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Ihre Ehe ist perfekt, ihr attraktiver Ehemann trägt sie auf Händen, sie hat immer betont, wie glücklich sie ist: Als Imogen plötzlich verschwindet sind alle, die sie kennen, schockiert. Hinter der wohlgeordneten Fassade einer glücklichen Beziehung ist offenbar nichts, wie es scheint. Imogen weiß, dass sie einen Neuanfang wagen muss, um wieder die Frau zu sein, die sie einmal war, und sie hofft, im Süden Frankreichs, in dem kleinen Ort am Meer, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat, zur Ruhe zu kommen. Aber die Vergangenheit ist ihr auf den Fersen, denn ihr Mann versucht mit aller Macht, sie zurückzuholen.
Sheila O’Flanagan erzählt eine mitreißende Geschichte von Liebe und Verlust, von Träumen und Freundschaft und nimmt uns mit auf eine Reise ins Ungewisse, von Dublin über Paris bis an die französische Atlantikküste.Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 597
Veröffentlichungsjahr: 2018
Inhalt
Cover
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
Danksagung
Leseprobe: Sheila O'Flanagan
1. Kapitel
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Sheila O'Flanagan
Helle Nächte am Meer
Roman
Aus dem Englischen von Susann Urban
Insel Verlag
Imogen geriet in Panik, und zwar mitten in der Fahrgastschlange, die sich langsam in den Überlandbus zwängte. Der kalte Schweiß brach ihr aus, die weiße Baumwollbluse wurde auf dem Rücken ganz feucht, und sie stand da wie angewurzelt, eingeklemmt zwischen einem bunten Madiba-Hemd und einer ungeduldigen Pariserin, die alle fünf Minuten ihre Armbanduhr konsultierte. In genervtem Ton bedeutete die Frau ihr, sie solle um Himmels willen endlich einsteigen, aber Imogen stand reglos auf der untersten Stufe und umklammerte den Handlauf.
»S'il vous plaît«, zischte die Frau zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Entschuldigung«, Imogen ging zur Seite, »gehen Sie ruhig vor.«
Die Frau drängte sich an ihr vorbei, die restlichen Fahrgäste folgten, während Imogen vor der Tür stehen blieb und mit sich rang, ob sie tatsächlich einsteigen sollte.
»Madame?« Fragend sah der Busfahrer sie an.
»Ja«, sagte sie zögernd. »Ja, ich … ich komme.«
Doch ihr klangen seine Worte im Ohr. Was hast du dir bloß dabei gedacht? Du kommst doch nie und nimmer allein zurecht. Du vermasselst es sowieso. Wie immer.
Sie blendete die Stimme aus. Er irrte sich. Sie würde die Sache nicht vermasseln. Denn sie hatte einen PLAN.
Mach dich doch nicht zum Narren. Wieder hörte sie ihn, während sie immer noch den Handlauf umklammerte.
Wenn sie sich an den PLAN hielt, würde sie sich nicht zum Narren machen. Er war narrensicher. Hoffentlich. Und den ersten Schritt hatte sie bereits erfolgreich bewältigt. Warum also sollte sie ihn nicht ganz durchziehen können? Außerdem war es zum Aussteigen jetzt zu spät.
Es ist nie zu spät.
Diesmal war es die Stimme ihrer Mutter, eine der vielen Plattitüden, die sie tagtäglich von sich gegeben hatte. Doch in diesem Fall stimmte es. Es war nicht zu spät. Noch konnte sie umkehren, ohne dass ihr Handeln allzu viele Konsequenzen nach sich zog. Irgendwie würde sie eine Erklärung zurechtbasteln.
Aber sie hatte doch nicht so lange an dem PLAN gefeilt, um ihn jetzt aufzugeben und mit einem Sack voller Ausreden heimzugehen! Trotzdem hatte sie die Wahl — weitermachen oder umkehren. Imogen hielt sich vor Augen, dass dies die Chance war, auf die sie gewartet hatte. Ihre erste Gelegenheit, den PLAN in die Tat umzusetzen. Wie würde sie sich fühlen, wenn sie sich die entgehen ließe?
Sie holte tief Luft und erklomm die Stufen.
Der Reisebus war bequem und klimatisiert — an diesem unerwartet schwülen Junitag eine wahre Wohltat. In der überfüllten Messehalle war es heiß gewesen und sie hatte die ganze Zeit ihr schweres, dunkelblaues Wollkostüm verflucht, in Vince' Augen die einzig angemessene Bekleidung für ihre Geschäftsreise nach Frankreich. Bei jedem Schweißausbruch an diesem Vormittag fragte sie sich allerdings, ob es am Kostüm lag oder daran, dass sie Angst davor hatte, ihr Vorhaben nun tatsächlich umzusetzen.
Sie ging durch die Sitzreihen. Weil sie so viele Leute vorgelassen hatte, gab es nur noch wenige Plätze. Sie setzte sich gleich auf den ersten freien, neben einen langbeinigen jungen Mann mit Ohrstöpseln, der sich eifrig durch die Playlist auf seinem Handy scrollte. Ein Student, schloss Imogen nach einem raschen Blick auf sein unrasiertes Gesicht, das T-Shirt mit Logo und die zerrissenen Jeans. Mit nostalgischer Wehmut dachte sie an ihre eigene Studienzeit, obwohl diese wohl eher atypisch gewesen war. Anders als die meisten ihrer Kommilitonen hatte sie weder reisen noch Erfahrungen sammeln wollen. Sie wollte Wurzeln schlagen, und zwar an einem Ort ihrer Wahl, nicht dort, wohin jemand anders sie verpflanzt hatte. Das war ihr sehr wichtig gewesen. Leider.
Sie lächelte den jungen Mann kurz an, der aber zu sehr mit seinem Smartphone beschäftigt war, um es zu bemerken.
Der Fahrer legte den ersten Gang ein und der Bus rollte aus dem Busbahnhof.
Kurz darauf bogen sie Richtung Boulevard Périphérique ab. Imogens Handy summte.
Sie zählte bis zehn, bevor sie die SMS las.
Bist Du am Flughafen?
Auf dem Weg dorthin, schrieb sie zurück.
Wann kommst Du an?
Während der Busfahrer darauf wartete, dass es Grün wurde, betrachtete sie die umliegenden Gebäude, größtenteils gesichtslose Bürokomplexe aus Glas und Stahl, die genauso gut in Singapur oder Dallas hätten stehen können.
In zwanzig Minuten.
Schick mir eine SMS, wenn Du angekommen bist.
O. k.
Ich liebe Dich.
Nach kurzem Zögern antwortete sie: Ich liebe Dich auch ☺.
Als sie wieder anfuhren, fiel Imogens Blick auf ein Schild, das die Richtung zum Flughafen anzeigte. Der Reisebus wurde schneller und bog dann in die entgegengesetzte Richtung ab. Sie atmete langsam aus. Der Student neben ihr war immer noch in seine Musik versunken. Imogen starrte aus dem Fenster. Als der Bus an einer Ausfahrt mit dem Schild Disneyland vorfuhr, schrieb sie eine weitere SMS.
Bin am Flughafen. Akku gleich leer. Melde mich später. Diesmal gab es keinen Smiley.
Imogen holte ihre Handtasche unter dem Vordersitz hervor, zog Verlobungs- und Ehering ab und ließ sie hineinfallen. Anschließend holte sie aus einer Seitentasche eine Haarklammer und öffnete damit das SIM-Fach ihres Handys. Sie nahm die Karte heraus, klemmte sie sich zwischen die Zähne und schloss das Fach. Während sie fest auf das Plastik biss, stellte sie fest, dass der Student ihr allmählich Aufmerksamkeit schenkte.
»So machst du sie kaputt«, sagte er auf Französisch und nahm einen der Ohrstöpsel heraus.
»Ich weiß«, antwortete sie in derselben Sprache, nachdem sie die Karte aus dem Mund genommen hatte.
Sie nahm das Plastikteilchen zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte fest zu, immer fester. Allmählich bog sich die Karte, bis sich die Kanten berührten und die winzigen Metallstreifen brachen. Der Student zuckte die Achseln. Imogen lehnte sich zurück und sah starr geradeaus.
Vince Naughton war immer auf alles vorbereitet. Er plante gern den Tag durch und hasste Überraschungen aller Art. Vor Jahren hatte ihn eine Kollegin während einem dieser Brainstorm-Meetings, bei denen die Belegschaft enger zusammenwachsen sollte — in seinen Augen eine völlige Zeitverschwendung —, einen Kontrollfreak genannt. Verärgert über ihren aggressiven Ton hatte Vince zurückgegeben, er sei kein Kontrollfreak, habe aber gern die Kontrolle. Eine Bemerkung, die von der Gruppe mit Beifall bedacht wurde, während die Kollegin verlegen dreinsah. Ein paar Monate später war Vince befördert worden und sie hatte das Unternehmen verlassen. Was für eine schöne Bestätigung. Zu wissen, wie die Dinge laufen würden, war eine feine Sache, fand er. Noch besser war es allerdings, wenn man dafür sorgte, dass sie sich auch in die gewünschte Richtung entwickelten.
Deshalb bog er zehn Minuten vor der anvisierten Zeit auf den Parkplatz des Hotels in Cork ein — genau die zehn Minuten Puffer, die er stets für Eventualitäten einkalkulierte. Aus diesem Grund gehörte er zu den erfolgreichsten Mitarbeitern seines Unternehmens. Er rechnete immer mit allem, wurde nur sehr selten auf dem falschen Fuß erwischt. Er rechnete mit dem Schlimmsten und hoffte das Beste. Mit dieser Strategie war er bisher hervorragend gefahren.
