Sommerreise ins Glück - Sheila O’Flanagan - E-Book
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Sommerreise ins Glück E-Book

Sheila O'Flanagan

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Beschreibung

Deira hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie sich plötzlich allein, mit dem Auto ihres Ex, auf der Fähre von Irland nach Frankreich wiederfindet und ihr Lebenstraum geplatzt ist wie eine Seifenblase.

Grace dagegen wurde von ihrem verstorbenen Mann auf die Reise geschickt, auf eine Schatzsuche, die – so wie es immer war – nach seinen Spielregeln ablaufen soll.

Die beiden so unterschiedlichen Frauen lernen sich auf der Überfahrt kennen, mögen sich sofort und beschließen spontan, die Tour durch die flirrende Sommerlandschaft Frankreichs und Spaniens gemeinsam zu machen. Die Fahrt führt sie nach La Rochelle, Bordeaux, Pamplona und Toledo, wo sie raffiniert erdachte Rätsel lösen müssen, um den Code für den Schatz zu knacken. Unterwegs warten unverhoffte Begegnungen auf Deira und Grace, und je näher sie der Lösung des Rätsels kommen, desto klarer wird für beide, dass das Glück im Leben oft ganz woanders liegt als gedacht.

Sheila O’Flanagan nimmt uns mit auf eine sommerliche Reise, an deren Ende nicht nur ein Schatz wartet, sondern das Leben selbst.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Titel

Sheila O'Flanagan

Sommerreise ins Glück

Aus dem Englischen von Susann Urban

Insel Verlag

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Die Reise

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

Danksagung

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Die Reise

1. Kapitel

Grand Canal, Dublin, Irland: 53.3309 ‌°N 6.2588 ‌°W

Auch als sie bereits ihr Gepäck im winzigen Kofferraum des Cabrios verstaut hatte, war sich Deira immer noch nicht sicher, ob sie die Sache wirklich durchziehen sollte. Obwohl dies hier der einfache Teil war. Schwierig war es gestern Abend gewesen, als sie in die spärlich beleuchtete Tiefgarage gegangen war und der Augenblick zwischen Hoffen und Bangen, ob sich der Audi automatisch entriegeln würde. Obwohl sie sich pausenlos versicherte, niemand werde von ihr Notiz nehmen, rechnete sie doch damit, dass aus dem Nichts ein Anwohner auftauchen und wissen wollen würde, was zum Kuckuck sie da machte. Doch der einzige Mensch außer ihr, ein von Kopf bis Fuß in Lycra gehüllter junger Mann, war zu sehr damit beschäftigt, die diversen Sicherheitsschlösser und -ketten von seinem Fahrrad zu pfriemeln, um auf Deira zu achten.

Trotzdem war sie enorm erleichtert, als sie am Türgriff zog und das vertraute Klicken ertönte. Als sie sich im Fahrersitz niederließ, stellte sie befriedigt fest, dass sich dieser auf Knopfdruck in ihre bevorzugte Sitzposition bewegte. Sie hatte angenommen, ihre persönliche Einstellung sei gelöscht worden. Anders als befürchtet hing weder ein fremdes Parfum noch ein unbekannter Shampoogeruch in der Luft. Auch überkam sie nicht das Gefühl, jemand hätte ihren Platz eingenommen. Alles war wie immer. Ihr Herzschlag beruhigte sich allmählich. Alles fühlte sich normal an. Einfach. Richtig.

Während sie langsam aus der Garage fuhr, gratulierte sich Deira innerlich, dass sich ihre Laufbahn als Kriminelle so gut anließ.

Da sie im Besitz eines Schlüssels war, konnte es unmöglich eine Straftat sein, wenn sie den Audi nahm, egal, wie andere das sehen mochten. Trotzdem sollte sie es nicht tun. Doch die Phase des Zweifelns lag hinter ihr. Und wie unerwartet tröstlich es war, wieder in diesem Auto zu sitzen – die Sache hatte sich definitiv gelohnt.

Sie knallte den Kofferraum zu und während sie zu den Mews zurückkehrte, den zu Wohnhäusern umgebauten ehemaligen Stallungen, die am Canal lagen, spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen traten und biss fest auf die Zähne, damit keine herabkullerte. Auch wenn sie es absolut satthatte, heulte sie bei der geringsten Kleinigkeit unkontrolliert los und brachte sowohl sich als auch ihre Umwelt in Verlegenheit. Deira wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Und wenn es nur ihrer Haut zuliebe war, sie musste darüber hinwegkommen. Ihr Teint war schon ganz ruiniert vom Salz der endlosen Tränenflut.

Deira warf einen Blick auf die Uhr, die an der Küchenwand hing, und atmete langsam aus. Wenn sie nicht in letzter Minute kneifen wollte, musste sie jetzt los. Nach der ganzen Mühe wäre es die absolute Katastrophe, wenn sie die Fähre verpasste.

Aber statt sich Schlüssel und Tasche zu schnappen, legte sie eine Kapsel in die Kaffeemaschine und machte sich einen Americano, den sie schlückchenweise trank, während sie mehrmals überprüfte, dass auf den Tickets vor ihr wirklich das richtige Datum stand – jetzt bloß nicht am falschen Tag losfahren! Während der letzten beiden Monate hatte sie dermaßen viel Unsinn verbrochen, dass sie sich selbst nicht mehr traute. Deira gingen die Anrufe, die E-Mails und – die absolute Krönung – die theatralische Szene im Büro durch den Sinn und sie schauderte. Zwar hatte man sie zum Narren gehalten, aber sie hatte auch bereitwillig ihren Teil dazu beigetragen. Und das war bitter.

Sie steckte die Tickets zurück in ihre Handtasche. Das Datum war korrekt. Sie war noch nicht völlig schwachsinnig geworden, egal wie andere das sahen.

Sie hatte die vor neun Monaten gebuchte Reise völlig vergessen, bis der eingezogene Betrag ihr Konto in die roten Zahlen geraten ließ. Ihr war erst bewusst geworden, dass sie in den Miesen war, als beim Friseur ihre EC-Karte nicht angenommen wurde. Eine weitere Demütigung. Natürlich war sie in Tränen ausgebrochen.

Es war Gavins Idee gewesen, mit dem Auto nach Frankreich zu fahren; er gestand, dass er unbedingt mit einem schicken Cabrio über solide Autobahnen düsen wollte, ehe ihn die Leute als traurigen alten Sack abstempelten und abfällige Kommentare über seine Potenz machten.

Deira hatte darüber lachen müssen und ihn umarmt.

»Niemand wird dich je für einen traurigen alten Sack halten«, hatte sie ihn beruhigt, »das trauen sie sich nicht.«

Gavin Boyer sah mindestens zehn Jahre jünger aus als siebenundfünfzig. Zwar waren seine Haare – früher noch dunkler als Deiras – mittlerweile fast komplett silbergrau, doch dadurch wirkte er nur noch distinguierter. Er war groß und breitschultrig und auch wenn er um die Taille herum nicht mehr ganz so rank und schlank wie in seinen Dreißigern war, hatte er sich doch seine athletische Figur erhalten. Dafür reichte es, wenn er zweimal die Woche Golf spielte und gelegentlich im Swimmingpool des nahegelegenen Fitnessstudios seine Bahnen zog – was Deira höchst ungerecht fand. »Stoffwechsel«, sagte er stets leichthin, wenn sie sich beschwerte, dass sie, obwohl siebzehn Jahre jünger, schon zunahm, wenn sie eine Kekspackung auch nur ansah. Zu ihrem monatlichen Gang zum Friseur, wo sie sich das zunehmende Grau mit einem Kastanienbraun überfärben ließ, das ihrer natürlichen Haarfarbe einigermaßen nahekam, schwieg er.

Wirklich ungerecht, ging ihr wieder einmal durch den Kopf. Aber das Leben war nun einmal nicht gerecht. Wenn es das wäre, würde sie jetzt nicht mit einer kalt werdenden Tasse Kaffee in der Hand dastehen und sich fragen, ob er ihr die Polizei auf den Hals hetzen würde, wenn er nach Hause kam.

Sie nahm einen Schluck. Kein Grund zur Panik. Er würde ihr die Polizei nicht auf den Hals hetzen, denn ihm würde erst Ende nächster Woche auffallen, dass das Auto fehlte. Selbst für den Fall, dass er sie verdächtigen würde, wäre sie schon über alle Berge und er konnte nichts unternehmen. Interpol schaltete sich wohl kaum ein, wenn es um ein verschwundenes Auto ging.

Sie schüttelte den Kopf. Autodiebstahl. Interpol. Das alles lag ihr so fern. Frankreich war als Urlaub geplant gewesen. Als gemeinsamer Urlaub.

