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Ein warmherziger Feel-Good-Roman zur Weihnachtszeit
Claire und Neil Archer führen ein kleines gemütliches Hotel in den Wicklow Mountains, die Sugar Loaf Lodge. Als in der Vorweihnachtszeit die Buchungen ausbleiben, versuchen es die beiden mit einer Annonce und nach und nach kommen die Anmeldungen: die junge Frau, die ein geheimes Treffen mit ihrem Geliebten plant; Andrew und Bridget, die sich endlich einmal etwas Schönes gönnen wollen, aber auch die jungen Eltern, die den Streitereien mit der Familie entfliehen möchten. Für sie alle sollen diese Weihnachtsfeiertage etwas ganz Besonderes werden.
Die irische Bestsellerautorin Sheila O’Flanagan erzählt warmherzig und mit feinem Humor Geschichten von Liebe und Eifersucht, Beziehungskrisen und Familiengeheimnissen, und wie sich am Ende vieles fügt zum kleinen Glück am Weihnachtsabend.Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 383
Veröffentlichungsjahr: 2019
Sheila O'Flanagan
Das kleine Glück am Weihnachtsabend
Roman
Aus dem Englischen von Susann Urban
Insel Verlag
Für die Damen der Burkes und O'Flanagans, von damals und heute, ihr seid eine stetige Inspiration.
Prolog Die Sugar Loaf Lodge
Kilmashogue
Kippure
Carrigvore
Keadeen
Two Rock
Berleagh
Convalla
War Hill
Slievemaan
Epilog Noch einmal die Sugar Loaf Lodge
Danksagung
Die Sugar Loaf Lodge war eigentlich gar keine Lodge, sondern ein großer Landsitz, Ende des 18. Jahrhunderts von einem unbedeutenden englischen Earl bewohnt, dessen Familie Ländereien im irischen County Wicklow geerbt hatte. Die Familie – der Earl, seine Gattin und vier Kinder – verbrachte nur einen einzigen Sommer in dem Haus, das am Fuß des legendären Sugar Loaf Mountain lag, ehe sie überstürzt nach England zurückkehrte. Der Grund für die abrupte Abreise war unklar, aber man munkelte, eines der Kinder sei krank geworden und gestorben, woraufhin Earl und Countess, zutiefst getroffen, es nie wieder übers Herz brachten, ihre Sommervilla zu betreten.
Als der Earl einige Jahre später starb, fiel der Besitz an seinen ältesten Sohn, dessen Ehe kinderlos blieb; weil er keine Erben hatte, kümmerte ihn auch nicht besonders, was mit dem Landsitz geschah. Er verbrachte nur wenig Zeit dort und nach seinem Tod verfiel das Haus rasch. Die efeuüberwucherten Mauern bröckelten, die feuchte irische Luft eroberte die großen Räume, und in den ehemals sorgfältig im Zaum gehaltenen saftig-grünen Gärten übernahm der Wildwuchs das Regime. Da sich allerlei Legenden um das verfallene Gemäuer rankten, machten die Einheimischen einen großen Bogen darum; so ging beispielsweise das Gerücht, man könne den Geist des toten Kindes traurig durch die Ruinen wandern sehen. Sollte man des Geistes ansichtig werden (niemand konnte mit Gewissheit sagen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte), stehe einem Unglück ins Haus, also hielten die Leute lieber Abstand. Schließlich ging der Besitz an den Staat über, der auch kein besonderes Interesse daran hatte. In den 1970ern wurden ein paar halbherzige Instandsetzungsversuche in Angriff genommen, aber erst gut dreißig Jahre später liehen sich Neil und Claire Archer einen Haufen Geld zusammen, renovierten den Herrensitz liebevoll und machten schließlich ein exklusives Landhotel daraus. Familie und Freunde sagten ihnen schlankweg, sie müssten verrückt sein. In der Tourismusbranche sei kein Geld zu machen, unkten sie. Große Unternehmen machten es der Steuererleichterungen wegen, aber für Otto Normalhotelbesitzer sei es bloß Knochenarbeit ohne Profit.
»Wir wollen keine Multimillionäre werden«, erklärte Claire ihnen ruhig. »Wir machen das, weil es uns Spaß macht.«
»Ihr habt doch keine Ahnung von der Materie, ihr seid Amateure«, warnte Neils Vater, ein Rechtsanwalt, der wollte, dass Neil in seine Fußstapfen trat, und ohnehin fand, Neil wäre als Hotelbesitzer mental unterfordert.
»Aber begabte Amateure. Außerdem habe ich eine Ausbildung im Gastgewerbe absolviert«, erinnerte Claire ihn. »Und in England drei Jahre lang ein Hotel geführt.«
»Das ist etwas völlig anderes«, sagte Alan Archer. »Da hing nicht eure Existenz davon ab.«
»Wir sind gut vorbereitet«, sagte Claire.
»Wie das denn?« Alan war nicht überzeugt.
»Mit einem guten Businessplan«, erklärte sie ihm, obwohl ihr der enorm hohe Kredit, den sie aufgenommen hatten, Angst einjagte. Doch sie wusste, schlussendlich würde sich alles auszahlen. Und ihr Hotel das beste in Irland sein.
Fünf Jahre nachdem sie sich auf dieses Wagnis eingelassen hatten, war aus der Sugar Loaf Lodge genau das von ihnen erhoffte Schmuckstück geworden. Groß genug, dass die Gäste einander nicht zu dicht auf die Pelle rückten, aber klein genug, dass die Gemütlichkeit eines Landhauses gewahrt blieb. Mit seinem preisgekrönten Restaurant und dem atemberaubenden Wellnessbereich galt die Sugar Loaf Lodge als grandiose Ruheoase in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt. Jedes der Zimmer war nach einem der Dublin Mountains oder Wicklow Mountains benannt; die sorgfältig ausgesuchte Dekoration spiegelte die Atmosphäre der Gegend wider, die als Garden of Ireland bekannt ist. Trotz der hohen Preise waren sie fast immer ausgebucht und regelmäßig gab es auf der Webseite des Hotels neue überschwängliche Bewertungen. (Genauer gesagt, die meisten waren positiv; Claire war eingeschnappt, als einige der Gäste sich über die Qualität der Fahrräder beschwerten, die das Hotel für Ausflüge zur Verfügung stellte und die sie für völlig ausreichend hielt. Offenbar waren die Leute nicht davon begeistert, dass sie in den Bergen tüchtig in die Pedale treten mussten.)
Was jedoch am besten ankam, waren Claire und Neil selbst, die die geradezu unheimliche Fähigkeit hatten, jeden Wunsch ihrer Gäste zu erahnen, noch bevor dieser geäußert wurde. Zusätzliche Handtücher, Decken oder Kopfkissen wurden gebracht, kaum hatte der Gast daran gedacht; die Raumtemperatur wurde automatisch den jeweiligen Bedürfnissen angepasst und Claire vergaß nie einen Namen, so dass sich jeder persönlich willkommen fühlte. Daraus resultierte eine konstante hohe Rate an Repeatern – Wiederholungstätern, die felsenfest behaupteten, die Sugar Loaf Lodge sei eines der besten Boutiquehotels der Welt.