Vince stellte das Auto ab, checkte ein und ging auf sein Zimmer. Er hatte bei der Konferenzorganisation um ein Zimmer im ersten Stock gebeten und war erfreut, dass seinem Wunsch entsprochen worden war. Zwar hätte er lieber eines mit Blick auf den Fluss statt auf den Parkplatz gehabt, aber sonst war alles bestens: Das WLAN funktionierte, es gab einen Wasserkocher für Tee und eine Kaffeemaschine und an der Wand hing ein moderner Flachbildschirm.
Er setzte sich aufs Bett und schrieb eine SMS.
Bin pünktlich angekommen. Zimmer o. k. Melde Dich, wenn Du zu Hause bist.
Dann ging er duschen.
Laut Busfahrplan dauerte die Fahrt mehr als elf Stunden. Natürlich kam man viel schneller von Paris in den Südwesten Frankreichs, wenn man ein anderes Verkehrsmittel nahm (wäre Imogen mit dem Auto gefahren, hätte sie nicht einmal halb so lange gebraucht). Mit dem Flugzeug wären es nicht einmal neunzig Minuten gewesen, aber dazu hätte sie ihren Namen und ihre Kreditkartendaten angeben müssen, und das wollte sie nicht. Angesichts des hervorragenden französischen Streckennetzes wäre der Zug die beste Option gewesen, überdies hätte sie direkt an ihrem Zielort aussteigen können. Obwohl sie sich bestimmt eine Fahrkarte ohne Reservierung hätte kaufen können, gab es in der Marmorhalle des ultramodernen Bahnhofs in Montparnasse garantiert jede Menge Überwachungskameras, denen sie nicht ins Visier geraten wollte. Zu oft hatte sie in den Nachrichten die grobkörnigen Aufnahmen gesehen, die ahnungslose, ihren Geschäften nachgehende Passanten auf öffentlichen Plätzen zeigten. Möglich, aber eher unwahrscheinlich, dass eine dieser Kameras ihren Kauf der Busfahrkarte eingefangen hatte. Zudem rechnete niemand damit, dass sie einen Reisebus nahm. Daher war dieses Verkehrsmittel Teil des PLANS.
Als sie nach vier Stunden zum ersten Mal Halt machten, begann es zu regnen. Imogen huschte unter den schweren, trägen Tropfen hindurch zur Toilette der Autobahnraststätte. In einer Toilettenkabine nahm sie den Akku aus ihrem Handy und ließ ihn in den roten Abfalleimer fallen. Nach weiteren vier Stunden entsorgte sie beim nächsten Halt das Handy in der blauen Abfalltonne des Busparkplatzes. Zum ersten Mal seit mehr als fünfzehn Jahren war sie ohne Handy. Ein merkwürdiges Gefühl. Obwohl das Gerät ohne die SIM-Karte und den Akku völlig nutzlos war, war es ein Teil von ihr gewesen. Jetzt war es weg. Gern hätte sie das Gefühl gehabt, alles was mit diesem Telefon verbunden war, gleichfalls entsorgt zu haben, aber um ehrlich zu sein, sie fühlte gar nichts. Nur eine gewisse Beklommenheit. Vielleicht war es auch Angst.
Als sie wieder in den Bus stieg, spielte der Student auf seinem Handy ein Spiel, tippte wild auf dem Display herum. Imogen setzte sich und der junge Mann sah auf, schenkte ihr ein kurzes Lächeln und spielte weiter.
Bestimmt hatte sie mittlerweile weitere SMS bekommen.
Bist Du schon zu Hause?
Wo bist Du?
Und wahrscheinlich auch eine Sprachnachricht.
»Das gibt's doch gar nicht, hast du deinen Akku immer noch nicht aufgeladen? Ruf mich an.«
Aber Imogen würde nicht anrufen. Auch das gehörte zum PLAN. Und weil sie ihr Handy entsorgt hatte, musste sie sich wohl oder übel daran halten.
Sie streckte ihre Hände aus. Sie zitterten.
Der Student hatte fertiggespielt und nahm seine Ohrstöpsel heraus. Ob er bitte an seine Tasche in der Ablage herankönne. Imogen stand im Gang, während er in seinem Rucksack herumkramte. Dann rutschte er wieder auf seinen Platz und sie setzte sich. Er klappte das Plastiktischchen vor sich herunter und packte sein Essen aus: eine Flasche Wasser und ein dreilagiges Sandwich. Damit aber nicht genug, er hatte noch ein KitKat, einen Schokoladenmuffin und zwei Bananen dabei, von denen er Imogen eine anbot.
»Nein, danke.« Sie unterhielten sich weiterhin auf Französisch.
»Bist du ganz sicher?«, fragte er. »Maman hat mir das alles eingepackt. Ich bin echt ein guter Esser, aber zwei Bananen sind zu viel.«
»Lieb von dir«, sagte Imogen. »Aber ich habe keinen Hunger.«
»Na gut.« Er wickelte sein belegtes Brot aus und biss herzhaft hinein.
Imogen versuchte, ihn nicht anzusehen. Ganz schön schwierig, so ohne jegliche Ablenkung durch Handy oder Zeitschrift, starr geradeaus zu sehen.
»Kann ich dich mal was fragen? Warum hast du deine SIM-Karte kaputtgemacht?«, fragte er, nachdem er sein Sandwich vertilgt hatte.
Sie zögerte kurz. »Ich will alles hinter mir lassen.«
»Du hättest das Handy einfach ausschalten können.«
»Das ist nicht dasselbe.«
»Ziemlich drastisch.« Er grinste sie an.
»Aber so kann ich sicher sein, dass mich nicht doch die Versuchung überkommt«, erläuterte sie.
Mit einem Nicken nahm er den Muffin in Angriff, dem er mit zwei Bissen den Garaus machte, ehe er weiterredete.
»Machst du Urlaub?«
»So ungefähr«, antwortete sie. »Ich hatte geschäftlich hier zu tun und hänge noch ein paar Tage dran.«
»Cool«, meinte der Student. »Ich arbeite in den Semesterferien in einem Weinberg.«
»Das macht bestimmt Spaß.« Imogens PLAN wies in Sachen Konversation Lücken auf, denn sie hatte schlichtweg nicht damit gerechnet, von einem Wildfremden in ein Gespräch verwickelt zu werden. Außerdem hatte sie anonym bleiben wollen, ganz und gar unauffällig. Aber überraschenderweise empfand sie es als angenehme Abwechslung. Zudem übernahm der junge Mann fast vollständig das Reden. Sie musste lediglich hier und da nicken.
»Wie heißt du?«, fragte er nach einer Gesprächspause.
»Imo … gen«, nuschelte sie.
»Nett, deine Bekanntschaft zu machen, Jen«, sagte er. Zum Glück hatte ihn ihr Zögern bei dieser einfachen Frage nicht irritiert. »Ich heiße Henri.«
Sie verbesserte ihn nicht.
Er redete fast unausgesetzt. Er war zwanzig und studierte Umweltwissenschaften an der Université d'Orléans, interessierte sich für Weinherstellung und -anbau. Voriges Jahr habe er eine tolle Reise durch Kalifornien gemacht, sich die Weingüter angesehen, aber jetzt freue er sich auf Bayonne. Ob man sich mal auf einen Kaffee treffen könne?
Es war ewig her, dass sie so richtig von Herzen gelächelt hatte wie jetzt. Henri war mindestens zehn Jahre jünger als sie, baggerte sie aber fröhlich an. Irgendwie schmeichelhaft, dachte sie, und sehr französisch.
»Tut mir leid«, sagte sie, »ich bleibe nicht in Bayonne, ich reise weiter.«
»Dommage. Es wäre nett gewesen, dich auf einen Kaffee wiederzusehen. Vielleicht ein andermal. Wo kommst du eigentlich her?«
»Provence.« Als Kind hatte sie in der Nähe von Marseille gelebt.
»Wir haben mal Familienurlaub in Cannes gemacht«, sagte Henri. »Leider kann ich mich kaum mehr daran erinnern.«
»Cannes ist hübsch«, sagte Imogen, »allerdings sehr bling-bling.«
Er lachte über ihre englische Formulierung. Und sie lächelte wieder.
Gegen Mitternacht erreichten sie endlich die Endhaltestelle Bayonne. Der Bus hielt auf einem Parkplatz in der Nähe des Bahnhofs. Vor einer Stunde hatte es aufgehört zu regnen, der Himmel über Aquitanien war wie leergefegt. Sämtliche Fahrgäste gerieten in Bewegung, nur Imogen blieb sitzen. Während ihrer Unterhaltung mit Henri hatte sie sich spürbar entspannt, jetzt plötzlich zitterten ihre Hände wieder. Die letzten elf Stunden, während der Bus quer durchs Land fuhr, hatte sie in seinem Blechkokon Schutz und Geborgenheit gefunden. Jetzt musste sie aussteigen und sich erneut der Welt stellen. Und zwar ganz allein. Es gab niemand, der ihr sagte, was sie zu tun hatte, ihr alles abnahm, alles für sie organisierte. Niemand, der sie bei ihrem PLAN unterstützte.
»Lässt du mich bitte raus, Jen?« Die Betriebsamkeit ringsum hatte Henri, der vor einem Weilchen eingeschlafen war, aufgeweckt.
»Klar.« Sie stand auf. »Viel Spaß in den Weinbergen.«
»Viel Spaß im Urlaub. Wenn du wieder durch Bayonne kommst, melde dich doch.«
»Ohne Handy?«, rief sie ihm in Erinnerung.
»Ich wohne im Bernard Noble«, sagte er. »Schau einfach vorbei.«
Bereits jetzt wusste Imogen, dass sie das nicht tun würde.
