Das Kind als Träger der werdenden Gesellschaft - Kurt Löwenstein - E-Book

Das Kind als Träger der werdenden Gesellschaft E-Book

Kurt Löwenstein

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  • Herausgeber: heptagon
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Kurt Löwenstein wurde 1923 die treibende Kraft der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde Deutschlands. In nicht einmal 10 Jahren entwickelten sich die Kinderfreunde zur größten Kinderbewegung weltweit. 1932, ein Jahr vor dem Verbot durch die Nationalsozialisten, organisierten sie rund 120.000 Kinder, 60.000 Eltern und etwa 10.000 ehrenamtliche Helfer in 1.100 Ortsgruppen. Ein wichtiges Element der Kinderfreunde-Praxis waren die sogenannten 'Kinderrepubliken'. An diesen großen, meist vierwöchigen Zeltlagern nahmen tausende Kinder teil. Der Name war dabei Programm. 'Alle Staatsgewalt geht vom Kinde aus', hieß es in deren Statut. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer, ungeachtet ob erwachsene Helfer oder Kinder, waren hier gleichberechtigt, das Zeltlagerleben wurde selbstbestimmt. Die einzelnen Zeltdörfer wählten ihre Vertreter ins Lagerparlament, in dem alle (!) relevanten Entscheidungen der Kinderrepublik demokratisch getroffen wurden. In der Kinderrepublik übten die Kinder über parlamentarische Strukturen echte Entscheidungsmacht aus. Eines der teilnehmenden Kinder der ersten Kinderrepublik, die 1923 in Seekamp bei Kiel stattfand, war der spätere Bundeskanzler Willy Brandt. So ist es vielleicht kein Zufall, dass Brandt als Regierungschef das Motto 'mehr Demokratie wagen' in den Mittelpunkt seiner Politik stellte.

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Seitenzahl: 262

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Impressum

Kurt Löwenstein: Das Kind als Träger der werdenden Gesellschaft Neu herausgegeben von Günter Regneri Veröffentlicht im heptagon Verlag Berlin 2013 ISBN: 978-3-934616-93-6 www.heptagon.de

Diesem E-Book liegt folgendes Referenzwerk zu Grunde: Kurt Löwenstein: Das Kind als Träger der werdenden Gesellschaft, Verlag Jungbrunnen, 2., erweiterte, Auflage, Wien 1928, 160 Seiten.

Kurt Löwenstein (1885–1939)

Der Pädagoge und Politiker Kurt Löwenstein wurde 1885 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Bleckede in der Nähe von Lüneburg geboren. 1906 trat er in das orthodoxe Berliner Rabbiner-Seminar ein, verließ es aber 1908 als Freidenker. Das bereits in Berlin begonnene Pädagogikstudium schloss Löwenstein dagegen 1910 erfolgreich mit der Promotion ab.

Um nicht als Soldat töten zu müssen, meldete er sich im Ersten Weltkrieg als Sanitäter beim Roten Kreuz. Unmittelbar nach dem Krieg engagierte sich Löwenstein politisch in der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, deren führender Bildungspolitiker er wurde. Zwischen 1920 und 1933 gehörte er dem Reichstag an, bis 1922 für die USPD, danach als Abgeordneter der wiedervereinigten SPD. Parallel zu seinem parlamentarischen Mandat bekleidete er verschiedene Ämter und Funktionen innerhalb der sozialdemokratischen Bewegung und der Berliner Kommunalpolitik. Hier versuchte Löwenstein, grundlegend mit den bisherigen, obrigkeitsstaatlichen Bildungskonzeptionen zu brechen.

So wurde Löwenstein seit 1923 die treibende Kraft der Reichsarbeits­gemein­schaft der Kinderfreunde Deutschlands. In nicht einmal 10 Jahren entwickelten sich die Kinderfreunde zur größten Kinderbewegung weltweit. 1932, ein Jahr vor dem Verbot durch die Nationalsozialisten, organisierten sie rund 120.000 Kinder, 60.000 Eltern und etwa 10.000 ehrenamtliche Helfer in 1.100 Ortsgruppen.

Ein wichtiges Element der Kinderfreunde-Praxis waren die sogenannten »Kinderrepubliken«. An diesen großen, meist vierwöchigen Zeltlagern nahmen tausende Kinder teil. Der Name war dabei Programm. »Alle Staatsgewalt geht vom Kinde aus«, hieß es in deren Statut. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer, ungeachtet ob erwachsene Helfer oder Kinder, waren hier gleichberechtigt, das Zeltlagerleben wurde selbstbestimmt. Die einzelnen Zeltdörfern wählten ihre Vertreter ins Lagerparlament, in dem alle (!) relevanten Entscheidungen der Kinderrepublik demokratisch getroffen wurden. In der Kinderrepublik übten die Kinder über parlamentarische Strukturen echte Entscheidungsmacht aus. Eines der teilnehmenden Kinder der ersten Kinderrepublik, die 1923 in Seekamp bei Kiel stattfand, war der spätere Bundeskanzler Willy Brandt. So ist es vielleicht kein Zufall, dass Brandt als Regierungschef das Motto »mehr Demokratie wagen« in den Mittelpunkt seiner Politik stellte.

