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Eine Cafébesitzerin, die verborgene Wunden erkennt. Eine Tasse Kaffee, die Leben verändert. Eine Lektüre, die inspiriert. "Die Öffnungszeit endet mit dem Sonnenuntergang" steht auf dem Schild an der Tür des kleinen japanischen Cafés am Rand eines wunderschönen Parks von Sapporo. Die Besitzerin Frau Hayari ist eine Barista mit ganz besonderen Fähigkeiten. Exakt 4 Minuten und 33 Sekunden, die Zeit, sie für die Zubereitung einer Tasse Kaffee benötigt, kann sie ihren Gästen eine Reise in die Vergangenheit gewähren, um eine tief bereute Entscheidung rückgängig zu machen. Dabei werden Leben gerettet, große Lieben ermöglicht oder einfach die richtige Abzweigung genommen: Die Studentin Himari wünscht nichts sehnlicher, als ihre Karriere als Pianistin fortführen zu können und den Unfall, der ihre Hand so sehr verletzte, ungeschehen zu machen. Oder Kobayashi, der Witwer, der seit neun Jahren bereut, seiner Frau an ihrem letzten Geburtstag keine Blumen geschenkt zu haben: Die fallenden Wassertropfen des Kaffeefilters hallen immer tiefer und langsamer wider. Kobayashis Bewusstsein verschwindet wie der Wirbel einer unergründlichen Quelle. Für diese vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden reist er durch die Zeit, sieht seine Frau vor dem Blumenladen – und ergreift seine Chance. Ein magischer Roman, nach dessen Lektüre man so gestärkt ist wie nach einer Tasse richtig guten Kaffee.
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Seitenzahl: 237
Shiori Ota
Roman
Aus dem Japanischen von Anemone Bauer
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
»Die Öffnungszeit endet mit dem Sonnenuntergang«, steht auf dem Schild an der Tür des kleinen japanischen Cafés am Rand eines wunderschönen Parks von Sapporo. Die Besitzerin, Frau Hayari Tase, ist eine Barista mit ganz besonderen Fähigkeiten. Exakt vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden, die Zeit, die sie für die Zubereitung einer Tasse Kaffee benötigt, kann sie ihren Gästen eine Reise in die Vergangenheit gewähren, um eine tief bereute Entscheidung rückgängig zu machen. Dabei werden Leben gerettet, große Lieben ermöglicht, oder es wird einfach die richtige Abzweigung genommen: Die Schülerin Himari wünscht nichts sehnlicher, als ihre Karriere als Pianistin fortführen zu können und den Unfall, der ihre Hand so sehr verletzte, ungeschehen zu machen. Oder Herr Kobayashi, der Witwer, der seit neun Jahren bereut, seiner Frau an ihrem letzten Geburtstag keine Blumen geschenkt zu haben: Die fallenden Wassertropfen des Kaffeefilters hallen immer tiefer und langsamer wider. Herrn Kobayashis Bewusstsein verschwindet wie der Wirbel einer unergründlichen Quelle. Für diese vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden reist er durch die Zeit, sieht seine Frau vor dem Blumenladen – und ergreift seine Chance.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Die erste Tasse: Ein einmaliges Präludium
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
Arie – die zweite Tasse: Ein schönes Solo
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
Duett – die dritte Tasse: Das Duett der Vögel
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Walzer – die vierte Tasse: Ein Walzer mit dem Mond
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
Das Hupen der Autos tat mir in den Ohren weh.
Do, La. Wenn ich deprimiert bin, sehe ich Noten in den Geräuschen der Stadt, die Töne kommen mir automatisch wie in Italien üblich in Solmisationssilben in den Sinn.
Heute war der Lärm besonders schlimm. Es gab von allem zu viel. Zu viele Dinge, zu viele Menschen. Sapporo war eine große, aber sehr enge Stadt.
Für den Alltag war es praktisch. Aber für etwas – ja, für etwas Großes, Ernsthaftes war Sapporo zu klein. Viel zu klein. Zum Beispiel, um dort eine Pianistin von Weltrang zu werden.
Als mein Vater ins Ausland versetzt wurde, bestand meine Mutter, die auf ihr bequemes Leben nicht verzichten wollte, darauf, in Japan zu bleiben, und zog mit mir, gerade drei geworden, und meiner neugeborenen Schwester von Sapporo in ihre Heimatstadt Obihiro.
Im Haus meiner Großmutter stand ein altes Klavier. Es war schrecklich verstimmt.