Ursprünglich hatten sie ein paar Tage lang die Bretagne erkunden wollen, dann weiter nach Paris. Wenn er sich schon seinen Traum erfüllte, im offenen Cabrio über die Autobahn zu düsen, hatte sie ihm klargemacht, wolle sie wenigstens sagen können, sie sei in einem Sportwagen durch die französische Hauptstadt gegondelt, während der warme Wind mit ihrem Haar spielte. Auf seinen verdutzten Blick hin hatte sie erklärt, einer der Lieblingssongs ihrer verstorbenen Mutter sei »Ballad of Lucy Jordan« gewesen, ein wehmütiges Lied, in dem einer Siebenunddreißigjährigen, unentrinnbar in ihrem Alltag gefangen, auf einmal klar wird, dass sie genau dieses Erlebnis nie haben wird. Als Deira alt genug war, den Text zu verstehen, hatte sie Mitleid mit Lucy Jordan gehabt und sich gefragt, ob es ihrer Mutter genauso ging. Jetzt näherte sie sich selbst ihrem vierzigsten Geburtstag, war mittlerweile mehrmals in Paris gewesen, aber noch nie mit offenem Verdeck durch die Straßen der Stadt gebraust – und hatte im Grunde auch nie ein besonderes Interesse daran gehabt, bis zu jenem Tag, an dem sie das Cabrio vom Händler abholten.

Bis vor kurzem hätte Deira schon die bloße Vorstellung, eine Frau könne sich mit siebenunddreißig abgewrackt fühlen, in Rage gebracht. Aber inzwischen war ihr klar geworden, dass es nicht nur darum ging, wie man sich fühlte, sondern auch dass manches, was bisher gar nicht so wichtig schien, auf einmal unerreichbar schien. Und das war der Hauptgrund, weshalb sie in den letzten zwei Monaten jeden Tag geweint hatte.

Wieder warf sie einen Blick auf die Uhr. Mit Mühe und Not würde sie es gerade noch rechtzeitig nach Ringaskiddy schaffen. Mit dem Auto brauchte man drei Stunden und sie musste vierzig Minuten vor Ablegen der Fähre am Terminal sein. Wenn sie sich nicht von ihrem Plan verabschieden wollte, musste sie jetzt los. Trotzdem hielt etwas sie zurück. Was genau eigentlich? Die lange Fahrt? Das Wissen, dass sie in einem Wespennest herumstocherte? Die Sorge, was die Leute sagen würden?

»Wenn er anruft, ist das ein Zeichen, und ich bleibe«, sagte sie laut, obwohl sie genau wusste, das würde nicht geschehen. Wenn doch, würde sie panisch das Auto an seinen Platz stellen, bevor er dessen Fehlen bemerken konnte. Schon allein, dass sie mit seinem Anruf rechnete, war ein Zeichen ihrer Schwäche, nicht ihrer Stärke. Und eigentlich glaubte sie ja weder an Zeichen noch an Omen, ob gut oder böse.

Das Leben ist das Leben, mehr nicht, sagte sie oft zu ihrer Freundin Tillie, die eher gewillt war, aufgrund zufälliger Zeichen wichtige Entscheidungen zu treffen. Eine weiße Feder, die durch die Luft schwebte, oder ein Sonnenstrahl, der sich an einem verhangenen Tag zeigte, bedeutete lediglich, dass ein Vogel vorbeigeflogen war beziehungsweise eine Wolkenlücke, nicht mehr, nicht weniger. Dann seufzte Tillie kopfschüttelnd, sie müsse unbedingt mehr auf ihr tiefstes Inneres hören. Aber Deira war ihr tiefstes Inneres nicht ganz geheuer und sie sich keineswegs sicher, ob sie damit in Verbindung treten sollte.

Vielleicht war es ja ein Zeichen von oben, dass ihr Konto von ihr unbemerkt in die Miesen geraten war. Eventuell ja auch, dass sie sich, ohne mit der Wimper zu zucken, das Auto aneignete. Aber vielleicht bedeutete dieses Zeichen lediglich, dass die Sonne am knallblauen Himmel schien und die Fahrt herrlich würde.

Andererseits war es absolut im Bereich der Möglichkeiten, dass auf dem Weg nach Cork etwas passieren könnte, woraufhin sie wieder zu Besinnung kommen und umdrehen würde.

»Auf dem Weg nach Cork gibt es jede Menge Zeichen«, grummelte sie vor sich hin und nahm die Autoschlüssel. »Hauptsächlich solche, die einem die Straßenverkehrsordnung nahelegen.«

Deira hängte sich ihre Handtasche über die Schulter, schaltete die Alarmanlage ein und verließ das Haus.

Mittlerweile war die Morgenluft angenehm warm und das Sonnenlicht funkelte auf dem Wasser des Canal. Deira setzte sich auf den Fahrersitz und ließ das Verdeck herunter. Sie fuhr nur selten offen, schließlich war das hier Irland und jederzeit konnte aus heiterem Himmel eine Sintflut herabstürzen. Und selbst an solch sonnigen Tagen war die gefühlte Temperatur um einiges niedriger als die tatsächliche, also eher nur alle Jubeljahre Cabriowetter.

Aber an diesem Tag war das Wetter optimal.

Vielleicht war das ja das Zeichen.

Deira überlegte, ob sie Gillian anrufen und ins Bild setzen sollte. Aber dann würde ihre ältere Schwester fragen, seit wann sie diese Reise geplant habe und wer mitkomme und warum sie nie davon erzählt habe … Nein, ein Gespräch mit Gill wäre definitiv ein Zeichen, dachte Deira, ein Zeichen, dass ich völlig den Verstand verloren habe.

Sie fuhr los. Fast zeitgleich klingelte ihr Handy. Ihr Herz fing an zu rasen.

»Bist du unterwegs?«, fragte Tillie.

»Seit gerade eben.«

»Du wirst zu spät kommen.«

»Nein, werde ich nicht.«

»Keine Anrufe?«

Deira verneinte.

»Alles wird gut«, sagte Tillie. »Amüsier dich.«

Jetzt fehlte nur noch, dass Tillie sie ermahnte, nichts Unsinniges zu tun, doch als das ausblieb, erwiderte Deira nur, sie werde sich tüchtig ins Zeug legen, was das Amüsieren betraf.

»Das hast du dir verdient«, sagte Tillie. »Ich schicke dir positive Gedanken. Melde dich.«

Deira bedankte sich und legte auf. Sie fuhr den Canal entlang und bog dann in die Naas Road ein. Am Samstagmorgen war der Verkehr nicht besonders dicht und sie beschleunigte. Sie schob sich das Haar, das ihr immer wieder ins Gesicht wehte, hinter die Ohren. Mein Leben ist nicht vergeudet, beschwichtigte sie sich, als ihr erneut Lucy Jordan einfiel, ganz und gar nicht.

Und trotzdem bedauerte sie wieder einmal ihre Entscheidungen, die dazu geführt hatten, dass vom jetzigen Standpunkt aus die letzten dreizehn Jahre ihres Lebens völlig vergeudet waren, auch wenn sie das vor sich selbst herunterzuspielen versuchte. Aber leider biss die Maus da keinen Faden ab. Die Vergangenheit ließ sich nicht ändern – da konnte sie so oft sie wollte mit diesem Auto nach Paris fahren und sich einreden, vierzig sei das neue dreißig. Was geschehen war, war geschehen und das Schlimmste war, dass sie eine Mitschuld trug. Daher war sie wirklich und tatsächlich eine Riesenidiotin.

»Aber woher, du bist keine Idiotin.«

Das hatte Tillie zu Deira gesagt, als diese ihr die Neuigkeiten mitteilte.

»Doch, bin ich«, hatte Deira sie korrigiert. »Eine Idiotin wie viele Frauen, die meinen, ihr Leben sei wunderbar, wobei sie doch nur in dieses Leben reingeraten sind, weil sie den falschen Mann lieben.«

Da hatte Tillie sie umarmt.

Und in Deira hatten Wut und Verletzung einen derart festen Knoten gebildet, dass sie sich vor Schmerz zusammenkrümmte.

Auch jetzt hatte sie wieder dieses grauenvolle Gefühl in der Magengegend. Und diesen Schmerz weiter oben, als ob sie einen Herzinfarkt bekäme. Aber das war nicht der Fall, sie wusste, das war nur die Wut, weil sie zugelassen hatte, sich benutzen zu lassen.

Sie war wütend auf sich, nicht auf ihn.

Sie gab sich die Schuld, weniger ihm.

Aber auch er trug Schuld, und deshalb fuhr sie mitsamt dem dämlichen Auto davon.

2. Kapitel

Ringaskiddy, Irland: 51.8304 ‌°N 8.3219 ‌°W

Grace Garvey befand sich bereits in Ringaskiddy. Sie war am Vorabend aus Dublin losgefahren, denn das hatten Ken und sie immer so gehalten, wenn sie alljährlich mit den Kindern zum Zelten in die Bretagne gefahren waren. Am Vorabend losfahren, in einer Pension in Hafennähe übernachten, ausgeruht aufstehen und man war bereit für die Überfahrt. Wenn man so frühzeitig losfahre, war Kens Credo, müsse man sich nicht den Kopf wegen eventueller Pannen oder sonstiger Hindernisse zerbrechen. Man sei auf alle Fälle pünktlich vor Ort.

Nur einmal hatte Grace eingewandt, wenn sie unterwegs eine Panne hätten, wäre das trotzdem ein Riesenproblem. Kopfschüttelnd hatte Ken gemeint, sie solle nicht immer alles überdramatisieren – obwohl er derjenige war, der in ihrem Jahresurlaub stets ein Drama machte, wenn sich seine bis ins letzte Detail ausgetüftelten Pläne nicht bis aufs i-Tüpfelchen umsetzen ließen.