Als hauptamtlicher Volksbildungsstadtrat in Berlin-Neukölln initiierte Kurt Löwenstein ab 1921 eine Reihe von Schulreformen. Eine seiner ersten Maßnahmen war die Schaffung von »Arbeiter-Abiturientenkursen«, in denen junge Arbeiterinnen und Arbeiter innerhalb von drei bis vier Jahren zur Hochschulreife geführt wurden: ein erstes Modell des Zweiten Bildungswegs. Ab 1927 baute er gemeinsam mit dem Schulreformer Fritz Karsen das erste deutsche Gesamtschulprojekt auf. Es sollte eine Schule entstehen, die sich nicht mehr an den Erfordernissen der bestehenden, sondern an denen einer kommenden – oder wie es Löwenstein ausdrückte »werdenden« – Gesellschaft orientierte. Ziel war die Schaffung von Arbeits- und Lerngemeinschaften von Lernenden und Lehrenden, die gemeinsam die inhaltliche Gestaltung des Lernens planen, umsetzen und kontrollierten. Löwensteins Erfahrungen aus dem außerschulischen pädagogischen Bereich, sein spezifisches Politikverständnis und sein Begriff von Bildung führten zu einem Konzept der Schulgemeinschaft, das weit über das hinausgeht, was in heutigen Debatten über Schulstrukturen diskutiert wird.

Die Nationalsozialisten beendeten die bis dahin erfolgreichen pädagogischen Ansätze, die Löwenstein angestoßen und begleitet hatte. Zudem verübten SA-Männer auf den Sozialisten jüdischer Herkunft im Februar 1933 einen Mordanschlag. Daraufhin floh Löwenstein mit seiner Familie aus Deutschland. Über Prag gelangte er 1934 nach Draveil bei Paris, wo zwei Jahre zuvor unter seiner Leitung die internationale Kinderrepublik »Solidarität« stattgefunden hatte. In der Folgezeit widmete sich Kurt Löwenstein dem Aufbau der Sozialistischen Erziehungsinternationale, die heute den Namen International Falcon Movement – Socialist Educational International (IFM-SEI) trägt und als Dachorganisation 60 Kinder- und Jugendorganisationen auf fünf Kontinenten zusammenbringt. Wenige Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs starb Kurt Löwenstein am 8. Mai 1939. Begraben liegt er auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise.

Als Vordenker eines Demokratischen Sozialismus geriet Kurt Löwenstein nach 1945 weitgehend in Vergessenheit. Seine Texte sind in ihrer Bildhaftigkeit stark der Sprache und Argumentation der Zeit der Weimarer Republik verhaftet. Dennoch weist vieles in »Das Kind als Träger der werdenden Gesellschaft« über den Zeitkontext der Weimarer Republik hinaus.

Insbesondere Löwensteins Verständnis der Wechselwirkung von Demokratie und Bildung erscheint aktuell in einer Zeit, in der das Bildungssystem beinahe vollständig dem Primat der ökonomischen Verwertbarkeit unterworfen wird. Sollten wir unser Bildungssystem – im Sinne Kurt Löwensteins – nicht eher an den Fragen orientieren: »Wie können Kinder und Jugendliche ihre eigenen Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen? Welche Fähigkeiten und welches Wissen müssen sie sich aneignen, um in Zukunft besser ihre Interessen vertreten zu können?«

Günter Regneri

Das Kind als Träger der werdenden Gesellschaft

von

Kurt Löwenstein

Meiner Mara

Vorwort zur 2. Auflage

Als dieses Buch in der ersten Auflage erschien, waren wir noch mitten in der Inflationszeit. Die Herausgabe war daher für den Verlag ein außerordentliches Wagnis. Das Buch konnte erscheinen, aber es trug die Spuren der Inflation an sich. Druck, Papier und Ausstattung erfüllten nicht die Ansprüche, die man in normalen Zeiten billigerweise an ein solches Buch stellen kann. Das hat manchen davor zurückgeschreckt, das Buch zu lesen. Dennoch hat es seinen Weg gefunden und ist besonders in die Kreise der Erziehungsfunktionäre der Arbeiterklasse eingedrungen, für die es nicht ausschließlich, doch in der Hauptsache geschrieben ist. Die zweite Auflage ist nötig geworden, weil die erste vergriffen ist. An der grundsätzlichen Einstellung des Buches ist nichts geändert worden. Sie ist heute Gemeingut der gesamten Kinderfreundebewegung. Doch die Kinderfreundebe­wegung ist – besonders in Deutschland – stark angewachsen, und manche Erfahrung dieser Bewegung ist in der Neuauflage verwendet worden. Vor allen Dingen hat sie eine innere Wandlung durchgemacht. Der Gedanke der Erziehung als »Betreuung« der Arbeiterkinder ist immer mehr in den Hintergrund getreten. Die Kinder unserer Bewegung sind pädagogisch aktiver geworden. Sie erfahren nicht so sehr Erziehung, als dass sie selbst Erziehung machen. Diese Verselbständi­gung der Kinder hätte leicht zu unlösbaren Konflikten zwischen Kindern und Helfern führen können. Die Tausende von Jugendlichen, die als Helfer in unserer Bewegung stehen, bewahrten uns davor, dass diese Emanzipation der Kinder Krisen auslöste. Es war im allgemeinen eine angenehme Verschmelzung zwischen Helfer und Kind. Die Kinderrepublik Seekamp, die die Reichsarbeitsge­meinschaft der Kinderfreunde im Juli/August 1927 an der Ostsee durchführte, war die große praktische Probe für diese Entwicklung. Unsere Bewegung hat diese Probe bestanden. Von Kiel aus sind starke Impulse der Vertiefung und Verbreiterung ausgegangen. Der sozialistische Erziehungsgedanke braucht zu seiner Verwirklichung für die Tagesarbeit wie für das Ringen um die Zukunft viele geschulte Kräfte. Dieses Buch soll dieser Schulungsarbeit dienen.

