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Junge Frauen verschwinden von der Insel Maaraue vor Mainz und hinterlassen ein weißes Kleid am Ufer des Rheins. Zuerst Elina, im Jahr 443 v. Chr., dann Gisela im Mittelalter an Pfingsten 1184. Im Jahr 1775, als Napoleon Europa durcheinander wirbelte, hinterließ Elisabeth von Iringen an gleicher Stelle ihr Kleid und ihre Geige. Im Jahr 2016 wird Adele von Iringen vermisst. Der pensionierte Lehrer Andreas Scherer findet ihr Kleid nachts auf der Maaraue. Der Heimatgeschichtsforscher vermutet eine unglückliche Seele, die keine Ruhe findet und als Wiedergängerin immer wieder ins Leben zurückkehrt. Bald steht er selbst unter Mordverdacht. Das Kleid am Ufer gehört zu einer Krimiserie, in der Kriminaloberkommissar Stefan Lormann ermittelt. Unangenehmerweise ist ihm die Journalistin Valerie Rudyk immer wieder eine Nasenlänge voraus.
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Seitenzahl: 551
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Zum Buch
Der Autor
Teil 1 Aus vergangener Zeit
Kapitel 1 Elina
1 Der leuchtende Engel
2 Galahad der große Druide
3 In Renos kalten Armen
Kapitel 2 Gisela
4 Findelkind
5 Die Überfahrt
6 Zur Insel
7 Über die Holzbrücke
8 Hoftag auf der Maaraue
9 Giselas Ende
Kapitel 3 Elisabeth
10 Mittagstisch
11 Amati aus Cremona
12 Der Maler
13 Was blieb?
Teil 2 Gegenwart
Kapitel 4 Adele und Cornelia
14 War sie es?
15 Adele und Cornelia
16 Nun auch Ortmann
17 Leichenschmaus
18 Frau Gensing hilft
Kapitel 5 Nachts auf der Insel
19 Keine Sage
20 Familie von Iringen
21 Scherer begeht Fehler
22 Elisabeth lächelt
23 Das Kleid am Ufer
24 Was soll ich sagen?
25 Lormann
26 Scherers Ende
Kapitel 6 Freispruch für Valerie
27 Redaktion
28 Pressekonferenz
29 Eiscafé Primavera
30 Freispruch
31 Ein Rosenbusch für Felix
Kapitel 7 Scherer geht nicht allein
32 Morgens im Präsidium
33 Beim Kripochef
34 Lormann und Theresa
35 Lormann bittet Valerie um Fotos
36 Scherers letzter Weg
37 Abschlussbesprechung
38 Cornelia wird vermisst
Kapitel 8 Zugriff
39 Ein Mann wartet
40 Wiedersehen mit Theresa
41 Valeries Fotos
42 Pleite
Teil 3 Die Täter
Kapitel 9 Boris
43 Vater im Knast
44 Grausame Kinder
45 Im Nest
46 Der 18. Geburtstag
47 Am Hexenkreuz
48 Das erste Mal
49 Traumprinzessin
50 Dimitri
51 Das neue Leben
Kapitel 10 Schwarze Messe
52 Spielcasino
53 Kurpark
54 Konzertsaal
55 Bei Kögler
56 Celtic Sky
57 Boris bei Raab
58 Irina und Boris am Faulbrunnen
59 Karneval
60 Feickert
61 Vorbereitung
62 Eibensud
63 Walpurgisnacht
64 Wohin mit Adele?
65 Ratlos
66 Adeles Beerdigung
Kapitel 11 Alles kommt ans Licht
67 Wer bin ich?
68 Das Selbstportrait
69 Finale
70 Das Leben geht weiter
Personen und Orte
Junge Frauen verschwinden von der Insel Maaraue vor Mainz und hinterlassen ein weißes Kleid am Ufer des Rheins. Zuerst Elina, im Jahr 443 v. Chr., dann Gisela im Mittelalter an Pfingsten 1184. Im Jahr 1775 hinterließ Elisabeth von Iringen an gleicher Stelle ihr Kleid und ihre Geige.
Im Jahr 2016 wird Adele von Iringen vermisst. Der pensionierte Lehrer Andreas Scherer findet ihr Kleid nachts auf der Maaraue. Der Heimatgeschichtsforscher vermutet eine unglückliche Seele, die keine Ruhe findet und als Wiedergängerin immer wieder ins Leben zurückkehrt. Bald steht er selbst unter Mordverdacht.
‚Das Kleid am Ufer‘ gehört zu einer Krimiserie, in der Kriminaloberkommissar Stefan Lormann ermittelt. Unangenehmerweise ist ihm die Journalistin Valerie Rudyk immer wieder eine Nasenlänge voraus.
Dietmar Elsner ist IT Vertriebsleiter,
Projekt- und Qualitätsmanager im Ruhestand,
nun Lokaljournalist und Buchautor.
Der Autor ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Hochheim am Main.
Seine Homepage: http://www.dietmar-elsner.de
„Du Oma.“
„Hm.“
Kann es sein, dass man nach dem Tod
nicht in die Anderwelt kommt?“
„Hm.“
„Dass man wieder zurück auf die Erde kommt?“
„Schon möglich. Man erzählt, dass manche wiederkehren.“
„Warum?“
„Weil die arme Seele keinen Frieden findet.“
„Warum denn?“
„Weil sie noch etwas zu erledigen hat.“
Maaraue bei Mainz.
Juli 443 v. Chr.
Die alte Kendra schubste ihr Enkelkind an: „Hier. Nimm den Stock und treib die Gänse vom Ufer weg. Sonst gibt es beim Flussgott Renos heute Abend Gänsebraten.“
Die kleine Elina drängte barfuß die lautstark protestierenden Gänse durch den Matsch nach oben ins Gras auf dem niedrigen Hügel. Dann setzte sie sich wieder neben ihre Großmutter auf den vom letzten Hochwasser angeschwemmten Baumstamm.
Ein ungewöhnlich kalter Wind fegte über die flache Insel. Elinas ein wenig zu langes Leinenkleid hielt die Kälte von hinten zwar einigermaßen ab, aber sie fröstelte dennoch. Kendra öffnete ihre weite Felljacke und legte sie dem 13 Jahre alten Mädchen über die Schulter und zog sie näher zu sich heran. Elina schmiegte sich an Oma und freute sich über die Wärme ihres hageren Körpers.
Zwei Ströme vereinigen sich
Vor ihnen lag die Nordspitze der langen Insel Mar in der Mündung des großen Flusses Moenus. Von weit her aus dem Osten kam er und strömte rechts hinter den Büschen auf den großen Strom zu. Links strebte der gewaltige Renos bedrohlich gurgelnd nach Norden. Genau vor den beiden Frauen trafen sich die Wassermassen der beiden Flüsse. Es war ein sich ständig wiederholendes Schauspiel, das dennoch nie ganz gleich ablief. Das braune Wasser des Moenus drehte sich von rechts in die graue Flut des Renos hinein. Die beiden Ströme flossen nicht einfach in Richtung Meer davon. Sie drehten sich, tanzten so heftig, dass sich in der Mitte immer wieder schnelle Strudel bildeten, die alles in sich hinabzuziehen schienen. Dann war die Wasseroberfläche wieder für eine Weile glatt, als ob der Flussgott erst einmal hinunterschlucken müsste.
Kendra saß oft hier und sah ins unruhige Wasser, meist alleine. Sie wartete auf ihren Mann. Seit über 18 Jahren.
Schon ihre Vorfahren lebten hier. Sie fuhren auf den Flüssen, fischten mit ihren Netzen und transportierten Waren zwischen den Märkten und Dörfern. Zuhause fütterten sie drei Schweine, eine Milchkuh, zwei Ziegen. Mehrere Gänse fraßen die wild wachsenden Gräser und Kräuter ab. Auf dem Festland gegenüber versuchten Vater, Mutter und ihr Bruder ein wenig Landwirtschaft mit Getreide und Obstbäumen zu betreiben. Das war nicht leicht. Regen, Sonne und fruchtbares Land gab es zwar genug. Aber der mächtige Flussgott war unberechenbar. Mal floss kaum Wasser und Vater konnte seine Netze nur in Tümpel werfen, dann wieder schickte Renos so viel Wasser, dass die Felder überspült wurden und sogar Tiere ertranken. Vater und Großvater hatten einen großen Hügel aufgeschüttet und mit Holzpfählen befestigt. Dorthin konnten alle bei Hochwasser flüchten. Für die Vorräte, das Fleisch und das Saatgut hatten schon die Vorfahren ein Haus auf Stelzen gebaut.