Grace bemühte sich im Hintergrund nach Kräften darum, dass seinen Plänen nichts in die Quere kam. Ken war sofort gestresst, wenn die Dinge nicht so liefen, wie er sich das vorstellte, was wiederum Grace stresste. Doch offenbar entging ihren Kindern Aline, Fionn und Regan die gespannte Atmosphäre, die in der Woche vor der Reise herrschte. Sie fieberten einzig dem Campingplatz entgegen, der für das jeweilige Jahr ausgesucht worden war, und wollten einfach nur Spaß haben.

Und obwohl sich Ken immer so viel Stress machte, waren die Familienurlaube stets eine fröhliche Angelegenheit und Grace hatte nur schöne Erinnerungen daran.

Sie saß auf dem Bett im Portview House, derselben Pension, in der sie seit langem unterkamen, und klappte den mitgebrachten Laptop auf, Kens Laptop. Eigentlich hatte sie ihn gar nicht mitnehmen wollen, war aber in letzter Minute ins Haus zurückgegangen und hatte ihn geholt. Zwar hätte sie sich die Unterlagen mailen können, aber vielleicht gab es auf dem Laptop verborgene Informationen, die sie eventuell benötigte. Noch hatte sie außer der E-Mail, die sie vor drei Monaten bekommen hatte, nichts entdeckt. Und die brauchte sie nicht nochmals zu lesen. Aber im Besitz des Laptops zu sein, der Ken gehörte, war ihr wichtig.

Unschlüssig betrachtete sie den Ordner mit dem Namen Die große Hochzeitstagsschatzsuche, den sie damals, als er die E-Mail gesendet hatte, geöffnet und dann wieder geschlossen hatte, weil sie nicht Teil eines ihr unbekannten Plans sein wollte. Und sie wollte auch nicht von ihm gesagt bekommen, was sie tun sollte. Nicht nachdem er etwas derart Furchtbares getan hatte, was ihren Glauben an ihre gemeinsame Zeit tief erschüttert hatte. Doch jetzt und hier konnte sie sich nicht mehr zusammenreißen.

Sie klickte den Ordner an, der acht Dokumente enthielt:

Nantes

La Rochelle

Bordeaux

Pamplona

Alcalá de Henares

Toledo

Granada

Cartagena

Jedes Dokument war passwortgeschützt. Keines der Passwörter, die ihr eingefallen waren, hatte sich als das erhoffte Sesam-öffne-dich erwiesen. Dann hatte sie sich auf Nantes konzentriert, das erste Ziel auf der von Ken ausgetüftelten Route, und die Datei mit Daten und Wörtern bombardiert, die für die Familie Bedeutung hatten. Frustriert vom Misserfolg, hatte sie sich La Rochelle vorgenommen. Nach drei Fehlversuchen wurde sie informiert, dass nach sieben weiteren das Dokument gesperrt werde. Da hatte sie aufgegeben. Obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie den Inhalt der Datei überhaupt sehen wollte, ein gesperrtes Dokument erschien ihr doch zu riskant.

So hatte sie sich wieder Nantes vorgeknöpft, bei dem sie offenbar unendlich viele Versuche frei hatte, vielleicht weil es sich um die erste der Dateien handelte. Das wäre typisch Ken. Erst ein leichter Einstieg, um dann sukzessive den Schwierigkeitsgrad zu steigern. Sie konnte geradezu seine Verärgerung spüren, dass sie das Passwort nicht auf Anhieb herausgefunden hatte. Als er die E-Mail abschickte, hatte er gewusst, er würde nicht da sein, um ihr zu helfen. Warum hatte er ihr also keinen Hinweis hinterlassen, um ihr auf die Sprünge zu helfen?

Vielleicht hatte er das doch, dachte sie, und sie war nur zu dumm, ihn zu sehen.

War ihm überhaupt der Gedanke gekommen, sie könnte dieses alberne Spiel nicht mitmachen? Oder hatte er sich in der Sicherheit gewiegt, sie würde tun, was er wollte, egal wie dämlich es war?

Grace klappte den Laptop zu. Sie war zu ausgebrannt, um weiter an den Passwörtern herumzuknobeln. Ihr einziger Gedanke war, den Hafen zu erreichen, ganz als würde Ken neben ihr sitzen und sie ermahnen, nicht zu trödeln. Er hatte stets dafür gesorgt, dass sie genau zweieinhalb Stunden vor Abfahrt der Fähre da waren. Einmal war ihr Auto das erste in der Schlange gewesen, ein höchst befriedigender Triumph für ihn. Grace lag nichts daran, die Erste zu sein, aber die Fähre verpassen wollte sie auch nicht.

An diesem Tag würde das keinesfalls geschehen. Von ihrem Hotelzimmerfenster aus konnte sie das Schiff sehen, groß und weiß vor dem blauen Himmel und dem petrolfarbenen Meer. Es war viel zu früh, um aufzubrechen, egal, was Kens Stimme antreibend flüsterte.

Grace packte den Laptop in ihre kleine Reisetasche und ging nach unten.

Claire Dolan, die Besitzerin des Portview House, fragte lächelnd, ob sie denn jetzt schon loswolle.

»Ich muss das Zimmer ja ohnehin demnächst räumen«, erwiderte Grace.

Claire erklärte, das habe keine Eile und sie könne sich beliebig lange im Salon aufhalten. »Sie kommen ja schon seit Jahren her, aber es ist das erste Mal, dass Sie allein unterwegs sind«, sagte sie. »Lassen Sie sich also Zeit.«

»Alles bestens«, antwortete Grace beruhigend. »Sie brauchen sich keine Sorgen um mich zu machen.«

Ein winziger peinlicher Moment, dann legte Claire kurz einen Arm um Grace' schmale Schulter und drückte sie. »Ich weiß, Sie sind eine starke Frau«, sagte sie behutsam, »aber es war bestimmt nicht einfach. Ehrlich gesagt war ich erstaunt, als Sie das Zimmer buchten. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie die Reise allein machen würden.«

»Es war so nicht geplant.« Grace lächelte betrübt. »Meine Freundin Elaine hätte eigentlich mitkommen sollen, doch das Baby ihrer Tochter kam zu früh, daher habe ich ihr energisch zugeredet, sie soll keinen Gedanken an mich verschwenden, sondern zu Megan fliegen. Sie wohnt in Kanada.« Grace zuckte die Schultern, als wäre Kanada Erklärung genug.

»Sind Sie wirklich ganz sicher, dass Sie allein gut zurechtkommen?«, fragte Claire.

Grace nickte. »Absolut«, sagte sie und in ihrer Stimme schwang nicht der kleinste Zweifel mit.

Genau das Gleiche hatte sie zu ihrer ältesten Tochter Aline gesagt.

»Ich bin überzeugt, dass du zurechtkommst«, stimmte Aline zu, die auf dem Heimweg von der Arbeit vorbeigekommen war, um nach ihrer Mutter zu sehen. »Aber die ganze Fahrt, ohne dass dich jemand am Steuer ablöst … Dad ist bestimmt nicht davon ausgegangen, dass du allein fährst, sondern war der Meinung, einer von uns würde dich begleiten. Vielleicht sogar wir alle drei, wie früher. Du könntest warten, bis sich ein gemeinsamer Termin findet. Ich möchte nicht, dass du dich überanstrengst und es gibt keinen Grund, die Sache zu überstürzen –«

»Ich werde mich nicht überanstrengen«, hielt Grace dagegen. »So lang sind die Etappen nicht. Und du weißt genau, dieses Jahr werden wir keinen gemeinsamen Termin mehr finden. Ich fahre und damit Schluss.«

»Damit forderst du dich ziemlich. Vor allem, weil –«

»Weil was?« Grace' klare blaue Augen blickten streng, als sie ihre Tochter zum zweiten Mal unterbrach.

»Weil du trauerst.«

»Ich trauere nicht!« Das klang ungewollt scharf, und sie sah die Bestürzung im Gesicht ihrer Tochter. »Nun ja, ich trauere, aber ich bin …« Zu wütend – und vielleicht auch zu schuldbeladen –, um zu trauern, hatte ihr auf der Zunge gelegen, aber das hätte Aline noch mehr aus der Fassung gebracht. »Ich mache die Reise, um alles in Ruhe zu verarbeiten, die Sache abzuschließen«, erklärte sie und wusste, damit hatte sie den richtigen Knopf bei ihrer Tochter gedrückt. Verarbeiten war für Aline höchst wichtig. Vor Fionns und Regans Abreise hatte sie einen Abend arrangiert, an dem sie sich alle trafen, um die Sache mit ihrem Vater zu verarbeiten. Sie hatten in seiner riesigen Bibliothek gestöbert, jeder hatte ein Buch ausgewählt und laut ein Kapitel daraus vorgelesen. Sie hatte Videos abgespielt, die ihn bei allen Schul- und Uniabschlussfeiern zeigten sowie das feierliche Abendessen zu Grace' sechzigstem Geburtstag, bei dem sich die gesamte Familie versammelt hatte und er sie »das Licht seines Lebens« genannt hatte. Und dann hatte sie »My Memory Library« von Sarah Blackstone rezitiert.