I. Kindeswachstum ist werdende Gesellschaft

Es hat eigentlich niemals einen ernstlichen Zweifel daran gegeben, dass Kinder erzogen werden müssen. Die Tatsache, dass Kinder wachsen, dass sie sich in Fertigkeiten vervollständigen und schließlich vollwertige Mitglieder der Gesell­schaft werden, hat schon früh die Menschen dazu veranlasst, diesen Prozess des Werdens ihrer Kinder bewusst zu beeinflussen. Eine Reihe von Regeln, von Gewöhnungen und Anordnungen gehören bis auf den heutigen Tag zu dem eisernen Bestand der Erziehungsmethoden von Haus, Schule und Öffentlichkeit. Es würde sehr interessant sein, diese unbewussten Selbstverständlichkeiten in der Erziehung durch die Jahrhunderte hindurch zu verfolgen. Man würde auf diese Weise einen sehr lehrreichen Querschnitt durch die gesellschaftlichen Verhältnis­se überhaupt gewinnen. In der Entwicklung zum Beispiel des Autoritätsgedan­kens auf dem Gebiete der Erziehung spiegelt sich mehr wider als nur eine Erziehungstheorie. Von dem Kinde der früheren Zeit, das in Gegenwart Erwachsener nicht ungefragt sprechen durfte, bis zu dem Kinde unserer modernen Zeit, dessen Plauderei gelegentlich so heiliggesprochen wird, dass die Erwachsenen vor ihr ihre eigenen Interessen zurückstellen müssen, ist ein langer Weg der Abtragung von Vorurteilen, der Unter- und Überordnung bis zur Einordnung aller in ein Bewusstsein der gesellschaftlichen Gleichberechtigung der Menschen untereinander.

Diese geschichtlichen Rückblicke sind jedoch im allgemeinen außerordentlich erschwert, weil die gesellschaftliche Entwicklung weder geradlinig verläuft noch auf den verschiedenen Stufen in gleicher Stärke und Breite erfolgt. Wir haben uns manchmal bei der Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklung zu sehr nur nach dem Begriff der naturwissenschaftlichen Entwicklung unterrichtet. Dieser naturwissenschaftliche Begriff, dessen Charakteristikum das rein mechanische Wechselverhältnis gesetzlicher Bestimmtheit von Ursache und Wirkung ist, würde nicht ausreichen, um geschichtliches Entstehen und Vergehen zu erklären. Durch geschichtliches Werden wird einerseits der Mensch bestimmt, andererseits aber ist das menschliche Wollen selbst stark in dem gesellschaftlichen Geschehen. Beide aber gehen nicht restlos in dem Rhythmus von Ursache und Wirkung auf. Da das strenge Schema von Wirkung und Ursache nicht ausreicht, so schleicht sich – meist ganz unbewusst – in diesen Rhythmus Zweck und Zielsetzung hinein, und aus dem einfachen Geschehen wird ein Aufstieg von niedrigeren zu höheren Formen. Diese Zweck- und Zielsetzung beeinflusst nicht nur die einzelnen Teilvorgänge der Erfahrung, sondern beherrscht auch den Gedanken der Entwicklung in seiner Gesamtheit. So wird aus einer Aufeinanderfolge von Formen und Gestaltungen eine Stufenleiter, so wird aus der Entwicklung des Menschengeschlechts ein Aufstieg. Dieses Bewusstsein von einem Aufstieg als der eigentlichen Zielsetzung der Entwicklung des Menschengeschlechts wird so überwältigend erlebt, dass es sich zur religiösen Gläubigkeit einer göttlichen Bestimmung steigert oder, wo diese naive religiöse Gläubigkeit schon durch philosophische Vorstellung ersetzt ist, zu einem ethisch-metaphysischen System. Gott gibt dem Menschen als seine ureigentlichste Aufgabe seinen Aufstieg von tierischer Begierde zu den geistig-sittlichen Formen des Gott-erfüllten Menschen – so sprechen die Gläubigen. Nicht das ewige Widerspiel von Umwandlung einer Energieform in die andere, nicht das Auflösen und Neuordnen von Verbindun­gen, nicht Leben und Sterben ist Sinn der Welt, sondern Aufstieg von den primitiven Lebensformen zu immer vollendeteren Gestaltungen, das ist der Sinn der Entwicklung des Menschengeschlechtes und der Welt überhaupt – so sprechen die Philosophen. Doch wir wollen uns nicht in den Wetteifer von Theologen und Philosophen mischen. Wir wollen keine Weltwesenheiten und Endziele prophe­zeien und den geschichtlichen Prozess nicht phantastisch umdeuten. Uns liegt vielmehr daran, in die Mannigfaltigkeiten des gesellschaftlichen Lebens die ordnende Klarheit zu bringen, die nötig ist, um Bedingungen, Zusammenhänge und Richtung dieses gesellschaftlichen Lebens erkennen zu können. Alle metaphysische Zwecksetzung machte letzten Endes den gesellschaftlichen Prozess zu einem mechanisch-passiven Ablauf eines persönlichen oder unpersönlichen Wollens. Uns erscheint das geschichtliche Geschehen sowohl in seiner Gesamtheit wie in seinen einzelnen Phasen weder mechanisch noch passiv. Lebendige Aktivität bestimmt vielmehr den gesellschaftlichen Prozess Menschen handeln in ihm, schaffen Situationen, die vorwärtstreiben und hemmen. Aus den Hemmun­gen entsteht der Gegensatz, und Setzen und Entgegensetzen drängen im Kampf miteinander zur Aufklärung. Gesellschaftliche Prozesse vollziehen sich nicht in der Stetigkeit der geraden Linie, sondern in dem Rhythmus des Setzens, Entgegensetzens und Auflösens. Der straffen Bindung des katholischen Men­schen durch Lehre und Sitte setzt sich die Freiheit des Christenmenschen entgegen, und wo der freie Christenmensch siegt, da findet er sich wieder in der Bindung einer neuen Lehre und einer neugebildeten Sitte.