Sie stieg nach ihm aus. Während sie darauf wartete, dass der Busfahrer das restliche Gepäck aus dem Stauraum wuchtete, winkte sie Henri, der schwer bepackt mit seinem Rucksack davonstapfte. Ihr silbergrauer Koffer wurde als einer der letzten ausgeladen. Sie packte den Teleskopgriff und sah sich um. Die Gebäude rund um den Parkplatz waren typisch französisch, die noch sonnenwarmen Backsteine von Straßenlaternen beleuchtet, vor den geschlossenen Fensterläden gusseiserne Balkone.
Imogen hatte sich die Lage des Hotels, in dem sie hoffentlich ein Zimmer bekam, eingeprägt und überquerte, nachdem sie sich orientiert hatte, die Straße und bog in eine schmale Seitenstraße ein. An der Ecke winkte ihr die dunkelgrüne Markise mit dem Hotelschriftzug zu. Vor dem Eingang des Backsteingebäudes zögerte sie. Weil sie als Studentin keine der üblichen Reisen gemacht hatte, hatte sie noch nie in einer Jugendherberge übernachtet.
Sie zog die Glastür auf. Drinnen war es sauber und frisch renoviert, der Boden schwarz-weiß gefliest. Eisenplastiken schmückten die nackten Wände. Hinter der kleinen Rezeptionstheke saß eine Frau mittleren Alters, die völlig in ihre Lektüre versunken war. Sie sah erst auf, als Imogen direkt vor ihr stand und sich räusperte.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Äh …«
Du kommst ohne mich doch gar nicht zurecht.
Imogen wirbelte herum, felsenfest überzeugt, dass er hinter ihr stand. Doch da war niemand.
»Mademoiselle?«
Du kriegst es sowieso nicht auf die Reihe. Das weißt du ganz genau.
»Ich … ich hätte gern ein Zimmer.«
Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie auf die Frage wartete, warum sie mitten in der Nacht hier auftauche, allein, ohne ihn. Und wo sie hinwolle. Und was sie vorhabe. Und …
»Wie viele Nächte?« Die Frau klang gelangweilt.
»Nur eine.« Imogens Stimme war ein Flüstern. Sie räusperte sich und sagte noch einmal, diesmal lauter: »Nur eine.«
Die Frau nahm eine Keycard, die sie kodierte und Imogen reichte.
»Premier étage, mademoiselle.«
Ob sie wohl deshalb wieder mit Mademoiselle statt mit Madame angeredet wurde, weil sie in einer Jugendherberge abgestiegen war? Imogen warf einen kurzen Blick auf den nackten Ringfinger ihrer linken Hand, ehe sie mit ihrem Koffer die Treppe hochging. Vor dem Zimmer blieb sie stehen. Beim ersten Versuch funktionierte die Keycard nicht.
Du kommst ohne mich nicht zurecht.
Die Karte fiel ihr aus der Hand und es dauerte eine Weile, bis sie das Plastikstück aufgehoben hatte, das sich nicht fassen lassen wollte. Endlich steckte sie den Schlüssel mit zitternden Fingern richtig herum ein, das Licht leuchtete grün auf und die Tür öffnete sich.
Das Zimmer war eine angenehme Überraschung. Die Wände waren elfenbeinfarben, einige gerahmte Blumendrucke verbreiteten eine fröhliche Atmosphäre. Die Matratze des Einzelbetts war erstaunlich hart. Die Fenstertür, vor der sich ein duftiger Vorhang bauschte, führte auf ein winziges Balkönchen, von dem man auf die Straße blickte. Imogen zog die grünen Fensterläden zu. Außer dem Bett bestand das Mobiliar lediglich aus einem schmalen, hohen Schrank mit vielen Fächern. Daneben hing ein großer Spiegel. Das Bad (aus diesem Grund hatte sie ein Einzelzimmer in dem Hostel gewählt, denn egal, was sonst kommen mochte, sie würde keinesfalls mit anderen das Bad teilen) verfügte über Dusche, Toilette und ein Waschbecken, neben dem zwei dunkelgrüne Handtücher hingen. Auch wenn es hier an Luxus fehlte, alles war picobello sauber.
Und leer. Im tiefsten Inneren hatte sie damit gerechnet, dass er hier auf sie warten würde. Zutiefst erleichtert ließ sich Imogen auf die Bettkante sinken. Ihr Atem ging stoßweise. Aus Angst, sie könnte ohnmächtig werden, beugte sie sich nach vorn und nahm den Kopf zwischen die Knie.
»Ich bin eine starke Frau, die ihr Leben im Griff hat«, murmelte sie vor sich hin. »Ich komme allein zurecht.«
Aber sie glaubte nicht so recht daran.
Immer wieder hatte er ihr eingetrichtert, Planung und Organisation seien nicht ihre Stärke und ohne ihn versinke ihr Leben im völligen Chaos. Es traf absolut zu, dass sie zu den Menschen gehörte, die hofften, alles werde sich schon zum Besten wenden, und sich nicht im Voraus um alle möglichen Eventualitäten kümmerten. Aber sie hatte akribisch zwei Jahre lang ihren PLAN geschmiedet, dessen Stärke seine Flexibilität war, so dass sie ihn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in die Tat umsetzen konnte. Als es so weit gewesen war, war sie bereit gewesen, hatte sie doch alles tausendmal im Geiste durchgespielt. Aber selbst während sie ihren Koffer packte, der Handgepäckgröße hatte — es war ihr völlig egal, dass sie die meisten ihrer Habseligkeiten zurücklassen musste —, hatte sie nicht wirklich an die Umsetzung des PLANS geglaubt, hatte sich dies nicht zugetraut. Ihr war der Teil ihres Ichs abhandengekommen, der eigenständige Entscheidungen traf, und sie war sich nicht sicher, ob sie ihn wiederfinden würde.
Vince hatte sie am Flughafen in Dublin abgesetzt und gesagt, sie solle sich amüsieren, obwohl er alles andere als begeistert über ihre Reise war.
»Ich muss aber nach Paris«, hatte sie sich verteidigt, als er verkündete, das Ganze sei doch garantiert reine Zeitverschwendung. »Das gehört zu meinem Job.«
»Letztes Jahr aber nicht«, begehrte er auf.
»Letztes Jahr hatte Conor auch kein gebrochenes Handgelenk«, entgegnete sie. »Er konnte auf der Messe selber fotografieren und sich Notizen machen. Diesmal nicht.«
»Ich begreife nicht, warum ausgerechnet du nach Paris musst.«
»Weil ich seine Assistentin bin«, erinnerte sie ihn.
»Solltest du dann nicht vielmehr im Büro die Stellung halten?«
»Das kann ich in Paris auch übers Handy machen.«
»Mir gefällt es gar nicht, dass du ohne mich fährst«, wiederholte er. »Vor allem, wenn du mit einem anderen Mann reist — einem, mit dem du nicht verheiratet bist.«
»Sei nicht albern.« Keinesfalls durfte sie ihre Angst zeigen, verfiel daher auf einen unbekümmerten Tonfall. »Ich kann dich wohl schlecht mitnehmen und außerdem wird zwischen Conor und mir alles völlig züchtig ablaufen. Herr im Himmel, er ist verheiratet!«
»Das zeigt nur, wie grenzenlos naiv du bist«, entgegnete Vince. »Sein Ehering wird ihn garantiert nicht daran hindern, in einer Lagerhalle über dich herzufallen.«
»Wir besuchen keine Lagerhallen«, klärte sie ihn auf, »wir werden uns die ganze Zeit über auf dem Messegelände aufhalten.«
»Dann wird er eben im Hotel übergriffig.«
»Sollte er das tun — was höchst unwahrscheinlich ist —, werde ich ihn daran erinnern, dass er eine Frau hat«, sagte Imogen.
Damit war Vince nicht zufriedengestellt, das war ihr klar, aber ihm waren die Hände gebunden. Ob sie ihren Pass und die Bordkarte habe, fragte er, als sie ausstieg. Als sie aus dem Auto stieg, erkundigte er sich nochmals, ob sie ihren Pass und die Bordkarte habe. »Geld wirst du so gut wie keins brauchen«, fügte er hinzu, »geht ja schließlich alles auf Spesen.«
Er stieg aus und ging ums Auto herum. »Pass auf dich auf.«
»Mach ich.«
»Wenn du was brauchst, ruf mich an.«
»Was soll ich denn brauchen?«
»Wenn doch, ruf einfach an. Zu jeder Tag- oder Nachtzeit.«
»Okay.«
»Ich liebe dich.«
»Ich dich auch.«
Er küsste sie.
Im Flughafengebäude stellte sie beim Blick zurück fest, dass Vince ihr nachsah. Doch als sie im Abflugbereich anlangte, war er bereits weggefahren.
Nach dem Sicherheitscheck machte sich Imogen auf die Suche nach einem Bankautomaten, hob den höchstmöglichen Betrag von ihrem gemeinsamen Girokonto ab und überprüfte anschließend den Stand des anderen Kontos. Ihres Kontos. Von dem er nichts wusste.
Auf diesem Konto gab es drei Einzahlungen. Alle stammten von ihrer Firma, Boni vom Pariser Mutterhaus. Sie hatte es einfädeln können, dass ihr die Dubliner Buchhaltung die Gratifikationen separat überwies. Annie Costigan, die Buchhalterin, hatte sie neugierig gemustert.
»Aber wir haben deine Kontoverbindung doch abgespeichert«, sagte sie.