Trotzdem war ich glücklich, darauf spielen zu können, und als kleines Kind klimperte ich meine Lieblingslieder aus dem Kinderfernsehen.
Niemand hatte es mir beigebracht.
Meine Mutter und meine Großmutter waren überrascht, als sie mich so auf dem Klavier spielen sahen, und brachten mich noch in derselben Woche zu einem Klavierlehrer.
Ich war ein Wunderkind.
Ich musste ein Lied nur einmal hören und konnte es sofort nachspielen, obwohl ich noch so klein war.
Die Erwachsenen freuten sich sehr, als sie sahen, wie ich mit meinen kurzen Ärmchen am Klavier mein Bestes gab. Sogar das Fernsehen kam, um über mich zu berichten, und ich wurde zu Veranstaltungen in der Präfektur eingeladen, wo ich mit verschiedenen Prominenten auftrat.
Damals machte mir das Klavierspielen großen Spaß, und weil ich meiner Mutter und meiner Großmutter eine Freude machen wollte, spielte ich den lieben langen Tag.
Aber wie es bei vielen Wunderkindern der Fall ist, nahmen auch mir die Götter nach dem Kindergarten und der Grundschule meine Gabe wieder weg. Die Götter beschützen nur kleine Kinder.
Meine Mutter weigerte sich jedoch vehement zu akzeptieren, dass ich nurmehr ein ganz normales Kind war, und beschloss, mich auf eine Musikschule ins Ausland zu schicken. Nicht einmal dorthin, wohin mein Vater als Expat gesandt worden war, sondern nach England, zu dem wir keinerlei Bezug hatten. Ich war immer noch in der Grundschule.
Meine Mutter war felsenfest überzeugt, es läge an meiner Umgebung, dass ich keine Fortschritte mehr machte. Die Lehrer waren schlecht. Obihiro, Sapporo und sogar ganz Japan waren zu klein, um mein Talent zu fördern.
Trotzdem hätte mich meine Mutter nie ins Ausland begleitet, sie war ja nicht einmal meinem Vater gefolgt.
Und so kam es, dass ich auf einmal allein in England auf ein Musikinternat ging, obwohl ich die Sprache kaum verstand. Und vor allem: Es brachte nichts. Ich war kein Wunderkind mehr.
Vielleicht waren die Götter verärgert, dass ein stinknormales Kind so tat, als sei es etwas Besonderes? Jedenfalls hatte ich schließlich meinen Unfall.
Ehrlich gesagt habe ich keine sehr klare Erinnerung daran. Es war zu beängstigend, um es im Gedächtnis zu behalten.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem Krankenhausbett, und mein Leben war zwar gerettet, aber die Finger meiner linken Hand waren fast abgerissen.
Ein freundlicher Arzt – eigentlich das genaue Gegenteil der Götter – nähte sie mir wieder an, und ich konnte sie mittlerweile wieder bewegen, aber mit dem Klavierspielen war es vorbei, mit der Pianistenkarriere sowieso, und ich musste nach Japan zurück.
Just zu dieser Zeit starben auch noch meine Großeltern, auf die ich mich verlassen hatte, meine Mutter ließ sich von meinem Vater scheiden und kehrte mit mir und meiner Schwester nach Sapporo zurück.
Obwohl sie mir erzählte, Sapporo sei meine Geburtsstadt, hatte ich kaum Erinnerungen daran.
So begann mein Leben in einer Stadt, die ich nicht kannte, und mit Fingern, die kein Klavier mehr spielen konnten.
In dieser großen, aber engen Stadt.
Alle Erwachsenen sagten mir, es sei »ein Neuanfang in einer neuen Umgebung« – in solchen Zeiten sei es besser, alles von vorne zu beginnen.
Ich aber wollte lieber an einem Ort neu anfangen, den ich kannte, bei Menschen, die ich kannte.
Meine Mutter verstand die Angst nicht, allein an einem unbekannten Ort ins kalte Wasser geworfen zu werden. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sich für mich anfühlte, dass ich wegen meiner Reha erst einen Monat nach Beginn des Schuljahrs meine neue Schule besuchen konnte.
Ich wusste genau, neue Freunde zu finden, war keine meiner Stärken. Und wenn ich erst so spät an meiner neuen Schule antanzte, wäre ich sicher nur das fünfte Rad am Wagen; die anderen Kinder hätten bereits Freundschaften geschlossen.
Ich hatte Angst vor der Schule in der Stadt. Ich traute mich nicht alleine zu Wildfremden. Doch der unvermeidliche erste Schultag kam.