Noch nach einer andern Seite hin bedarf dieser Begriff der gesellschaftlichen Entwicklung der genaueren Umschreibung. Es lässt sich zwar in großen Zügen die Entwicklungstendenz einer zeitlich bestimmten Gesellschaft zeigen, aber diese Tendenz setzt sich mit verschiedener Stärke und mit häufigen Unterbrechungen und Abweichungen durch. Man kann beinahe sagen, dass in allen Zeitaltern Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nebeneinander stehen. Der Begriff des modernen Menschen, so wenig genau und eindeutig er ist, hebt sich dennoch stark ab von dem des reaktionären Menschen. Nichtsdestoweniger gibt es keinen Reaktionär, in dessen Lebensformen nicht irgendwo das Moderne sich durchge­setzt hätte, und es gibt keinen modernen Menschen, in dem sich nicht Rückständigkeiten aus früheren Zeiten konserviert hätten. Der moderne und der reaktionäre Mensch sind in diesem Sinne nicht einmal Einzelmenschen, sondern sie sind nur typische Vertreter der Stände und Klassen. Daher ist es außerordent­lich schwierig, gesellschaftliche Zustände zu begreifen und zu beschreiben. Dazu kommt noch, dass all diesem Begreifen und Beschreiben jene Beweiskraft fehlt, die den Ergebnissen der Naturwissenschaft Allgemeingültigkeit verleiht. Gewiss ist auch in der Erforschung der Natur viel theoretische Vorwegnahme, viel Konstruktion und Phantasie, doch jedes echte naturwissenschaftliche Ergebnis ist nachweisbar nach anerkannten Regeln als schlechthin notwendig darzustellen. Nicht so ist es mit dem Begreifen und Beschreiben gesellschaftlicher Tatbestände. Wir werden in dem folgenden Kapitel oft genug erst durch Gegenüberstellung den eigentlichen gesellschaftlichen Kern aus der Menge seiner möglichen Deutungen herausschälen müssen. Vor allem aber gilt das für die gesellschaftlichen Tatbestände, die der Erziehung zugrunde gelegt werden sollen. Wir werden oftmals aus der Fülle der Voreingenommenheiten, Meinungen und Täuschungen die gesellschaftliche Wirklichkeit heraushören müssen. Nicht einmal die individu­elle Verschiedenheit der Kinder macht die Feststellung des Erziehungsgegenstan­des so schwierig, sondern vor allen Dingen das Chaos des gesellschaftlichen Lebens selber. Wir sind leider nicht in der glücklichen Lage, das Kind in der Isolierung einer natürlichen Ordnung zu sehen, in der alle Menschen einander gesellschaftlich gleich sind. »In der bürgerlichen Gesellschaft, wo alle Plätze bestimmt sind, wird ein jeder für den seinigen erzogen, die Erziehung nützt nur insoweit, als das Glück, die Gelegenheit übereinstimmt mit dem Beruf, den die Eltern für das Kind bestimmt haben.«

Dieser Ausspruch Rousseaus führt uns zu dem Problem, das wir gleich schlagwortartig mit den drei Begriffen bezeichnen wollen: Kind, gesellschaftliches Sein und gesellschaftliches Werden. Als einleitendes Beispiel diene ein Fall, dessen Wirklichkeit verbürgt ist, der sich aber wahrscheinlich vielhundertmal ereignet hat und also typisch ist. Der Sohn eines mittleren Beamten ist nicht sehr begabt. Die Eltern, die selbst aus den »unteren« Schichten des Volkes stammen, haben den Wunsch, dass ihr Kind einmal zu den geistigen Oberschichten der Gesellschaft gehören möge. Dazu aber muss es die höhere Schule besuchen und akademische Examina machen. Mit viel Mühe und Not wird der Junge durch die höhere Schule hindurchgepresst Dem Schwachbegabten Knaben bleibt wenig Zeit für frohes Kinderspiel. Selbst die Ferien sind mit qualvollen Wiederholungen ausgefüllt, doch die Abschlussprüfung wird mit einiger Verspätung erreicht. Jetzt soll die akademische Freiheit beginnen, da bricht der Weltkrieg aus. An Stelle des Schulzwanges tritt der militärische Drill. – Zwei Jahrzehnte Ausbildung sind vergebens gewesen, denn eine Granate hat dem Leben dieses jungen Menschen ein Ende bereitet. Man braucht kein Anhänger einer Philosophie zu sein, die das Glück des Menschen als höchsten Lebensinhalt proklamiert, um die Tragik, die in diesem Beispiel liegt, nachzufühlen. Rousseau hätte in der scharfen Kritik der Tyrannei der Erwachsenen in der Erziehung kein besseres Beispiel finden können. Der wachsende Mensch als Sklave gesellschaftlicher Vorurteile seiner Eltern und Erzieher, kann es eine größere Tyrannei geben?