Das freute besonders Claire. Die Idee, ein Hotel zu eröffnen, stammte von ihr und sie war es auch gewesen, die Neil überzeugt hatte, dass die Lodge, in den Wicklow Mountains gelegen und mit freiem Blick auf die sanft gewellte Gebirgslandschaft, die absolut perfekte Wahl sei. Sie hatte mit dem Gemeinderat wegen der Renovierung verhandelt und ihm eine Straße abgerungen, die bis zum Hotel führte. Auch einen Innenarchitekten hatte sie engagiert, der die hochherrschaftliche Atmosphäre wiederherstellen sollte, aber mit einem heimeligen Anstrich. Den Bankmanager hatte sie mit Verve und Leidenschaft auf Anhieb überzeugt, dass das Hotel ein Erfolg würde – auch wenn Neils buchhalterische Kenntnisse und sein Wissen von Bilanzen und Buchhaltung den letzten Ausschlag gegeben hatten.
Manchmal las Claire von anderen Hotelbesitzern, die trotz großer Anstrengungen gescheitert waren, und fragte sich, ob das Glück, das sie bisher an den Tücken der Branche vorbeinavigiert hatte, die den anderen zum Verhängnis geworden waren, ihnen immer treu bleiben würde. Neil behauptete, ihr Erfolg habe nichts mit Glück zu tun, sondern damit, dass für sie beide Sugar Loaf Lodge nicht einfach nur ein Geschäft war Sondern die Erfüllung eines Traums. Und einen Traum zu haben, war unendlich viel wichtiger als ein Businessplan, der dem Hotel den letzten Cent abpressen wollte. Man sei seines Glückes Schmied, erklärte Neil, und daran arbeiteten sie jeden Tag.
Mit schöner Regelmäßigkeit lehnten Claire und Neil Angebote internationaler Hotelketten ab, die unbedingt die Sugar Loaf Lodge kaufen wollten. Sie wollten seine Einzigartigkeit erhalten, sie nicht einem Corporate Branding opfern, egal wie verführerisch der finanzielle Aspekt auch sein mochte. Jedes Jahr gratulierten sie sich zu ihrer Entscheidung – obwohl ihnen das letzte Angebot durchaus zu denken gegeben hatte. Es hatte sich um eine höchst verlockende Summe gehandelt, bei der sie sich automatisch fragten, ob diese auszuschlagen nicht der reine Wahnsinn gewesen war.
»Lass uns noch ein oder zwei Jahre weitermachen.« Letztendlich hatte Claire die Entscheidung gefällt. »Vielleicht hängt uns das Hotel dann ohnehin zum Hals heraus und wir wollen es nur zu gern an die gesichtslosen Anzugträger loswerden.«
»Meinst du wirklich, du hast die Sugar Loaf Lodge irgendwann mal satt?« Neil lächelte sie an.
»Eines Tages wahrscheinlich schon«, meinte sie nachdenklich. »Aber im Moment finde ich unser Leben einfach herrlich.«
Fast unmittelbar nachdem sie das Angebot abgelehnt hatten, trübte sich die wirtschaftliche Lage ein und sofort gingen die Buchungen zurück. Angesichts der vielen Stornierungen wurde es Claire richtiggehend schlecht und sie fragte sich, ob ihre unglaubliche Glückssträhne ein Ende gefunden hatte.
Die Leute buchten erst auf den letzten Drücker, besonders den Weihnachtsurlaub. Normalerweise war die Sugar Loaf Lodge aufgrund ihrer idyllischen Lage zu Weihnachten sehr begehrt und meist schon im September ausgebucht, aber in diesem Jahr waren sogar noch Anfang Dezember etliche Zimmer verfügbar. Neil und Claire schalteten zusätzliche Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften und beschlossen, dass die Erwartungen sämtlicher Gäste übertroffen würden, und hoffentlich, wenn diese den nächsten Urlaub planten, würde die Sugar Loaf Lodge ganz oben auf der Liste ihrer Ferienziele stehen. Vorausgesetzt, bangten sie, dass die Leute überhaupt noch Hotels buchten. Sie wollten gar nicht über Weihnachten hinausdenken!
Es war eine nervenaufreibende Zeit. Die Banken zeigten sich nicht kooperativ, und die Angestellten, die um ihre Jobs fürchteten, verbreiteten düstere Stimmung. Claire rief alle zusammen, teilte ihnen mit, sie würden diese Krise gemeinsam meistern und wenn alle tüchtig mit anpackten, werde diese Weihnachtssaison die erfolgreichste in der Geschichte der Sugar Loaf Lodge. Ihre Stimme klang zuversichtlich und energisch. Die Belegschaft war überzeugt. Anschließend schloss sie sich allerdings in ihrem Büro ein, bis ihre Hände aufhörten zu zittern.
Dann ging sie die Kontoauszüge durch (das machte sonst Neil) und schluckte schwer. Ihre Dickköpfigkeit war schuld, dass sie beide in dieser Bredouille saßen. Sie war diejenige gewesen, die darauf bestanden hatte, sie könnten alles allein stemmen, müssten sich keiner Hotelkette an den Hals werfen. Sie hatte gesagt, der Erfolg der Sugar Loaf Lodge gründe sich darauf, dass es sich um ein inhabergeführtes Hotel handele, das nicht einer Corporate Identity unterworfen und an allen Ecken und Ende mit einem Logo zugekleistert sei. Neil hatte ihr zugestimmt, aber sie wusste, dass er insgeheim glaubte, es würde ihnen wahrscheinlich irgendwann leidtun, das letzte Angebot ausgeschlagen zu haben.
Aber es tat ihr nicht leid. Weder dass sie das Hotel aufgemacht hatten, noch dass sie die Riesensumme ausgeschlagen hatten. Claire war Geld nicht besonders wichtig. Aber um der Mitarbeiter willen bereute sie ihre Entscheidung bitterlich. Denn wenn an Weihnachten nicht alle Zimmer belegt waren und die Menschen nicht mehr Geld ausgaben als im vergangenen halben Jahr, wäre ihre aufmunternde Rede, gemeinsam würden sie die Durststrecke überstehen, eine aufmunternde Rede, mehr nicht. Und die Belegschaft, die so hart arbeitete, weil sie darauf vertrauten, dass Neil und sie die richtigen Entscheidungen trafen, würde auf der Straße stehen.
Claire betrachtete die Buchungen und bekam wieder Bauchgrimmen. Normalerweise mussten sie Absagen verteilen, jetzt hofften sie auf Anrufe. Alles lief schrecklich schief. Und es war allein ihre Schuld.
Auch Neil war besorgt. Ihm war noch deutlicher als Claire bewusst, wie prekär es um ihr Hotel stand. Den meisten war nicht klar, wie schnell sich der Wind drehen konnte. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als würden sie alles richtig machen, damals, als die Leute ohne groß nachzudenken ein Wochenende im Hotel buchten. Wenn sie jetzt anriefen, wollten sie wissen, was alles inbegriffen war, versuchten den Preis für das Zimmer oder die Wellnessanwendungen herunterzuhandeln, selbst für die Mahlzeiten im Restaurant. Er und Claire hatten alles auf ein Minimum reduziert, noch mehr würde dem Hotel schaden, schließlich war es ein Luxushotel. Was bedeutete, dass man mehr bezahlen musste. Allerdings wollte derzeit niemand für Luxus bezahlen. Die Leute konnten ihn sich entweder nicht leisten oder wollten ihn für 'nen Appel und 'n Ei. Und das richtige Maß zwischen diesen beiden Polen zu finden, stellte sich als sehr schwierig heraus.