Elina sah auch heute den beiden gurgelnden Flüssen zu: „Warum dreht sich das Wasser so heftig?“
„Die beiden Flüsse treffen sich hier und tanzen.“
„Sie tanzen?“
„Ja. Sie tanzen einen wilden, gefährlichen Hochzeitstanz.“
„Warum machen sie das?“
„Sie vereinigen sich.“
Kendra lispelte ein wenig, wenn sie sprach. In ihrem Mund fehlten oben vier Zähne, unten noch ein paar mehr. Elina hörte ihr aufmerksam zu, wenn sie von den Flüssen sprach. Vor allem bei den Geschichten von den Flussgöttern, den Elfen und Nixen liefen ihr kalte Schauer über den Rücken. Wieder einmal wollte sie etwas über Großvaters Schicksal hören. Kendra erzählte geduldig: „Dort vorne war es. Opa wagte sich mit seinem kleinen Fischerboot und den schweren Netzen zu nahe an den Strudel.“
„An den Hochzeitstanz?“
„Ja. Ein anderer Fischer hatte beobachtet, wie Renos ihn zu sich holte.“
„Kommt Opa wieder?“
„Ich warte schon zu lange.“
„Vielleicht gefällt es ihm bei Renos.“
Kendra schüttelte kaum erkennbar den Kopf, sagte aber: „Bestimmt.“
Der Gott des Wassers
„Oma, erzähl mir von Renos.“
Kendra zog Elina noch näher an sich heran und begann wieder einmal vom unheimlichen Renos zu erzählen: „Du erinnerst dich? Der mächtige starke Flussgott wird nie älter, bleibt für immer jung und schön. Hin und wieder verlangt er von den Menschen eine neue Frau, eine Jungfrau, mit der er sich in seinem Reich vereinigt.“
„Oma, heiratet er sie dann?“
„Ja. Das ist die Heilige Hochzeit.“
„Am Erntefest?“
„Ja. Am Lughnasadh, dem Tag der Hochzeit des Lichts.“
„Wo ist eigentlich sein Schloss?“
„Wir können es nicht sehen.“
„Warum nicht?“
„Es liegt unter den Kieseln des Grundes.“
„Dort muss es doch dunkel sein.“
„Es wird zur Heiligen Hochzeit hell erleuchtet. Nixen tanzen und machen Musik.“
„Toll.“
„Nach dem großen Festmahl nimmt Renos seine neue Frau mit in die königlichen Gemächer und vereinigt sich mit ihr.“
„So, wie sich Moenus und Renos vereinen?“
„Ja, so muss es wohl sein. Aber genau weiß man es nicht.“
„Bekommen sie auch Kinder?“
„Ja.“
„Sind das dann Prinzessinnen?“
„Das sind die Elfen und die Nixen, die mit den Sonnenstrahlen auf dem Wasser spielen. Auch nachts im Nebel hat man sie schon am Ufer tanzen sehen.“
Elina kannte die Geschichten zwar alle schon, konnte sie jedoch noch immer nicht oft genug hören. Oma erzählte auch von der Anderwelt und seinen Geistern, von Korn- und Feuergöttern, von brennenden Strohpuppen, heiligen Bäumen und heiligen Bergen. Dabei war Elina eine strenge Zuhörerin. Sie achtete darauf, dass Oma jedes Mal das gleiche erzählte und protestierte sofort, wenn sie etwas wegließ oder hinzumogelte.
Kendra gefiel ihr aufgewecktes Enkelkind. Sie war zwar ein wenig schmächtig, konnte aber flink laufen. Und sie war stolz auf ihre langen roten Haare. Die hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Großmutter erzählte wieder einmal, warum sie ihrer Tochter damals den Namen Belana gegeben hatte. „Weil sie einen wunderschönen roten Schopf auf dem kleinen Kopf hatte.“
„Oma, was bedeutet Belana eigentlich?“
„Wir gaben deiner Mutter den Namen ‚Göttin des Lichts‘. Das war zwar ein wenig übertrieben aber wunderschön.“
„Als du zur Welt kamst und auch rote Haare hattest, gaben wir dir ebenfalls einen zu dir passenden Namen. Deshalb heißt du Elina.“
„Was bedeutet Elina?“
„Leuchtender Engel. Auch dem Druiden gefiel der Name.“
„Dem Druiden?“
Großmutter verstummte, sie hatte sich verplappert.
„Was ist mit dem Druiden? Was hat er mit mir und meinem Namen zu tun?“
„Das darf ich dir nicht erzählen.“
Nun schwieg auch Elina. Kendra drückte ihr Enkelkind ganz fest an sich. Elina verstand Großmutter nicht und plauderte munter drauf los: „Oma, ich möchte auch einmal Renos im Schloss besuchen und mit den Nixen tanzen.“
Du bist die Braut
Kendra überlegte lange und entschloss sich dann, ihrem rothaarigen leuchtenden Engel die Wahrheit zu sagen. Wenn nicht jetzt, wann dann?
„Elina, du bist ein besonderes Kind. Du bist an einem heiligen Tag geboren, am Festtag der Lichtjungfrau Brigit, am Imbolc.“
„Ja. Das ist doch schön.“
„Der alte Druide Cedric hatte lange nach einem Kind suchen lassen, das am Imbolc geboren wurde und das rote Haare hat.“
„Warum?“
„Weil dieses Kind nach den alten Weissagungen dem Renos gewidmet ist.“
„Gewidmet?“
Zwei dicke Tropfen fielen Großmutter von der Wange, als sie den Kopf senkte und nickte: „Sobald dein Schoß fruchtbar wird, sollst du Renos Frau werden.“
Elina sprang auf: „Ist das wirklich wahr?“
Oma sah zu Boden. Elina drehte sich: „Das ist doch wunderschön, da braucht man doch nicht zu weinen.“
„Du hast Recht, mein kleiner Engel.“
Elina hüpfte so wild, dass die Gänse aufgeregt umherflatterten. Sie trieb sie laut lachend mit dem Stock zurück auf die kleine Anhöhe. Dann setzte sie sich wieder neben ihre Großmutter: „Oma, sei nicht traurig. Ihr könnt zu mir an den Königshof kommen, so oft ihr wollt. Und auch ich werde euch ganz oft besuchen, und Renos und die Nixen kommen bestimmt mit.“
Spessart.
Juli 443 v. Chr.
Unkontrollierbar schwirrten hässliche Worte durch seinen Kopf: „Fesseln. Knebeln. Ersticken. Ertränken. Ertränken. Ja, ganz langsam ertränken.“
Seine Frau sollte ihm heute zwei Hühner braten. Das fetteste hielt er nun an den Flügeln in Händen. Die anderen drängten sich mit dem Hahn in die hinterste Ecke an den Zaun. Galahad nahm das Beil auf und wollte dem Federvieh wie üblich den Kopf abschlagen. Aber wieder drängte sich die anstehende Heilige Hochzeit mit den erregenden Gedanken an Fesseln, Knebeln, Ertränken und Ersticken in sein Gehirn. Ertränken, Ertränken, Ertränken, ja das war es. Er legte das Beil zur Seite, band die Hühnerbeine eng zusammen, hob einen Aststummel vom schmutzigen Boden des Hofes auf und steckte ihn mit gefletschten Zähnen zwischen die gefesselten Füße des wild um sich schlagenden Tieres. Er packte fester zu, es knackte. Hatte er einen Flügel gebrochen? Das gequälte Tier versuchte ihn mit dem Schnabel zu hacken. Er ließ es fallen. Das Huhn schrie, flatterte, wollte fliehen, im Zickzack schleifte es am Boden entlang und überschlug sich immer wieder.
Ertränken musste er üben, für die Feier auf der Insel. Galahad zog den Stock zwischen den Hühnerbeinen heraus und trug das zappelnde Tier zur Viehtränke. Er hielt das Huhn so am Hals fest, dass es ihn ansehen musste. Dann erst drückte er es ganz langsam immer ein wenig tiefer unter Wasser. Er sah den weit geöffneten Schnabel, aus dem keine Schreie mehr zu hören waren, er starrte lustvoll in die vor Todesangst aufgerissenen Augen. Obwohl das Tier längst keine Luft mehr bekam, zappelte es immer weiter. Lange. Erstaunlich lange. Dauert Ertrinken so lange?
Als das Huhn endlich erlahmte, hob er es aus der Tränke, schüttelte das Wasser aus dem schlaffen Hals und ließ die geschundene Kreatur wieder zu Atem kommen. Es dauerte eine ganze Weile, bis es wieder um sich schlug. Dann sah er dem Huhn wieder in die Augen und drückte es langsam unter Wasser.
Galahad konnte sich am Todeskampf des Tieres kaum satt sehen. Hier und jetzt konnte er ganz allein bestimmen. Er war der Herr. Der Herr über Leben und Tod. Dieses zappelnde Wesen war ihm völlig ausgeliefert. Er wiederholte das grausame Schauspiel so lange, bis sich das Tier nicht mehr erholte. Als es schlaff und nutzlos in seinen Händen hing, warf er es auf den Boden und ging zu den anderen Hühnern. Noch einmal begann er von vorne. Nun mit mehr Übung. Beim ersten Huhn hatte ihm das Schauspiel gefallen, nun beim zweiten war es etwas anderes. Der Todeskampf des Tieres erregte ihn. Als auch das zweite Huhn verendet war und er beide Köpfe mit dem Beil abgeschlagen hatte, stand er mit einer massiven Erektion auf dem Hof.
Er streifte sich den Umhang ab und warf ihn auf den Holzstapel neben ihm. Nun war seine Frau dran.
Du oder ich
Wie ein brünstiger Stier stand er in der Türe zur Küche, nackt, behaart, mit den beiden Hühnern in den Händen, aus deren Hälsen noch Blut tropfte. Elea kannte diesen Gesichtsausdruck. Vorigen Monat hätte sie dieser Blick beinahe das Leben gekostet. Er hatte sie solange gewürgt, bis er sich völlig in ihr entleert hatte. Als sie sich damals wieder etwas erholt hatte, sagte sie ihm mit einer Ruhe, die ihn erschauern ließ: „Wenn du das noch einmal machst, wachst du am nächsten Morgen nicht mehr auf.“
Doch in diesem Augenblick war sie sich nicht sicher, ob er sich in diesem Zustand noch an ihre Drohung erinnern konnte. Wie ein Stier ging er langsam auf sie zu. Fest entschlossen, sie jetzt und hier an der Kochstelle zu vergewaltigen.