Gegenüber dieser »gesellschaftlichen« Tyrannei hat J.J. Rousseau mit dem ganzen Pathos seiner Natur das Eigenrecht des Kindes gefordert. Wir erziehen das Kind, als ob es nur ein kleiner und unvollkommener Erwachsener sei, wir missbrauchen die Jahre seines jugendlichen Wachstums zur Vorbereitung für die künftige Stellung in Beruf und Gesellschaft. Dabei wissen wir weder, ob das Kind sich wirklich für diesen Beruf eignet, noch ob es sich in der ihm zugedachten gesellschaftlichen Stellung glücklich fühlen wird, ja wir wissen nicht einmal, ob es überhaupt jemals zu einem Beruf oder einer Stellung kommt, vielleicht befreit es der Tod schon frühzeitig von den Qualen, die wir ihm durch unsere Erziehung beibringen. Anstatt das Kind sein Eigenleben führen zu lassen, anstatt es glücklich werden zu lassen in dem freien Wachstum seiner Glieder, seines Verstandes und seines Gemüts, verkrüppeln wir es und rauben ihm durch unsere Willkür, unsere Engherzigkeit und unser Vorurteil seine Zufriedenheit.

Rousseaus »Emil« ist die Einleitung zu dem Kampf um das Eigenrecht des Kindes geworden, der schließlich mit Ellen Keys »Jahrhundert des Kindes« seinen Höhepunkt erreichte. Aber dieser Kampf ist ein rein ideologischer geblieben. Er hat viele begeisterte Schriften ausgelöst, aber wenig gesellschaftliche Wirkung gehabt. Die blendende Einseitigkeit, die begeisterte Sprache haben gewiss das Problem des Kindes in den Mittelpunkt des theoretischen Interesses gestellt, insofern ist auch eine Wirkung auf das gesellschaftliche Bewusstsein ausgeübt worden. Aber gesellschaftliches Bewusstsein ist nicht identisch mit den Glanzlei­stungen einer geistigen Oberschicht, sondern es ist mit der ganzen Schwere des gesellschaftlichen Seins belastet. Solange die Gesellschaft sich nach Klassen gliedert und es innerhalb der herrschenden Klassen noch zahlreiche Abstufungen gibt, solange wird unter den Menschen immer wieder der gesellschaftliche Zwang stark genug sein, um wider alle Kindesnatur und wider alle bessere Einsicht die Kinder in die Zwangsjacke der gesellschaftlichen Forderung hinein zu zwingen. Alle moralische Entrüstung über Eitelkeit, Grausamkeit oder Unverstand der Eltern wird nur wenig gegenüber dieser ehernen Tatsache ausmachen. Dafür nur ein charakteristisches Beispiel. In Deutschland besteht noch heute die Dreiteilung des Schulwesens: die Volksschule für die breiten Massen der Arbeiterschaft, die Mittelschule für die Kinder derjenigen Arbeiter, die etwas geworden sind oder aus ihren Kindern etwas machen möchten: für die Werkmeister, mittleren Beamten und selbständigen Gewerbetreibenden, und die höhere Schule für die Kinder der oberen Schichten. Nach unserem Programm haben wir Sozialdemokraten längst die Abschaffung dieser dreigeteilten Klassenschule gefordert und einen einheitli­chen Aufbau des gesamten Schulwesens vom Kindergarten bis zur Universität propagiert. Nichtsdestoweniger aber müssen wir immer wieder die Beobachtung machen, dass Arbeitereltern, die vom Sozialismus durchdrungen sind und langjährige Vorkämpfer des Klassenkampfes sind, ihre Kinder in die Mittelschu­len schicken. Wo immer wir den Versuch gemacht haben, die Mittelschulen abzubauen, da sind wir auf den starken Widerstand unserer eigenen Parteigenos­sen gestoßen. Keine Überredungskunst konnte selbst revolutionäre Parteigenos­sen von ihrer Absicht abbringen, ihr Kind in die Mittelschule zu schicken. Man will doch, so wird dann gewöhnlich geantwortet, seinem Kind eine »bessere Bildung« zukommen lassen als man sie selbst gehabt hat, und man glaubt, dass bessere Bildung schon gewährleistet sei, wenn man das Kind in die Schule des Mittelstandes schickt. Alle guten Gründe haben zumeist nur die Wirkung, dass die Diskussion damit endet, »das mag alles schön und gut sein – aber«. Und in diesem »Aber« liegt das ganze Schwergewicht der bestehenden öffentlichen Meinung. So stark wirken gesellschaftliche Vorurteile und ziehen selbst diejenigen Menschen zu sich herab, die sonst politisch und wirtschaftlich auf den Idealismus der werdenden Gesellschaft eingestellt sind. Jede Unterschätzung dieser Vorurteile wird uns immer zu Enttäuschungen führen und unseren Blick von dem eigentlichen Kampf, der dem gesellschaftlichen Sein gilt, ablenken. Es ist das gesellschaftliche Sein aber, das das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt. Agitation und Aufklärung können höchstens Pioniere schaffen und den Boden für die Änderung des gesellschaftlichen Seins lockern.