»Was können wir tun?«, fragte Claire besorgt, als sie gemeinsam die Buchungen durchgingen. »Wenn wir nicht jeden Abend mehr Gäste ins Restaurant bekommen und wenn wir nicht bis Ende nächster Woche ausgebucht sind, verlieren wir Geld.«
»Ich weiß.«
»Es tut mir so leid.« Sie fing an zu weinen. »Ich dachte, wir hätten den Dreh raus. Ich dachte, wir sind die besten Hoteliers der Welt und wissen, was die Leute wollen. Ich dachte, wir sind besser als die Hotelketten und deshalb wollte ich die Sugar Loaf Lodge behalten. Aber ich habe mich getäuscht.«
»Nein, hast du nicht«, Neil nahm sie in die Arme. »Du hattest absolut recht. Die Sugar Loaf Lodge ist eines der besten Hotels in Irland, und wir wissen genau, was die Leute wollen, und wir werden allen, die zu uns kommen, die allerschönste Weihnachtszeit bereiten, die sie je erlebt haben.«
»Selbst wenn uns das gelingt …«, Claire sah ihn besorgt an, »könnte uns das Wasser immer noch bis zum Hals stehen.«
»Wir müssen diese Phase jetzt einfach durchstehen«, sagte Neil. »Wenn die Zeiten gut sind, kann jeder Trottel ein Unternehmen führen. Wenn alles glattläuft, steht jeder wie ein Genie da. Aber wenn es nicht läuft, kommen nur die Harten in den Garten. Und wie du weißt, sind wir hart, Claire. Und zäh.«
»So habe ich mich bisher auch immer gesehen. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher.«
»Du bist ultrazäh.« Mit einem Grinsen zog er sie eng an sich. »Wer ist zum Gemeinderat gestiefelt und hat verlangt, dass sie die Wasserleitungen umtrassieren müssen? Wer hat den Papierkram-Mount-Everest, den es zu besteigen galt, bewältigt? Wer hat dafür gesorgt, dass wir das Hotel planmäßig eröffnen konnten, obwohl alle sagten, wir könnten den Termin nie halten?«
»Mit solchen Herausforderungen komme ich zurecht, und damals konnten wir uns vor Gästen kaum retten. Aber jetzt … alle horten ihr Geld, was ich ihnen nicht verdenken kann. Wenn wir selber welches hätten, würde ich es genauso machen.« Sie war untröstlich.
Seit dem allerersten Tag, als sie mit den Arbeiten am Hotel begonnen hatten, fühlte sich Claire dem Gebäude unerklärlich eng verbunden. Für sie war es mehr als ein Haufen von Mörtel zusammengehaltenen Steinen, sondern wie ein lebendiges Wesen, das eine Seele hatte. Sie hatte mit niemandem darüber gesprochen, denn man würde sie garantiert für verrückt halten. Oder mit allzu blühender Phantasie ausgestattet. Aber sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Lodge wie ein Schutzengel über ihnen wachte. Und sie beide ihrerseits darüber wachen sollten. Doch jetzt lachte sie bitter über ihre dumme Einbildung.
»Das ist keine dumme Einbildung.« Die Stimme schien sich direkt hinter ihr zu befinden.
»Was??« Entsetzt wirbelte Claire auf ihrem Stuhl herum. Doch da war niemand. Herr im Himmel, dachte sie, der Stress lässt mich noch völlig durchdrehen. Jetzt höre ich schon Stimmen. Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, dass ich nicht auch noch Gespenster sehe.
»Alles wird gut«, ließ sich die Stimme vernehmen.
Da meldete sich wohl ihr Unterbewusstsein, mutmaßte Claire.
»Es ist bloß dieses eine Jahr«, sagte die Stimme. »Dieses Haus existiert seit Hunderten von Jahren. Das überstehst du schon.«
Wahrscheinlich hatte ihr Unterbewusstsein recht. Aber ein schlechtes Jahr könnte ihnen das Genick brechen. Das war das Problem.
»Du bist zäh«, sagte die Stimme. »Da kämpfst du dich durch. Du lässt dich doch von einer schlechten Saison nicht in die Knie zwingen.«
Schon komisch, reflektierte Claire, dass die schlechten Zeiten die Erinnerung an die guten Zeiten nachgerade auffraßen. Als das Hotel gutging und Geld abwarf, nahmen sie das gleichmütig hin, fanden es gewissermaßen den gerechten Ausgleich. Aber kaum lief es schlecht, waren sie total niedergeschlagen. Und obgleich sie wussten, dass es nicht an ihnen lag, wünschten sie sich doch, sie hätten die Dinge anders angepackt.
»Das geht uns doch allen so«, sagte die Stimme in ihrem Kopf und Claire konnte ihr eigenes Bedauern darin mitschwingen hören. »Jeden Tag wünschen wir uns, wir hätten dieses und jenes besser gemacht. Oder ganz einfach die Finger davongelassen. Aber wir müssen die Dinge nehmen, wie sie sind.«
Claire lächelte. Ihr Unterbewusstsein hatte recht. Die Dinge waren nun mal so, wie sie waren. Neil und sie würden damit zurechtkommen. Und egal, wie viele Menschen nun über Weihnachten im Hotel waren, sie würde dafür sorgen, dass ihre Gäste eine wunderbare Zeit hatten. Damit, wenn – falls – sich die Lage besserte, sie erneut in die Sugar Loaf Lodge wollten, die ihnen in so guter Erinnerung war.
»Trotzdem wäre es einfach toll, wenn sich für die leeren Zimmer noch Gäste fänden«, sagte sie vor sich hin.
Claire war in Lagerbestandslisten vertieft, als das Telefon klingelte.
»Sugar Loaf Lodge«, meldete sie mit ihrer freundlichsten Stimme. »Was kann ich für Sie tun?«
»Hallo«, sagte die Anruferin. »Ich wüsste gern, ob Sie für Weihnachten noch freie Zimmer haben?«
»Ja.« Claires Herz machten einen hoffnungsvollen Hüpfer. »Wir haben ein Pauschalangebot für zwei Übernachtungen, falls Sie an so etwas interessiert sind.«
»Sehr schön«, sagte die Frau. »Dann würde ich gerne mehrere Zimmer für meine Familie buchen. Wir sind eine größere Gruppe, hoffentlich können Sie uns noch unterbringen.«
Claire fühlte wohlige Wärme in sich aufsteigen, während sie die Buchung vornahm. Als sie den Hörer auflegte, seufzte sie erleichtert. Ein Anruf, und alles sah schon wieder rosiger aus. Vier Zimmer. Einfach so. Sie lächelte immer noch, als das Telefon erneut klingelte.
»Sugar Loaf Lodge«, meldete sie sich wieder. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich weiß, es ist wahrscheinlich schon reichlich spät«, sagte die Männerstimme, »aber haben Sie über Weihnachten noch etwas frei?«
Am Morgen des 24. Dezember, die Belegschaft war in den Startlöchern fürs Frühstück, betrat Neil die festlich geschmückte Hotelhalle, von der aus man einen Panoramablick auf die verschneite Landschaft hatte, und gestattete sich einen kleinen Seufzer der Erleichterung. Im letzten Augenblick war auch das letzte freie Zimmer noch weggegangen. Jetzt konnten Claire und er sich etwas entspannen. Natürlich war an richtige Entspannung erst zu denken, wenn Weihnachten und Neujahr hinter ihnen lagen. Aber immerhin waren sie nun komplett ausgebucht, immerhin war ihnen nicht alles um die Ohren geflogen. Jetzt mussten sie es den Gästen nur noch so schön wie möglich machen. Und das beherrschten sie aus dem Effeff, das war ihre Stärke.