Elea wollte ihren Mann nicht nachts heimtückisch ermorden. Sie wollte dem schlafenden Mann nicht die Kehle durchschneiden. Sie wollte es jetzt tun.
Sie griff nach dem größten auf dem Tisch liegenden Messer, stellte ihren rechten Fuß nach hinten und den linken in seine Richtung fest auf den Lehmboden. Sie duckte sich ein wenig und sah diesem hünenhaften Stück ekelerregenden Fleisches, mit dem sie verheiratet worden war, von unten furchtlos ins Gesicht.
Obwohl Galahad kaum Licht an sich vorbei in den fensterlosen Raum fallen ließ, sah er ihre entschlossene Körperhaltung und die auf ihn gerichtete Klinge. Er erschrak, blieb stehen. Wie zwei Krieger starrten sie sich an. Es dauerte eine Weile, bis sein Verstand wieder einsetzte und ihm bewusst wurde, dass nun ein Kampf auf Leben und Tod folgen würde. Sein Puls schlug bis zum Hals. Er wollte nicht sterben und er wollte auch seine Frau nicht umbringen.
Er warf ihr beide Hühner vor die Füße, drehte sich zur Seite, ging langsam hinaus, ohne sie aus den Augen zu lassen und war froh, dass sie ihm nicht folgte.
Elea hörte, wie er hinters Haus schlurfte. Das Messer legte sie zwar ab, aber in Reichweite. Sie war noch immer bereit, es unerschrocken zu benutzen.
Angewidert stellte sie sich vor, was er jetzt laut schnaubend mit seinen blutverschmierten Händen zu Ende brachte.
Maaraue bei Mainz.
31. Juli und 1. August 443 v. Chr.
Elina saß wieder auf dem angeschwemmten Baumstamm und sah gebannt den ruhelosen Flüssen zu. Sie war mit den Gänsen alleine. Heftige Strudel bildeten sich ständig vor ihr, fraßen alles, was auf der Oberfläche schwamm, in sich hinein. Beide Flüsse waren in der Nacht gestiegen, irgendwo musste es geregnet haben. Großmutter war nicht mitgekommen. Sie hatte zu Elina gesagt, dass es ihr nicht gut ginge und sich auf ihr Strohlager gelegt. Als Elina fragte, ob sie ihr helfen könnte, murmelte Oma nur: „Ich möchte hinüber in die Anderwelt.“
Lughnasadh, das Fest der Hochzeit
Elina freute sich auf das Fest der Ernte. Sie sah, dass mehr Boote als sonst auf den beiden Flüssen fuhren, dass mehr Menschen als sonst an den Ufern zu sehen waren. Großmutter hatte ihr erzählt, dass dieses Fest auch ‚Hochzeit des Lichtes‘ genannt wird. Sie hatte von einem großen Strohfeuer, von Tanz, Gesang und Wein gesprochen und sie sagte auch, dass man an diesem Tag mit den Bewohnern der Anderwelt sprechen könnte.
Galahad ist da
Ihr Bruder Kian kam gelaufen, war außer Atem: „Sie suchen dich alle.“
„Wer“
„Mama und Papa.“
„Warum?“
„Es gab einen fürchterlichen Streit. Der Druide war da. Im heiligen Einbaum seiner Ahnen war er gekommen und verlangte dich zu sehen.“
„Du hast den Druiden gesehen?“
„Ja. Ein hässlicher Kerl. Das ist ein Riese. Zerzauste Haare stehen von seinem Kopf ab und er hat einen dicken Ring um den Hals.“
„Was hat er an?“
„Einen weiten Umhang, der bis zum Boden reicht. Er redete dauernd von dir und einer heiligen Hochzeit. Ich hab nicht alles verstanden.“
„Hochzeit?“
„Ja. Von einer Hochzeit mit Renos plärrte er herum. Vater wurde fürchterlich wütend, ging auf ihn los und wollte ihn verprügeln.
Mutter ging dazwischen. Das sah alles ganz schlimm aus. Vater vertrieb den Druiden von der Insel. Der wollte nicht gehen und verlangte immer wieder nach dir. Da nahm Vater das Beil und drohte ihm damit. Der Druide ging endlich, schrie aber, dass er wiederkommen würde. Vater rief ihm hinterher: „Wenn du die Kleine anfasst, spalte ich dir den Schädel.“
„Wann war das?“
„Gerade vorhin. Sag mal, Elina, was ist eigentlich los? Willst du wirklich heiraten?“
„Ja.“
„Und wen?“
„Den Renos, den Wassergott.“
„Spinnst du?“
„Auch Oma hat gesagt, dass ich als Braut für den Renos ausgewählt worden bin, schon bei meiner Geburt.“
„Wie soll das denn gehen? Keiner weiß etwas, dass du heiratest, nichts ist vorbereitet und Renos als Bräutigam? Das ist doch alles total verrückt.“
„Nein, Kian, das wird wunderschön. Renos hat ein wunderschönes Schloss und dort wird mit den Nixen und Elfen gefeiert.“
„Und wie kommst du in dieses Schloss?“
„Durch diesen Strudel da vorne, er nimmt alles in sich auf. Auch Großvater ging durch ihn in die Anderwelt.“
Schlaflose Nacht
Am Abend legte sich Vater nicht schlafen. Er setzte sich vors Haus und hielt Wache, hin und wieder ging er um das große Langhaus, in dem Mensch und Vier einträchtig beieinander wohnten. Misstrauisch beobachtete er das Ufer. Großmutter lag noch immer auf ihrem Strohlager zusammengekauert an der Wand. Elina versuchte sie zu trösten und strich ihr zärtlich über den Kopf, die Schulter und den Rücken. Bis Mutter kam, Elina in den Arm nahm, zu sich unter ihr Schafsfell zog und sie ganz eng an sich drückte. Als es längst ruhig war, stand Großmutter doch noch einmal auf und blies vorsichtig in die Glut der Feuerstelle. Nun würde sie bis zum Morgen durchhalten.
Elina war aufgeregt, war hellwach. Sie dachte nach. Über ihren zornigen Vater und den Druiden. Ein Strahl des fast vollen Mondes fiel durch das Rauchloch oben im schilfbedeckten Haus. Durch die staubige Luft hindurch landete er auf dem braunen Rücken der Milchkuh. Sie wusste, dass das Erntefest immer bei Vollmond gefeiert wird. Also morgen. Deshalb waren die vielen Menschen gekommen und auch der Druide.
Elinas Gedanken kreisten aber auch um Renos, sein Schloss, die tanzenden Nixen, die prachtvolle Hochzeit. Für sie gab es keinen Zweifel: Sie war die Auserwählte. Sie war in einer Vollmondnacht geboren worden. Auf der Insel in der Mündung der beiden großen Ströme. Und sie hatte wunderschöne rote Haare. Sie und niemand anderes war für die Hochzeit mit Renos bestimmt. Königin würde sie werden, Kinder haben, Prinzen und Prinzessinnen würden es sein.
Dann dachte sie wieder an Vater und den Druiden: „Das kann nicht gut gehen. Der Kerl wird Vater töten. Womöglich unsere ganze Familie. Oder wenn Vater doch stärker sein sollte und dem Hünen mit seinem Beil den Kopf spalten würde? Das wäre Mord. Mord an einem Heiligen Mann. Vater würde Schande über uns und unsere Kindeskinder bringen. Und Renos würde sich rächen. Er würde in seinem Zorn die schlimmsten Fluten über unser Land schicken, würde Tiere ertränken und die Ernte wegschwemmen.“
Mutter atmete tief durch, es klang wie ein Seufzer, dann drehte sie sich auf die andere Seite und ließ Elina los. Ganz langsam streckte das aufgeregte Kind einen Fuß nach dem anderen in die kühle Luft. Sie wand sich vollends hervor, hob das Fell nur so weit an, dass ihre Mutter immer bedeckt blieb. Dann stand sie barfuß in ihrem weißen Kleid mitten im Raum auf dem kalten Lehmboden neben der glimmenden Feuerstelle. Nur undeutlich konnte sie die Tiere im hinteren Teil des Hauses erkennen.
Die Lösung aller Probleme
Während sie die Stelle suchte, von der aus man den Mond durch den Rauchabzug sehen konnte, fiel ihr plötzlich die Lösung aller Probleme ein: Sie musste den Flussgott heimlich heiraten. Ohne gaffende Menschen, ohne den Druiden und sogar ohne ihre Familie. Es würde keinen Streit geben. Keinen Kampf zwischen den Männern. Niemand würde Abschiedstränen weinen. Plötzlich war alles ganz einfach.
Sie war sich sicher, dass Mitternacht bereits vorbei war und Lughnasadh, der Tag des Festes soeben angebrochen war. Bestimmt wartete Renos bereits auf sie. Ja. Bestimmt. Ihr Hochzeitstag hatte schon begonnen. Sie würde Renos heiraten, ohne jemand zu fragen. Wozu auch. Alles war klar. Das war schließlich ihr Hochzeitfest. Die Brautnacht war allein für sie und Renos gemacht. Niemand sollte zusehen, wenn sie sich mit ihm vereinen würde.