Grace hatte die ganze Zeit über gelächelt, war aber nicht wirklich mit dem Herzen dabei, vor allem nicht, weil Aline ein Gedicht vortrug, das Ken als Kitsch abgetan hätte. Ken hatte Gedichte, die sich reimten, nie gemocht. Während ihre Kinder vorlasen und rezitierten, hatte sie an die Woche nach Alines Uniabschluss gedacht, als ihre Tochter sämtliche Lehrbücher in eine große Kiste gepackt und einer städtischen Bildungsstätte gespendet hatte, mit den Worten, dieses Zeug müsse unbedingt aus dem Haus und sie die Vergangenheit hinter sich lassen. Ken war stinksauer gewesen. Sie benötige die Bücher, um zukünftig daraus zitieren zu können, Abschluss hin oder her. Sie hatte Google erwähnt, worauf er leise vor sich hin schäumte. Ken neigte nicht dazu, mit Dingen abzuschließen. Bis er es dann schließlich doch getan hatte.

Aline feierte Geburtstage, Weihnachten und Ostern als Meilensteine ihres Lebens, sprach immer davon, diese Neuanfänge müssten gewürdigt werden. (Eine Tautologie, sagte Ken, und als Aline fragte, was er damit meine, erwiderte er, sie solle das Wort nachschlagen. »Oder googeln, wenn dich das glücklicher macht«, fügte er hinzu.) Auch wenn ihr Musik- und Lyrikgeschmack sich unterschied, waren sich Aline und Ken ähnlicher, als ihnen bewusst war, sinnierte Grace. Beiden quoll das Selbstbewusstsein nur so aus den Knopflöchern, beide waren der Meinung, sie allein wüssten, was richtig und falsch war. Beide überlegten nie, welche Auswirkungen ihr Handeln auf andere hatte, erwarteten stets, dass sich alle ihrem Willen unterwarfen.

»Ich mache mir deinetwegen Gedanken.« Aline unterbrach Grace' Erinnerungen. »Wir alle. Wir wollen nicht, dass dir etwas passiert.«

»Es passiert ständig etwas«, entgegnete ihre Mutter, und Aline sah noch konsternierter drein. »Aber ich werde bestens zurechtkommen. Ehrlich gesagt, mache ich mir um euch drei mehr Sorgen.«

»Es ist eine schwierige Zeit, aber ich habe es verarbeitet«, meinte Aline. »Fionn und Regan ebenfalls. Bei dir bin ich mir da nicht sicher, Mum.«

»Doch, doch. Wirklich«, log Grace.

»Mir wäre es lieber, wenn Elaine mitkäme.« Aline zweifelte an den Worten ihrer Mutter.

»Mir auch«, sagte Grace, obwohl das wahrscheinlich auch gelogen war. »Doch sie hat momentan Wichtigeres zu tun. Ich werde schon zurechtkommen. Außerdem«, fügte sie hinzu, »werde ich euch von unterwegs immer auf dem Laufenden halten. Und ihr könnt mir erzählen, was sich bei euch so tut.«

»Ja, das ist eine Möglichkeit.«

»Ich werde bestens zurechtkommen«, wiederholte Grace.

Sie würde ihrer Tochter nicht auf die Nase binden, dass sie die Reise unbedingt allein machen wollte. Das hätte Aline nur noch mehr verletzt. Und wie die ganze Familie war sie genug verletzt worden. Nachdem Grace sich einmal zu diesem Urlaub entschlossen hatte, würde sie nichts und niemand davon abbringen. Trotz einiger anfänglicher Bedenken freute sie sich darauf, in Frankreich von der Fähre zu fahren und ihr eigenes Ding zu machen, zumindest im Rahmen des Spielraums, den ihr das von Ken festgelegte Programm mit seinen Vorgaben ließ.

»Du konntest es einfach nicht lassen«, murmelte sie. »Ich muss mich immer noch nach deinen Vorstellungen richten.«

Bisher hatte sie sich nie eingestanden, wie sehr Kens Manie, immer bestimmen zu wollen, sie belastete. Besonders die durchgeplanten Urlaube.

Ihr Berufsleben war vom Kalender, von Zeitplänen bestimmt worden, weshalb es eigentlich die reine Freude hätte sein müssen, ihm die gesamte Organisation zu überlassen. Aber er wollte nie fliegen, denn dabei hätte sie die Oberhand gehabt, schließlich war sie jahrelang Purserin gewesen. Zudem hätte sie die eine oder andere Vergünstigung herausschlagen können. Aber das wollte er nicht. Von Fähren hatte sie hingegen keine Ahnung.

Auch wenn es dabei immer ziemlichen Stress gab, hatte Ken ein Händchen dafür gehabt, Urlaube zu planen und organisieren. Die Kinder liebten die Überfahrt mit der Fähre und die Freiheit, die sie auf den Campingplätzen in Frankreich hatten. Sie fanden das Leben im Zelt oder im Wohnmobil herrlich, genossen das einfache Leben. Daher hatte sich Grace den Wünschen der Mehrheit gefügt, auch wenn sie sich gelegentlich über sich selbst ärgerte, weil sie sich so wenig einbrachte.

Sich den Wünschen der Mehrheit zu fügen, darin war sie immer gut gewesen.

Jetzt ging sie durch den buntblühenden Garten der Pension und sah aufs Meer hinaus. Mittlerweile stand die Sonne höher und das Wasser hatte eine tiefdunkelblaue Farbe angenommen. Es war der perfekte Tag für eine Überfahrt. Ein perfekter Reisetag.

3. Kapitel

Von Dublin nach Ringaskiddy: 268 km

Deira fuhr die Strecke von Dublin nach Ringaskiddy in einem Rutsch durch und reihte sich gleich am Hafen in die Schlange der wartenden Autos ein. Seit ungefähr einer Stunde durfte man aufs Schiff, aber trotzdem waren noch ziemlich viele vor ihr. Aus ihrem Auto konnte sie schon die ersten Passagiere sehen, die auf dem Oberdeck herumspazierten, Farbkleckse, die sich vom Weiß des Schiffes abhoben.

Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr ihr, als sie ihr Ticket vorzeigte und auf die Fähre gewinkt wurde, hatte sie doch halb damit gerechnet, dass sie angehalten und zu einem Verhör durch die Gardaí gezerrt würde. Offenbar war die Hafenaufsicht nicht alarmiert worden, und die anderen Reisenden waren viel zu sehr damit beschäftigt, ihre fahrbaren Untersätze auf die Fähre zu befördern, um Deira überhaupt wahrzunehmen. Allerdings warf der eine oder andere Herr hinterm Steuer eines bis unters Dach vollgeladenen Autos, Wohnmobils oder SUVs in ihrer Nähe einen neidischen Blick auf Deiras schickes Cabrio.

Nachdem sie den Audi vorschriftsgemäß abgestellt hatte, begab sie sich zum Passagierdeck, ließ die Aufzüge, vor denen Familien mit Kindern, Gepäck und Buggys warteten, links liegen und nahm die Treppe. Was sie, bis sie endlich Deck 8 erreicht hatte, bereute, denn sie war weitaus weniger fit als in ihrer Vorstellung. Deira schnaufte kurz durch, schritt dann auf der Suche nach ihrer Kabine durch den mit Teppich ausgelegten Korridor.

Glücklich gefunden, drückte sie die Tür auf.

Vor der Buchung hatten Gavin und sie Stunden auf der Webseite der Fährgesellschaft verbracht, virtuell sämtliche Kabinen und Decks begutachtet, daher wusste Deira, was sie erwartete. Dennoch war sie erleichtert, dass die von ihnen ausgewählte Kabine – jetzt ihre Kabine – hell und luftig war sowie genügend Platz für Bett, Tisch und zwei Stühle hatte und man sich trotzdem noch umdrehen konnte. Außerdem hatte sie einen eigenen kleinen Balkon. »Cruise-ferrying« nannte das Fährunternehmen sein Angebot, und Deira musste zugeben, dass die Kabine beinahe so gut war wie jene, in der Gavin und sie bei ihrer einzigen richtigen Kreuzfahrt logiert hatten. Die hatten sie anlässlich ihres dreißigsten Geburtstags unternommen, der einerseits erst gestern gewesen, andererseits mehr als ein Jahrzehnt her zu sein schien. Deira erinnerte sich noch bestens daran, wie aufregend alles gewesen war – der Flug nach Barcelona – dort legte der Riesenkahn zu seiner Mittelmeerreise ab –, die Übernachtung in einem schnieken Hotel und am Morgen darauf die Fahrt mit dem Taxi zum Hafen. Erinnerte sich an die Euphorie, mit dem geliebten Mann unterwegs zu sein. Es war ein märchenhafter Urlaub gewesen, einer der schönsten ihres Lebens.

Und jetzt befand sie sich auf einer Kreuzfahrtfähre, die in Ringaskiddy ablegte. Diesmal allein.

Sie machte die Balkontür auf und trat ins Freie. Der Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht, sie strich es sich hinter die Ohren. Weit unter ihr sah sie die gewaltigen Trossen, mit denen das Schiff am Kai vertäut war. Arbeiter in Signaljacken liefen dort hin und her und schrien einander Informationen zu. Auf einem Grashügel hinter der nur für die Passagiere freigegebenen Zone saßen viele Menschen, die zum Schiff hochstarrten und gelegentlich winkten. Ob sie wohl Bekannten zuwinkten oder einfach nur, weil das Schiff kurz vorm Ablegen war? So oder so ein hübscher Anblick, fand Deira. Ein netter Gedanke, dass völlig Unbekannte ihr vielleicht eine schöne Reise wünschten.