Diese Unterschätzung des gesellschaftlichen Seins ist auch die Ursache dafür, dass die Kirchenaustrittsbewegung und der Kampf um die weltliche Schule so wenig in die Breite gegangen sind. Es ist verhältnismäßig leicht, Material gegen die politische Entgleisung der Kirche vorzubringen. Es lässt sich leicht nachweisen, dass zahlreiche Behauptungen des Lehrgehalts der positiven Religionen naturwis­senschaftlich unmöglich und geschichtlich unrichtig sind. Diese Aufklärungsar­beit macht viele religiös Gleichgültige, doch religiöse Gleichgültigkeit ist noch nicht neues Kulturbewusstsein Vor allen Dingen löst es nicht jene gesellschaftli­chen Bindungen, in denen sich die geschichtliche Macht der Kirche dokumentiert. Im Bewusstsein der bestehenden Gesellschaft ist Mangel an Religion gleichbedeu­tend mit Mangel an sittlicher Verantwortung, Mangel an Religionsunterricht gleichbedeutend mit Mangel an Erziehung zum sittlichen Menschen. Eine große Menge von realen Verbindungen lösen sich mit der Lösung von der Kirche und von dem Religionsunterricht. Die Taufe, die kirchliche Trauung, das kirchliche Begräbnis mit all ihren Verbindungen zu Verwandtschaft und Bekanntschaft stehen gegen den auf, der sich gegen die Kirche auflehnt. In der Schule wirkt der Schüler, der nicht am Religionsunterricht teilnimmt, als Ausnahme und hat gegen sich die Gewohnheit, die Lehrer, den Unterrichtsplan und den Unterrichtsstoff. Der Kampf wider die Kirche und wider den Religionsunterricht ist daher kein theoretischer Kampf um theoretische Lehren, sondern er ist ein gesellschaftlicher Kampf, der Kampf der neuen werdenden Gesellschaft gegen die absterbende Gesellschaft. Auf der einen Seite stehen die Pioniere mit dem Bewusstsein der neuen Zeit, auf der anderen Seite die ganze Zähigkeit und Trägheit der gesellschaftlichen Massen. Diese Umstände sind der Grund dafür, dass so viele revolutionäre Erziehungsschriften der letzten Jahrzehnte nur Literatur geblieben sind, dass selbst ganz radikale Reformversuche nach kurzer Zeit wiederum in die Banalität der gesicherten Alltäglichkeit hineingezogen worden sind.

So mancher Kämpfer ist an diesen Tatsachen zur Verzweiflung gekommen und hat müde den Kampf voreilig aufgegeben, voreilig deswegen, weil doch trotz der Schwerfälligkeit des gesellschaftlichen Seins sich mitten in diesem Sein eine neue Gesellschaft vorbereitet. Alte Einrichtungen werden zu eng, alte Gewohnheiten werden zu Ungereimtheiten und führen in ihrer Beharrung zu Ungerechtigkeiten und Tragödien.

So bildet sich ein neues gesellschaftliches Bewusstsein, nicht aus einer Konstruk­tion, sondern aus den inneren Triebkräften und Nöten des gesellschaftlichen Seins selbst. Eine öffentliche Meinung entsteht, gegen die man sich nicht mehr verschließen kann. Treitschke konnte noch die Theorie »von der mangelnden Gesittungsfähigkeit der unteren Klassen und die Notwendigkeit, einen ungebilde­ten Arbeiterstand zu erhalten, wenn die Bildung der oberen Klassen nicht unmöglich werden sollte«, vertreten und damit bis in die neueste Zeit hinein die Ansichten und die Wünsche der führenden Bourgeoisie aussprechen. Heute würde keine gesellschaftliche Schicht es wagen, in der Öffentlichkeit derartige Ansichten zu vertreten. So ist es heute schon im gesellschaftlichen Bewusstsein unerträglich, dass das begabte Arbeiterkind nicht die höhere Schule, nicht die Universität besuchen kann. Schon jetzt ist das Gewissen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit so stark geworden, dass es keiner wagen kann zu behaupten, dass es richtig und notwendig sei, dass begabten Arbeiterkindern der Aufstieg zur geistigen Höhe versagt wird. Nicht etwa, dass tatsächlich schon alle geneigt wären, die Mittel bereitzustellen, die Wege zu öffnen, um allen die gleichen Entwick­lungsbedingungen zu geben. Das gewiss nicht, aber keiner wagt es mehr zu verneinen, dass es geschehen sollte. Der Klassenegoismus der Herrschenden begnügt sich mit dem tatsächlichen Widerstand, während der ideologische Widerstand bereits abgebaut ist.