Elina beugte sich zu ihrer Mutter herab und küsste sie auf die frei liegende rechte Hand. Dann ging zu ihrem Bruder und strich ihm übers Haar. Sie blieb vor Großmutter stehen. Ihr hatte sie die vielen schönen Stunden mit den fantastischen Geschichten zu verdanken. Von ihr, nur von ihr allein hatte sie überhaupt von Renos erfahren. Sie verneigte sich vor ihr und sagte leise: „Danke Oma.“
Elina schlich zur Türe, schob das Fell ein wenig zur Seite. Im Licht des Mondes sah sie draußen ihren Vater. Er kam vom Fluss herauf und setzte sich auf den großen Stein neben der Türe. Elinas Herz pochte so laut, dass sie befürchtete, ihr Vater könnte es hören. Endlich erhob er sich wieder, ging ein paar Schritte auf und ab und schritt dann den Geräuschen nach offensichtlich zum anderen Ufer hinunter.
Elina schlüpfte hinaus. Sie rannte an den Büschen entlang bis zum Baumstamm an der Spitze der Insel.
Das Kleid am Ufer
Ihre Verwandten sollten wissen, wo sie sein würde. Sie zog sich das Kleid über den Kopf und legte es sorgsam über den Baumstamm. Im Mondlicht sah es aus, als hätte sich der Stamm mit dem Kleid zugedeckt.
Es war soweit. Endlich. Sie fror im kalten Nachtwind, wartete nicht und rief laut aufs Wasser hinaus: „Renos. Ich komme. Ich komme jetzt.“
Sie schritt durchs matschige Gänseufer, watete dann über die Kieselsteine am Ufer langsam voran. Als sie die kalte Strömung an ihren Beinen spürte, kam ihr ein erster ängstlicher Gedanke: „Und wenn Renos gar nicht da ist?“
Ein Lied für Renos
Sie zitterte zwar vor Kälte, ruderte sich trotzdem mutig mit den Armen ins immer tiefer werdende Wasser voran. Als ihr das Wasser bis zur Brust stand, begann sie laut zu singen, damit Renos sie hören konnte. Ihre Stimme zitterte. Sie fürchtete sich vor dem Gedanken: „Und wenn er gar nicht auf mich wartet?“
Sie blieb kurz stehen. Direkt vor ihr drehte sich ein glitzernder Wirbel. Sie spürte, wie das Wasser an ihrem Leib zog. Weg von der Insel, hin zum Strudel. Nur noch ein paar Schritte. Dann konnte sie ja noch immer entscheiden, ob sie vielleicht doch zurück ans Ufer schwimmen sollte. Nun schlugen ihr die Wellen ins Gesicht. Sie hob das Kinn an, um kein Wasser in die Nase zu bekommen, machte noch zwei Schritte, stampfte mit den Füßen nach unten, um sich nach oben abzustoßen, aber da waren keine Kieselsteine mehr. Der unerbittliche Strudel erfasste sie und nahm sie mit. Wo blieb Renos?
Ertrinken ist ein leiser Tod
Sie war eine gute Schwimmerin, legte sich nach vorne aufs Wasser und schwamm mit festen Zügen in Richtung Insel zurück. Doch die kreisende Strömung war einfach schneller, stärker, so sehr sie auch kämpfte. Nicht nur ihre Beine, ihr ganzer Körper wurde mit Macht nach unten in die Tiefe gezogen. Unter Wasser hielt sie die Luft an. Sie wollte unbedingt zurück. Doch die Strömung ließ sie nicht los. Sie wurde um sich selbst gedreht, war vom schwarzgrauen brodelnden Wasser umhüllt. Elina kämpfte um ihr Leben, aber sie konnte nicht einmal sehen, in welche Richtung sie schwimmen musste.
Sie wollte schreien. Nach ihrem Vater, nach ihrer Mutter. Wasser drang in ihren Mund, in ihre Lunge. Hustenreiz schüttelte sie, aber auch das waren nur krampfartige Zuckungen. Todesangst befiel sie. In ihrem Kopf hämmerte nur noch: „Ich muss hier raus. Ich muss atmen. Ich will leben.“
Für einen Moment gab sie der Wasserwirbel frei, trieb sie an die Oberfläche und sie sah den Mond. Aber sie konnte mit ihrer mit Wasser gefüllten Lunge weder atmen noch husten. Panische Gedanken füllten ihren Kopf: „Ich will nicht ertrinken, ich will nicht sterben.“
Doch Renos zog sie mit seinen gewalttätigen eiskalten Armen zu sich in die Tiefe hinab. Warum war Renos nicht liebevoll, sondern so grob zu ihr? Nur noch zuckend, fast bewusstlos, versuchte sie zu schreien: „Ich will leben.“
Dann gab sie auf und ließ sich treiben.
Doch ihre Seele fand keinen Frieden.
Ihre Sehnsucht nach Leben wird sie nicht ruhen lassen.
Mainz.
Sonntag 26. Juni 1166.
Des Nachtwächters Hund
An dem Ort, an dem gerade ein italienischer Kellner einer Dame roten Valpolicella aus einer Glaskaraffe einschenkte, ziemlich genau an dieser Stelle war vor mehr als 800 Jahren der Hund des Mainzer Nachtwächters zu den Stufen des Altmünsterklosters vorausgelaufen, hatte mit seinen Pfoten in einem Stoffbündel gewühlt und aufgeregt gekläfft.
Der Nachtwächter wollte sich im Schein seiner Laterne genauer ansehen, was den Hund so aufregte, scheuchte ihn zur Seite, hob den Stoffpacken auf, sah hinein und blickte einem leise wimmernden Kind ins winzige Gesicht. Er lief zur Klosterpforte, läutete die Glocke so heftig er konnte, hielt der Nonne, die am Fenster erschien, das Bündel hin und versuchte zu erklären, dass er soeben an der Treppe zum Haupteingang einen Säugling gefunden hatte. Seine lautstarken Worte machten zusammen mit dem Gekläffe des Hundes so ziemlich jeden wieder wach, der sich im Kloster oder in den umgebenden Häusern schon zur Ruhe begeben hatte.
Nonnen kamen ans Tor, nahmen das Kind entgegen und dankten dem Nachtwächter für seine gute Tat. Er tätschelte seinen Hund am Hals, meinte, dass Harko eigentlich dieses Lob verdient hätte.
Gisela lebt
Drinnen wickelte eine Nonne das Kind aus den Tüchern, dabei fiel ein Zettel heraus, auf den mit ungelenker Schrift der Name „Gisela“ geschrieben stand. Sie öffnete ihr Kleid, legte sich den frierenden Säugling in den Schoß, drückte ihn sanft an ihren Bauch und schlug ihr Ordenskleid so um das Kind, dass es aussah, als wäre die fromme Gottesfrau im neunten Monat schwanger. Die herbeigerufene Äbtissin bat den Nachtwächter, die alte Hebamme, die in der nahen Bleichgasse wohnte, zu holen.
„Jetzt gleich?“
„Ja natürlich, wann denn sonst.“
Zwei Nonnen inspizierten neugierig die Tücher, in die das Kind gehüllt worden war. Sie fanden jedoch außer dem Stück Papier, das ihnen bereits entgegengefallen war, nichts. Sie versuchten, aus dem Muster der Tücher die Herkunft des Kindes abzulesen, wurden sich aber nur darüber einig, dass dieses Kind nicht von armen Leuten stammen konnte. Sie tuschelten, überlegten, verdächtigten etliche Frauen, gelangten aber zu keinem Ergebnis, das man hätte weiter erzählen können.
Die Hebamme kam, untersuchte das Kind, meinte, dass es gesund sei, allerdings hungrig und deshalb auch sehr unruhig. Sie sagte zur Äbtissin, dass in der unteren Stadt eine Amme zwei Kinder nährte. Für kurze Zeit könnte die kräftige Frau vielleicht auch ein drittes durchbringen.
Der Nachtwächter ging voraus, versuchte die dunklen Gassen für die beiden Frauen hinter ihm mit seiner Laterne ein wenig zu erhellen. Die Nonne hielt das Kind unter ihrem Ordenskleid mit beiden Händen fest, immer darauf bedacht, ihm möglichst viel von ihrer Wärme zu schenken. Die Hebamme pochte an die Türe der ihr gut bekannten Amme, sie wurden eingelassen und die Frau ließ sich tatsächlich dazu überreden, für kurze Zeit das Kind zu sich zu nehmen. Die Amme hob das Kind aus dem wärmenden Kleid der Nonne und legte es an die Brust. Während das Kind gierig trank, erzählte die Amme, dass die beiden Kinder, die neben dem Tisch in einer einzigen Wiege schliefen, aus armen Familien stammten. Die leibliche Mutter des Knaben war nach der Geburt verblutet, eine andere Frau hatte fast keine Milch, wohl, weil sie selbst nicht genug zu essen hatte.
Die Ordensfrau verabschiedete sich, der Nachtwächter, der vor der Türe gewartet hatte, geleitete sie zurück zum Kloster. Die Hebamme ersetzte die Kerze, die zu verlöschen drohte, setzte sich dann neben die Amme an den Tisch. Sie hatten sich viel zu erzählen.