»Alles in Ordnung?« Claire stellte sich neben ihn ans Fenster.
»Alles bestens«, antwortete er. Schweigend standen sie nebeneinander.
Sie holte tief Luft. »Bereit«, sagte sie.
Er gab ihr rasch einen Kuss auf die Wange. Dann gingen sie Hand in Hand durch die Halle ihres Hotels, beide fest entschlossen, aus diesem Weihnachtsfest das unvergesslichste zu machen, das die Sugar Loaf Lodge je gesehen hatte.
Ich verliebte mich in Sam am Flughafen. Was nach Kitschroman klingt, aber so war es nicht. Denn weder wartete ich darauf, dass er aus einem fernen Land zurückkehrte, und begriff bei der Begrüßungsumarmung endlich, wie sehr ich ihn liebte, noch flog ich selbst in die weite Welt hinaus und heulte Rotz und Wasser am Gate, weil es für uns keine Zukunft gab. Es war eine Zufallsbegegnung vor der Personenkontrolle des Dublin Airport, und zwar am heißesten Tag des Jahres, einem Tag, an dem die Klimaanlage ihren Geist komplett aufgegeben hatte und alle, die in den Schlangen darauf warteten, dass ihr Handgepäck durchleuchtet wurde, wurden immer verschwitzter, erhitzter und ungehaltener. (So ungehalten, dass eine Frau tatsächlich mit ihrer Wasserflasche, die der Sicherheitsmann ihr abnehmen wollte, nach ihm ausholte. Die Frau wurde von einem ganzen Trupp Uniformierter weggebracht, was den Schluss zuließ, dass sie demnächst in kein Flugzeug steigen würde.)
Mein Gereiztheitsgrad erreichte allmählich den Siedepunkt. Man hatte mich der Schlange mit den Volltrotteln zugewiesen. Leute, die allen Schildern und Warnhinweisen zum Trotz, wirklich und wahrhaftig große Shampooflaschen, Streichhölzer, Taschenmesser oder einen anderen der ungefähr eine Million Gegenstände eingepackt hatten, die nicht mehr ins Handgepäck dürfen. In unserer Reihe befanden sich zudem zwei Typen mit etlichen Piercings, die wieder und wieder durch den Metalldetektor marschieren mussten.
Im Allgemeinen halte ich mich für eine absolut verständige Person. Doch an diesem Tag kam mir das Verständnis allmählich abhanden. Auch mir war heiß, ich war völlig aufgelöst und sekündlich hatte ich die Faxen dicker. Hitze bekommt mir nicht. Ich bin eine Frühaufsteherin, die sich an einem kühlen Morgen am wohlsten fühlt, keine Frau, die sich am Pool aalt. Drückende Hitze vernebelt mir das Hirn. Und die Hitze im Dublin Airport war mehr als drückend.
Keine vielversprechende Ausgangssituation fürs Verlieben. Ganz im Gegenteil, was mich betraf, war dies der allerletzte Ort, wo so etwas passieren würde. Aber heißt es nicht immer, genauso läuft das mit der Liebe? Wenn man sie am wenigsten erwartet usw. usw.
Er stand hinter mir in der Schlange, war ebenfalls auf Geschäftsreise. Sein gesamtes Gepäck bestand aus einer ledernen Computertasche, so wie bei mir. Er hatte seinen Laptop schon herausgeholt, bereit ihn auf das Förderband Richtung Röntgenkontrolle zu legen. Ich ebenfalls. Und auch meine korallenroten Lacksandalen hatte ich schon ausgezogen, denn die lösen aus irgendeinem Grund immer den Piepston des Personenscanners aus.
Wir waren beide bereit. Aber beide waren wir immer noch zum Warten gezwungen.
Als einer der gepiercten Typen zum dritten Mal auf Start zurückgeschickt wurde, konnte ich hören, wie Laptopmann (logischerweise wusste ich damals nicht wie er hieß, wusste nicht, dass er der Mann war, in den ich mich verlieben würde) genervt laut ausatmete. Ich drehte mich um und lächelte ihm verschwörerisch zu – eines dieser »Wir sind die Einzigen mit Grips auf dieser Welt«-Lächeln – und er grinste zurück, fragte, wohin ich flog. London, sagte ich, ich hätte ein Meeting mit ein paar Bankern.
Er schüttelte sich, lachte dann und wollte wissen, ob ich auch Bankerin sei. Eine Frage, auf die ich nur ungern antworte, seit Bankern vorgeworfen wird, sie hätten beinahe den Untergang des Abendlandes herbeigeführt. Ich gebe zu, sehr viele haben sich absolut arschlochmäßig verhalten, aber zu dem Zeitpunkt war ich im Bereich Neukundenakquise tätig und meine Arbeit bestand eher darin, Unternehmen von einer Geldanlage zu überzeugen, als Kredite an Menschen zu verteilen, die diese nicht zurückzahlen konnten. Daher fühlte ich mich persönlich nicht verantwortlich, für das, was ablief. Aber mitgefangen, mitgehangen und es war immer peinlich, wenn man zugeben musste, dass man in dieser ehemals respektablen Branche arbeitete. (Aus diesem Grund hatte ich vor einigen Monaten meinen stabilen Regenschirm mit dem fidelen Banklogo entsorgt. Wie leicht hätte jemand übergriffig werden können, wenn ich damit durch die Straßen lief.) Jedenfalls sagte ich zu dem Mann, in den ich mich verlieben würde, dass ich zwar bei einer Bank arbeitete, aber eine ehrliche und vertrauenswürdige Person sei, die niemals Geld an jemanden verliehe, der es nicht zurückzahlen könne (niemals Geld verliehen hatte, ergänzte ich), und die Welt mir irgendwann hoffentlich vergeben werde. Ich sei eine Sünderin, erklärte ich augenzwinkernd, aber eine reuige.
Er lachte wieder und sagte, er habe früher selbst einmal bei einer Bank gearbeitet, dann aber ein eigenes Unternehmen gegründet, so was wie ein Vergleichsportal für Finanzprodukte. Es laufe gut. Obwohl ihn die ganze Bankenkrise fast ruiniert hätte, fügte er hinzu, denn als ihm ein zugesagter Kredit für eine Expansion nicht gewährt wurde, sei er in beträchtliche Schwierigkeiten geraten.
Während unseres Gesprächs hatten es die Piercingträger endlich durch die Personenkontrolle geschafft, und die Warteschlange setzte sich wieder in Bewegung. Ich legte meine Sachen aufs Band und marschierte ohne Probleme durch den Scanner. Der Ex-Banker-Computermann ebenso.
»Welcher Flug?«, fragte er, als wir uns am Ende des Bandes wieder trafen und ich gerade meine roten Sandalen anzog. Sehr hübsche Sandalen mit Kitten Heels, die damals überhaupt nicht in Mode waren, aber ich konnte in ihnen laufen, ohne dass es mir die Füße verkrüppelte (ich kann zwar hervorragend in hohen Schuhen gehen, das betrifft aber kurze Distanzen vom Auto zum Restaurant und nicht den Alltagseinsatz).