Das öffentliche Bewusstsein hat bedeutende Fortschritte auf diesem Gebiet gemacht. Überall werden wir diesen Anfängen des veränderten Gesellschaftsbewusstseins nachspüren müssen, um von hier aus theoretische Unterlagen für die Wirklichkeit der Erziehung zu gewinnen. Wir bezeichnen als Erziehung das Wachstum im gesellschaftlichen Bewusstsein. Die ganze Zwiespältigkeit zwischen individueller Erziehung und gesellschaftlicher Erziehung scheint uns eine leere Spielerei zu sein. Erziehung ist immer nur dort, wo Gemeinschaft ist. Die Erziehung eines isolierten Individuums ist ein Widerspruch in sich. Wir halten das Individuum im Gegensatz zur Gemeinschaft überhaupt nur für eine Abstraktion. Beschränkt man sich nicht auf diese rein begriffliche Konstruktion des Individu­ums, sondern nimmt man für dieses Individuum noch eine Existenz an sich an und legt ihm besondere Eigenwerte und Eigenzwecke unter, so begeht man nicht nur einen logischen Fehler, sondern verallgemeinert ein Vorurteil. Man kann wohl in Widerspruch zu einer bestimmten Gemeinschaft stehen, man kann in stärkstem Kampfe zu vorherrschenden Gesellschaftsformen stehen, nichtsdestoweniger aber ist man immer in Gemeinschaft und bildet fortlaufend neue Gesellschaftsfor­men. Das Kind hat innerhalb der Gesellschaft eine besondere Stellung. Das Kind von heute ist der erwachsene Mensch von morgen. Das war nicht der Fehler, gegen den sich Rousseaus Anklage richtete, dass man das Kind überhaupt für etwas und für die Gesellschaft erzog. Der Rousseau, der nicht nur den »Emil«, sondern auch den »sozialen Kontrakt« geschrieben hat, hatte ein viel zu starkes Bewusstsein von der gesellschaftlichen Bindung des Menschen, als dass er die Anarchie des einzelnen hätte propagieren wollen. Aber Erziehung des Kindes zur Gesellschaft von gestern und heute, Bindung des Kindes an die erstarrten oder erstarrenden Formen einer gegebenen Gesellschaft, das führt zu den tragischen Konflikten, die in unserem modernen Erziehungswesen so zahlreich sind. Vom Standpunkt der Erziehung gesehen ist die Gesellschaft, für die wir das Kind erziehen, nicht etwas Gegebenes, sondern etwas Aufgegebenes, keine Anpassung und Reproduktion, sondern Neugestaltung und Schöpfung.

Von diesem Gesichtspunkt aus ist auch die Erziehungsbewegung, die vom Kinde aus ihre Maßnahmen zu treffen und ihre Regeln und Grundsätze zu finden sucht, zu beurteilen. Bedeutet sie – und gelegentlich ist sie so verstanden worden –, dass das Kind von Natur aus gut sei, man daher nur die Widerstände seiner Entwicklung zu beseitigen habe, um das Ziel der Erziehung zu erfüllen, so ist sie sicher irreführend. Kinder sind wie Erwachsene von Natur aus weder gut noch böse, sie sind erblich begabt und belastet, werden von ihrer sächlichen wie persönlichen Umgebung beeinflusst und bestimmt, werden zu Leistungen angeregt und stärken ihre Kräfte, werden aber ebenso entmutigt und erschlaffen früher und leichter, als sie es unter anderen Umständen tun würden. Kinder müssen sich wie Erwachsene einordnen und sich gelegentlich sogar unterordnen lernen.

So wichtig der Grundsatz der natürlichen Strafe, den Rousseau aufstellte, als Regel für den Erzieher ist, so unzulänglich ist er, wenn man ihn mit grundsätzlicher Konsequenz durchführen wollte. Man kann wohl das Kind zu viel essen lassen, damit es sich den Magen verderbe, um es an dem Schaden, den es sich damit zufügt, an dem Schmerz, den es ertragen muss, zur besseren Selbstzucht heranreifen zu lassen. Aber auf diesem Gebiet geht die natürliche Strafe nicht grenzenlos weiter. Es gibt giftige Stoffe, die ernstlich das Leben des Kindes gefährden, es gibt schwächliche Kinder, für die eine Überlastung Lebensgefahr bedeuten kann. Jeder wird zugeben, dass der wissende Erwachsene hier nicht die Wirkung der natürlichen Strafe abwarten kann, sondern durch Belehrung und gegebenenfalls durch zwangsweise Abwehr die mangelnde Einsicht des Kindes ersetzen muss.

Wir führen dieses Beispiel nicht an, um damit die Regel, durch natürliche Strafen zu erziehen, ganz und gar als unrecht abzutun, es gibt weite Gebiete, wo natürliche Strafen nicht nur möglich sind, sondern auch die wirksamste Erziehung ausüben. Ein Lehrer hatte in einer Schulklasse die Kinder nach eigenem Wollen zeichnen lassen. Er war sogar so weit gegangen, dass er bei Erläuterungen wie bei der Kritik der gefertigten Zeichnungen den Kindern freistellte, ob sie zuhören wollten oder nicht. In den ersten Stunden ging es oft genug lärmend zu; manche Kinder schwatzten laut, sangen, sprangen herum. Doch nach einigen Wochen war dieses Stadium des Lärmens überwunden. Es kam nur noch gelegentlich vor, dass Kinder ihre Zeit unnütz verbrachten, und dass der Lehrer, wenn er Erläuterungen und Hilfe gab, nur zu wenigen sprach. Die guten Zeichnungen wurden auf Wunsch der Schüler an die Wand geheftet und die Auswahl durch die Schüler selbst getroffen. Da habe ich es selbst erlebt, dass Zeichnungen lachend oder unwillig abgelehnt wurden und der kleine Zeichner oder die kleine Zeichnerin sich beschämt zurückzogen, um das nächste Mal etwas Besseres zu leisten. Bei anderen Zeichnungen erhob sich eine lebhafte Diskussion, und bei einigen wurde unverhohlen Freude und Beifall zum Ausdruck gebracht und ihnen Ehrenplätze an der Wand eingeräumt. Dieser ganze Vorgang aber vollzog sich unter solch reger Beteiligung und in solchen Formen taktvoller Gesittung, dass zweifelsohne hier »vom Kinde aus« eine Erziehung zur Selbständigkeit und Verantwortung geleistet wurde, wie wir sie mit den herkömmlichen Mitteln der Disziplinierung nicht erreichen.