Unter ihren Füßen vibrierte es; in den Tiefen des Schiffsbauchs erwachten rüttelnd die Motoren. Dieselgestank vermischte sich mit dem Geruch von Teer und salziger Meeresluft. Kreischend zogen riesige Möwen ihre Kreise. Die Arbeiter begannen die schweren Trossen loszumachen. Die Vibrationen wurden stärker. Die Menschen auf dem Grashügel winkten. Und dann bewegten sie sich, langsam und schwerfällig entfernten sie sich vom Ufer und Irland, fuhren hinaus aufs offene Meer.

Natürlich dauerte es noch, bis sie das offene Meer erreichten, erst musste das Schiff durch den Hafen und den breiten Kanal, der zum Meer führte, manövriert werden. Aber sie hatten abgelegt. Niemand konnte sie jetzt noch zurückhalten. Deira hatte es geschafft.

Ihr Handy klingelte und sie ließ es vor Schreck beinahe ins Wasser fallen.

»Wo bist du denn?«, fragte Gillian. »Als ich dir vorhin eine Nachricht schrieb, bekam ich diese vorgefertigte Antwort ›Bin im Auto, kann gerade nicht ran‹.«

»Ist was passiert?« Deira dachte sofort an Gavin und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog.

»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte Gillian. »Bex fährt morgen nach Dublin. Sie hat diese Woche ein Vorstellungsgespräch für ein Sommerpraktikum und hofft, dass sie einige Tage bei dir unterkommen kann. Ihre Freundin Lydia begleitet sie.«

Deira unterdrückte ein Stöhnen. Ihre neunzehnjährige Nichte, die gleichzeitig ihre Patentochter und Gillians Älteste war, kam oft in die Hauptstadt, immer in der frohgemuten Annahme, ihre Tante hätte während ihres Aufenthalts ein freies Bett für sie. Kam Gill nach Dublin, spekulierte sie gleichfalls auf das Gästezimmer ihrer Schwester. Und obwohl Deira Bex mochte und sie meist gern um sich hatte (bei Gill war das nicht immer der Fall), machte es sie wahnsinnig, dass die beiden stets kurz vor knapp mit ihrem Anliegen herausrückten, ganz so als hätte Deira kein eigenes Leben.

Was in Gills Augen wahrscheinlich auch der Fall war, vor allem derzeit.

»Tut mir leid, das geht leider nicht«, sagte Deira und beobachtete die vorbeigleitende smaragdgrüne Küste, »ich bin nämlich unterwegs.«

»Unterwegs? Wohin?«, fragte Gill. »Davon hast du bei unserem letzten Telefonat gar nichts erwähnt.«

Du bist nicht meine Aufpasserin, ich muss dir nicht über alles Rechenschaft ablegen, dachte Deira, riss sich aber zusammen und verkniff sich eine entsprechende Bemerkung.

»Da war ich mir noch nicht sicher«, erklärte sie ihrer Schwester, »aber schließlich habe ich mich doch entschlossen.«

»Wohin?«, wiederholte Gill hartnäckig.

»Frankreich.«

»Frankreich! Wann bist du los und wann kommst du zurück?«

»Ich bin eben erst aufgebrochen«, antwortete Deira, »und in knapp einem Monat wieder zu Hause.« In Wahrheit würde sie schon in drei Wochen wieder daheim sein. Aber das musste sie Gill nicht auf die Nase binden.

»In einem Monat!« Gill kreischte geradezu. »Wie um alles in der Welt kannst du einen Monat lang freinehmen, Deira O'Brien?«

»Weil ich jede Menge Resturlaub habe«, erwiderte Deira.

»Ach so.« Kurzes Schweigen, ehe Gill wissen wollte, in welchem Hotel sie sei.

»Ich bin die ganze Zeit unterwegs.«

»Mit wem bist du unterwegs? Und wo genau in Frankreich gondelst du herum?«

»Ich reise allein«, sagte Deira, »und ich lasse mich einfach treiben.«

Gills Erwiderung ging im Tuten des Schiffhorns unter.

»Was war das denn?«, fragte sie.

»Das Schiff«, sagte Deira.

»Das … was für ein Schiff?«

»Ich bin auf der Fähre.«

»Aber … ich dachte, du bist am Flughafen. Fliegst du denn nicht nach Paris?«

»Nein, ich setze nach Roscoff über.«

»Warum das denn?«

»Warum nicht?«

»Niemand fährt allein mit der Fähre nach Frankreich.«

»Ich schon.«

»Herrgott, Deira, hast du den Verstand verloren?« Zwar war Gills Wortwahl derb, aber ihre Stimme klang jetzt weicher. »Schon klar, die letzte Zeit war nicht einfach für dich, aber das ist doch noch lange kein Grund, wegzurennen.«

»Ich renne nicht weg«, erwiderte Deira, »ich mache Ferien.«

»Warum hast du dir nicht was richtig Hübsches ausgesucht, vierzehn Tage Strandurlaub beispielsweise?«, wollte Gill wissen. »Ich bin mir sicher, es hätte etwas Tolles gegeben, vierzehn Tage all inclusive auf den Malediven oder was in der Art. Du kannst dir das schließlich leisten. Oder etwa nicht?«, hakte sie nach. »Hast du Geldsorgen?«

»Ich mag Strandurlaub nicht«, erklärte Deira. Was nur zum Teil stimmte. Eine Woche Strand mit einem schönen Bücherstapel war durchaus nach ihrem Geschmack. Zurzeit würde sie jedoch noch mehr Nichtstun die Wände hochtreiben. »Und finanziell geht's mir gut.« Was, auch wenn die Abbuchung der Reisekosten ihr Konto kurzfristig in die Miesen getrieben hatte, der Wahrheit entsprach.

»Hast du was von Gavin gehört?«

Deiras Herz schlug schneller. »Nein. Wieso?«

»Ich dachte nur«, sagte Gill. »Aber wenn wir mal ehrlich sind –«

»Ich möchte nicht über Gavin reden«, unterbrach Deira sie. »Ich mache jetzt Urlaub und er ist der Letzte, an den ich denken oder über den ich reden will.«

»Du hättest mir sagen sollen, was du vorhast«, sagte Gill.

Dann hättest du mich daran hindern wollen. Aber auch das sprach Deira nicht aus.

»Ich schicke dir eine Nachricht, wenn ich angekommen bin. Gleich habe ich keinen Empfang mehr, wir erreichen demnächst das offene Meer.«

»Melde dich jeden Tag«, trug Gill ihr auf.

»Wenn es möglich ist«, sagte Deira.

Und sie beendete das Gespräch.

Deira suchte den Shop auf, wo es bereits von Passagieren wimmelte, die sich mit französischem Wein und hochprozentigen Angeboten eindeckten. Sie erstand lediglich Adapter für ihre Autoscheinwerfer, damit deren Licht auf die rechte Straßenseite gelenkt wurde. Das nenne ich mal auf die Pauke hauen, murmelte sie, als sie ihren übersichtlichen Einkauf bezahlte. Ich weiß echt, wie man das Leben genießt.

Anschließend machte sie sich auf zum Selbstbedienungsrestaurant, wo es laut war und hoch herging, und stellte fest, dass dies so ziemlich der allerletzte Ort war, an dem sie sich aufhalten wollte. Der Anblick einer Mutter, die gleichzeitig einem Kleinkind den Löffel in den Mund schob, während sie einem winzigen Baby die Brust gab, machte sie schwindelig.

Deira drehte sich um und stieß beinahe mit einem Mann zusammen, der ein volles Tablett trug.

Er entschuldigte sich.

»Nein, es war meine Schuld.«

Mit einem Nicken nahm er ihre Entschuldigung an und ging weiter.

Bist du allein hier, fragte sie sich und sah ihm nach. Bist du derjenige, welcher? Er war attraktiv, wenn auch nicht spektakulär, aber durchaus geeignet.

Hör auf, ermahnte Deira sich, hör einfach auf damit. Sie steuerte auf das Restaurant am anderen Schiffsende zu, wo man bedient wurde. Auch hier gab es erstaunlicherweise eine Warteschlange, bis ihr aufging, dass der gewiefte Fährpassagier sich so schnell wie möglich an die Futtertraufe begab und Shopping und alles andere auf später verschob.

Als sie schließlich an der Reihe war, fragte sie die junge Französin, die eine Liste in der Hand hielt, ob sie einen Tisch für eine Person haben könne.

»Bis acht Uhr ist nichts frei, Madame«, lautete die Antwort.

Deira hatte zwar keinen Hunger, aber bis acht Uhr war es noch lang hin. Da es im Selbstbedienungsrestaurant wahrscheinlich den ganzen Abend über rappelvoll sein würde und sie sich etwas Ruhe und Frieden verdient hatte, reservierte sie einen Tisch und ging zurück in ihre Kabine, wo sie sich einen Tee machte. Dann legte sie sich aufs Bett und schloss die Augen.

Völlig desorientiert wachte Deira auf, hörte und spürte zwar das Stampfen der Motoren im Schiffsbauch, wusste jedoch nicht, worum es sich handelte. Es dauerte kurz, bis sie sich erinnerte: das Auto, die Fahrt, die Fähre – und dass sie für acht Uhr einen Tisch reserviert hatte. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war sieben Uhr dreißig.