»Der um elf Uhr nach Heathrow.«
»Ich auch.« Er sah erfreut aus. »Wollen wir einen Kaffee trinken?«
Dazu steuerten wir die Anna Livia Lounge an, für die wir beide zugangsberechtigt waren. Ich mag die Lounge, zumindest kann man dort dem Gewimmel entfleuchen. Menschenmengen und ich – das geht nicht recht zusammen. Wenn ich viele Menschen um mich habe, bekomme ich klaustrophobische Anfälle. Deshalb hatte ich auch in der Warteschlange fast die Beherrschung verloren.
Beim Kaffee teilte Computermann mir seinen Namen mit. Sam Thornton. Das passte zu ihm.
»Holly«, entgegnete ich und kippte ein halbes Zuckertütchen in meinen Cappuccino.
»Golightly?«
Ich grinste. »Gallagher.«
»Sie würden aber auch als Golightly durchgehen«, meinte er. »Sie erinnern mich an Audrey Hepburn in ›Frühstück bei Tiffany‹.«
Ich wurde rot. Er wollte nett sein, aber es gehörte schon viel wohlwollende Phantasie dazu, mir Ähnlichkeit mit Audrey Hepburn zu unterstellen. Ehrlich gesagt, meiner Meinung nach wird es nie eine zweite Audrey Hepburn geben. Für mich ist und bleibt sie die zauberhafteste, eleganteste Frau der Welt. Selbst im Alter blieb ihre Schönheit erhalten. Ich sah einmal ein Foto, da war sie über sechzig und immer noch atemberaubend. Außerdem ist mein Haar hellbraun, manchmal färbe ich mir Highlights, daher sieht es eher dunkelblond aus. Auch nicht typisch Audrey. Aber ich habe etwas Spitzbübisches an mir, was unter bestimmten Umständen ganz entfernt an Audrey in ihrer berühmten Holly-Golightly-Rolle erinnern mag … wenn man zu sehr großzügiger Interpretation neigt. Was bei Sam Thornton eindeutig der Fall war.
»Doch, ehrlich«, beharrte er, als ich zu lachen aufhörte. »Sie sind süß«, und er zwinkerte mir zu.
Einer von Audreys Filmen hieß »Ein süßer Fratz«. Passte auch nicht besser, abgesehen davon, dass es sehr nach fünfziger Jahre und gönnerhaft klang. Aber der Typ war trotzdem nett. Dank seiner Bemerkungen kam ich mir toll und sexy vor, obwohl ich immer noch verschwitzt war und mir ständig eine Haarsträhne ins erhitzte Gesicht fiel.
»Oh, Scheiße«, sagte ich, woraufhin er mich erstaunt ansah. »Unser Flug hat Verspätung.«
Denn da stand auf dem Monitor: Verspätet, neue Abflugzeit 11.45 Uhr, was mehr als ärgerlich war. Für mich wäre es ohnehin besser gewesen, wenn ich zum London City Airport geflogen wäre, aber das war nicht möglich gewesen. Jetzt würde ich also verspätet in der Hölle auf Erden namens Heathrow ankommen. Mein Meeting war erst am späteren Nachmittag, deshalb war ich noch nicht in der Bredouille, aber diese Zeitverschwendung, dieses Herumgetrödele sowohl beim Abflug als auch bei der Ankunft kann ich schlecht aushalten. Wie unschwer zu erkennen: Geduld ist nicht meine Stärke. Wie wenig audreyhaft. Aber ich kann nicht anders, ich bin nun mal eine ungeduldige Person. Warten ist nicht meins.
»Sei's drum«, meinte Sam. »Noch einen Kaffee?«
Schlechte Idee, zu viel Kaffee ist nicht gut für mich, ich werde nervös und neige zum Hyperventilieren, aber da wir noch eine Weile länger herumsitzen würden und mangels Alternativen, bejahte ich. Als er mit den Getränken zurückkam, fragte ich ihn über seinen Termin in London und seine Firma aus, obwohl ich gestehen muss, dass ich ihm gar nicht richtig zuhörte. Mir war nämlich unvermittelt aufgegangen, dass ich seit Ewigkeiten keinen derart attraktiven Mann kennengelernt hatte.
Er war groß – das hatte ich bereits festgestellt, als wir gemeinsam in der Schlange standen – und dunkel, nahezu südländisch und sehr gutaussehend (wie George Clooney in richtig sexy). Wie hatte mir das bisher nur entgehen können, fragte ich mich, aber das lag wahrscheinlich an der Hitze, der Verspätung etc. Da saß ich also nun im Dublin Airport praktisch einem Sexgott gegenüber, der mich zum Lachen brachte, und mir dämmerte plötzlich, wie sehr ich ihn mochte und dann – schwups! – war ich verliebt.
Gut, vielleicht überkam mich urplötzlich die Lust, doch es war mehr als sexuelle Anziehung. Sam war nett. Ein sehr netter Typ. Das war der Grund, weshalb ich mich verliebte. Nicht seine Ähnlichkeit mit George Clooney. (Wenn wir zusammen waren, dachte ich oft über unsere Kinder nach. Die Sprösslinge eines Mannes, der attraktiver als Clooney, und einer Frau, die ein schwaches Abziehbild Hepburns war. Würden sie herzzerreißend schön sein? Oder schlug uns die Genetik ein Schnippchen und sie würden sämtliche unserer Negativpunkte in sich vereinen, ohne auch nur einen einzigen Pluspunkt abzubekommen? So etwas ging mir damals im Kopf herum. Unsere Kinder. Ausgerechnet ich, die immer groß getönt hatte, nie Kinder zu wollen.)
Während wir so in der Anna Livia Lounge herumhockten, konnte ich ihm natürlich nicht verraten, welche Phantasien er in mir auslöste. Ich ließ ihn weiterhin über Banken und Geschäfte reden, ganz als wäre ich der ernsthafte Typ, der sich über ernsthafte Probleme den Kopf zerbrach. Was auch zutraf; nachdem unsere Bank beinahe die Hälfte des Führungspersonals eingebüßt hatte, war ich befördert worden und aus diesem Grund zu einem Meeting in der Londoner City unterwegs. Obwohl ich mir nie wie eine ernsthafte Geschäftsfrau vorkam. Ich kann das alles nicht besonders ernst nehmen: Leute, die höchst wichtig tun und businessmäßig mit Schlagwörtern um sich werfen, nur damit sich das Gegenüber unterlegen fühlt. Eine Marotte, die viele meiner Exkollegen pflegten. Was ihnen im Endeffekt nichts gebracht hat, dachte ich mit einer gewissen Selbstgefälligkeit.
Sam jedoch ersparte mir diese Art Geschwätz, er redete ganz normal. So wie ich auch, allerdings mit geschäftsmäßigem Unterton.
Ich war schon randvoll mit Koffein, bevor unser Flug aufgerufen wurde, und trank an Bord noch einen weiteren Kaffee, was keine besonders gute Idee war, denn ich wurde leicht albern. Bis ich beim Gherkin bin, diesem schrägen, großartigen Gebäude, wo unser Meeting stattfindet, muss ich unbedingt wieder die Kurve kriegen, ermahnte ich mich.
»War noch nie dort«, sagte Sam, als ich sagte, wo ich hinging. »Mein Meeting ist in einem hässlichen Block aus den Sechzigern in der Nähe der Victoria Station.«
»Angeblich sind diese Häuser mittlerweile architektonisch wertvoll«, teilte ich ihm mit.