»Das ist unser gemeinsames Konto«, erklärte Imogen. »Ich möchte den Bonus auf mein Konto überwiesen haben.«
»Soll ich nicht gleich dein Gehalt auf dein Konto überweisen?«, fragte Annie. »Anschließend könntest du eine Dauerüberweisung für euer gemeinsames Konto einrichten …« Imogens Gesichtsausdruck ließ sie verstummen.
»Mir wäre es so lieber«, sagte Imogen. »Bitte, Annie.«
Mit über der Tastatur schwebenden Fingern zögerte Annie.
»Zu Hause alles in Ordnung, Imogen?«, fragte sie
»Selbstverständlich«, antwortete Imogen scharf. »Bestens. Es ist nur so … Vince hat bald Geburtstag und ich möchte ihn mit einem Geschenk überraschen. Aber die Überraschung ist perdu, wenn er die Abbuchung auf dem Auszug sieht.«
»Ach so.«
»Und was die Gehaltsüberweisung auf mein Konto betrifft, das könnte ich natürlich machen, aber wir haben für unsere beiden Gehälter ein gemeinsames Konto vereinbart, daher —«
»Na gut«, meinte Annie, »ich richte das für dich ein.«
Imogen bedankte sich.
Nicht dass die Boni, die sie erhielt, schwindelerregende Summen gewesen wären. Das war selbst für so hingebungsvolle Assistentinnen, wie sie laut Conor eine war, nicht drin. Aber für den Anfang reichte es. Es reichte, um aus dem PLAN mehr als ein liebgewordenes Hirngespinst zu machen. Um ihn in die Tat umzusetzen. Zumindest bis hierher. Sie ließ sich auf das Bett zurückfallen und schloss die Augen. »Beinahe geschafft«, sagte sie leise, »beinahe geschafft.«
Am nächsten Morgen um halb sieben schlug Imogen die Augen auf und war hellwach, obwohl es einen Moment dauerte, bis sie begriff, dass sie nicht in Dublin war. Und auch nicht in Paris. Dass sie den PLAN tatsächlich in Angriff genommen hatte. Adrenalin rauschte durch ihren Körper und sie setzte sich auf. Überrascht stellte sie fest, dass sie immer noch ihr dunkelblaues Kostüm trug. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals angezogen eingeschlafen zu sein.
Sie öffnete die Fensterläden, ließ einen bleichen Streifen Morgenlicht durch den Vorhang herein. Anschließend zog sie sich aus, ging ins Badezimmer und stellte sich, damit ihr Haar nicht nass wurde, mit seitlich geneigtem Kopf unter die lauwarme Dusche; im Hostel Auberge gab es nämlich keine Duschhauben und sie selbst hatte nicht daran gedacht. Ein fehlendes Detail im PLAN, aber das war verkraftbar. Sie stieg aus der Dusche, trocknete sich mit einem der dünnen, grünen Handtücher ab und zog sich ein einfaches T-Shirt und ausgebleichte Jeans an. Dann betrachtete sie sich im Spiegel.
In ihrem blassen Gesicht wirkten die braunen Augen riesig. Das mokkafarbene Haar hatte die Dusche überlebt, ringelte sich um ihre Ohren. Sie konnte es immer noch nicht ganz fassen, bis gestern war es lang und üppig gewesen, glänzende Lockenkaskaden wie aus einer Shampoowerbung. Jetzt trug sie einen knapp schulterlangen Bob. Imogen erkannte sich selbst kaum wieder. Was durchaus zu begrüßen war. Sie wollte nicht erkannt werden, deshalb hatte sie das Haar abgeschnitten. Ihre Swarovski-Ohrringe, ein Geschenk ihres Stiefvaters zum einundzwanzigsten Geburtstag, kamen mit dem neuen Schnitt besser zur Geltung. Die winzigen Strasssteine funkelten in Sonnenlicht, das mittlerweile energisch durch das Fenster strömte.
Mit einer getönten Feuchtigkeitscreme rückte sie ihrer Blässe zu Leibe, sprühte anschließend ihr Parfum von Nina Ricci auf Hals und Handgelenke. Dann legte sie das Kostüm zusammen und packte es in den Koffer, nachdem sie kurz mit dem Gedanken gespielt hatte, es zurückzulassen. Auch wenn es unwahrscheinlich war, vielleicht würde man sich an sie erinnern, wenn sie es im Schrank zurückließ. Außerdem könnte sie das Kostüm, wenn alles wie am Schnürchen lief, für ein Vorstellungsgespräch benötigen. Sie zog den Reißverschluss des Koffers zu, schlüpfte in ihre Ballerinas und verließ das Zimmer.
Bis zur Haltestelle war es ein zwanzigminütiger Fußmarsch, doch da der nächste Bus erst in einer Stunde fuhr, setzte sich Imogen — ein ungePLANter Schlenker — in ein Straßencafé, das bereits geöffnet hatte und duftenden Kaffee und diese heißen, bröselnden Croissants servierte, die schmeckten, wie sie nur in Frankreich schmecken. Das Frühstück in Kombination mit der Sommersonne, die am klaren blauen Himmel strahlte, hatte eine belebende Wirkung. In der Ferne entdeckte Imogen zum ersten Mal die grün-violetten Gipfel der Pyrenäen.
Nachdem sie gezahlt hatte, kaufte sie sich eine Fahrkarte. Der Bus stand bereits an der Haltestelle, und Imogen eilte über das unebene Pflaster, denn sie durfte ihn unter keinen Umständen verpassen. Zwar fuhren später auch noch Busse, aber es war wichtig, dass sie sich haargenau an den PLAN hielt. Genauigkeit war ihr Sicherheitsnetz, gab ihr die Selbstsicherheit, um die sie ständig rang, bewies, sie konnte den PLAN umsetzen.
Die Fahrgäste bildeten eine bunte Mischung aus Alt und Jung, Pendlern und Urlaubern, darunter etliche Studenten, wie Henri mit Rucksack unterwegs und ständig übers Handy gebeugt.
Welche Nachrichten auf ihrem Smartphone wohl mittlerweile aufgelaufen waren, fragte sich Imogen.
Was zum Teufel ist los mit Dir? Warum antwortest Du nicht auf meine SMS?
Hast Du vergessen, Deinen Akku aufzuladen?
Habe versucht, Dich anzurufen. Verdammt noch mal, Imogen, Du bist ein hoffnungsloser Fall.
Bin jetzt im Meeting. Und extrem angekotzt. Wir reden später.
Natürlich war der Reisebus bequemer gewesen, aber die Fahrt war wunderschön, sogar das Teilstück quer durch Bayonne bis zur Küste. Imogen lehnte den Kopf gegen das Fenster und sah hinaus auf das dunkle Blau des Atlantiks. Dann nahmen sie Kurs aufs Landesinnere, kamen an sanften Hügeln vorbei, die Imogen an Irland erinnerten, ehe die hohen Berge auftauchten. Auch die Häuser waren anders, wirkten mit ihren flachen Satteldächern mit den breiten Traufen recht alpenländisch. Wie sie wohl schneebedeckt aussahen, fragte sich Imogen. Nachdem sie aus der Provence weggezogen waren, hatten sie eine Weile hier gelebt, an Schnee konnte sie sich allerdings nicht erinnern. Sowieso war ihre Erinnerung eher bruchstückhaft. Ob sie wohl etwas wiedererkennen würde, wenn sie ankam? Wenn nicht, auch egal. Sie hatte den Blick fest auf die Zukunft gerichtet, ließ die Vergangenheit hinter sich.
Knapp zwei Stunden später erreichte der Bus die am Fuße der Pyrenäen gelegene Küstenstadt Hendaye. Auf den ersten Blick kam Imogen nichts vertraut vor, aber sie war auch schon lange nicht mehr in dem Ort gewesen, den sie früher einmal Heimat genannt hatte. Um ehrlich zu sein, war der Begriff Heimat für sie nur schwer fassbar. Sie wusste nicht, ob sie Irin, Engländerin oder Französin war, wusste nicht, wohin sie gehörte. Deshalb war es so wichtig für sie gewesen, Wurzeln zu schlagen.
Vince hatte ihr das Gefühl gegeben, dass sie zu ihm gehörte, in Dublin sicher verankert war. Aber dieses Gefühl war verschwunden. Und deshalb senkte sich schließlich die Waagschale zugunsten eines Aufbruchs und sie hatte den PLAN in Angriff genommen.
Imogen hatte das französische Baskenland als Ziel gewählt, weil sie früher hier glücklich gewesen war und schon lange wieder einmal hatte herkommen wollen. Hauptsächlich aber, weil kaum jemand in ihrem Umfeld wusste, dass sie hier einen Teil ihres Lebens verbracht hatte. Wenn sie von ihrer Zeit in Frankreich sprach, erzählte sie von Paris, von der Provence. Hendaye wurde nie erwähnt, sonst wäre womöglich gefragt worden, warum sie und Carol weggezogen waren, und darüber wollte sie nicht sprechen. Bei Paris und der Provence musste sie nichts erklären, zudem handelte es sich um Ecken Frankreichs, die fast jeder kannte.
Der Bus hielt in der Nähe des Bahnhofs. Als sie mit ihrem Koffer auf dem Gehweg stand, musste Imogen daran denken, dass Vince über ihre Zugphobie gelacht hätte. Hier in diesem sonnenübergleißten Baskenstädtchen mit seiner Postkartenidylle kamen ihr die Befürchtungen der letzten Tage völlig irrational vor. Doch die beiden Busreisen waren ein wichtiger Bestandteil des PLANS gewesen und dessen buchstabengetreue Befolgung eine große Beruhigung.