Ein anderes Beispiel aus eigener Erfahrung: Ich bekam als junger Mensch den Auftrag, in der Tertia einer Privatschule den französischen Unterricht zu übernehmen. Die Privatschulen sind nicht gerade die Sammelstätten wohlerzoge­ner Kinder. Im Gegenteil, oftmals findet man hier Schwachbegabte und solche, die sich durch mangelhafte Selbstzucht in den öffentlichen Schulen unmöglich gemacht haben. Die Klasse, die ich zu übernehmen hatte, war als besonders »rüde« bekannt. Der Leiter der Schule gab mir deshalb den Rat, besonders streng in der Zucht zu sein, und hielt es für notwendig, mich erst persönlich der Klasse vorzustellen. Wir betraten den Raum, ein furchtbares Geschrei erhob sich. Der Leiter konnte nicht zu Worte kommen. Je lauter er sprach, desto schlimmer tobte die Klasse. Drohungen und Ohrfeigen führten nicht zum Ziel. Der Leiter hielt sein Eingreifen für aussichtslos und übergab mir die Klasse mit den resignierenden Worten: »Sehen Sie zu, was Sie damit anfangen können.« Ich setzte mich ganz gelassen ans Katheder, das Lärmen nahm seinen Fortgang, Papierkugeln flogen in großer Anzahl auf mich zu, und jeder Volltreffer wurde ausgelassen belacht. Ich verhielt mich vollkommen schweigsam, ernst und betrübt. Nach fünf Minuten schien etwas Ruhe zu kommen. Ich versuchte den Unterricht zu beginnen, aber das Werfen und Toben setzte von neuem ein. Ich habe viele Jahre später im schulpolitischen Kampf vor einer wenigstens tausendköpfigen Lehrerschaft aller Kategorien in Berlin im Lehrervereinshaus sprechen sollen, die Versammlung war – genau wie die Klasse – von hemmungsloser Ungezogenheit beherrscht, und doch waren es dort nicht Knaben in den Rüpeljahren, sondern Lehrer und Lehrerinnen, die sonst Wert auf Wohlerzogenheit und Bildung legen. Auch hier geschah es, dass jedes mal, wenn ich meinen Vortrag beginnen wollte, der ganze Saal von ohrenbetäubendem Lärm erfüllt wurde. Hier musste ich vor dem Terror und der Ungezügeltheit Erwachsener weichen, doch damals, in meiner Klasse, da ging es mir anders. Nach etwa zehn Minuten war alles Lärmen verstummt, und die fragenden Blicke der Schüler waren auf mich gerichtet. Das Lärmen hatte sich selbst ad absurdum geführt. Ich schlug den Schülern vor, dass diejenigen, die nicht an dem Unterricht teilzunehmen wünschten, die Klasse verlassen möchten, und ich erklärte mich bereit, falls es eine größere Anzahl wäre, mit der Minderheit einen anderen Raum aufzusuchen. Niemand meldete sich, nur einige riefen etwas ungeduldig, ich solle doch anfangen. Ich schlug der Klasse vor, sich die Sache noch einmal zu überlegen und einen Ausschuss zu wählen, der in Zukunft die Verantwortung für die Ruhe und den gedeihlichen Fortgang der Arbeit übernähme. Dann verließ ich den Raum, damit die Schüler unter sich den Ausschuss bilden könnten. Nach kurzer Zeit erschien ein Vertrauensmann, um mich in Freundlichkeit in die Klasse zurückzuholen. Ich habe die Geduldsprobe niemals bereut. Von jetzt ab herrschte Disziplin sowohl in der äußeren Ordnung als in der Erfüllung der sachlichen Aufgaben. Auch hier lag eine Leistung »vom Kinde aus« vor, auch hier bedurfte es keiner herkömmlichen Zuchtmittel. Ich führe noch eine dritte Erfahrung an, von der der berühmte Pädagoge Arnold, der Leiter eines englischen College, einmal in einem Buch erzählt hat. Als er die Leitung des College übernahm, bemerkte er zu seinem Entsetzen, dass die Schülerlüge zu einer ständigen Gewohnheit geworden war. Die mit allem Raffinement durchgeführten Untersuchungen führten nur dazu, dass die Schüler ihr Lügensystem noch raffinierter gestalteten, ein »edler Wettbewerb«, der übrigens im Leben oft genug seine Analogie findet. Arnold erzählt, dass die harten Strafen, die für gefasste Lügner im College verhängt wurden, nur dazu geführt hätten, in den Schülern einen Ehrbegriff großzuziehen, der dahin ging, dass man zur Rettung eines Mitschülers oder seiner selbst das Belügen des Lehrers nicht nur für erlaubt, sondern für eine Ehrenpflicht hielt. Viele werden bei »scharfen« Lehrern die gleichen Erfahrungen gemacht haben. Arnold brach radikal mit der Tradition des College. »Ein einfaches Mittel genügte« – so schreibt er – »um die Lügenpest zu beseitigen. Ich glaubte den Schülern alles, was sie mir sagten, und erweckte in ihnen das Gefühl, dass es mir unmöglich erschiene, dass ein junger Gentleman mein Vertrauen durch eine Unwahrheit missbrauchen könnte.« Das Mittel schlug ein. Nach kurzer Zeit gab es kein Lügen mehr im College, und die Schüler selbst sorgten dafür, dass die Gewohnheitslügner, diejenigen, die gern übertrieben, die Schwächlinge, die sich der Verantwortung entziehen wollten, dass sie alle der Wahrheit die Ehre gaben.