Hinter der Tür erwartete mich ein wolkenloser, strahlend blauer Himmel. Grauenhaft. Die Morgensonne strahlte mir grell und gewalttätig ins Gesicht. Meine Mutter freute sich, dass an meinem ersten Schultag die Sonne schien, aber ich wollte nur noch schreien, als ich das Haus verlassen sollte.
»Himari, weg da! Du bist voll im Weg.«
Meine jüngere Schwester Nanoka schubste mich am Eingang einfach zur Seite. Obwohl sie erst in die vierte Klasse ging, war Nanoka viel resoluter als ich.
Oh, wie ich das alles hasse.
Mir stiegen Tränen in die Augen.
Die zu langen Ärmel meiner Bluse, der schwere Blazer der Schuluniform, der Rucksack, der unbekannte Geruch des Morgens – ich hasste alles.
Ich hasste, hasste, hasste es. Ich hasste alles.
Ich hatte das Gefühl, dass hier gar nichts gut gehen würde.
Ich dachte daran, alles hinzuschmeißen und einfach auf die Straße zu rennen, aber ich hatte Angst, überfahren zu werden, könne wehtun.
Und selbst wenn ich sterben sollte, würde dann nur meine Mutter wieder ein Gesicht aufsetzen, als wäre sie die Unglücklichste auf der Welt. Wie damals, als ich aus England zurückkam.
Doch es half nichts. Blieb ich zu Hause, erwartete mich der höllische Erwartungsdruck meiner Mutter, die immer noch glaubte, irgendwann würde es mit dem Klavierspielen wieder klappen.
Mit dem Gefühl, dass meine Seele mit jedem Atemzug schrumpfte, machte ich mich langsam auf den Weg zur Schule.
»He, du da! Dein Rock ist zu kurz, zieh ihn nicht so hoch! Und du! Dreikäsehoch! Wenn du den Riemen deiner Tasche derart lang machst, schleift sie doch auf dem Boden! He, du da! Schau beim Gehen nicht auf dein Handy! Schau nach vorne, nach vorne!«
Unter dem blauen Himmel schlug mir das Gekeife einer Frau mittleren Alters – nein, bei genauerem Hinsehen – einer alten Frau entgegen.
Sie stand vor einem Haus, das von einer Azaleenhecke umgeben war, schalt und krittelte an allen herum, die an ihr vorübergingen.
Gekleidet war sie in knallige, bunte Farben – Rot, Gelb, Lila – eines traditionellen Gewands, eventuell irgendwo aus Südostasien, das ihr Alter auf den ersten Blick nicht genau erkennen ließ, aber sie war sicher über sechzig.
Ihre weißen Haare waren lila gefärbt, und sie trug ein Kopftuch. Mit einem Besen in der Hand schrie sie lautstark herum.
Ich wurde ganz starr. Aber es wäre zu auffällig, ohne eine Ampel einfach so die Straßenseite zu wechseln, und die Alte rief sowieso auch den Kindern auf der anderen Seite Bemerkungen zu.
Nun denn … was sollte ich tun, es gab keinen Fluchtweg.
»Oh nein …«
Ich habe keine andere Wahl. Ab morgen nehme ich einen anderen Weg. Heute ziehe ich einfach den Kopf ein und mogle mich irgendwie vorbei …
Ich konzentrierte mich auf meine Zehenspitzen und wollte schnell und unauffällig an der alten Frau vorbeihuschen, wobei ich mir wie ein Mantra vorsagte: Bitte, bemerk mich nicht! Bitte, bemerk mich nicht!
Doch da: »Hey, du da.«
Schreck lass nach.
»Ja, genau du, das kleine Ding … ja, genau du!«
Was für ein furchtbarer Tag!
»Ähm, wie bitte?«
Meine Gebete waren umsonst gewesen. Die Alte hatte mich angesprochen.
Vielleicht hätte ich sie ignorieren und weglaufen sollen, aber das machte mir auch Angst, also hob ich zögernd den Kopf.
Aus der Nähe war die Alte noch bunter und auffälliger. Sie hatte die Augen grün umrandet, mit goldenem Glitzer, und trug orangefarbenen Lippenstift.
Es war beängstigend. Sehr.
Meine Großmutter hatte sich in diesem Alter ja auch noch geschminkt, aber mit zarteren Farben und längst nicht so grell und aufdringlich.
»Guten … Morgen …?«
Ich hatte Angst, dass sie schimpfen würde, wenn ich nicht antwortete, also grüßte ich sie vorsichtig.