»So ein Schwachsinn«, meinte er, woraufhin ich erneut lachen musste.
»Bleiben Sie über Nacht?«, fragte er, als unser Flugzeug endlich gelandet war (wir mussten ungefähr eine halbe Stunde lang über dem Flughafen kreisen, was mich wieder total nervte).
»Nein«, sagte ich bedauernd, »ich fliege heute Abend heim.«
Er sah enttäuscht drein. »Schade.«
»Ich übernachte meistens nicht. Weniger Kosten. Es macht keinen guten Eindruck, wenn die Bank unnötigerweise für ein nobles Hotelzimmer zahlen muss. Außerdem«, fügte ich hinzu, »heute ist Freitag. Ich könnte eine Übernachtung nicht einmal mit einem Meeting morgen rechtfertigen.«
»Warum machen Sie sich nicht einfach ein schönes Wochenende?«, schlug er vor.
Ich starrte ihn an.
»Wir könnten morgen essen gehen, uns amüsieren …«
Ich starrte ihn immer noch an.
»Aber wenn Sie nicht wollen, auch gut.«
»Nein, im Gegenteil, das wäre toll«, sagte ich langsam. »Es ist nur so, dass …«
»Was?«
»Ich habe kein Nachthemd dabei.«
In seinen dunkelblauen Augen lag ein Zwinkern. »Glaubst du, du brauchst eines?«
Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob ich mich am Flughafen in ihn verliebte oder im Flugzeug oder später in seinem Zimmer im Claridge's. (Claridge's! – wenn ich in London übernachtete, hatte mich die Bank nie im Claridge's untergebracht. Dieses Vergleichsportal für Finanzprodukte musste gut laufen.) Im Endeffekt ist es egal, wo ich mich in ihn verliebte, das sind bloße Details. Ich verliebte mich, darum geht es. Und zwar mit einem Knall, den man auf der anderen Seite der Erdkugel hätte spüren können.
In jeder Beziehung kommt der Punkt, wo man anfängt Fragen zu stellen, nicht mehr alles für bare Münze nimmt, alles über den Menschen, an den man sich bindet, wissen möchte, nicht nur das Gute, auch das Schlechte. Sam und ich hatten eine so tolle Zeit miteinander, dass ich überhaupt keine Fragen stellen wollte, es irgendwann aber doch tat. Beiläufig, weil ich nicht besonders besorgt war; wir ließen es ruhiger angehen, als man vermutet hätte, nachdem ich mich fast auf den ersten Blick in ihn verliebt hatte, aber so war es eben damals. Schließlich ist das Leben keine Hollywoodschmonzette. Wir trafen uns ohnehin nicht täglich, nicht einmal wöchentlich, denn wie sich herausstellte, lebte Sam in Wexford County. In Gorey, knapp hundert Kilometer südlich von Dublin, also nicht ideal für gemeinsame Unternehmungen, wie schnell mal samstagabends was trinken gehen. Ich hatte mir vorgestellt, wir würden die Wochenenden gemeinsam verbringen. Entweder in meiner Wohnung in der Stadt oder seinem Haus auf dem Land, doch dazu kam es nicht allzu oft. Er übernachtete mehrmals bei mir (allerdings nur freitags, nie das gesamte Wochenende), ich aber nie bei ihm. Was mich nach einiger Zeit etwas wurmte und ich fragte ihn nach dem Grund. Man sollte nie eine Frage stellen, deren Antwort man nicht kennt, sagte meine beste Freundin Susannah, eine Rechtsanwältin, einmal. Man stelle Fragen, um Antworten zu bekommen, widersprach ich, doch sie ist der Meinung, dass man bei der Frage bereits weiß, welche Antwort man gern hören möchte. Und wenn das nicht der Fall ist, sollte man die Frage besser erst gar nicht stellen. Ich hätte auf Susannah hören sollen. Oder die Frage schon früher stellen. Doch offenbar hatte ich das gar nicht gewollt. Offenbar kannte ich ja, tief im Innersten, die Antwort bereits.
Wir saßen im St Stephen's Green, als ich ihn fragte.
»Warum übernachte ich eigentlich nie bei dir?« Ich schob mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah ihn an. »Dublin ist eine tolle Stadt, die viel bietet, schon klar, aber manchmal wäre ein beschauliches Wochenende auf dem Land auch nett, meinst du nicht?«
Ein Schatten legte sich über sein Gesicht, und ich spürte, wie eine eisige Hand nach meinem Herzen griff.
»Holly«, sagte er.
»Ja?«
»Wir müssen reden.«
Wie ich diesen Satz hasse. Cormac Mulcahy, mein erster Freund, sagte ihn, als er mir den Laufpass gab. (Wir waren beide zwölf. Er war ein sehr ernsthafter Junge.) Dermot Doolin, mein zweiter Freund, benutzte diesen Satz ebenfalls. Und ich muss zugeben, dass ich ihn selbst schon gesagt hatte, nicht nur einmal. Daher weiß ich, was »wir müssen reden« bedeutet. Nämlich, wir führen jetzt diese Unterhaltung und es wird unsere letzte sein, ich will sie eigentlich gar nicht führen, aber ich bringe es nicht übers Herz, dich mit einer SMS abzuservieren.
»Warum?«, fragte ich. Innerlich fühlte ich mich unglaublich elend. Ich liebte Sam. Wie ich noch nie jemanden geliebt hatte. Ich hatte Hochzeitsphantasien, in denen ich ein Kleid trug, das mich wie Audrey aussehen ließ, er einen Smoking, bei dem George vor Neid erblasst wäre. Das Kleid hatte ich selbst entworfen. Es war umwerfend.
»Weil …« Und dann sagte er mir es.
Es war nicht das Abservier-Gespräch, sondern die andere Variante: Der Mann, in den du dich verliebt hast, gesteht dir, er war nicht ehrlich zu dir und hätte sich gar nicht in dich verlieben dürfen, denn wie es sich herausstellt, ist er bereits verheiratet.
»Was?« In diesem Augenblick begreift man, wie stockblind und dumm man gewesen ist, und die Tatsache, dass er immer bei einem übernachtet hat, man aber nie bei ihm und es Zeiten gab, in denen er nicht erreichbar war sowie hunderterlei andere Kleinigkeiten, die man geflissentlich ignoriert hat, fügen sich plötzlich zu einem glasklaren Bild.
»Es tut mir leid«, sagte er, »du hasst mich jetzt bestimmt.«
»Da hast du so was von recht.«
»Ich wollte das alles nicht.«
Wer verdammt noch mal will so was denn?
»Als wir uns trafen, war es, als ob mit dir wieder die Sonne in mein Leben kommt.«
Blablabla.
»Ich liebe dich, Holly.«
Aber geheiratet hast du eine andere.
»Es funktioniert nicht mit Amy und mir.«
Amy. Hübscher Name. Mädchenhaft, herzig.
»Aber gerade im Moment … ich kann unsere Familie nicht auseinanderreißen.«
»Familie? Was für eine Familie?«
»Die Zwillinge sind erst zwei.«
Okay, ein Kind ist schon schlimm genug. Aber zwei … Und dann auch noch Zwillinge. Das war irgendwie noch schlimmer.
»Es ist ja nicht so, dass sie mir gleichgültig wäre«, sagte er.
Klasse. Reib's mir doch rein.