Sie stand auf und machte sich in ihrem kleinen Badezimmer frisch. Dann schlüpfte sie dankbar in das Jeanskleid, das sie in letzter Minute in ihre kleine Reisetasche gepackt hatte, denn ihre weiße Bluse war von der unerwarteten Siesta völlig zerknittert. Ein zweites Paar Schuhe hatte sie nicht mit, aber ihre Keilsandaletten passten gut zum Kleid. Sie fuhr sich mit der Bürste durchs dunkle Lockenhaar, legte pfirsichfarbenes Lipgloss auf und duftete sich mit Grapefruit von Jo Malone ein.

Ein prüfender Blick in den Spiegel – reichte das aus oder sollte sie die bleichen Wangen und die dunklen Augenringe unter einer Schicht Make-up verbergen? Deira hatte sich nie groß geschminkt. Für die Arbeit richtete sie sich immer adrett her, aber für ein gepflegtes Aussehen reichte in aller Regel eine getönte Tagescreme und Wimpertusche, die ihre grünen Augen betonte. In ihren Jugendtagen hatte Gill häufig bemerkt, Deira sei diejenige, die in Sachen Aussehen das bessere Los gezogen habe. »Schön bist du nicht«, pflegte sie zu sagen (nur für den Fall, dass ihre Schwester eingebildet werden sollte), »aber mit deinen schwarzen Haaren und der samtigen Haut siehst du ein bisschen wie die sprichwörtliche irische Heckenrose aus. Mehr als einen Klecks Nivea brauchst du nicht.«

Das war gewesen, als keine von ihnen mehr als einen Klecks Nivea benötigt und Gill bei ihrer kleinen Schwester die Mutterrolle übernommen hatte. Auch den Vater und ihren Bruder hatte sie bemuttert, obwohl Peter fünf Jahre älter war und von überhaupt niemandem bemuttert werden wollte.

Aber Gill war unerbittlich. Sie war die älteste Tochter und hatte deshalb das Sagen. Als sie jünger war, hatte Deira ihre Schwester als übertrieben fürsorglich empfunden. Später kam sie auf den Gedanken, dass Gill von Natur aus herrschsüchtig war. Sich in Deiras Leben einzumischen, hatte sie jedenfalls in vollen Zügen genossen.

Beim Tod der Mutter war Deira zehn gewesen, Gill fünfzehn und Peter neunzehn. Peter hatte noch ein Jahr lang daheim gewohnt, ehe er nach London ging, wo er bei einem Bahnunternehmen unterkam. Es war der ideale Arbeitsplatz für ihn – er war schon immer verrückt nach Zügen gewesen. Einige Jahre sahen sie überhaupt nichts von ihm, als aber die Billigfluglinien auf den Markt drängten, kam er öfter nach Hause. Dann heiratete er seine damalige Freundin Sarah. Noch immer kam er regelmäßig mit ihr und den Kindern Tyler und Sian nach Irland. Deira hatte ihn Anfang des Jahres gesehen; bei seinem letzten Aufenthalt war sie allerdings zu sehr mit einer bevorstehenden Ausstellung beschäftigt gewesen und ein Treffen nicht zustande gekommen.

Er hatte ihr eine Nachricht geschickt, als er die Sache mit Gavin mitbekam. Es gehe ihr gut, schrieb sie zurück, worauf er mit einem Daumen-hoch-Emoji antwortete. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört.

Deira selbst kehrte nur selten nach Galway zurück und wenn, hielt sie sich lieber im Zentrum auf als bei Gill am Stadtrand. Ihre Schwester kam jedoch jährlich mindestens ein halb Dutzend Mal nach Dublin und übernachtete immer in Deiras Häuschen am Grand Canal. Das hatte zu Spannungen zwischen Deira und Gavin geführt, der wissen wollte, warum ihre Verwandtschaft nicht im Hotel unterkam wie andere Menschen auch. Wie kamen die bloß auf die Idee, es sei völlig in Ordnung, sich jedes Mal, wenn sie nach Dublin kamen, bei ihnen häuslich niederzulassen? Brüstete sich Gill nicht ständig damit, wie hervorragend ihr Mann Bob verdiene? An dieser Stelle zwinkerte er Deira stets zu, worauf sie lachen musste, denn Bob arbeitete wie Gavin und sie bei einer Lebens- und Rentenversicherung, aber im Gegensatz zu Gavin, der dem Vorstand angehörte, war er im mittleren Management steckengeblieben.

Von ihren Erinnerungen überwältigt, sank Deira aufs Bett. Damals waren es Gavin und sie gegen den Rest der Welt gewesen, zumindest hatte es sich so angefühlt. Jetzt hatte sich die Achse ihrer Welt verschoben. Und ihre Schwester, auch wenn sie sich bisher die markigen Worte »ich hab's dir ja gesagt« verkniffen hatte, klopfte sich innerlich bestimmt selbstzufrieden auf die Schulter.

Deira blieb kurz mit geschlossenen Augen sitzen und kämpfte mit den Tränen. Dann richtete sie sich kerzengerade auf, fuhr sich nochmals mit der Bürste durchs Haar und verließ ihre Kabine.

Sie war nicht in Urlaub gefahren, um tiefbetrübt in der Vergangenheit herumzustochern. Sie war hier, um an ihre Zukunft zu denken. Auch wenn diese momentan wenig erfreulich aussah.

4. Kapitel

Von Ringaskiddy nach Roscoff: 580,2 km

Im Restaurant wurde Deira an einen Zweiertisch in der Nähe des Panoramafensters beim Achtersteven geführt. Fast alle Plätze waren belegt. Die meisten Gäste schienen Iren zu sein, die gerade ihren Urlaub angetreten hatten. Deira, die normalerweise stets geflogen war, wohin die Reise auch ging, hatte nicht geahnt, dass viele Menschen das anders handhabten, auch wenn Gavin und sie bei der Buchung der Reise gewitzelt hatten, sie müssten endlich einmal ihren CO2-Abdruck verringern. Die Speisekarte in der Hand, die ihr der Kellner gereicht hatte, überlegte sie, ob sie zukünftig nicht öfter auf diese Weise reisen solle.

Die Auswahl der Gerichte war durchaus appetitlich, auch wenn Deira sich nicht erinnern konnte, wann sie das letzte Mal etwas auswärts gegessen oder Hunger gehabt hatte. Was zumindest den Vorteil eines dramatischen Gewichtsverlusts hätte haben sollen, doch bedauerlicherweise bezog sich ihre Abstinenz in Sachen Nahrungsaufnahme nicht auf die allabendlichen zwei Gläser Wein mitsamt einigen Stückchen Schokolade. Nervennahrung, alles beides.

Als Vorspeise würde sie einen Salat vom Büfett nehmen, anschließend den kurz angebratenen Thunfisch von der Karte. Das Büfett war dermaßen reichhaltig, dass bei manchen sämtliche Zurückhaltungsdämme brachen und sie sich ihre Teller mit Fleisch, Meeresfrüchten, Salat, Käse und knusprigem Brot vollhäuften. Deira konnte geradezu hören, wie Gavin ihr zumurmelte, ein Büfett bringe im Menschen immer das Tier hervor. »Ein Gedrängel, als ob sie nie in ihrem Leben wieder etwas zu beißen bekämen«, hätte er gesagt. Denn genau das sagte er immer, wenn sie gemeinsam unterwegs waren und die heiße Schlacht am Frühstücksbüfett beobachteten. »Da verliert man wahrlich den Glauben an die Menschheit.«

Sie pflichtete ihm dann meistens bei. Sie pflichtete ihm meistens bei – weshalb die Leute oft sagten, sie seien ein tolles Paar.

Deira stellte eine kleine Schüssel mit Garnelen auf einen Teller, tat sich noch Salat auf und ging zu ihrem Tisch zurück. Aus ihrer Handtasche holte sie ihr iPad, machte es zwar an, klickte jedoch auf keine der Apps, sondern starrte während des Essens einfach nur in die Ferne.

Unvermutet stand der Kellner erneut neben ihr und Deira überlegte kurz, ob sie sich wohl zu großzügig am Büfett bedient hatte, registrierte dann aber die Frau neben ihm. Groß und anmutig, eindeutig älter als Deira, doch ihr feines Gesicht ließ sie fast alterslos erscheinen. Das halblange, silbergraue Haar war modisch geschnitten und sie trug ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt, weiße Chinos und Espadrilles, gewissermaßen die Uniform der älteren Frauen auf dieser Fähre. An ihrem Hals glänzte eine Türkiskette. Die Frau sah so elegant aus, dass Deira sie sofort für eine Französin hielt.

»Dieser Tisch«, sagte der Kellner zur Französin.

»Ich hatte doch einen Einzeltisch reserviert«, wandte Deira ein.

»Leider reservieren wir keine Einzeltische«, entgegnete der Kellner. »Sie werden sich diesen teilen müssen.«

»Wenn ich Sie störe …« Die klare Stimme der Frau war zurückhaltend, sie sprach mit irischem Anklang.

»Ich … na ja … nein …« Deira schob ihr iPad zur Seite.

»Vielen Dank.« Die Frau setzte sich, der Kellner nahm ihre Bestellung, ein Glas Chablis, auf und ging.

»Tut mir leid, wenn ich Sie störe«, sagte die Frau. »Aber das kommt auf Fähren ständig vor, dass sie einem jemanden an den Tisch setzen. Alle wollen nämlich zur selben Zeit essen.«

»Schon in Ordnung«, meinte Deira, der eine weitere Unterhaltung erspart blieb, weil der Wein für ihre Tischnachbarin und ihr Hauptgang aufgetragen wurden.