»Guten Morgen. Was machst du denn für ein Gesicht? Siehst ja aus wie drei Tage Regenwetter!«
»Wirklich …?«
Es wäre besser gewesen, wenn es wirklich geregnet hätte.
Wenn ein Taifun und ein Tornado gleichzeitig gekommen wären, die Schule geschlossen worden wäre. Das wäre toll gewesen.
»Du bist nicht hier aus der Gegend, stimmt’s? Du hast aber die Uniform von der Mittelschule hier an. Gehst du denn auf einmal einen anderen Weg zur Schule? Hast du einen schlechten Tag?«, fragte die Alte neugierig, als könnte sie meine Gedanken lesen.
Ihre Stimme klang angenehm, ich musste an ein Tenorsaxofon denken. Ich fühlte mich etwas besser.
»Ich … ich bin neu hergezogen und war vorher im Krankenhaus und … heute ist mein erster Schultag …«
»Krankenhaus? Bist du krank?«
»Ich … ich hatte einen Unfall und bin verletzt.«
Als ich ihr meine bandagierte linke Hand zeigte, runzelte sie die Stirn.
»Das ist noch nicht verheilt?«
»Doch, zusammengewachsen ist es schon, aber der Arzt meinte, solange man die Narben so deutlich sieht, sollte ich den Verband lieber dran lassen.«
»Aha …«
Allein durch den »Verband« konnte die Alte das Ausmaß meiner Verletzung erkennen.
Sie machte das typische »Ach du Ärmste«-Gesicht, wie alle Erwachsenen, wenn sie von meiner Verletzung hörten.
Dieses Gesicht habe ich schon so oft gesehen. Die Worte, die folgten, waren auch immer dieselben – »Aber du musst dankbar sein, dass du überlebt hast« oder »Es wird alles gut, gib nicht auf, du wirst wieder Klavier spielen können«.
Jedes Mal dachte ich: dankbar, wem denn bitte schön? Es wird besser? Der Arzt sagt, das ist unmöglich.
Aber die Worte der alten Frau waren anders, und sie sagte sie mit einem Ausdruck der Erleichterung auf ihrem Gesicht.
»Also … tut es nicht mehr weh?«
»Na ja. Manchmal kommt ein stechender Schmerz, wenn ich etwas Schweres hebe, aber sonst eigentlich nicht.«
»Ah, das ist gut. Es tut mir schon weh, wenn ich mir vorstelle, dass ein so junges Mädchen Schmerzen hat. Warum also so ein düsteres Gesicht? Jetzt kannst du doch endlich zur Schule gehen, oder?«
Hmpf.
»Willst du denn nicht hin?«
»Wenn ich einen Monat zu spät in den Unterricht komme, finde ich keine Freunde mehr. Und Großstadtschulen machen mir Angst. Vielleicht mobben die mich …«, murmelte ich, und die alte Frau runzelte wieder die Stirn.
»Sapporo kann man doch beim besten Willen nicht als Großstadt bezeichnen. Na gut, ein Dorf ist es auch nicht gerade.« Es war sicher nicht so ländlich wie Obihiro oder die Vororte, in denen ich in England gelebt hatte.
Warum dachten Erwachsene immer, dass ich gerne zur Schule ging?
Nach einem Monat hatten sich in der Klasse schon Freundschaften gebildet, und es war nicht leicht, da noch reinzukommen. Warum verstand das keiner? Konnten die sich denn null in meine Situation reinversetzen?
»Ich weiß, dass es eine Schulpflicht gibt, aber … es wäre besser gewesen, wenn wir nicht umgezogen wären. Dann hätte ich vielleicht ein, zwei Personen gekannt, auch wenn ich einen Monat später in die Klasse gekommen wäre.«
»Das kann ich gut verstehen. Aber die Kinder in der Schule wissen doch, dass du wegen deiner Verletzung bis jetzt einfach nicht kommen konntest, oder?«
»Ja … wahrscheinlich …?«
»Dann wird alles gut. Wer so offensichtlich verletzt und bemitleidenswert ist, wird nicht gemobbt. Die andern wollen schließlich stark wirken, indem sie nachsichtig sind.«
»Hm …«
»Deshalb mobbt man oft diejenigen, die nicht wirklich bedauernswert sind, sondern zu freundlich und zu ruhig sind, um anderen wehzutun, und die, die sich nicht wehren können.«
Ich dachte nicht, dass ich stark wirkte, aber war ich wirklich derart klein und mickrig, dass sie mich unverblümt als kümmerliches Wesen einstufte?
»Ich verstehe …«
Zu hören, was die Frau von mir hielt, tat ein bisschen weh, nein, ehrlich gesagt, ziemlich weh.