»Aber ich liebe sie nicht so, wie ich dich liebe.«
Und damit hatte er mich wieder an der Angel. Denn er klang, als meinte er es ernst. Weil er sich unglücklich und gequält anhörte. Weil er anfing zu weinen.
Was weinende Männer betrifft, bin ich hin- und hergerissen. Einerseits finde ich es gut, wenn sie gelegentlich emotional werden, ihre Traurigkeit öffentlich zeigen. Andererseits halte ich es für ziemlich erbärmlich und wenig männlich.
Als unsere Bank beinahe crashte, heulten einige der Typen. Wirklich und wahrhaftig. Ein höchst seltsamer Anblick, wie sie hinter ihren Schreibtischen hockten und ihnen die Tränen die Wangen hinabliefen. Harte Männer, deren sexistische Haltung mir oft das Leben zur Hölle gemacht hatte. Vor denen ich mir unter allen Umständen jede Träne verkniffen hätte. Und sie heulten Rotz und Wasser vor ihren Bloomberg-Screens. Unglaublich! Ich weinte damals nicht. In meinen Augen lohnte sich Weinen deswegen nicht. Obwohl ich liebend gern den Leiter der Kreditabteilung vermöbelt hätte, der mich einmal im Aufzug angebaggert hatte, wohl wissend, dass mir niemand glauben würde, wenn ich den Vorfall an die große Glocke gehängt hätte. Er war ein echtes Schwein, und ich freute mich, dass er seinen Job verlor. Und ich hätte ihn gern vermöbelt, weil andere seinetwegen ebenfalls ihren Job verloren, nicht weil er mich so bescheuert angebaggert hatte.
All das schoss mir durch den Kopf, als Sam weinend neben mir saß. Aber jetzt war ich nicht wütend und verbittert wie damals. Sondern traurig. Seinet- und meinetwegen.
»Es tut mir leid.« Er riss sich zusammen, schenkte mir ein winziges Lächeln. »Es tut mir leid, dass ich nicht ehrlich zu dir war, Holly. Aber es ist nun mal so, in dem Augenblick, als ich dich zum ersten Mal sah, wie du barfuß in der Schlange gestanden hast, spielten meine Gefühle verrückt wie noch nie. Ich fühlte mich dir sofort verbunden. Damals habe ich nicht darüber nachgedacht … Ich wollte mich einfach immer weiter mit dir unterhalten, und ich weiß, das war falsch, aber ich konnte einfach nicht anders.«
Ich redete mir ein, ich könnte die Sache objektiv beurteilen. Ich konnte es so sehen, dass er nett sein und mit mir flirten wollte (wie immer man das, was sich in der Warteschlange abgespielt hatte, bezeichnen wollte), obwohl er verheiratet war und ergo kein Recht hatte, fremde Frauen charmant anzuflirten. Vielleicht sollte ich die Situation in der Warteschlange etwas nachsichtiger beurteilen, so was brachte die Leute einander näher, und es gab einem das Gefühl, nicht die einzige Menschenseele zu sein, die unter der Hitze und den Menschenmassen litt. Ich konnte mir einreden, dass der gemeinsame Kaffee in der Anna Livia Lounge einfach eine nette Geste gewesen war. Eine völlig unschuldige, was mich betraf, bei ihm offensichtlich weniger – angesichts der ständigen Audrey-Hepburn-Vergleiche –, dennoch ziemlich harmlos.
Nur war es weniger harmlos weitergegangen, denn nun saßen wir hier, er weinend und ich mit dem Gefühl, als hätte man mir das Herz aus der Brust gerissen.
»Liebst du deine Frau?«
Stelle nie eine Frage, deren Antwort du nicht kennst. Noch ehe ich den Mund aufmachte, wusste ich, ich hätte sie mir verkneifen sollen.
»Sie ist wunderbar«, elegant vermied er die Antwort. »Sie ist eine großartige Ehefrau und Mutter.«
»Wie lange seid ihr verheiratet?« Die Antwort auf diese Frage war eher bedeutungslos.
»Fünf Jahre.«
»Wirst du sie verlassen?« Wieder eine Frage, deren Antwort ich nicht kannte. Allmählich fragte ich mich, ob ich masochistisch veranlagt war.
»Es kam alles so unerwartet«, wieder wich er aus. »Mir war bewusst, dass Amy und ich nicht glücklich miteinander sind, aber nicht, warum. Wahrscheinlich ist unglücklich nicht das richtige Wort, es ist einfach so … ich glaube nicht, dass wir uns noch lieben. Keine Ahnung, was passiert ist. Ob es daran liegt, dass ich viel unterwegs bin. Oder weil die Zwillinge kamen …«
Ich würde eine Familie mit zwei Kleinkindern zerstören. Das konnte ich nicht.
»Ich muss los.« Ich stand auf und strich den hellen Rock meines Businesskostüms glatt. Und dann marschierte ich aus dem Park und ließ ihn auf der Bank hocken.
Dabei hätte ich es bewenden lassen sollen. Das war mir völlig bewusst. Man weiß oft nur zu gut, was man tun oder besser lassen sollte, aber mit der Umsetzung hapert es. Als ob manchmal jemand das Kommando über einen übernimmt und einen zu Sachen treibt, die man gar nicht machen möchte. Oder einem einflüstert, man solle sie trotzdem tun. Deshalb sagte ich auch zu, als mich Sam zwei Wochen später anrief und mich unbedingt sehen wollte.
Wir trafen uns im Morrison, das direkt am Nordufer der Liffey liegt, gerade mal so in der anderen Stadthälfte. Die Liffey ist die Trennlinie zwischen dem Süden und Norden der Stadt. Deshalb hatte er dieses Hotel ausgesucht; der Nordteil Dublins war für Sam eine fremde Welt.
»Ich musste die ganze Zeit an dich denken«, sagte er. »Ich mache den ganzen Tag nichts anderes. Ich denke an dich, wenn ich aufwache und wenn ich schlafen gehe. Ich denke an dich, wenn ich zur Arbeit fahre und wenn ich nach Hause fahre.«
»Denkst du auch an mich, wenn du deiner Frau den Gutenachtkuss gibst? Oder wenn du mit deinen Kindern spielst? Oder wenn ihr sonntags beim Mittagessen sitzt?« Ich klang absichtlich sarkastisch, weil es mir wieder das Herz brach. Ich liebte ihn immer noch, obwohl er ein Schwein war, ein Lügner und Betrüger.
»Mach es mir nicht noch schwerer«, bettelte Sam. »Zwing mich nicht dazu, Dinge zu sagen, die ich gar nicht sagen will.«
Es gab keine Zukunft mit Sam. Ein Satz, den ich mir immer wieder vorsagte. Ich würde einen Teil meines Lebens an ihn verschwenden, Jahre, in denen ich besser jemanden suchen sollte, der mich so liebte, wie ich geliebt werden wollte. Der keine andere betrog. Aber es war nun einmal so und einem Teil von mir war das egal. Mir war es egal, weil ich ihn so sehr liebte und weil ich nachvollziehen konnte, wie er sich in diese Lage manövriert hatte.