Während des Essens widmete sie sich ihrem iPad, auf dem sie das Buch öffnete, das sie letzten Monat angefangen hatte. Normalerweise war sie nach vierzehn Tagen mit einem Buch durch, aber in letzter Zeit hatte sie Konzentrationsschwierigkeiten und obwohl der Stil süffig war, schweiften ihre Gedanken nach wenigen Seiten ab. Der Roman war ihr von Tillie empfohlen worden, die ihr inspirierende Lektüre nahelegte; er handelte von einer Frau, die einen schweren seelischen Schock erlitten hatte und auf der Suche nach ihrer inneren Mitte zu einer Andenwanderung aufgebrochen war. Deira war sich nicht sicher, ob ein seelischer Schock für ihre in letzter Zeit getroffenen Entscheidungen verantwortlich war, auch wenn die Tatsache, dass sie in einem guten Restaurant das köstliche Essen lustlos auf dem Teller hin und her schob, Bände sprach. Offenbar hatte sie ihre innere Mitte noch nicht wiedergefunden. Ich bin oberflächlich, sinnierte sie. Viel zu sehr auf materielle Dinge und leibliche Genüsse fixiert. Aber – und bei dem Gedanken musste sie automatisch lächeln – immerhin eine Autodiebin. So ganz gewöhnlich war sie dann doch nicht.

Die Frau gegenüber las ebenfalls, hatte ein abgegriffenes Exemplar von Hemingways Fiesta aus ihrer Handtasche geholt und auf dem Tisch liegen lassen, als sie zum Büfett ging. In ihrem ersten Collegejahr hatte Deira als Abschlussarbeit ihres Seminars über englische Literatur eine Analyse von Hemingways bekanntestem Werk verfasst – der nonchalante Antisemitismus sei schockierend, befand sie, die Figuren unsympathisch, die Dialoge gestelzt. Ihr Dozent hatte sie wohlgefällig betrachtet und geäußert, wenn sie erst einmal selbst ein Meisterwerk verfasst habe, dann sei sie eventuell in einer Position, einen Klassiker des 20. Jahrhunderts in Bausch und Bogen in die Pfanne hauen zu dürfen. Sie habe die Aufgabe gehabt, einen kritischen Essay über Fiesta zu schreiben, hatte Deira entgegnet, keine Lobhudelei. Hemingways angebliches Meisterwerk strotze nur so vor Chauvinismus und darauf hinzuweisen, sei ihr gutes Recht.

Der Professor hatte damals gelacht, er möge Menschen, die ihren Standpunkt verteidigten, auch wenn dieser völlig falsch sei, deshalb werde er die Arbeit gut benoten, auch wenn er diametral entgegengesetzter Meinung sei, und zwar in allen Punkten. Dieser Zwischenfall war ein Wendepunkt für Deira gewesen; bis zu ihrem Schlagabtausch mit dem Dozenten war sie eine schüchterne, zurückhaltende Studentin gewesen. Doch seit diesem Tag war sie jemand, der für sich selbst einstehen konnte, wurde sicherer in ihrem Auftreten. Dieses Selbstbewusstsein hatte sie lange begleitet, doch plötzlich war ihr diese innere Stärke abhandengekommen. Vielleicht würde sie mit dieser Reise ihre innere Mitte allmählich zurückgewinnen.

Ihre Tischnachbarin blätterte während des Essens in ihrem Buch, legte es, nachdem sie mit ihrem geräucherten Lachs fertig war, aber zur Seite. Sie sah hoch und bemerkte, dass Deira sie beobachtete.

»Schon komisch, wenn man sich so wortlos gegenübersitzt, auch wenn die meisten von uns, die einen Einzeltisch wollen, nicht zu den Leuten gehören, die sich sofort mit Wildfremden anfreunden«, bemerkte sie. »Trotzdem ist es unhöflich, wenn man nicht einmal weiß, mit wem man zusammensitzt. Ich heiße Grace. Grace Garvey.«

»Deira O'Brien.«

Bei näherer Betrachtung schätzte Deira Grace auf Mitte fünfzig, eventuell etwas älter. Doch ihre Haut war glatt und nahezu makellos, als jüngere Frau musste sie eine echte Schönheit gewesen sein. Genau genommen war sie immer noch schön.

»Sind Sie schon einmal auf diesem Schiff mitgefahren?«, fragte Grace.

Deira schüttelte den Kopf. »Mein erstes Mal.«

»Bei mir ist es das zehnte, vielleicht sogar das elfte Mal.« Grace lächelte. »Als meine Kinder noch kleiner waren, haben wir das jedes zweite Jahr gemacht.«

Deira blickte sich um, als könnte Grace' Familie gleich aus dem Nichts auftauchen.

»Dieses Jahr bin ich allein unterwegs«, sagte Grace.

»Ich auch.«

Es war eine Erleichterung, dass sie nicht als Einzige allein reiste. Der Anblick der vielen Familien an Bord war für Deira besonders schwierig. Denn wenn die Dinge anders gelaufen wären, wenn sie selbstsicherer gewesen wäre, hätte sie zur unbeschwerten Menge derjenigen gehört, die nach Frankreich zum Zelten fuhren. Sie hätte ihre Kinder in die endlose Warteschlange im Selbstbedienungsrestaurant gescheucht in der bangen Hoffnung, sie würden sich benehmen, anders als die entspannten französischen Eltern, deren Kinder offenbar tadellose Tischmanieren hatten. Deira wusste, ihre Sprösslinge wären nach Gavin und ihr geraten, nicht zu bändigen. In diesem gediegenen Umfeld hätten sie keine Minute still gesessen. Die reinsten Quälgeister.

Nein, unterdrückte sie diesen Gedanken. Ihre Kinder wären vielleicht lebhaft gewesen, aber keine Quälgeister. Dafür hätte sie gesorgt.

»Wohin geht's bei Ihnen anschließend?«, fragte sie Grace, die ihren Salat aufgegessen, aber den Hemingway noch nicht wieder aufgeschlagen hatte.

»Ich fahre nach Südspanien, nach Cartagena.«

Erstaunt sah Deira sie an. »Ab Roscoff? Ganz allein? Das müssen mindestens zweitausend Kilometer sein.«

»Siebzehnhundert«, erklärte Grace. »Aber es werden noch ein paar mehr, weil ich diverse Abstecher machen möchte. Und Sie?«

»Ursprünglich wollte ich nach Paris fahren, doch seit ein paar Stunden bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ob ich das wirklich machen soll.«

»Ich hatte immer zu viel Manschetten, in Paris Auto zu fahren«, meinte Grace. »Ich hätte es trotzdem wagen sollen, denn jetzt fehlt mir der Mumm erst recht.«

»Wenn ich ehrlich sein darf, Sie sehen aus wie eine Frau, die alles bewerkstelligt, was sie sich in den Kopf setzt«, sagte Deira.

Grace lächelte. »Vielen Dank fürs Kompliment.«

»Wahrscheinlich ist das Autofahren in Europa für Sie gar kein Problem, nachdem Sie diese Reise schon fast ein Dutzend Mal unternommen haben.«

»Ich habe mich dabei nur zweimal hinters Steuer gesetzt«, klärte Grace sie auf. »Und weiter als La Rochelle kam unsere Familie nicht. Meistens fuhr mein Mann, der traute meinen Fahrkünsten nicht so recht.«

Deira war um eine Antwort verlegen. Grace' Stimme hatte einen Unterton gehabt, der vermuten ließ, dass sie sich nicht gern zur Beifahrerin degradieren ließ. Wo wohl der Ehemann momentan war? Doch sie fragte nicht nach.

Der Kellner trug Grace' Hauptgericht auf (sie hatte sich ebenfalls für den Thunfisch entschieden) und räumte Deiras Teller ab. Deira bestellte Kaffee und ging auf Dessertsuche zum Büfett. Aus reiner Gewohnheit ließ sie die leckeren Schokoladentörtchen sowie die verschiedenen Käsekuchen links liegen und nahm stattdessen Obstsalat und Joghurt.

Grace war inzwischen in ihr Buch vertieft und sah nicht hoch, als Deira sich setzte. Wahrscheinlich hätte die andere ebenso gern einen Einzeltisch gehabt wie Deira. Und dennoch war es nett gewesen, sich mit jemandem zu unterhalten. Zudem verströmte Grace' ruhige, melodische Stimme etwas Tröstliches, ihre Gelassenheit wirkte beruhigend. Deira konnte sich gut vorstellen, wie diese Frau entspannt in einem Auto quer durch Frankreich und Spanien fuhr. Sie hatte keine Ahnung, wie lange so eine Reise dauern würde, aber ganz sicher länger als die gut sechs Stunden von Roscoff nach Paris. Deira hatte sich die Strecke zur französischen Hauptstadt angesehen, nachdem Gavin die Fähre gebucht hatte, und sich gewundert, warum er keine nach Calais ausgewählt hatte. Paris lag nicht einmal zwei Autostunden von Calais entfernt. Seine Begründung lautete, er wolle die Route Cork nach Roscoff nehmen, weil die Überfahrt das letzte Mal ganz wunderbar gewesen sei, und er wolle das mit ihr gemeinsam nochmals erleben. Da war sie verstummt, denn sie sprachen nie von seinem Leben vor ihr. Als er mit Marilyn verheiratet, Teil einer Familie gewesen war – Vater, Mutter und zwei gemeinsame Kinder.