»Du bist so klein und der Verband zeigt allen, dass dir ganz klar etwas fehlt. Du siehst jämmerlich aus. Daher, alles wird gut. Die anderen werden nett zu dir sein, und du kannst das zu deinem Vorteil nutzen.«
»Zu meinem Vorteil …? Das will ich aber nicht.«
»Das Beste aus dem zu machen, was man hat, ist der klügste Weg. Selbst die bedauernswertesten Kinder sehen noch bedauernswerter aus, wenn sie so tun, als seien sie tapfer. Ein einfaches Lächeln genügt.«
»Ich soll das Mitleid der anderen ausnutzen?«, fragte ich ungläubig, doch die Alte schüttelte den Kopf.
»Das ist ein Anfang. Dann trägst du ordentliche Kleidung. Die Schuluniform ist zwar noch zu groß, aber das ist bei allen so, die frisch an der Mittelschule anfangen. Bis zur Abschlussklasse wird sie dir passen. Außerdem hast du eine gute Haltung und schönes, glänzendes Haar. Niemand wird etwas gegen dich haben.«
»Aber …«
Der Aufzug der Alten ließ einen wirklich nicht als Erstes an »gute Kinder« denken, doch sie packte mich an den Schultern und sagte ernst: »Kein Aber. Das reicht fürs Erste. Wenn du dich mit ihnen anfreundest, sehen sie, dass du ein gutes Kind bist, und sie werden dich mögen.«
Sie war wirklich seltsam. Sie kannte mich ja gar nicht.
»Ich bin aber kein gutes Kind.«
»Doch, bist du. Nicht viele Kinder würden eine launische alte Schreckschraube so höflich grüßen.«
»Das ist, weil …«
»Also hör auf, so ein Gesicht zu machen, und lächle. Niemand mag es, wenn du so abweisend guckst. Mach dir keine Sorgen und schau einfach positiv nach vorn. In Ordnung?«
»Ja.«
Ein gutes Kind war ich nun wirklich nicht.
Hätte sie mich nicht direkt angesprochen, hätte ich sie ignoriert und wäre weggelaufen wie alle anderen Kinder. Aber die Worte, die sie mir, einer völlig Fremden, sagte, drangen direkt in mein Herz.
Vielleicht lag es an ihrer sanften, tiefen Stimme … noch nie hatte jemand etwas Ähnliches zu mir gesagt.
»Und wenn du wirklich gemobbt wirst, gib mir Bescheid. Dann komme ich mit meinem Besen und versohle damit alle bösen Kinder.«
»Gewalt ist keine Lösung!«
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass diese alte Frau es ernst meinte, und Panik stieg in mir auf.
Sie verzog das Gesicht und sagte, die Welt sei kompliziert geworden. Aber ich war der Meinung, Gewalt sei zu allen Zeiten das falsche Mittel.
»Mach dir keine Sorgen. Keiner legt sich mit Senioren an. Ich sorg schon dafür, dass dir keiner was antut.«
»Aber dann rufen die anderen nur die Polizei!«
Sie schwenkte ihren Besen und sagte: »Sollen sie ruhig kommen!« Und ich musste lachen.
Sie lachte auch laut, sah meine Grübchen und kniff mich sanft in die Wange. »Da haben wir’s ja, dein Lächeln! Jetzt musst du dich aber sputen. Du willst doch nicht gleich am ersten Tag zu spät kommen.«
Ich merkte, dass wir uns schon eine ganze Weile unterhalten hatten.
Aber ich fühlte mich nicht mehr, als wäre mir das Herz in meiner Brust so schwer wie Blei.
»Wenn es wirklich nicht geht, gibt es immer einen anderen Weg. Sei nicht pessimistisch. Wenn es nicht klappt, kannst du immer noch weglaufen. Du musst nicht ertragen, was dir zutiefst zuwider ist. Nun lauf schon«, sagte die alte Frau sanft.
Ihre freundliche Stimme und ihr Blick erinnerten mich ein wenig an meine verstorbene Großmutter.
»Ja … ich … geh dann mal.«
Ich verbeugte mich und setzte meinen Weg fort. Als ich mich umdrehte, sah sie mir nach und schwenkte den Besen in einer Geste, die vermutlich »Beeil dich« bedeutete.
Normalerweise hätte ich mit einer Fremden niemals so lange gesprochen und wäre ganz sicher nervös geworden. Aber die Alte – vielleicht genau wegen ihrer exzentrischen Erscheinung – war mir nicht unsympathisch.
