktor Gernot
MN: Kabarettist Michael Niavarani
MN’: Figur Michael Niavarani
P: faktischen Kabarettpublikum
P’: fiktives Kabarettpublikum
ST’’: ein Sterbender140
01
MN/MN’
:
blöd is, dass wir heute abend nicht
02
(-) über frauen reden können.
03
VG/VG’
:
warum können oder sollen wir
04
oder dürfen wir nicht über frauen reden?
05
MM/MN’
:
na, wei=m=m letztn Programm a stund lang
06
drüber gredt ham.
07
VG/VG’
:
na und?
08
MN/MN’
:
na, wos ‚na und’?
09
des=s eine PLUMpe wiederhol[ung.
10
VG/VG’
:
[nEIn,
11
überhaupt ned. es is über fünf jahre her.
12
erstens. zweitens hamma damals a stunde
13
über des thema durchgredet,
14
MN/MN’
:
ja?
15
VG/VG’
:
aber mia ham ja faktisch
16
MN/MN’
:
nix gsogt.
17
VG/VG’
:
genau.
18
MN/MN’
:
ja, tro[tz
19
VG/VG’
:
[und es is ein unendliches feld,
20
ein unendliches thema.
21
MN/MN’
:
[ja.
22
VG/VG’
:
[und es is im leben der menschen
23
thema nummer eins.
24
(-)[des geht über alles.
25
MN/MN’
:
[na, dees glaub i nimmer.
26
VG/VG’
:
[politik, kultur alles wurscht
27
MN/MN’
:
[nein, nein, nein beziehung, frauen und äh
28
VG/VG’
:
[des wichtigste
29
MN/MN’
:
[nein äh nummer eins is die WELTpolitik.
30
VG/VG’
:
nein.
31
MN/MN’
:
oh ja, wos is mit da weltwirtschaftskrise,
32
VG/VG’
:
michael.
33
MN/MN’
:
wos mim kapitali[smus,
34
VG/VG’
:
[nein
35
MN/MN’
:
wos is mit=n terrorismus,
36
VG/VG’
:
[wann
37
MN/MN’
:
[das interessiert die menschen!
38
VG/VG’
:
hör zu, mein häschen ((auslassung von 21.0)
39
wann kommt die wahrheit
40
über einen menschen am deutlichsten,
41
am klarsten hervor?
42
(---) in seiner letzten stunde.
43
MN/MN’
:
wos?
44
VG/VG’
:
die letzten worte eines menschen
45
auf dieser welt.
46
hast du jemals gehört,
47
dass einer am sterbebett gesagt hätte
48
VG/VG’/ST’’
:
schweesta, i gspier, glei is vorbei.
49
schlong=s ma bitte noch einmal
50
den politikteil vom standard auf. ähhh.
51
P/(P)’
:
[((gelächter))
52
VG/VG’
:
[mocht kaana. da ruft man nach seiner familie,
53
nach seinen liebsten.
54
DAS. das is wichtig.
55
MN/MN’
:
da hast aber wirklich recht.141
Theatrale Gattungen versetzen Zuschauerinnen und Zuschauer während der Aufführung in einen „quantitativen, psycho-physisch und zeitlich bestimmten Reizzustand, der einen neuen qualitativen Erlebniszustand definiert“142. Dieses ästhetische Erleben oszilliert beständig „zwischen [der] Bewußtheit des Spielcharakters [Inlusion]143 und dem Verschwinden dieses Wissens in der Illusion“144. Sich vordergründig in die dargestellte Welt ‚hineinziehen‘ zu lassen und dabei stets im Hinterkopf zu behalten, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler – respektive die Kabarettistinnen und Kabarettisten – nur so tun, als ob145, ist eine Begleiterscheinung des „doppelten Modus theatraler Zeichenverwendung“146.
Der Rezeptionsmodus der Inlusion stellt sicher, dass die mithilfe von Sprache, Bewegungen, Kulissen, Requisiten, Kostümen, Masken und Lichteffekten erzeugten theatralen Zeichen auch wirklich als Zeichen von Zeichen147 wahrgenommen werden, was bei den Rezipierenden ganz bestimmte, dem ästhetischen Rahmen angemessene Verhaltensweisen auslöst. Nicht umsonst beschreibt Stephanie Metzger insbesondere die theatrale Fiktionalisierung als ein „an die Mitarbeit und Aktivierung des Publikums gekoppelt[es] […] Interaktionsverhältnis zwischen Bühne und Zuschauerwahrnehmung“148.