Noch vor der Morgenmesse bat die Äbtissin den Pfarrer, das Findelkind zu taufen. Die Nonne holte es, durfte es während der Taufe in ihren Händen halten, während der Pfarrer das Weihwasser über den Kopf des zappelnden Kindes schüttete und es auf den Namen Gisela taufte. Der Äbtissin wurde eng ums Herz, als sie im Morgenlicht den rot schimmernden Flaum auf dem Kopf des Kindes sah. Noch immer waren irische Mönche in der Stadt, die meist rothaarigen Brüder hatten auch ihr Kloster hier in Mainz gegründet und jahrelang daran gebaut. Sie sprach vorsichtshalber mit niemand über die Haarfarbe des Findelkindes, erst recht nicht über den Verdacht, den sie hegte. Auch nicht mit dem Pfarrer und mit den Nonnen erst recht nicht.
Nach der Taufe beriet sich der Pfarrer mit der Äbtissin. Wie sollte es mit dem Kind nun weitergehen? Die Amme konnte es nicht behalten, das war nur eine lebensrettende Notlösung.
Ihm fiel ein, dass vorigen Freitag drüben in Bauschheim einer Bäuerin das nur wenige Wochen alte Kind gestorben war. Ob diese Frau die kleine Gisela zu sich nehmen würde? Die Äbtissin wusste auch keinen besseren Rat und meinte, dass man es zumindest versuchen sollte. Noch vor dem Abendläuten ließen sich der Pfarrer und die Äbtissin mit der kleinen Gisela im Arm mit einem Kahn auf die andere Rheinseite rudern. Der Ginsheimer Fuhrmann Ludwig brachte sie noch vor Sonnenuntergang mit dem Pferdewagen zum Anwesen der trauernden Bäuerin in Bauschheim.
Ein Hund zog an seiner Kette, kläffte, als ginge es um sein Leben. Zwei Kinder schauten vorsichtig aus dem Scheunentor, die Bäuerin trat aus dem Haus, blieb vor den Türstufen stehen und wunderte sich über den seltsamen Besuch. Ein Pfarrer und eine Ordensfrau mit einem Kind im Arm? Was wollten die hier auf ihrem Hof?
Fremde warme Mutterbrust
Der Pfarrer erklärte ihr mit großen Worten, so, als ob er eine Predigt hielte, dass für dieses Findelkind eine Amme gesucht würde. Dabei schlug die Äbtissin die Wickeldecke auf und zeigte der Bauersfrau das Köpfchen des winzigen Kindes. Die Bäuerin antwortete ihm nicht auf seine Frage, sagte nur, dass ihr Mann noch mit dem Fuhrwerk unterwegs sei, bat dann alle in die Stube, nahm ohne zu fragen das Kind, das mit den Ärmchen wie suchend umherruderte, an sich, knöpfte ihre Bluse auf und versuchte ihm ihre Brust zu geben. Der Pfarrer sah noch genauer als die Äbtissin zu, wie das Kind mit seinen Lippen die Brustwarze umschloss. Es war still in der Stube geworden, so als ob ein Geheimnis gewahrt werden müsste.
Das Kind zog heftig, aber weder aus der rechten noch aus der linken Brust kam etwas heraus. Die Bäuerin sah die Gäste verzweifelt an, knetete immer wieder ihre Brüste, bis auf einer Seite endlich doch Milch zu fließen begann.
Alle warteten still, bis das Kind satt war. Als es einschlief, sah die Äbtissin, dass die Bäuerin ihre Augen geschlossen hatte und Tränen über die Wangen rollten. Noch zu frisch war wohl die Erinnerung an ihr verstorbenes Kind. Als die Bäuerin die Augen wieder aufschlug, sah die Äbtissin sie fragend an. Sie nickte nur stumm. Der Pfarrer hatte es gesehen und war froh darüber, weil er wusste, dass das Kind nun erst einmal versorgt war.
Er sagte der Bäuerin, dass er das Kind auf den Namen Gisela getauft hatte und bat sie, es weiterhin zu nähren und zu versorgen. Es sollte nicht ihr Schaden sein.
Als die Äbtissin dem Kind zum Abschied noch vorsichtig über den Kopf und den rötlich schimmernden Flaum strich, sagte die Bäuerin leise zu ihr, dass sie sich vorhin vorgestellt hatte, dass dieses Kind an ihrer Brust ihr eigenes Mädchen wäre. Obwohl sie wusste, dass dieses ja nun schon zu den Engeln gehörte.
Kostheim.
Pfingstsonntag 20. Mai 1184.
Auf dem Bock zu Kaisers Hoftag
Das alte Pferd trottete schon zwei Stunden lang auf dem holprigen Weg und zog das Fuhrwerk von Bauschheim in Richtung Kostheim. Üblicherweise hatte der Bauer Getreide, Heu, Rüben oder Holz geladen, heute fuhr er seine drei Kinder zur Mainfähre. Die für das Hoftag des Kaisers bestellten Lebensmittel lagen auf dem Bretterboden vor ihren Füßen. Seine sechzehn Jahre alte Tochter Gisela saß neben ihm auf dem Bock. Ihre ältere Schwester Tessa hatte sich zwischen den Brotsäcken, frisch geschlachteten Ferkeln und halbierten Schweinen einen halbwegs bequemen Sitzplatz eingerichtet. Mit angezogenen Beinen lehnte sie an ihrem Bündel und achtete darauf, ihre darin eingerollten Kleider nicht zu zerknautschen.
Sie war mit ihren dreiundzwanzig Jahren zwar längst im heiratsfähigen Alter, aber weder sie selbst noch ihre Eltern hatten bisher einen passenden Mann gefunden. Obwohl sie nicht besonders hübsch und sehr viel kräftiger als ihre zierliche Schwester war, war sie durchaus wählerisch. Er sollte auf keinen Fall arm sein, besonders reich brauchte er zwar auch nicht zu sein, aber von Pferden, Rindern und Ackerbau sollte er schon etwas verstehen.
Der ihr gegenüber sitzende ältere Bruder Matthis hatte nämlich keinerlei Lust, später einmal den Hof zu übernehmen und übte sich in allerlei, wie sein Vater meinte, nutzlosen Künsten. Gerade versuchte er, auf dem schaukelnden Wagen mit vier Bällen zu jonglieren. Ein paarmal hatte er schon vom Wagen springen müssen, um den einen oder anderen Ball wieder einzusammeln.
Der Bauer streckte seine Hand aus, drehte den Kopf halb nach hinten und rief: „Seht ihr dort drüben die schwarzen Vögel?“
Tessa rief zurück: „Ja, hab ich auch schon beobachtet, das müssen Raben sein. Die kreisen immer über der gleichen Stelle.“
Vater bestätigte: „Die kreisen über der Insel, über der Maaraue, die mitten in der Mündung liegt, dort, wo der Main in den Rhein hineinfließt.“
Gisela fragte: „Warum kreisen die Vögel immer nur über der Insel?“
„Weil sie bemerkt haben, dass es dort reichlich Futter gibt. Wo der Kaiser feiert, da bekommt jeder etwas ab.“
Matthis rief von hinten: „Auf einem Hoftag ist noch keiner verhungert.“
Tessa schnickte mit dem Finger in die Luft und drehte ihre Hand im Kreis: „Ich werde tanzen und die Ritter und Landgrafen werden mich mit Gold, Silber und Edelsteinen überschütten.“
Matthis kicherte: „Oder sie lachen dich aus.“
Tessa kickte ihm ihre Schuhspitze ans Schienbein, härter als sie eigentlich wollte, ein Schlagloch hatte den Schwung ihres Fußes noch beschleunigt.
Nachdem der Vater den schwarzen Vögeln lange genug beim Spiel mit dem Wind zugesehen hatte, sagte er: „Ich würde ja gerne zum Fest mitkommen, aber die Fähre über den Main ist leider nur ein alter Kahn, der kann unser Fuhrwerk nie und nimmer tragen.“
Helle und dunkle, manchmal auch zerfledderte Wolken zogen über sie hinweg. Gisela bewunderte besonders bizarre Gebilde und versuchte ihre Form mit Tieren zu vergleichen. Sie war unruhig, sie fühlte, dass dies ein besonderer Tag für sie werden würde. Sie wusste nur noch nicht, ob er besonders schön oder besonders schlimm werden würde.
Vater hatte wieder seine Kutscherhaltung eingenommen, nach vorne gebeugt stützte er seine Ellenbogen auf die Knie, hielt die Zügel locker und brummelte vor sich hin: „Ich verstehe nicht, warum der Kaiser seinen Hoftag gerade auf der Maaraue ausrichtet. Diese armselige Insel sieht doch wirklich nach gar nichts aus und außerdem wird sie jedes Jahr auch noch ein paarmal vom Hochwasser überschwemmt.“
Er bemerkte, dass ihm niemand zuhörte, lediglich das Pferd hatte seine Ohren zu ihm nach hinten gedreht. Deshalb rief er jetzt lauter: „Dort hinter den Pappeln, da ist er, der Main.“
Matthis stellte sich auf, versuchte den Fluss zu entdecken und rief zurück: „Hoffentlich ist der Fährmann da.“
Der Vater wurde ungeduldig, zog an den Zügeln, knallte mit der Peitsche, aber das Pferd trottete unbeeindruckt gemütlich weiter über den holprigen Weg. Er zuckte die Achseln, schubste Gisela an und sagte: „Komm spiel uns ein Lied vor, so viel Zeit haben wir noch.“
Tessa öffnete Giselas Bündel, zog die Fiedel und den Bogen heraus und reichte beides nach vorne. Gisela stimmte ihr Instrument kurz und ließ dann den Bogen immer heftiger auf den Saiten tanzen. Der Vater sang mit, ihre Schwester schaukelte hin und her, mal im Takt der Musik, dann wieder im Takt der Schlaglöcher. Manchmal hüpfte der Bogen so eigenmächtig, dass das Lied kaum noch zu erkennen war.