Vince war weniger besorgt als vielmehr verärgert, dass Imogen ihm am Abend zuvor keine SMS geschickt hatte, obwohl er sie darum gebeten hatte. Die App der Fluggesellschaft hatte ihm die Verspätung ihres Flugs mitgeteilt, Imogen war also erst nach Mitternacht in Dublin gelandet. Bestimmt war sie nach Hause gefahren und hatte gedankenlos wie sie war — obwohl er schwer daran gearbeitet hatte, dieses Charakterdefizit auszugleichen —, das Handy unten zum Laden eingesteckt, bevor sie zum Schlafen nach oben gegangen war. Obwohl es zu diesem Zeitpunkt fast ein Uhr nachts war, hatte er sie angerufen, war aber direkt auf der Mailbox gelandet. Auch über ihre Ansage hatte er sich geärgert: »Hi, Imogen hier. Momentan befinde ich mich auf Geschäftsreise. Hinterlassen Sie eine Nachricht und ich melde mich, sobald ich zurück bin.« Sie hörte sich an, als wäre sie eine erfolgreiche Führungskraft und nicht Conor Foleys Mädchen für alles. Und das in einem Unternehmen, bei dem es hauptsächlich um Waschmaschinen und Gefrierkombinationen ging. Aber er wusste, wie gern sie sich für ein wichtiges Rädchen im Getriebe von Chandon Leclerc hielt und wie sie sich auf Paris gefreut hatte, obwohl er sie gewarnt hatte, Geschäftsreisen seien alles andere als spektakulär. Zudem sei sie mehr oder weniger auf dem Messegelände eingesperrt und habe keinerlei Zeit, ihre Lieblingsecken zu besuchen.
Ihr war es egal gewesen. Vor lauter Begeisterung war sie ganz zappelig, allerdings, je näher die Reise rückte, immer ruhiger geworden und hatte am Flughafen beinahe nervös gewirkt, als sie aus dem Auto stieg. Vielleicht hatte sie ihre Lektion gelernt, dachte Vince, und würde sich zukünftig nicht mehr darum reißen, ihren Boss auf Geschäftsreisen zu begleiten.
Als er sie frühmorgens im Hotel in Cork noch vor seiner ersten Sitzung, die um sieben Uhr anfing, anrief, begrüßte ihn dieselbe nervtötende Ansage. In der Nacht hatte er keine Nachricht hinterlassen, denn sie würde seinen verpassten Anruf ja sehen. Doch sie hatte sich nicht gemeldet. Auf dem Rückweg nach Dublin rief er sie ein drittes Mal an und landete erneut bei der Mailbox. Wenig erstaunlich, schließlich war es in dem Gewerbegebiet, in dem sich Bürogebäude und Lagerhalle von Chandon Leclerc befanden, um den Mobilempfang zappenduster bestellt. Wie oft hatte Imogen geklagt, die Lage sei geschäftsschädigend, weil ihre Kunden nicht telefonieren konnten.
Er fuhr auf die Autobahn, stellte den Tempomat auf 110 Stundenkilometer und versuchte es wieder. Aus den Lautsprechern drang die gleiche enervierende Ansage und wutschnaubend würgte er sie ab. Sie begibt sich wirklich und wahrhaftig auf ganz dünnes Eis, dachte er, meine Geduld derart auf die Probe zu stellen. Imogen war gedanken- und rücksichtslos — wie immer.
Vince umklammerte das Lenkrad. Das ist das Problem mit Imogen, schäumte er innerlich. Gedankenlos und rücksichtslos. Egal, wie sehr ich mich bemühe, ihr durch ein paar Regeln und Routineabläufe Vernunft beizubringen, damit Ruhe in unser Leben kommt, vermasselt sie mit Sicherheit früher oder später irgendwas.
Hinterher entschuldigte sie sich immer, das musste er ihr zugestehen. Sagte, sie tue ihr Bestes. Und dann versuchte sie ihm einzureden, es sei weder Gedanken- noch Rücksichtslosigkeit, sondern sie sei eben von Natur aus schusselig, weshalb ihr ständig Missgeschicke unterliefen.
Natürlich hätte er gewarnt sein müssen. Sie hatten sich kennengelernt, weil Imogen nicht nur gedankenlos, sondern auch bodenlos optimistisch war — in einem Pub mitten in der Stadt, einem höchst unwahrscheinlichen Ort, denn wie sich herausstellte, gingen beide weder oft in den Pub, noch tranken sie besonders viel Alkohol. Imogen hatte Zuflucht vor dem Regen gesucht, denn es schüttete wie aus Kübeln, und kam mit mehreren Leuten hereingestürzt, die die gleiche Idee gehabt hatten. Sie stand im Pub und schüttelte sich die Regentropfen aus dem glänzenden, dunklen Haar.
»Bisschen feucht draußen, was?«, hatte er gesagt und sie sah ihn überrascht an.
»Feucht, was?«, wiederholte er, während er seine Zeitung zusammenlegte.
»Ein klein wenig.« Sie lächelte. »Ehrlich gesagt, wasserfallfeucht trifft es eher.«
»Die Wettervorhersage für heute lautete Platzregen mit gelegentlichen Aufheiterungen. Sie hätten einen Regenschirm mitnehmen sollen.«
Sie lächelte schief und auf ihren Wangen zeigten sich Grübchen. »In Irland achte ich nie auf die Wettervorhersage — entweder scheint die Sonne und es regnet vielleicht oder es regnet und die Sonne kommt vielleicht heraus.«
»Also sollten Sie auf alle Fälle einen Schirm mitnehmen.«
»Ich bin Optimistin.« Diesmal lächelte sie strahlend. »Ich bilde mir gern ein, dass ich nur dann rausmuss, wenn die Sonne scheint.«
»Hoffnung schlägt Erfahrung«, sagte er, »ganz und gar nicht meine Herangehensweise.«
»Manchmal bin ich übertrieben optimistisch«, gab sie zu.
»Für alles gewappnet sein, aber trotzdem das Beste hoffen, ist mein Motto«, meinte er und fragte, ob er ihr etwas zu trinken holen könne.
»Danke nein. Sobald es aufgehört hat, bin ich wieder draußen.«
»Und wie wär's mit einem Kaffee zum Aufwärmen?«
Sie zögerte.
»Ohne jegliche Hintergedanken«, versicherte er ihr. »Nur einen Kaffee.«
»Ich kann nicht —«
»Ich bestelle mir auch einen.«
»Ich kann wirklich nicht —«
»Es ist doch nur ein Kaffee. Ist Ihnen ein Cappuccino recht?« Er rief die Bestellung einem vorbeilaufenden Kellner zu und räumte anschließend seine zusammengefaltete Zeitung weg, damit Imogen am Tisch Platz hatte.
»Nicht dass ich besonders häufig allein im Pub sitze und Kreuzworträtsel löse«, erklärte er, »aber da meine Heizung streikt und nicht vor morgen repariert wird, fand ich es angenehmer, den Abend hier zu verbringen.«
»Gute Idee.«
Der Kellner brachte die Getränke und Vince zahlte sofort.
»Vince Naughton«, stellte er sich vor.
»Imogen Weir.«
»Schön, Sie kennenzulernen, Imogen.«
»Ebenso. Danke für den Cappuccino.«
»Gern.«
Sie ist sehr hübsch, dachte er. Ihm gefiel ihre südländische Ausstrahlung — leicht olivfarbene Haut, dunkle Augen, dunkle Haare, Kussmund.
»Was machen Sie beruflich, Imogen?«, fragte er.
»Derzeit bin ich auf Jobsuche«, antwortete sie etwas zugänglicher und umfasste die Tasse mit beiden Händen. »Ich war Assistentin bei einem Professor für Europäische Geschichte, den ich bei seinen Forschungsarbeiten unterstützt habe, aber letzten Monat lief mein Vertrag aus. Hoffentlich finde ich bald eine neue Stelle, aber Sie wissen ja, wie die momentane wirtschaftliche Lage ist. Trotzdem, ich bin optimistisch.«
»Europäische Geschichte.« Er klang beeindruckt. »Haben Sie auch einen Doktortitel?«
»Großer Gott, nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, ich bin auf der Suche nach einem neuen Job. Heute hatte ich ein Vorstellungsgespräch.«
»Hoffentlich für eine interessante Stelle?«
»Eigentlich nicht«, gestand sie. »Die Vertriebszentrale eines französischen Unternehmens sucht jemand für Verwaltung und Koordination. Nicht gerade die glanzvolle Karriere, aber Not kennt kein Gebot etc.«
»Stimmt, hört sich nicht besonders aufregend an«, meinte er. »Andererseits weiß man ja nie.«
»Zumindest könnte ich mich damit über Wasser halten«, sagte sie. »Und Sie? Was machen Sie?«
»Ich arbeite bei einer Lebensversicherung.«
»Tja, irgendjemand muss diesen Job ja machen«, witzelte Imogen.
»Lebensversicherungen sind sehr wichtig«, wies er sie zurecht. »Jeder sollte für seine Angehörigen vorsorgen.«
»Sie haben Recht.« Auf ihren Wangen erschienen wieder die Grübchen und er überlegte, ob sie innerlich über ihn lachte. Aber wenn, störte es ihn nicht. Alle lachten über Lebensversicherungen. Bis der Notfall eintrat.
»Noch einen?«, fragte er, als sie ihren Cappuccino ausgetrunken hatte.
»Nein, danke. Ich glaube, der Regen hat nachgelassen. Ich sollte los.«
»Haben Sie es weit? Steht Ihr Auto in der Nähe oder fahren Sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln?«
»Ich nehme den Bus, die Haltestelle ist gleich um die Ecke.«
»Da ich immer auf die Wettervorhersage höre, habe ich einen Regenschirm dabei. Ich bringe Sie.«
»Nicht nötig.«
»Ich sollte ebenfalls los. Schließlich möchte ich nicht den ganzen Abend im Pub verbringen.«
Sie brachen gemeinsam auf. Mittlerweile war aus dem Regenschauer ein Nieseln geworden. Vince spannte seinen Schirm auf, auf dem das Logo seiner Versicherung prangte, und hielt ihn hoch, während sie zur Bushaltestelle gingen.