Die kabarettistische Kooperationsgemeinschaft (Spielende und Publikum) eint das Interesse, den Interaktionsprozess zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen149. In Anbetracht des Credos Zusammenarbeiten um jeden Preis! lassen sich Kabarettzuschauerinnen und Kabarettzuschauer spitze Bemerkungen oder handfeste Beschimpfungen gefallen und verpflichten sich die Spielenden darauf, genügend ‚Stimulanzien‘ zu liefern, die das Publikum lachend, klatschend, johlend, pfeifend, jubilierend etc. beantworten kann.
Der Offene Dialog wird als Teil der ästhetischen Gesamtsituation wahrgenommen150, nutzt jedoch auch verstärkt Instrumente, welche die Rezipierenden dazu animieren, sich selbst Authentizität vorzutäuschen151. Figuren, die das Publikum ‚anspielen‘, es beschimpfen, Fragen stellen (und konkrete Antworten erwarten), aus der Rolle fallen oder andere metakabarettistische Bezüge herstellen, erscheinen bisweilen so lebensecht, dass ihre Fiktionalität nahezu vollständig aus dem Bewusstsein gedrängt wird. Zuschauerinnen und Zuschauer fühlen sich von der Figur persönlich angesprochen oder sind davon überzeugt, anstatt einer Figur eine wirkliche Person vor sich zu haben152. Diese Hyperillusion153 kommt einer absoluten theatralen Illusion schon sehr nahe. Für die notwendige Trennung der ontologisch grundverschiedenen Kommunikationsebenen sorgt sowohl beim Kabarett als auch bei allen anderen Spielformen des Aufgeführten Gesprächs im Offenen Dialog154 die Fiktionsblase155 – ein rezeptionsunabhängiges, ästhetisches Gewebe, das die Lebenswelt und die Bühnenrealität sauber separiert und sowohl die von den Spielenden dargestellten Figuren als auch die Figuren/Ereignisse, die aus Ästhetisierungs- und Materialisationsprozessen156 hervorgehen, umschließt.
Theatrale Verfahren, die wie das Beiseitesprechen, die Publikumsansprache, der Chor und Erzählerfiguren Authentizität suggerieren, existieren bereits seit der Antike und sind auch heute bei Weitem nicht auf das Kabarett beschränkt. Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, welche historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren den Anstoß dafür gegeben haben, dass sich diese Techniken im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Gattung – dem heutigen Kabarett – verdichten konnten.
2.3 Kabarettgeschichte von gestern bis heute
Das also ist des Kabarett-Pudels Kern? Ein Aufgeführtes Gespräch im Offenen Dialog? Tatsache! Denn um eine Aufführungssituation als Kabarett erkennen und entsprechend darauf reagieren zu können, braucht es lediglich eine Person, die (vor und in mittelbarer Interaktion mit einem Publikum) als Figur auf ein verdecktes Gegenüber einspricht. So simpel also lässt sich das Mysterium Kabarett entzaubern oder, um es mit Niavarani auszudrücken: „Nah, mehr steckt nicht dahinter!“157
Michael Fleischer betrachtet das Kabarett (der späten 1980er-Jahre) als kultur- und sprachräumlich begrenztes Phänomen:
[D]as Kabarett [ist] nur auf wenige Nationalkulturen beschränkt [.], d. h.[, dass es] in nur wenigen Kulturen auftritt. Nimmt man als Grundlage einer Bestimmung die allgemein bekannte Form des Kabaretts – etwa wie sie in Deutschland ausgeprägt ist –, so kann man feststellen, daß Kabarett nur im deutschsprachigen Raum, in Polen und in der Tschechoslowakei vorhanden ist (mit Einschränkungen – historischer Art – noch in Rußland und in Ungarn)158. Die Existenz des Kabaretts ist also auf wenige Länder bzw. Sprachräume beschränkt.159
Ein flüchtiger Blick über den Tellerrand genügt jedoch, um sich davon zu überzeugen, dass sich Aufgeführte Gespräche im Offenen Dialog auch hinterm deutschen und osteuropäischen Horizont größter Beliebtheit erfreuen. ‚Kabarett‘160