Dem Pferd war die Melodie egal, es wurde noch langsamer, blieb schließlich sogar stehen, hob den Schweif, Gisela setzte die Fiedel ab, der Vater unterbrach seinen Gesang mit einem: „Oh! Oh!“
Als tierliebender Bauer ließ er trotz seiner Ungeduld dem Pferd genügend Zeit, sich in Ruhe zu erleichtern. Zu Beginn, sozusagen als Vorwarnung, pustete es erst vorsichtig, dann umso heftiger nach hinten. Gisela lachte, sie saß nicht in der Richtung des Windes, aber Tessa und Matthis hielten sich die Nase zu. Der Pferdefurz war nur schwer zu ertragen, er hatte es wirklich in sich.
Danach quollen, wie zu erwarten war, die festeren Bestandteile aus der Öffnung am Ende des Pferdes. Gisela bekam Angst um ihr langes Kleid und zog vorsichtshalber den Saum hoch bis über ihre Knie. Schon lange hatte sie sich dieses weiße Kleid gewünscht, in diesem Jahr, zum sechzehnten Geburtstag, hatte sie es endlich bekommen.
Obwohl ihre Mutter und ihre ältere Schwester dagegen waren, hatte Gisela darauf bestanden, es auf dem großen Fest zu tragen. Allzu erwachsen sähe sie darin aus, meinte die Mutter, obwohl sie doch beinahe noch ein Kind wäre. Aber schließlich hatte sie ihren tagelangen Betteleien doch nachgegeben.
Gott sei Dank waren die Pferdeäpfel ziemlich fest, alle landeten unten auf dem Weg und ließen das weiße Kleid in Ruhe. Tessa beschwerte sich mit nasaler Stimme von hinten: „Wie haltet ihr das aus? Sind eure Riechkolben verstopft? Den Räucherschinken kann man ja noch einigermaßen ertragen, aber das geschlachtete Schwein duftet wirklich nicht nach frischer Wäsche - und jetzt auch noch dieser Pferdegestank.“
Schlechtes Omen
Gisela lachte nur, das Pferd senkte mittlerweile wieder seinen Schweif, der Vater rief: „hüh“, zog am Zügel, der Wagen ruckte und das Pferd trottete weiter. Plötzlich hob Gisela die Beine an und quiekte: „iiih!“
Der Vater sah sie erschreckt an: „Heh, was ist los?“
„Da neben deinem Fuß, schau doch, iiih, eine Spinne, und was für eine, so was Ekliges …“
Der Vater nahm seinen Fuß hoch und trat hart auf das dicke langbeinige Tier, nahm den Fuß wieder hoch und grinste. Gisela starrte auf den zerquetschten Körper, die Spinne bestand nur noch aus blutig verschmiertem Schleim, aus dem ein paar dünne Beine ragten.
„Die tut keinem mehr was. Alles wieder in Ordnung?“ hörte sie Vater brummen. Gisela war entsetzt, wollte nicht mehr nach unten schauen. Sie hoffte inständig, dass diese ekelerregende Spinnenleiche kein schlechtes Vorzeichen für diesen Tag sein würde. Sie kletterte nach hinten auf den Wagen und setzte sich neben Tessa. Die Spiellaune war ihr vergangen.
Endlich kamen sie am Mainufer an, sahen drüben die Häuser und den Kirchturm von Kostheim und den Kahn des Fährmanns am anderen Ufer. Der Vater brüllte über den Fluss, zeigte gestikulierend auf seinen Wagen. Der Fährmann stieg zusammen mit einem zweiten Mann in den Kahn. Die beiden schoben sich mit ihren langen Stangen vom Ufer ab und stakten durch die kräftige Strömung des braungrauen Flusses zu ihnen herüber.
Gisela kletterte vom Wagen, benutzte die Speichen des Rades als Leiter und lief zum Ufer. Stumm schaute sie ins Wasser, trat noch näher an den reißenden Fluss, kleine Schaumkronen flatterten an seiner Oberfläche. Sie war zwar schon einige Male am Ufer des Mains gestanden. Immer fühlte sie sich unbehaglich dabei, aber trotzdem wie magisch von ihm angezogen.
Mutter erzählte von den Wassergeistern
Als sie noch jünger war und Mutter sie abends ins Bett gebracht hatte, hatte sie sich oft gewünscht, dass sie die alten Geschichten von den Wassergeistern erzählen sollte. Nicht immer gab Mutter nach, aber wenn sie sich die Zeit nahm, dann hörte Gisela still in sich versunken zu und war bald in Gedanken in dieser fremden Welt angekommen.
Mutter konnte so wunderbar von Feen und Wasserhexen erzählen, von verwunschenen Königskindern, die tief unten im Fluss in einem Schloss lebten. Von ertrunkenen Schiffern war es erbaut worden, aus purem Gold, an der tiefsten Stelle des Rheins. Gisela konnte bald nicht mehr zwischen erfundenen Erzählungen, Märchen oder Sagen und der Wirklichkeit unterscheiden. Was sie für wahr halten wollte, das glaubte sie einfach.
Manchmal, aber nur, wenn es draußen noch nicht ganz dunkel war, erzählte sie auch die Geschichte von einer ertrinkenden Frau, die mit ihren letzten Atemzügen ihren Mörder verfluchen wollte, aber unterging und nur der Flussgott Renos konnte hören, was sie hinausschreien wollte. Er rächte die erbarmenswürdige Frau und ließ schlimme Unwetter und Überschwemmungen über die Menschen an den Ufern hereinbrechen.
Gisela gruselte sich fürchterlich, verriet aber niemand, dass sie sich anschließend ganz intensiv in diese Frau hineindachte und mit ihr litt, dass sie sich immer wieder vorstellte, wie sie im kalten Wasser schreien wollte und nicht konnte.
Mutter hatte auch einmal erzählt, dass die Ertrunkenen, die nie gefunden und beerdigt wurden, keinen Seelenfrieden finden und sich nach einem Grab in geweihter Erde sehnen. Manche wurden gesehen, wie sie verzweifelt um Mitternacht am Ufer umherirrten.
Wirbel im trüben Wasser
Je länger nun Gisela in den Main schaute, umso mehr fürchtete sie sich vor dem trüben Wasser. Wirbel drehten sich, kleine Äste und Blätter eilten vorüber. War der Fluss ein mordendes Ungeheuer? Oder war er ein Freund, der geduldig Schiffe auf dem Rücken trug und die Fische ernährte?
Während sie auf das Fährboot warteten, rückte der Vater schon einmal seine Ladung auf dem Wagen zurecht. Tessa nahm einen hölzernen Eimer vom Wagen, schöpfte Wasser aus dem Main und stellte ihn vor das Pferd. Es probierte, schüttelte die Mähne und ließ die braune Brühe stehen.
Endlich war der Kahn angekommen, der alte Fährmann stieg umständlich an Land, stellte sich breitbeinig auf den Weg, knöpfte seine alte Jacke auf, schnäuzte sich mit den Fingern die Nase leer und wischte die Reste an der schmutzigen Hose ab. Dann hob er wie zum Gruß seine Lederkappe an, vielleicht wollte er auch nur seine verschwitzten Haare lüften.
Der Vater reichte ein Stück nach dem anderen vom Wagen hinunter, der Fährmann und Matthis trugen die Waren zum flachen Kahn. Der Sohn des Fährmanns schöpfte noch mit einem rostigen Topf das eingedrungene Wasser vom Bootsboden in den Fluss, verstaute dann die Schweinehälften, die Ferkel, den geräucherten Schinken und die Brotsäcke auf den im Kahn liegenden Brettern.
Tessa ließ sich vom Vater ihr Bündel herabreichen, drei Kleider hatte sie mitgenommen, sie hatte sich vorgenommen, sie blitzschnell zu wechseln, sobald eine andere Melodie erklang. Gisela hatte auf der Fiedel noch ein paar schnelle Stücke gelernt und Matthis hatte sich von seinem Onkel in Gerau noch ein paar besonders beeindruckende Jonglierkunststücke beibringen lassen.
Matthis war sich nicht sicher, ob sie von den Wachen durchgelassen werden würden, ob sie überhaupt auf die Insel kommen würden. Eingeladen waren sie jedenfalls nicht. Waren Bauernkinder, die sich hin und wieder auf Märkten oder Kirchweihen ein paar Pfennige oder auch nur Beifall verdienten, überhaupt erwünscht? Er behielt seine Zweifel jedoch lieber für sich.
Der Sohn des Fährmanns band zum Schluss noch die Bündel vorne im Kahn mit einem Hanfseil fest. Die drei Geschwister mussten sich auf die äußeren Sitzbretter zwängen, die beiden Frauen links mit dem Rücken zum Wind, Matthis pfiff die kalte Luft mitten ins Gesicht. Sie winkten, als Vater mit der Peitsche knallte und mit dem leeren Wagen davonfuhr.