»Fünf Minuten, dann kommt der nächste«, sagte Imogen nach einem Blick auf den Abfahrtsmonitor.
»Ich warte mit Ihnen.«
»Das ist sehr nett von Ihnen, aber das brauchen Sie nicht.«
»Ich möchte nicht, dass Sie völlig durchnässt werden.«
Schweigend warteten sie unter dem Regenschirm und spähten in die Richtung, aus welcher der Bus kommen sollte.
»Da ist er«, rief Imogen schließlich.
»Müssen Sie anschließend noch weit laufen?«
»Eigentlich nicht, nur ein paar Minuten.«
»Nehmen Sie den Schirm.«
»Das kann ich unmöglich —«
»Bitte, Imogen, mir zuliebe.«
»Aber dann werden ja Sie ganz nass.«
»Egal. Sie können mir den Schirm irgendwann zurückgeben.«
»Ich —«
»Ich würde Sie gern wieder auf einen Kaffee treffen«, sagte er, während er sein Handy herausholte. »Lassen Sie uns Telefonnummern austauschen.«
»Ähm —«
»Ganz unverbindlich, ehrlich. Wenn nichts draus wird, auch kein Problem.«
Imogen zögerte kurz, ehe sie ihm ihre Nummer gab. Er speicherte sie ab und schickte ihr eine SMS.
»Ich melde mich bei Ihnen«, versprach er, als der Bus neben ihnen hielt.
Sie stieg ein und er beobachtete, wie sie Platz nahm. Der Bus fuhr an und Vince winkte. Als sie zurückwinkte, lächelte er.
Wie für Bayonne hatte sich Imogen, bevor sie Paris verließ, mit ihrem Smartphone hinsichtlich günstiger Übernachtungsmöglichkeiten in Hendaye schlaugemacht, allerdings nichts gebucht, denn sie wollte im Internet keine Spuren hinterlassen. (Weitere Anzeichen von Verfolgungswahn, dessen war sie sich bewusst. Vielleicht hatte Vince mit seiner Einschätzung ihrer Persönlichkeit doch Recht.) Die meisten der günstigen Hotels lagen etwas außerhalb, aber sie brauchte eine Unterkunft, die in der Nähe des Stadtzentrums war, damit sie sich nach einer anderen — zumindest vorübergehend — festen Bleibe umsehen konnte. Sie wusste nicht, wie lange sie in Hendaye bleiben würde, in dieser Hinsicht war der PLAN eher vage.
Imogen ließ die Bushaltestelle hinter sich. Das kleine Hotel, das sie ausgewählt hatte, lag ungefähr fünfzehn Minuten entfernt in einem Wohngebiet. Im Internet hatte sie übersehen, wie steil die Straße anstieg, und als sie schließlich vor dem Hotel stand, war sie ordentlich außer Puste. Erneut überkam sie die Panik, er könnte sie überlistet haben und im Foyer auf sie warten. Wenn sie doch nur ihr Mobiltelefon behalten, lediglich den Ortungsdienst ausgeschaltet hätte. Dann hätte sie wenigstens seine SMS gesehen. Aber hätte er dann mitbekommen, ob sie die gelesen hatte? Hätte er sie mit ihrer Hilfe aufspüren können? Bei diesen Dingen war sie sich nie ganz sicher. Unentschlossen stand sie auf dem Gehweg, beobachtete die Menschen, die das Hotel betraten oder verließen. Als sie nach einigen Minuten bemerkte, dass sie neugierig beäugt wurde, lief sie den kurzen Weg zum Hotel hoch und ging hinein.
Das Atlantique war ein dreistöckiges, weißes Gebäude mit den für die Gegend typischen roten Fensterläden und Balkonen. Die Wände drinnen waren ebenfalls weiß, der Boden aus Terrakotta. Das Hotel war größer und heller als das Hostel Auberge, verströmte eine entspanntere Atmosphäre. Träge stolzierten zwei schwarz-weiße Katzen durch die Rezeption, wo eine freundliche junge Frau Imogen mitteilte, sie könne ihr für fünf Tage ein einfaches Zimmer anbieten. Fünf Tage seien genau richtig, sagte Imogen und bestand auf Barzahlung im Voraus, sehr zum Erstaunen der Rezeptionistin, die verblüfft die Banknoten entgegennahm, als wäre sie sich nicht sicher, worum es sich dabei handelte. Nachdem die Formalitäten abgeschlossen waren, reichte sie ihr einen altmodischen Messingschlüssel für ein Zimmer im obersten Stock.
Es war größer als das im Hostel Auberge und ging auf einen kleinen Swimmingpool im Garten hinaus, in dem alles in voller Blüte stand. In der Ferne, über die allgegenwärtigen Terrakottadächer hinweg, konnte Imogen das Blau des Meeres erspähen. Es gab keine Klimaanlage, aber durch die offenen Fenster wehte eine kühle Brise herein. Sie machte sich ans Kofferauspacken. Während sie ihr dunkelblaues Kostüm in den Schrank hängte, ergriff sie leichte Panik hinsichtlich ihrer finanziellen Lage.
Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass du innerhalb von fünf Tagen eine Arbeitsstelle und eine Wohnung findest!
Sie wirbelte herum. Es war, als stünde er direkt hinter hier.
Herrgott, Imogen, es wird Zeit, dass du endlich zu Vernunft kommst. Du benimmst dich hochgradig schwachsinnig.
Vielleicht hatte er Recht. Sie ließ sich in den alten Ledersessel sinken, der in der Zimmerecke stand. Bisher hatte sie den PLAN, der ein Geländer gewesen war, an dem sie sich festhalten konnte, wie im Rausch, wenn auch in einem kontrollierten, in die Tat umgesetzt. Jetzt war sie hier, und plötzlich kam ihr alles unglaublich lächerlich vor. Wenn Vince das wüsste, würde er sie schallend auslachen.
Weglaufen ist keine Lösung.
Diesmal war es wieder die Stimme ihrer Mutter. Imogen erinnerte sich genau, wann und wo sie diesen Satz gesagt hatte. Nicht in Hendaye, sondern in Irland, kurz nach ihrem Umzug dorthin. Ihr war der feuchte, graue irische Winter aufs Gemüt geschlagen, und sie hatte sich mit jedem gezankt, um dann anschließend in ihr Zimmer hochzustaksen mit dem wütenden Protest auf den Lippen, sie werde ausziehen und nie wieder zurückkommen.
Damals war sie neun gewesen.
Sie hatte gerade ein paar T-Shirts und eine rosafarbene Hose in ihren Barbie-Koffer gepackt, da kam Carol herein.
»Wo willst du hin?«, fragte sie.
»Nach Hendaye«, entgegnete Imogen.
»Warum?«
»Weil ich es hier ganz doof finde.«
»Ist es wirklich so schlimm?«
»Ja. Es ist so anders. Alle sind anders. Sie sind gemein zu mir.«
»Agnes und Berthe sind nicht gemein zu dir.«
»Nein, die sind lieb. Aber sonst alle. In der Schule.«
»Mach dir keine Sorgen, du wirst schon noch Freunde finden, wart's nur ab«, sagte Carol tröstend.
»Ich hasse alle«, sagte Imogen. »Ich will nach Hause.«
»Meine Süße, wir sind jetzt hier zu Hause.«
»Nein, das ist nicht wahr. Die Villa Martine ist unser Zuhause.«
»Die Villa Martine war nie unser Zuhause.« Carol drückte sie fest an sich. »Du weißt genau, dass sie Monsieur und Madame Delissandes gehört.«
»Aber wir haben doch ganz lange allein dort gewohnt!«, rief Imogen. »Und dann hast du diesen Fehltritt gemacht und alles kaputtgemacht.«
Noch nachträglich zusammenzuckend erinnerte sich Imogen an den Schmerz im Gesicht ihrer Mutter, als sie ihr diesen Satz entgegenschleuderte. Sie war grausam gewesen, wie nur Kinder grausam sein können. Was in Carol vorging, war ihr egal gewesen. Sie hasste ihr neues Leben an diesem Ort und wollte nichts als weg.
Imogen zog die Beine hoch und legte den Kopf auf die Knie. Ich war ein schreckliches Kind, sinnierte sie. Ich dachte nur an mich. Kein Wunder, dass alles so kam, wie es gekommen ist. Und vielleicht sind die Dinge so, wie sie sind, weil ich immer noch ein schrecklicher Mensch bin.
Ungefähr eine Viertelstunde lang verharrte sie zusammengeringelt auf dem Ledersessel, schaukelte mit um die Beine geschlungenen Armen hin und her. Sie hatte einen Fehler gemacht. Definitiv. Sie kam ohne ihn nicht zurecht. Sie brauchte ihn. Er liebte sie und sie liebte ihn. Sie waren das Traumpaar schlechthin. Alle sagten das. Es war ihre Schuld, wenn die Dinge in Schieflage geraten waren. Wie vor mehr als zwanzig Jahren, als sie das Falsche zur falschen Zeit gesagt hatte. Wenn sie damals den Mund gehalten hätte, wäre vielleicht alles anders gekommen.
Imogen hob den Kopf und griff nach ihrer Tasche. Dann fiel ihr ein, dass sich ihr Mobiltelefon sowieso nicht darin befand und sie ihn gar nicht anrufen, nicht bitten konnte, sie zu holen. Stattdessen nahm sie ein Blatt Papier heraus.