Ich glaubte zu merken, dass sie sich wirklich um mich sorgte, und vielleicht wollte ich das einfach von irgendjemandem gesagt bekommen.
»Ja, jetzt gehe ich«, flüsterte ich leise und drückte meine bandagierte Hand.
Als ich schließlich vor meiner neuen Klasse stand, war ich so nervös, dass mir richtig schlecht wurde, aber wie mir die alte Frau gesagt hatte, versuchte ich zu lächeln.
Ich nahm Haltung an, als wäre ich ein Soldat beim Appell, und zupfte immer wieder am Saum meiner Uniform herum. Ob ich sympathisch lächelte, wusste ich nicht, aber es war besser als ein mürrisches Gesicht.
Es war ein guter Rat in letzter Sekunde gewesen. Ohne ihn hätte ich hier garantiert als Griesgram gestanden oder wäre vielleicht sogar in Tränen ausgebrochen.
»Misaki-san ist eine sehr talentierte Pianistin und war im Ausland im Musikinternat, aber leider hatte sie einen Unfall und ist deshalb zurück nach Sapporo gekommen. Ihr Wissen über das Leben im Ausland wird für euch alle lehrreich sein, sie wird aber auch Unterstützung brauchen. Also seid nett zu ihr und helft ihr.«
So stellte mich die Klassenlehrerin, Frau Murasawa, die eine hübsche Kurzhaarfrisur trug, meinen Mitschülern vor. Mein Sitzplatz war in der zweiten Reihe von vorne, mitten im Raum, sodass sich die Blicke der ganzen Klasse auf mich richteten, als ich mich setzte.
»Nun, dann beenden wir hiermit die Vorstellung«, sagte die Lehrerin mit einem Lächeln, und sofort sprach mich das Mädchen neben mir an – ein fröhlich wirkendes Mädchen mit zwei Zöpfen.
»Ich heiße Yamane, schön, dass du jetzt bei uns in der Klasse bist. Es ist beeindruckend, dass du im Ausland im Internat warst. Ich spiele auch schon lange Klavier. Was spielst du denn so?«
»Ähm … Chopin und Rachmaninow …«
»Wow, beeindruckend! Da spielst du ja wirklich auf einem hohen Niveau!«
Sobald ich etwas gesagt hatte, sprachen nicht nur Yamane, sondern auch die anderen Mädchen um mich herum mit mir.
Selbst die Jungs schauten mich an und lächelten schüchtern oder fragten, ob das Essen in England wirklich so mies sei, wie man immer hörte. Wir unterhielten uns angeregt bis zur ersten Stunde. Ich hatte solche Angst.
Aber wie die alte Frau vorhergesagt hatte, niemand schien die Schwache zu mobben. Wovor hatte ich heute Morgen nur solche Angst gehabt?
Lediglich der Junge mit dem Kurzhaarschnitt, der hinter mir saß, war mir nicht ganz geheuer. Er hieß Chitose-kun und war klein, etwa so groß wie ich, wie ein Grundschüler. Aber er blitzte mich so feindselig an, dass ich mich unwillkürlich kleiner fühlte.
Yamane und ihre Freunde luden mich zum Mittagessen ein.
»Du hast also früher in Obihiro gewohnt?«, fragte mich Oikawa, eine Schülerin mit Brille aus der Parallelklasse.
»Ja. Mein Vater wurde versetzt, als meine Schwester noch ein Baby war, und wir sind nach Obihiro gezogen, weil meine Mutter dort Verwandte hatte. Ich habe fast keine Erinnerungen an Sapporo.«
»Du bist also in Sapporo geboren?«, fragte Tani, ein hübsches Mädchen mit Zöpfen. Die drei waren seit der Grundschule in einer Klasse. Yamane, Kawa und Tani – sie lachten und erklärten, dass sie zusammen wie eine Landschaft klangen: Yama, der Berg, Kawa, der Fluss, und Tani, das Tal.
»Bis zum Kindergarten war ich dort. Aber ich erinnere mich kaum, also verlaufe ich mich leicht. Heute Morgen sprach mich auch eine seltsame alte Frau an.«
»Auf dem Schulweg?«
»Ja. Sie sah total exzentrisch aus.«
»Das war sicher Sugiura-san. Die nervt jeden.«
»Oh, verstehe.« Die drei tauschten einen amüsierten Blick aus.
»Aber sie passt schon seit Jahren auf die Kinder auf dem Schulweg auf, sogar bei schlechtem Wetter. Sie ist so etwas wie ein Stadtteil-Promi.«
Yamane schien nichts gegen die alte Frau zu haben.