Der alte Fährmann sah sich seinen vollen Kahn misstrauisch an, nur eine Handbreit Holz ragte noch aus dem Wasser. Er hielt sein faltiges Gesicht in den Wind, verzog den Mund, zuckte schließlich die Achseln, atmete tief durch, stieg in den Kahn, spuckte in seine Hände, nahm die Stange und rief seinem Sohn zu: „Los jetzt!“
Drüben am Kostheimer Ufer wartete inzwischen schon ein anderer Pferdewagen. Die beiden Fährmänner stießen den Kahn mit ihren langen Stangen vom Ufer ab. Sofort begann er in den Wellen zu schaukeln, er war nicht gleichmäßig beladen, auf Matthis Seite hing er tiefer im Wasser. An Giselas und Tessas Seite schlugen die Wellen hart ans Boot.
Gisela spürte das an ihren Rücken spritzende kalte Wasser, bekam Angst, drückte sich an ihre Schwester, die legte ihren Arm fest um sie, obwohl sie sich selbst vor der trüben Flut fürchtete. Gisela atmete schnell, roch das rohe Fleisch vor ihren Füßen, vermischt mit dem lehmigen Geruch des Mainwassers. Warum dauerte diese Überfahrt so furchtbar lange? Warum waren sie noch nicht am anderen Ufer?
Der Fährmann betrachtete aus den Augenwinkeln immer wieder grinsend die drei verängstigten Leute in seinem Kahn und fragte schließlich mit abfälliger Stimme, ob sie denn überhaupt schwimmen könnten. Gisela klammerte sich noch fester an ihre Schwester, die versuchte sie zu beruhigen, obwohl sie selbst nicht schwimmen konnte.
Gisela fürchtete sich nicht nur vor dem Fluss, sondern nun auch noch vor dem schmutzigen Mann mit seinem groben Lachen und den schlechten Zähnen. Ohne weiter auf den Kahn zu achten, kam der frech einen Schritt näher und schrie gegen den Wind: „Soll ich dir das Schwimmen beibringen?“
Gisela verkroch sich in Tessas Umhang. Der Alte lachte noch lauter. Er hätte lieber auf die Strömung achten sollen. In der Mitte des Flusses, dort wo das Wasser schneller als anderswo in Richtung Rhein floss, schlugen die Wellen immer härter an die Bretter, der Kahn schwankte noch mehr als vorher, zeigte nicht mehr in Richtung Kostheim, sondern begann sich zu drehen. Der Alte erkannte, dass sein Sohn mit seiner Stange den Kahn vorne nicht gegen die Strömung halten konnte, er stolperte hastig über die Ladung zur Bootsmitte und stieß seine lange Stange kraftvoll tief ins Wasser bis zum Grund. Doch er hatte nur mit einem Fuß festen Halt auf den Brettern gefunden, mit dem anderen stand er auf dem Hals eines Spanferkels, das dadurch sein Maul wie zu einem Schrei aufriss und sich zur Seite drehte.
Der Mann verlor das Gleichgewicht, fiel rücklings ins Boot, die Stange über sich fest haltend. Sie durfte er auf keinen Fall verlieren, nur mit ihr konnte er dem Kahn die Richtung aufzwingen. Doch der Kahn neigte sich nun endgültig zur Seite, tauchte auf Matthis Seite ins Wasser. Ein Schwall Wasser brach über sein Gesäß, seinen Rücken, über das Fleisch und natürlich auch über den auf dem Bootsboden liegenden Fährmann herein. Matthis sprang geistesgegenwärtig auf die andere Seite des Kahns, verhinderte dadurch das vollständige Kentern und zog den Fährmann mit beiden Händen wieder auf die Beine. Der gab dem Ferkel einen Tritt, als ob es an allem schuld wäre, stach mit der Stange wieder kräftig ins Wasser, brüllte seinem Sohn Kommandos zu, die dieser nicht richtig oder seiner Meinung nach nicht schnell genug ausführte. Erst nach mehreren Minuten erreichten sie wieder ruhigeres Wasser, näherten sich dem Ufer, aber der Kahn war inzwischen weit abgetrieben und konnte die Kostheimer Anlegestelle längst nicht mehr erreichen.
Der Alte atmete schwer, grinste verlegen. Erst jetzt sah er zu Matthis hin, nickte ihm zu und rief ihm dann mit dem ihm eigenen Galgenhumor zu: „Guter Mann, gut gemacht, könntest Fährmann werden.“
Der Sohn des Fährmanns sprang vorne mit einem Seil in der Hand ins Wasser, watete zu einer Pappel, legte den Strick um den Stamm und zog mit aller Kraft den Kahn zu sich heran, bis er auf dem sandigen Ufer festsaß.
Männer kamen gerannt, halfen den Leuten beim Aussteigen. Matthis reichte Gisela eine Hand. Mit der anderen Hand hatte sie das weiße Kleid bis über die Knie angehoben, damit es nicht nass wurde. Der Sohn des Fährmanns, noch immer das Seil in Händen, starrte auf ihre hellen Beine. Es waren nicht die ersten Frauenbeine, die er zu sehen bekam, aber diese hier waren nicht kräftig, von der Sonne gebräunt oder vom Wetter gegerbt. Nicht nur die Beine, das ganze Mädchen war anders, war schlank, quicklebendig und doch zart. Trotz der vom Wind zerzausten roten Haare sah sie für ihn wie ein feines Fräulein aus.
Kostheim.
Pfingstsonntag 20. Mai 1184.
Der Pferdewagen fuhr so nahe an den Fluss heran, dass seine Hinterräder im weichen Boden einsanken. Männer bildeten eine Kette vom Kahn zum Wagen, ein junger Mann verteilte die Waren oben auf den Brettern des Fuhrwerks. Matthis sammelte Blätter, rupfte Grasbüschel vom Boden und half seinen Schwestern, die Füße zu säubern.
Oben am Weg blieb ein Reiter stehen. Er kommandierte die Leute herum, verlangte mehr Eifer, offensichtlich war er für den Transport der Waren verantwortlich. Matthis wollte sein Wissen über den Adel zum Besten geben und erklärte seinen Schwestern, dass dieser Mann im Kettenhemd auf dem schwarzen Ross ein Ritter sein müsse. Möglicherweise sogar ein Kreuzritter des Kaisers. Das schmale rote Kreuz, das sich über die weiße Pferdedecke hinzog, konnte nichts anderes bedeuten.
Tessa meinte, wenn dem so wäre, könnte er doch sicher auch bestimmen, wer auf dem Wagen sitzen dürfe. Da wüsste sie drei Leute, die heute noch lange genug auf den eigenen Füßen stehen, laufen und nicht zu vergessen: auch tanzen müssten.
Sie ging mutig auf den Reiter zu, so furchteinflößend er auf dem schwarzen Pferd in seiner kriegerischen Kleidung mit Schwert und Dolch auch aussah. Der beachtete sie erst einmal gar nicht, sondern fluchte, weil das magere Pferd den Wagen nicht aus dem Matsch ziehen konnte, schrie hinunter, die Männer sollten gefälligst selbst in die Speichen greifen. Mit „hüh“ und „jetzt zusammen“ und allerlei weiterem Geschrei bewegte sich schließlich das Gefährt doch noch hinauf zum befestigten Weg.
Der Reiter rief zufrieden: „Na also“ und dann noch: „Warum nicht gleich so.“
Er wendete, sah die ziemlich auffällig gekleideten gerade dem Main entkommenen Gestalten und amüsierte sich vor allem über den jungen Mann mit seiner spitz zulaufenden roten Mütze im safrangelben Wams. Seine grünen eng anliegenden Beinkleider waren nur oben einigermaßen trocken geblieben. Vom Knie abwärts trieften sie vor Nässe und umschlossen deshalb seine Waden besonders eng.
„Seid ihr Gaukler?“ rief er von oben zu ihnen herab. Matthis verbeugte sich und erklärte, von großen Gesten seiner Arme und Beine unterstützt, dass sie vorzüglich musizieren, tanzen und jonglieren könnten.
„Woher kommt ihr?“
Tessa rief zu ihm hinauf, dass sie aus Bauschheim kämen, unterwegs zum Fest des Kaisers wären und nichts dagegen hätten, wenn sie auf dem Wagen mitfahren dürften. Der Ritter sah sich die kleine Truppe halb amüsiert, halb misstrauisch an, noch nie hatte er von Spielleuten aus Bauschheim gehört.
Da es so aussah, als wollte er sich wieder abwenden, legten sie ihre Bündel auf den Boden, öffneten sie, Tessa knotete sich flink ein rotes Band ins Haar, drehte sich und ließ ihren weiten roten Rock im Wind flattern. Gisela tat so, als hätte sie Fiedel und Bogen in der Hand und spielte mit ihren Körperbewegungen ein schnelles, aber leider lautloses Stück dazu. Als Matthis mit drei bunten Bällen zu jonglieren begann, lachte der Mann auf dem Pferd und fragte: „Wie sind eure Namen?“
Tessa und Matthis stellten sich eilig vor. Gisela war mit ihrer Fiedel beschäftigt. Der Ritter fragte nach: „Und du da mit den roten Haaren in deinem hübschen weißen Kleid?“
„Ich heiße Gisela.“
Der Ritter stutzte, schien nachzudenken und fragte noch einmal: „Und woher kommt ihr?