Beinahe hätte ich ja selbst geheiratet. Das war vier Jahre her. Ein paar Monate vor der Hochzeit hatte ich kalte Füße bekommen und sie abgeblasen. Aber ich hatte mich sehr mit der Entscheidung gequält und mir sogar eingeredet, ich sollte um aller Beteiligten willen die Sache durchstehen und mich anschließend scheiden lassen. Nicht sehr rational, ich weiß. Aber ich hatte mit diesem Gedanken sehr ernsthaft gespielt. Daher war es gut möglich, dass Sam eine Frau geheiratet hatte, die er nicht über alles liebte, denn wenn man erst mal in der Eheachterbahn sitzt, ist aussteigen äußerst schwierig.
»Sieh mal, ich mag dich sehr«, sagte ich, »aber es hat keinen Zweck.«
»Du fehlst mir«, entgegnete er. »Ich vermisse unsere Gespräche. Natürlich kann ich nicht erwarten, dass es wieder so wird wie früher, aber können wir nicht Freunde sein? Uns gelegentlich auf einen Kaffee treffen? Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann. Und du bist der einzige Mensch, mit dem das geht.«
»Ach, Sam … Ich weiß nicht.«
»Versuch's doch wenigstens.« Er richtete seine großen dunkelblauen Augen auf mich. »Bitte.«
Und so willigte ich ein. An diesem Abend redeten wir endlos, alles blieb ganz anständig und einige Tage darauf trafen wir uns zum Mittagessen, das ebenfalls völlig unschuldig verlief und dann trafen wir uns eines Abends in der Stadt auf einen Drink. Als ich neben ihm im Pub saß, konnte ich nicht anders und lehnte den Kopf an seine Schulter. Dann küsste er mich und ich küsste ihn und er kam mit in meine Wohnung nach Dundrum und wir liebten uns und mir wurde klar, ich würde ihn nie verlassen können.
So geht das eben. Man denkt das eine und tut das andere und weil ich ihn wieder in mein Leben gelassen hatte, wollte ich ihm alles glauben. Ich wollte glauben, dass es echte Liebe war. Und dass er eines Tages Amy und die Kinder verlassen und mit mir zusammenleben würde und am Ende alle glücklich wären. Denn in meiner kleinen Phantasiewelt hatte Amy ohnehin eine stürmische Affäre mit einem ihrer Nachbarn in Wexford.
Ich war am Boden zerstört, als sie Ende September zwei Wochen in Urlaub fuhren, während derer ich keinen Ton von ihm hörte. Mir war nicht aufgefallen, wie eng verbunden unsere Leben waren und wie viele alberne Nachrichten ich ihm täglich übers Handy schickte, als Beweis gewissermaßen, dass ich ihn liebte. Während des Urlaubs wollte ich ihm keine Nachricht schicken, denn Amy könnte ja sein Handy nehmen und fragen, wer Holly sei. Schockartig wurde mir bewusst, dass ich die Geliebte eines verheirateten Mannes war. So hatte ich mich noch nie gesehen.
Er rief an, als er wieder zu Hause war, und sobald er durch meine Wohnungstür trat, rissen wir uns gegenseitig die Kleider vom Leib und liebten uns im Flur, wo uns bestimmt jeder hören konnte, der an der Tür vorbeiging.
»Du hast mir so gefehlt«, sagte er.
»Du mir auch«, ich umklammerte ihn. »Ich liebe dich.«
Er küsste mich auf den Mund. Er küsste fabelhaft, so gut wie kein anderer meiner Verflossenen. Auch so gut im Bett wie er war keiner gewesen. Ich würde ihn nie verlassen können.
Auf Weihnachten freute ich mich nicht besonders. Seit meine drei Brüder und ich nicht mehr an Santa Claus glaubten, war dieses Fest in unserer Familie eher unwichtig. Da ich die Jüngste war, mussten alle noch ein Weilchen so tun, als glaubten sie an die zaubrischen Vorgänge rund um diese Zeit. Ich war neun, als ich die Existenz des weißbärtigen Herrn in Frage stellte, und da meine Eltern beide Wissenschaftler waren, betrübte sie der Verlust meiner kindlichen Unschuld keineswegs. Wahrscheinlich hatte es ohnehin gegen ihre Prinzipien verstoßen, dass in unserem Haus die Mär von Santa Claus Einzug gehalten hatte.
In unserer Familie stehen wir uns nicht sehr nahe. Nicht, dass wir uns nicht verstünden, denn das tun wir, aber keiner gerät in einen großen Gefühlsrausch, wenn wir uns zu besonderen Gelegenheiten sehen. Es könnte daran liegen, dass für unsere Wissenschaftlereltern ein Datum einfach nur ein Datum ist, einerlei ob es der 25. Dezember oder der 25. Juni ist. Meine Mutter hat in ihrem Computer eine kleine Erinnerungsfunktion für sämtliche Geburtstage, trotzdem hatte sie meinen mehrmals vergessen, woraufhin sie garantiert ein schlechtes Gewissen bekam. Andererseits regt es sie auf, dass andere Leute ihre Geburtstage groß feiern. Sie feiert lieber andere Dinge. Zum Beispiel als ich endlich den Welle-Teilchen-Dualismus von Licht verstand. Das war eine große Sache für sie. Meine Eltern sind gute Menschen, die manchmal einfach in einer anderen Welt leben.
In dem Jahr, als ich Sam kennenlernte, lebten sie der Arbeit wegen in den USA und hatten nicht vor, Weihnachten in Irland zu verbringen. Uns nach drüben einzuladen, kam ihnen nicht in den Sinn. Was in Ordnung war. Meine drei Schwägerinnen fragten mich alle, ob ich den Weihnachtstag denn nicht bei ihnen verbringen wolle. Ehrlich gesagt war ich einem ihrer glücklichen Weihnachtsfeste nicht gewachsen, denn auch wenn meine Brüder keine großen Familienmenschen sind, sieht das bei ihren Frauen definitiv anders aus. Daher würde es bei Eamonn, Christopher und Rory von Verwandten nur so wimmeln. Und das war meine Sache nicht. (Ich hatte vergangenes Weihnachten bei Eamonn verbracht und es war unsäglich gewesen. Für meinen Geschmack viel zu viele Umarmungen, Küsse und Liebesdemonstrationen.) Ich wollte mir einen gemütlichen Tag machen, ganz für mich allein. Ein Großeinkauf Alkohol und Schokolade und dann würde ich mir den lieben langen Tag alberne Fernsehfilme reinziehen.
Und dann schlug Sam die Sugar Loaf Lodge vor.
»Du lässt deine Familie an Weihnachten allein?« Ich war mehr als verblüfft.
»Nur an Heiligabend. Ich wollte am Weihnachtstag abfahren, wahrscheinlich so gegen Mittag. Einige japanische Klienten sind in der Stadt, und ich habe gegenüber Amy erwähnt, dass ich ein Meeting mit anschließendem Abendessen andenke. Es war ihr Vorschlag, dass ich in Dublin übernachten soll, statt mit einem Glas Wein im Bauch den Heimweg riskieren.«
»Und du musst nicht mit den Japanern zu Abend essen?«
Sam schüttelte den Kopf. »Das Meeting ist am Vormittag und anschließend lade ich sie zum Mittagessen ein.«
Diese wunderbare Chance konnte ich mir nicht entgehen lassen. Ich war begeistert, gleichzeitig hatte ich ein schlechtes Gewissen, sagte mir aber, dass es dazu gar keinen Grund gab. Hätte Amy wirklich gewollt, dass er heimkam, hätte sie insistiert, er solle sich das Abendessen mit den Japanern sparen.
»Warum die Sugar Loaf Lodge?«, wollte ich wissen.