»Sie sieht sehr speziell aus, aber sie sorgt dafür, dass Kinder im Winter nicht auf der Straße laufen müssen, indem sie auf dem Bürgersteig Schnee schippt.«
»Das ist nett …«
»Es hilft wirklich, weil die Kinder sich nicht durch den Schnee kämpfen müssen, wenn sie zur Schule gehen«, bestätigte Tanis ältere Schwester. »Die Grundschüler dürfen an solchen Tagen ja in Skiklamotten zur Schule gehen, aber die Mittel- und Oberschüler dürfen das nicht.«
»Sie ist also kein schlechter Mensch.«
»Sonst hätte sie schon längst jemand angezeigt!«
Oikawa-san lachte laut, und die anderen lachten mit. Ich lachte auch. Ich wusste, dass sie keine schlechte Person war. Denn wäre ich Frau Sugiura am Morgen nicht begegnet, hätte ich jetzt nicht so lachen können.
So verging die Zeit, von der ich erwartet hatte, sie würde ganz düster werden, stattdessen wie im Flug, und plötzlich war es Zeit zum Heimgehen. Nach der Schule sprach die Lehrerin kurz mit mir über die Aufgaben, die ich während meiner Abwesenheit verpasst hatte, und die Nachhilfestunden, die ich nehmen sollte, um meinen Rückstand aufzuholen. Danach war ich auch schon entlassen.
Ich war fix und fertig, aber es gab noch einen gewissen Ort, an den ich unbedingt wollte.
Als ich vor das Schultor trat, hatte sich der Himmel von dem gewaltigen, tiefen Blau des Morgens in ein sanftes Himmelblau verwandelt. Die Sonne, die am Morgen noch grell gewesen war, schien nun sanfter, und ich wollte tief durchatmen.
Man hatte mir gesagt, dass die Kirschblüte in Sapporo früh auftrat, aber direkt vor dem Tor entdeckte ich späte Kirschblüten und andere Bäumchen mit duftenden Blüten.
Was für Blumen waren das? Weiß, rosa und violett, sie sahen aus wie Hyazinthen. Während ich darüber nachdachte, ging ich den Weg zurück, den ich am Morgen gekommen war.
Die Blumen schienen sehr beliebt zu sein, sie blühten in vielen Gärten – morgens waren sie mir gar nicht aufgefallen.
Bald sah ich Frau Sugiuras Haus.
Die Grundschüler waren mittlerweile bereits nach Hause gegangen, und so stand die alte Frau nicht mehr draußen. Doch als ich durch die Hecke spähte, sah ich, dass sie im Garten arbeitete.
Die schönen Blumenbäume blühten auch in Frau Sugiuras Garten. Sie waren tiefrosa. Die Frau bemerkte mich nicht.
Ich überlegte, ob ich einfach wortlos nach Hause gehen sollte – aber dann fasste ich mir ein Herz.
»Wie heißen diese Blüten, die es hier überall gibt?«
Frau Sugiura drehte sich überrascht um, stand auf und lächelte mich an.
»Das ist Flieder. Die Stadt verteilt jedes Jahr kostenlos Setzlinge, deshalb blühen die Sträucher zu dieser Jahreszeit überall. Sie sind noch nicht in voller Blüte, aber die Knospen sind schön. Eine meiner Lieblingsblüten.«
»Flieder … das habe ich schon mal gehört. Sie sind nicht ganz aufgeblüht?«
Bei näherem Hinsehen waren die meisten der Blüten noch geschlossen, nur hier und da öffneten sich die vierblättrigen Gebilde. Es waren kleine Blütenstände, ähnlich wie Hortensien!
»Du siehst ganz anders aus als heute Morgen.«
Der Flieder duftete so gut, dass ich daran schnupperte, und Frau Sugiura lächelte mich an.
»Wie Sie gesagt haben, Tante Sugiura, es war gar nicht schlimm.«
»Nicht wahr? Aber bitte nenn mich nicht so. Sonst fühle ich mich plötzlich sehr alt.« Frau Sugiura verzog das Gesicht, als ich sie »Tante« nannte. »Nenn mich Sugiura. Und du bist?«
»Ich heiße Himari Misaki. Das bedeutet Sonnenblume, weil mein Vater sie so gerngehabt hat.«
»Was für ein schöner Name. Ich pflanze jetzt auch Sonnenblumen. Die Kinder auf dem Weg freuen sich darüber.«
Frau Sugiura schien erfreut. Wie Yamane gesagt hatte, hatte sie wohl wirklich ein Herz für die Kinder, die an ihrem Haus vorbeigingen.