„Aus Bauschheim.“
Er murmelte: „Gisela aus Bauschheim?“, schüttelte den Kopf, sah sich das Mädchen ganz genau an und forderte dann die drei mit einer Handbewegung auf, sich auf den Wagen zu setzen: „Der Knappe wird euch helfen.“
Ein wesentlich einfacher gekleideter junger Mann kam zu ihnen, sagte, dass sein Name Kuno sei und mit ein wenig Stolz in der Stimme noch, dass er der Freund des Ritters wäre. Nicht irgendeines Ritters, Bernhard von Gelnhausen hätte ihnen gerade einen Platz auf dem Wagen erlaubt. Dann half er den jungen Frauen, hinaufzuklettern und sprach so höflich mit ihnen, als wären sie edle Damen von hohem Stande.
Er setzte sich schließlich zu ihnen auf das Brett, das seitlich als Sitz diente und erklärte, dass sein Freund auf dem stattlichen Pferd da vorne der Sohn des Truchsess sei. Der Vater wäre vom Kaiser persönlich beauftragt, für die Verpflegung und die Unterhaltung der Festgäste zu sorgen. Das wäre eine große Ehre, um die ihn viele beneiden würden.
Ritter Bernhard warf dem Fährmann ein paar Münzen auf den Weg, beschwerte sich dabei lautstark über die ungeschickte Überfahrt, bei der die ganze Ladung im Main hätte landen können und rief: „Die Gaukler hätten ja schwimmen können, aber die Schinken und die Spanferkel bestimmt nicht.“
Der alte Fährmann lachte nur: „So etwas bleibt nicht aus im Frühjahr bei hohem Wasser, war schon schlimmer, sind sogar schon in den Rhein hinein geraten. Aber alle, die wir mitgenommen haben, leben noch.“
Der Ritter rief: „Na hoffentlich bleibt das so.“
Bernhard von Gelnhausen lenkte sein Pferd zurück auf den Weg, nun hinter den noch wartenden Wagen. Ein Bauer, der seinen zweirädrigen Karren selbst zog, kam aus Richtung Kostheim herbeigeeilt. Bernhard befahl ihm, seine Waren unverzüglich auf den Wagen zu laden. Obwohl der noch heftig schnaufte, tat er wie befohlen.
Gisela fühlte sich nun wieder sicherer, vor allem, weil ihnen der starke Mann auf dem Rappen wohl gesonnen war. Sie staunte, was der Bauer alles auf seinen Karren geladen hatte: zwei Weinschläuche, Fleischstücke, geräucherten Schinken, mehrere paarweise an den Füßen zusammengebundene und heftig gackernde Hühner. Zum Schluss schleuderte er noch unwirsch eine aufgeregte Gans hinterher.
Der Ritter warf ihm ein paar Münzen zu, der Bauer bedankte sich mit einer so tiefen Verbeugung, dass sie nicht echt sein konnte. Der Ritter dirigierte sein Pferd vor den Wagen und rief: „Los jetzt endlich.“
Hinten schimpfte der Bauer neben seinem leeren Karren: „Und was sollen wir essen? Die roten Heller?“
Der Knappe auf dem Wagen hatte es gehört und kratzte sich in den Haaren: „Was wir in den letzten Tagen den Bauern schon alles abgeknöpft haben … Ochsen, Kälber, Fasane, Ferkel, Schweine, Brot, Gemüse. Und dann noch das ganze Futter für die Pferde.“
Der Ritter hob den Arm, für den Kutscher das Zeichen zum Aufbruch. Als der Wagen losruckelte, sagte Kuno zu Matthis: „Wir haben wenigstens alles bezahlt. Einigermaßen jedenfalls. Wenn Soldaten durchziehen, sieht das anders aus.“
Nach einer Pause meinte Kuno: „Ich glaube nicht, dass es den Leuten schlecht geht. Ich hab gestern mit dem alten Fährmann im Wirtshaus gesessen, Hochheimer Riesling schenkte der Wirt aus, nicht schlecht, muss ich sagen, was die einfachen Leute da trinken. Als der Alte genug in sich hinein geschüttet hatte, prahlte er, dass er durch den Hoftag schon mehr verdient hätte, als sonst im ganzen Jahr.“
Kuno schwieg eine Weile, schüttelte den Kopf und ergänzte dann: „Und das mit diesem morschen Kahn.“
Andere Wagen und Reiter kamen dem Fuhrwerk auf dem schmalen Weg entgegen, sie mussten ausweichen, auch mal stehen bleiben. Dann hörte man von der Insel her schon, dass hier etwas Großes vor sich ging. Geschrei, Hundegebell, dazwischen verschwommen etwas Musik.
Gisela sah sich immer wieder Kuno an. Er sah so vornehm aus, so freundlich. Sie hatte das Gefühl, sie würde dazugehören, zu diesen Leuten, die hier zum Fest eingeladen worden waren. Auch er sah sie immer wieder an, erst nur ihr Kleid, dann unten die nicht ganz sauberen Füße und oben unter den roten Haaren die wachen Augen. Er wandte aber seinen Kopf gleich wieder verlegen zur Seite, wenn er ihrem Blick begegnete. Sie getraute sich, ihm ein wenig von ihrer Zuneigung zu zeigen, indem sie näher an ihn heranrückte und fragte: „Ist der Kaiser schon da?“
Kuno konnte sie nun anstrahlen, ohne aufdringlich zu wirken: „Ja, er und seine Frau und seine Söhne. Ich hab zugesehen, wie sie von Mainz über den Rhein herübergefahren kamen. Ein solch prachtvoll geschmücktes Schiff sah ich noch nie. Er saß erhöht inmitten der Edelleute neben seiner Frau Beatrix von Burgund.“
„Ist sie eine schöne Frau?“
„Ja, sehr schön, aber für meinen Geschmack trug sie die Nase etwas zu hoch. Sie zeigte, wer sie ist. Sie sah den neben ihr sitzenden Kaiser kaum einmal an, hüllte sich in ihren Mantel und winkte den Besuchern zu. Ich war so nah am Ufer, dass ich die Ringe an ihren Fingern erkennen konnte. Als der Wind einmal ihren Mantel aufschlug, sah ich darunter ihr langes blaues Kleid mit den aufgestickten goldenen Lilien, sie sah wirklich wie eine Kaiserin aus.“
„Hatte sie eine Krone auf?“
„Ja, sechs oder sieben goldene Spitzen ragten nach oben gen Himmel, aber ihre war etwas kleiner als Friedrichs Krone, dafür glänzten mehr Edelsteine auf ihrem Haupt.“
„Wie alt sind die beiden eigentlich?“
„Er ist schon über sechzig, aber immer noch kraftvoll und von großer Gestalt. Sie ist viel jünger, mit sechzehn Jahren hat er sie geehelicht. Er war vorher schon einmal verheiratet.“
„Wann ist denn seine erste Frau gestorben?“
Kuno sah sich um, ob ihm jemand zuhören konnte, und flüsterte dann: „Die Adela von Vohburg? Die lebt noch. Er hat sich scheiden lassen, das gab ein ziemliches Trara, der Papst musste höchstpersönlich die zweite Ehe genehmigen.“
„Warum verließ er seine Frau? Liebte er sie nicht?“
„Mein Freund, also der Bernhard von Gelnhausen da vorne, sagte, weil sie keine Kinder bekam. Aber ich hab auch andere Geschichten gehört.“
Gisela sah Kuno neugierig an, probierte aus, wie ihr Lächeln auf ihn wirkte: „Verrätst du mir auch die anderen Geschichten?“
„Naja, ich soll zwar nicht darüber tratschen, aber es ist schon eigenartig, man munkelt, dass er doch Kinder hatte.“
„Das muss doch bekannt sein, sie kann doch nicht heimlich Kinder bekommen haben.“
„Man weiß ja nicht, von wem. Ich hörte mal den Frauen zu, wie sie am Brunnen bei uns im Burghof kicherten und sogar über Namen tuschelten. Ich glaube, dass wir die Wahrheit nie erfahren werden, Bernhard meint, dass der Kaiser in Wirklichkeit die Mitgift der Beatrix dringend benötigte, da ging es um viel, um Landgrafenbesitztümer oder sogar ganze Königreiche.“
„Welche Namen tuschelten die Frauen?“
„Ich weiß ja nicht, ob es stimmt, die Frauen reden halt, es soll eine Gisela gegeben haben, oder eine Elisabeth, oder beide, ich weiß es jedenfalls nicht, hab nur so zugehört, ist ja auch egal und mich geht es sowieso nichts an.“
Gisela wandte den Blick von ihm, starrte vor sich hin, musste an ihren vierzehnten Geburtstag vor zwei Jahren denken. Mutter hatte ihr an diesem Tag gesagt, dass sie ihren genauen Geburtstag gar nicht kennen würde, weil sie nicht ihr leibliches Kind sei. Behutsam hatte sie ihr berichtet, dass sie vor einem Kloster in Mainz ausgesetzt worden war, mit einem Zettel im Kleidchen, auf dem nur Gisela gestanden hatte. Sie fühlte sich plötzlich wieder so allein wie damals, als sie diese Geschichte gehört hatte.
* * *
Gisela hatte damals zu weinen begonnen und ihre Mutter hatte ihr bei allem, was ihr heilig ist, versichert, dass sie sie bis auf den heutigen Tag wie ihr eigenes Kind geliebt hatte und immer lieben würde bis zu ihrem Tod. Mutter drückte sie fest an sich, um es ihr zu beweisen. Erst als Gisela sich wieder beruhigt hatte, fragte die Mutter, ob sie ihr kleines Kleidchen sehen möchte.