Am schwierigsten ist, sich zum Handeln durchzuringen, las sie. Der Rest ist reine Beharrlichkeit.
Ein Zitat der amerikanischen Flugpionierin Amelia Earhart. Neben einer Fülle von Binsenweisheiten verfügte Carol über einen Fundus aufmunternder Zitate, aus dem sie täglich geschöpft hatte. Diesen Ausspruch von Earhart mochte Imogen am liebsten und hatte ihn in Paris, kurz bevor sie auscheckte, auf einen Bogen Hotelbriefpapier geschrieben, denn sie wusste, es würde Momente der Panik geben und sie früher oder später das Vertrauen in sich verlieren. Sie starrte das Zitat noch eine weitere Minute an, holte dann tief Luft und stand auf. Sie hatte bereits gehandelt. Nun musste sie nur beharrlich bleiben. Sich an den PLAN halten.
Im Bad spritzte sie sich Wasser ins Gesicht, erneuerte ihr dezentes Make-up und bürstete sich die Haare. Allmählich gewöhnte sie sich an die neue Länge. Schließlich ging sie ins Foyer und sah sich um.
»Brauchen Sie einen Stadtplan? Oder Tipps, was Sie unternehmen können?«, fragte die Rezeptionistin fröhlich.
Imogen hatte bereits ablehnen wollen, danke, sie komme zurecht, da kam ihr der Gedanke, ein Stadtplan könnte durchaus nützlich sein, denn es war lange her, dass sie hier gewohnt hatte.
»Gern.« Die Rezeptionistin zeigte ihr auf dem Plan, wo das Hotel war. »Und hier liegt das Stadtzentrum. Da befindet sich die Touristeninformation.« Sie umkringelte einen Punkt. »Und wenn ich sonst noch was für Sie tun kann, melden Sie sich einfach.«
»Das ist sehr nett von Ihnen, vielen Dank«, sagte Imogen.
Innerlich mittlerweile um einiges ruhiger, nahm sie den Stadtplan und trat auf die Straße. Sie sah sich aufmerksam um.
Wie erwartet kam ihr keine der umliegenden Straßen bekannt vor. Als sie hier lebte, hatte sie nur die unmittelbare Umgebung der Villa Martine erkundet. Sie konnte sich nur noch daran erinnern, dass das Haus an einer der spektakulärsten Stellen der Stadt lag, auf einem Hügel oberhalb von Strand und Meer. Wo genau es stand, wusste sie nicht mehr mit Sicherheit, aber bestimmt würde sie das Viertel wiederfinden. An manches erinnerte sie sich nämlich noch ganz deutlich, wie die Eisenbahnbrücke, von der sie so gern hinabgeblickt hatte, und den großen Campingplatz ein Stück weiter unten an der Straße. In Paris hatte sie nach beidem auf Google Maps gesucht und war sich sicher, die richtige Stelle gefunden zu haben. Doch obwohl sie ziemlich lange auf Street View gesucht hatte, fand sie die Villa Martine nicht.
Zwar war das Haus nicht der Grund, weshalb sie nach Hendaye gekommen war, aber sehen wollte sie es trotzdem. Sie wollte sich an die Imogen von damals erinnern, die barfuß, mit im Wind wehenden Haaren den Strand entlanggerannt war. Die Imogen, die völlig erschöpft vom Herumrennen von ihrer Mutter in die Arme genommen und vor Lachen kreischend durch die Luft gewirbelt worden war. Sie wollte eine Verbindung herstellen zu diesem kleinen Mädchen, das vor Selbstbewusstsein nur so strotzte, so voller Urvertrauen in sich und die Welt gewesen war.
Vielleicht war das zu viel verlangt, PLAN hin oder her.
Imogen lief zur Bucht hinunter, wo unter dem klaren, blauen Himmel Hunderte Segelboote auf den glitzernden Wellen tanzten, und wurde von einem Déjà-vu überwältigt, von dem Gefühl, schon einmal von genau dieser Stelle auf genau dieselben Boote gesehen zu haben. Gut möglich, dachte sie. Konnte sie sich tatsächlich daran erinnern oder bildete sie sich nur ein, dass jemand auf die andere Uferseite gezeigt und gesagt hatte, das sei Spanien und nicht mehr Frankreich, ein völlig anderes Land mit einer völlig anderen Sprache?
»Aber auch das ist Teil des Baskenlandes«, hatte jemand gesagt. War es Madame gewesen? Oder Monsieur Delissandes selbst? Er war baskischer Abstammung, daran konnte sie sich noch erinnern, weswegen seine Familie die Sommer immer hier verbrachte. Wem hatte das Haus gleich noch gehört, überlegte sie stirnrunzelnd. Er hatte das Haus von seinen Großeltern geerbt. Oder war es eine Großtante gewesen? Jeden Sommer waren über dieses Thema ausgiebige Gespräche geführt worden, an die sie sich aber nicht im Detail erinnern konnte.
Während sie über das Wasser blickte, kamen immer mehr verschüttete Erinnerungen hoch, auch wenn sie nicht sicher war, ob diese Ereignisse tatsächlich stattgefunden hatten. Sie meinte sich eines Ausflugs auf einem der Segelboote entsinnen zu können. Olivier, Charles und sie trugen neonorangefarbene Schwimmwesten und lehnten sich über den Bootsrand, während Carol sie ängstlich im Auge behielt und Monsieur Delissandes mit den Segeln hantierte. Hatte sich das tatsächlich ereignet? Imogen war sich fast sicher.
Aber sie war sich ganz sicher, dass sie über den langgezogenen Strand gerannt waren, der vor ihr lag. Imogen konnte sich ganz genau daran erinnern, wie sie sich abgemüht hatte, mit den Delissandes-Jungen mitzuhalten, ein Ding der Unmöglichkeit, da beide älter und kräftiger waren als sie. Carol hatte vorgeschlagen, Imogen solle beim Wettrennen einen Vorsprung bekommen. Sie weigerte sich, wollte die beiden fair schlagen — was ihr nie gelungen war. Immer hatte sie verloren. Meistens hatte Olivier gewonnen, auch wenn er gelegentlich zum Schluss langsamer wurde, damit sein jüngerer Bruder ihn überholen konnte. Charles warf dann in Siegerpose die Arme hoch und hüpfte aufgeregt im Sand herum, während Olivier ihn belustigt beobachtete. Manchmal fragte Imogen sich, ob Olivier sie hätte gewinnen lassen, wenn es ihr gelungen wäre, Charles zu überholen. Sie hatte so ihre Zweifel. Die Rivalität zwischen ihnen war von anderem Kaliber als die zwischen den Brüdern.
Der Strand war voller Touristen. Männer rammten Sonnenschirmstangen in den Sand, während die Kinder sich juchzend ins Wasser warfen. Ein Urlaubsort wie jeder andere. Aber sie hatte hier gelebt. Egal wie fragmentarisch und unzuverlässig ihre Erinnerungen: Sie war fast fünf Jahre lang Teil dieser Stadt gewesen und hatte bleiben wollen.
Sie schlenderte den Boulevard de la Mer entlang, betrachtete mal das Meer, mal die Häuser auf der anderen Straßenseite. Zwar rechnete sie nicht damit, die Villa Martine zu sehen, hielt aber trotzdem die Augen offen.
»Herrschaftszeiten!« Imogen war selbst von ihrem Ausruf überrascht. »Es spielt keine Rolle, ob du sie siehst oder nicht. Du bist hergekommen, weil du einen neuen Anfang machen willst. Und genau das machst du. Und zwar sofort!«
Ganz bewusst verließ sie den Strand und ging in die Stadt zurück. Sie bummelte durch die Straßen, blieb vor verschiedenen Geschäften stehen, betrachtete die Sommerschlussverkaufsangebote und drückte die Erinnerungen weg, die sich hochdrängen wollten. Ihr Magen knurrte, und so setzte sie sich in ein Straßencafé, aß einen Thunfischsalat, während ihr die Sonne den Rücken wärmte und ein sanfter Wind über ihren Hals strich.
Ein Neuanfang, sagte sie zu sich, davon gab es schon viele in meinem Leben. Warum sollte ich es diesmal nicht auch schaffen? Die Entscheidung ist bereits gefallen. Und beharrlich kann ich weiß Gott sein.
Vince kam spätnachmittags heim, hatte aber auf dem Rückweg erfreulich viel Zeit gutgemacht.
Er parkte den Toyota in der Zufahrt, holte seine kleine Reisetasche aus dem Kofferraum und schloss die Haustür auf. Drinnen war es wie ausgestorben. Niemand da. Er ging nach oben. Auch dort war es totenstill, nichts rührte sich. Die Krawatte, die er verworfen hatte, bevor er nach Cork fuhr, hing immer noch über dem Stuhl neben dem Bett.
Er runzelte die Stirn. Imogen räumte immer seine liegengelassenen Kleider auf. Sie wusste, dass er gern alles an seinem Platz hatte. Warum hatte sie nicht wie sonst seine Krawatte weggeräumt? Warum hatte sie weder auf seine Anrufe, noch auf seine SMS reagiert? Was war da los, verdammt noch mal?
Er stellte die Tasche neben das Bett und zog die Vorhänge auf. Eine seiner Regeln lautete, dass die Vorhänge halb geschlossen zu sein hatten, wenn sie nicht zu Hause waren, und Imogen befolgte sie getreulich. Obwohl alles genau war, wie es sein sollte, beschlich Vince ein ungutes Gefühl. Die Stille ringsum bedrückte ihn und er hätte liebend gern Anzeichen von Imogens üblicher Schlamperei entdeckt, ein untrüglicher Hinweis, dass sie da gewesen war.