Ich fragte mich, warum sie nicht einfach weniger scheußliche Kleider tragen mochte … aber es war nicht richtig, jemanden nach seiner Kleidung zu beurteilen. Ich würde es auch nicht mögen, wenn jemand meine Lieblingsklamotten komisch fände.
»Kann ich Ihnen ein wenig helfen?«
Um von diesen Grübeleien loszukommen, bot ich meine Hilfe an.
Es war eine kleine Wiedergutmachung und ein Dankeschön für den Morgen.
»Wenn du mir helfen willst, wäre das toll.«
»Ich habe immer gerne im Garten geholfen, als meine Großmutter noch lebte.« Das war gelogen. Meine Mutter hatte mich nie helfen lassen, aus Angst, dass meinen Händen etwas passierte.
Aber jetzt wollte ich mich hier im Garten gern ein wenig nützlich machen.
»Dann hilf mir bitte.«
Da ich meine Uniform trug, passte ich auf, dass sie nicht schmutzig wurde, pflanzte ein paar Sonnenblumensamen ein und goss sie an.
»Dein Name bedeutet Sonnenblume, also freuen sich die Blumen im Garten.« Frau Sugiura sagte das, obwohl das, was ich tat, kaum der Rede wert war. Trotzdem fühlte ich großes Glück und wischte mir eifrig den Schweiß von der Stirn.
Ich hatte mich bemüht, nicht schmutzig zu werden, aber nun hatte ich doch einen dicken Schmierstreifen im Gesicht. Frau Sugiura lächelte.
»Wenn du möchtest, kannst du mit reinkommen, dir die Hände waschen und etwas Kaltes trinken.«
»Ähm …«
Ehrlich gesagt, wäre ich lieber draußen geblieben. Frau Sugiura war immer noch eine »Fremde«. Man konnte doch nicht so einfach zu Fremden ins Haus gehen.
Sie verstand das offenbar und fragte mich noch mal sehr vorsichtig, ob es für mich in Ordnung wäre, hereinzukommen. Ich mochte sie wirklich.
»Vielleicht ist es heute auch sehr gut möglich, draußen zu bleiben«, sagte Frau Sugiura, als sie mein Zögern bemerkte.
»Nein! Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gehe ich gerne hinein –«
»Kein Problem. Warte hier. Ich hole ein Handtuch.« Sie wies auf den Wasserhahn neben der Tür und ging ins Haus. Ich wusch mir die Hände, da kam sie mit einem Handtuch und einem Tablett mit einem dunkelbraunen Getränk zurück – es sah nicht nach Cola aus, also war es wahrscheinlich schwarzer Kaffee mit Eiswürfeln.
Sie stellte das Tablett auf die Veranda und stellte einen Klappstuhl und eine Trittleiter auf.
Frau Sugiura lebte offenbar alleine in diesem Haus. Hatte sie keine Familie?
Durch die offene Verandatür sah ich auf einem Hausaltar zwei gerahmte Fotos, aber ich konnte nicht genau erkennen, wer darauf war. Ich sah nur weiße, lila und gelbe Chrysanthemen.
»Die Trittleiter benutze ich immer bei den großen Feuerwerken im Sommer, ich habe nur einen Stuhl.« Sie lachte und bot mir den Stuhl an, während sie sich auf die Leiter setzte.
»Ich kann mich auch auf die Leiter setzen oder stehen bleiben.«
Aber sie bestand darauf, dass die Leiter bequemer sei, und wollte nicht mit mir tauschen.
Es war eine ungewöhnliche nachmittägliche Pause auf der Veranda. Wir begannen ein Gespräch und betrachteten den weißen Himmel vor dem Sonnenuntergang.
»Ein Unfall im Ausland, hm?«
Ich erzählte ihr von mir, als sie mich fragte. Was als Selbstvorstellung begann, wurde zu einem Klagen.
»Ja, es ist wirklich nicht einfach, alles auf null zu setzen und neu anzufangen.«
»Genau. Aber alle behaupten immer, es sei so leicht. Ich sagte meiner Mutter oft, dass ich nicht in Sapporo zur Schule gehen will, aber sie hat darauf bestanden, dass es besser ist. Dabei geht doch gar nicht sie zur Schule, sondern ich!«
Es war schon immer so gewesen. Meine Mutter entschied über meine Zukunft und überließ mich dann mir selbst.
»Ich habe mich gefühlt, als wäre ich allein ins Weltall hinausgeworfen worden.«