Reiß dich zusammen, ermahnte er sich. Sie war sehr spät heimgekommen, gleich ins Bett gefallen, am nächsten Morgen aufgestanden und zur Arbeit gegangen. Weder hatte sie Zeit gehabt, Unordnung zu veranstalten noch seine Krawatte an ihren angestammten Platz zu räumen. Obwohl ihr das Aufräumen der Krawatte eigentlich in Fleisch und Blut übergegangen sein müsste. Vielleicht hatte sie das erledigen wollen, bevor er nach Hause kam. Dämlich, aber wie er Imogen kannte, durchaus möglich.
Er ging zurück ins Schlafzimmer und warf einen Blick in den Wäschekorb, in dem eine weiße Bluse und Imogens Unterwäsche lagen, war sich aber nicht sicher, ob die Kleidungsstücke nicht bereits vor ihrer Abreise darin gewesen waren. Er zog die Kommodenschublade auf, in der sie ihre Blusen verstaute. Es waren ordentlich zusammengelegte Stapel, blau und weiß, die Farben, die er für ihr Berufsleben am passendsten fand. Es waren zu viele Blusen, die sich zudem alle ähnlich sahen, daher ließ sich nicht nachvollziehen, ob welche fehlten. Da kam ihm ein Gedanke, und er sah unter dem Bett nach, nahm mit einem Stirnrunzeln die Staubschicht wahr. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich, als er feststellte, dass Imogens kleiner Koffer fehlte.
Vince ging nach unten in die Küche. Die rote Tasse, aus der er am Vortag seinen Kaffee getrunken hatte, stand immer noch auf dem Abtropfbrett. Was sollte das denn? Eine weitere Regel lautete, Geschirr hatte, sobald es trocken war, umgehend in den Schrank geräumt zu werden. Zumindest das hätte sie machen können.
Er holte sein Mobiltelefon heraus und rief sie an.
»Hi, Imogen hier. Momentan befinde ich mich auf Geschäftsreise. Hinterlassen Sie eine Nachricht und ich melde mich, sobald ich zurück bin«
Tief Luft holend schob Vince das Handy wieder in die Hosentasche. Warum hatte sie ihn nicht angerufen? Warum hatte sie die Sachen nicht aufgeräumt, die aufgeräumt gehörten? Was, verdammt noch mal, war da los?
Der fehlende Koffer bereitete ihm Sorgen. War sie etwa gar nicht nach Hause gekommen? Oder hatte sie vielleicht die Nacht nicht allein verbringen wollen und war, trotz der späten Stunde, zu ihrer Freundin Shona gegangen? Vince spürte, wie sich seine Schultermuskulatur entspannte. Das war am wahrscheinlichsten, denn das hatte sie schon ein, zwei Mal gemacht, wenn er nicht da war. Einen gemütlichen Mädelsabend, hatte sie das genannt, bei dem hauptsächlich Wein getrunken, Schminktipps und Klatschgeschichten ausgetauscht wurden. Ihm war das nicht recht gewesen, aber er konnte schlecht Einspruch erheben, wenn er selbst nicht zu Hause war.
Er wählte Shonas Nummer.
»Hallo, das ist die Mailbox von Shona. Wenn Sie mir eine Nachricht hinterlassen blablabla.«
»Vince hier«, sagte er. »Hat Imogen gestern Abend bei dir übernachtet? Ruf mich zurück.«
Er wartete vergeblich auf einen sofortigen Rückruf. Shona arbeitete in einem Fitnessstudio und hatte die Nachricht auf ihrer Mailbox wahrscheinlich noch nicht registriert.
Er nahm das Handy und wählte erneut.
»Chandon Leclerc, Imogen, guten Tag. Momentan bin ich leider nicht erreichbar. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen, rufe ich baldmöglichst zurück.«
Wütend beendete Vince den Anruf und wählte eine andere Nummer.
»Chandon Leclerc, guten Tag. Bitte wählen Sie eine der folgenden Möglichkeiten.«
Als die automatische Stimme bei Möglichkeit fünf angelangt war, nämlich mit einem Menschen aus Fleisch und Blut zu sprechen, sagte Vince ja.
»Chandon Leclerc, Janice, guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«
»Hallo, Janice.« Vince, der noch nie mit ihr gesprochen hatte, bemühte sich um Gelassenheit, obwohl ihn Imogens zweiter Anrufbeantworter und das automatisierte Telefonsystem bereits auf hundertachtzig gebracht hatten. »Vince Naughton. Könnten Sie mich bitte mit Imogen verbinden?«
»Imogen?«
»Imogen Naughton. Meine Frau. Conor Fowleys Assistentin.«
»Ach so. Einen Moment bitte.«
In der Leitung herrschte Schweigen. Ob ihn die dämliche Rezeptionistin wohl aus der Leitung geworfen hatte? Vince trommelte mit den Fingern auf den Tisch, während Wut, wenn auch gebremst durch Sorge, in ihm hochkochte. Wenn Imogen abnahm, würde sie seine Wut zu spüren bekommen. Das hatte sie verdient. Sie musste begreifen, wie sehr sie ihn aus der Fassung gebracht hatte. Da klickte es einige Male und der Anruf wurde entgegengenommen.
»Chandon Leclerc, Imogen, guten Tag. Momentan bin ich leider nicht erreichbar. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen, rufe ich baldmöglichst zurück.«
»Verdammte Scheiße«, brüllte Vince ins Handy. Diese blöde Trine hatte seinen Anruf einfach an Imogens Anschluss weitergeleitet und natürlich war der Anrufbeantworter wieder angesprungen. Kein Wunder, dass die Firma in Schwierigkeiten steckte. (Das tat sie laut Imogen nämlich. Das war einer der Gründe, weshalb Conor unbedingt auf die Messe gewollt hatte. Sehen und gesehen werden. Um dem französischen Mutterhaus die Wichtigkeit der irischen Filiale ins Bewusstsein zu rufen.)
Vince rang kurz mit sich, dann verließ er das Haus und stieg ins Auto.
Er würde seine Frau nach Hause holen.
Auf dem Weg zurück ins Hôtel Atlantique kaufte sich Imogen ein Eis. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal mit einer Eistüte in der Hand die Straße entlanggeschlendert war. Vielleicht war es sogar hier gewesen. Eventuell hatte Carol ihr genau in dieser Eisdiele eine gekauft und Imogen war vor mehr als zwanzig Jahren genau über diesen Gehsteig gebummelt. Der Laden war neu und bunt gewesen, ihre Erinnerungen hingegen waren verschwommen, Farben und Geräusche, Licht und Schatten. Und Menschen, die sie hochhoben und mit ihr redeten, sie auf die Wange küssten und ihr sagten, sie sei très, très jolie.
Aber die Erinnerung an ihre Ankunft in der Villa Martine war immer noch messerscharf. Zwar konnte sie sich nicht entsinnen, wie Denis Delissandes Carol und sie am Flughafen abgeholt hatte, auch nicht, wie sie in sein Auto gestiegen war (obwohl seitdem süßlicher Tabakgeruch das Bild eines dunkelgrünen Renault Espace hervorrief), aber sie erinnerte sich ganz deutlich daran, wie sie zum Tor kamen, das Monsieur Delissandes mittels Fernbedienung öffnete. In diesem Moment hatte Carol ihre Hand gedrückt, aber Imogen, ganz gefesselt vom Schauspiel des sich wie durch Zauber öffnenden Tores, hatte sich losgemacht.
Das Auto fuhr an, bremste aber sofort wieder, denn ein Fußball prallte gegen die Windschutzscheibe. Monsieur Delissandes stieg aus. Auf dem Rücksitz tauschten Imogen und ihre Mutter einen Blick.
»Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?«, hörten sie ihn brüllen. »Ins Haus, sofort! Wartet dort auf mich.«
Ohne ein weiteres Wort stieg er wieder ins Auto, fuhr zum Haus hoch, stellte den Motor ab und stieg aus. Er öffnete den Wagenschlag für Carol, und Imogen rutschte hinter ihr nach draußen.
»Tut mir leid«, sagte Monsieur Delissandes. »Das war kein besonders schönes Willkommen bei uns. Die Jungen wissen genau, dass ihnen das Fußballspielen in diesem Teil des Gartens verboten ist. Ich knöpfe sie mir später vor.«
Imogen hatte ihrer Mutter einen ängstlichen Blick zugeworfen, denn auch wenn sie die Jungen nicht kannte, fragte sie sich, wie dieses Vorknöpfen wohl aussah. Carol hatte ihr zugezwinkert und erneut ihre Hand gedrückt. Dann hatte sich die Haustür geöffnet, Lucie Delissandes war herausgetreten und begrüßte sie. Auf den ersten Blick kam sie Imogen wie ein Engel vor — sie war blond und blauäugig und trug ein langes, weißes Kleid mit Lochstickerei, das ihr in der Brise sanft um die Beine wehte. Sie trug keine Schuhe und ihre Zehennägel waren goldfarben lackiert.
Sie küsste ihren Mann auf beide Wangen und sprach mit leiser Stimme eifrig auf ihn ein. Weder Carol noch Imogen konnten hören, was sie sagte, aber Denis Delissandes schnaubte und stapfte ins Haus. Lucie streckte ihre Hand nach Carol aus, küsste sie wie ihren Mann auf beide Wangen und ging dann vor Imogen in die Hocke.
»Du bist das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen habe«, sagte sie. »Und es ist ganz wunderbar, in einem Haus voller Männer ein hübsches Mädchen zu haben. Kommt rein, kommt rein und herzlich willkommen, ihr zwei.«