Deira hatte nie vorgehabt, Teil seines Lebens zu werden.

Und doch war es so gekommen.

Eine Zeitlang war es das Beste, was ihr je passiert war.

5. Kapitel

Dublin, Irland: 53.3498 ‌°N 6.2603 ‌°W

Sie war fünfundzwanzig gewesen und seit fast einem Jahr bei Hagan's Fine Art Gallery and Auction Rooms beschäftigt, als Gavin Boyer hereinkam. Er stach ihr sofort ins Auge, ein großer, selbstsicherer Mann mit pechschwarzem Haar, der die sorgfältig inszenierten Kunstobjekte ignorierte und zielstrebig auf den Mahagonischreibtisch zustrebte, hinter dem sie saß. Er nannte seinen Namen und wollte Kevin Hagan sprechen.

»Mr Hagan ist heute nicht im Haus.« Obwohl Gavin kurz angebunden gewesen war, blieb Deira höflich. »Er ist in London. Kann ich ihm etwas ausrichten?«

»Er kann nicht in London sein, wir haben einen Termin«, sagte Gavin.

»Tut mir leid, Mr Boyer, er ist wirklich in London und wenn Sie einen Termin mit ihm vereinbart haben, hat er wohl das Datum verwechselt.« Deira wusste, dass sie recht hatte, warf aber trotzdem einen Blick in ihren Computer. »In seinem Kalender ist nichts eingetragen.«

»Ich hätte ihm eine Bestätigung schicken sollen«, sagte Gavin verärgert. »Er ist ein hoffnungsloser Fall.«

Deira schwieg, stimmte aber im Stillen dem attraktiven Mann zu, der vor ihr stand. Kevin war ein hoffnungsloser Fall, was Termine betraf, vor allem, wenn er sie selbst vereinbarte. Wenn es um Kunst und Antiquitäten ging, achtete er auf das winzigste Detail, bei allem anderen war er ein Schussel.

»Der früheste Termin, den ich Ihnen anbieten kann, ist Montagnachmittag – falls Ihnen das etwas bringt«, schlug sie vor.

»Dann eben Montag.« Er lächelte unvermittelt und sah gar nicht mehr wie ein alter Griesgram aus. Alt war er ohnehin nicht, ging Deira durch den Kopf, während sie den Termin blockte. Älter als sie jedoch auf alle Fälle. Wahrscheinlich Ende dreißig, Anfang vierzig.

»Wenn Sie schon einmal hier sind, möchten Sie sich die Galerie ansehen?«, fragte sie. »Wir haben einige großartige neue Arbeiten hereinbekommen. Sie können sich selbstverständlich auch die Auktionsposten ansehen.«

»Ich schau mich kurz um«, sagte Gavin. »Auch wenn Kevin das nicht verdient hat.«

Deira beobachtete hinter ihrem Computer, wie er durch die Galerie streifte, vor manchen Gemälden stehen blieb, andere links liegen ließ. Vornehm sah er aus, fand sie, und Ahnung hatte er auch, denn er widmete den besseren Künstlern mehr Zeit, sah sich die Gemälde eingehend an. Sie lächelte, als er eines ihrer Lieblingsbilder studierte – Mutter und Kind, die auf einer Bank am Flussufer saßen und leuchtend orangefarbene Regenschirme über ihren Köpfen hielten.

»Ist das nicht entzückend?« Mit einer Broschüre ging sie zu ihm hinüber. »Das ist von Thelma Roache. Wir haben noch mehr Werke von ihr, alle sehr leuchtend, voller Leben.« Sie drehte sich um und zeigte auf ein anderes Bild. Eine Frau rannte auf einen Zug, eine smaragdgrüne Tasche über der Schulter, ihr gelber Mantel war aufgesprungen.

»Absolut.« Gavin nahm ihr die Broschüre aus der Hand, sah aber weiterhin unverwandt das Bild von Mutter und Kind an.

»Mir gefällt der Kontrast zwischen den farbintensiven Regenschirmen und der Umgebung«, erklärte Deira. »Und dass das Gemälde so fröhlich wirkt, obwohl der Fluss so dunkel und deprimierend aussieht.«

»Ist das Ihre fachliche Interpretation?« Er hörte sich belustigt an.

Sie warf ihm einen verlegenen Blick ob ihrer unverhüllten Begeisterung zu. Doch der Mann musterte sie interessiert.

»Weniger fachlich als persönlich«, gab sie zu. »Ich mag Thelma Roache und finde, sie sollte bekannter sein. Wir stellen ihre Werke erst seit kurzem aus, aber sie ist phantastisch. Sie ist schon älter und eine Frau, wahrscheinlich ist sie deshalb weniger anerkannt. Sie malt seit den Siebzigern.«

Gavin sah erstaunt drein.

»Aber Frauen bekommen gemeinhin weniger Aufmerksamkeit als Männer«, sagte Deira, »egal, wie gut sie sind.«

»Frauen im Allgemeinen oder Künstlerinnen im Besonderen?«

»Frauen im Allgemeinen und Künstlerinnen im Besonderen.«

»Sind Sie sich da sicher?«

»Ich habe mich unter anderem damit in meiner Abschlussarbeit befasst.«

»Sie haben Kunst studiert?«

»Kunstgeschichte und Neuere Literatur«, erklärte sie. »Mein Bruder meinte, der Abschluss sei nichts wert, doch damit habe ich diesen Job bekommen.«

»Wollen Sie nicht lieber selbst als Künstlerin oder Schriftstellerin tätig sein?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann die Arbeit anderer einschätzen, aber ich kenne meine künstlerischen Grenzen. Ich finde gern für Menschen Gemälde, die zu ihnen passen. Oder gestalte Ausstellungen mit – ein guter Weg, die Schönheit der Kunst – ob Gemälde, Skulpturen, Schmuck oder Bücher – vielen Menschen nahezubringen.«

»Haben Sie viele Ausstellungen organisiert?«

»Bisher nur eine. Aber die war der Knaller. Wir haben alle Gemälde verkauft.« Sie strahlte ihn an.

Da er nichts erwiderte, fragte sie sich, ob sie den Bogen überspannt hatte, doch er sagte nur, er komme am Montag zu seinem Termin mit Kevin und sie sei dann hoffentlich auch da.

Nachdem er gegangen war, kam Deira die Galerie seltsam leer vor.

Kevin kehrte voller Begeisterung über unbekannte Künstler aus London zurück und entschuldigte sich, dass er seinen Termin mit Gavin Boyer versemmelt hatte.

»Mir war nicht bewusst, dass das ein verbindliches Treffen war«, erklärte er. »Aber alles in Butter, ich habe mit ihm telefoniert und er nimmt's mir nicht übel.«

Er saß in seinem Büro, als Gavin am Montagnachmittag Punkt vier Uhr die Galerie betrat. Deira brachte ihnen Kaffee und Kekse und gab dann weiter die Objekte für die anstehende Auktion antiker Schmuckstücke in ihren Rechner ein.

Hinterher erzählte Kevin ihr, Gavin spiele mit dem Gedanken, selbst Kunst auszustellen.

»Was? Er ist ein Konkurrent?« Deira war sprachlos.

»Keineswegs«, beruhigte Kevin sie. »Er ist Vorstandsmitglied einer Lebens- und Rentenversicherung. Sie wollen sich mehr in der Stadt engagieren und Kulturevents unterstützen.«

Sie verzog das Gesicht. »All diese Konzerne machen einen auf nett, während sie uns doch am liebsten ausquetschen wollen wie die Zitronen.«

»Vielleicht.« Kevin grinste. »Trotzdem lohnt es sich, dass wir uns reinhängen. Die Solas Life ist kürzlich in ein neues Gebäude gezogen, wo es offenbar einen Raum gibt, der sich für Ausstellungen eignet. Er denkt auch an historische Retrospektiven, sei es über verschiedene Aspekte der Stadt, große Musiker oder Schriftsteller. Als Erstes stellt er sich jedenfalls eine Kunstausstellung vor, und wir sollen ihm ein Konzept unterbreiten.«

»Das ist spannend«, musste Deira zugeben.

»Genau genommen hast du ihn schon auf eine Idee gebracht. Ihm haben die Bilder von Thelma Roache sehr gut gefallen. Er möchte ausschließlich Malerinnen präsentieren.«

»Oh«, machte Deira.

»Er meinte, du seist so geknickt gewesen wegen der geringen Anerkennung für diese Frauen, dass du deine Uniabschlussarbeit darüber verfasst hättest.«

»Geschlechterungleichheit in der Kunst«, korrigierte Deira ihn, »nicht nur in der Malerei. Du solltest es besser wissen, du hast sie ja gelesen.«

»Jedenfalls hast du schlafende Hunde geweckt.« Kevin ließ nicht durchblicken, ob er ihre Arbeit, um die er sie nach dem Vorstellungsgespräch gebeten hatte, tatsächlich gelesen hatte. Leise keimte in ihr der Verdacht auf, dass er sich die Mühe gespart hatte. »Na, dann hopp an die Arbeit. Er redet von ungefähr zwanzig Bildern, aber du musst dir natürlich zuvor den Raum bei Solas Life ansehen.«

»Ich soll die Ausstellung kuratieren?«

»Klar, warum nicht«, sagte Kevin vergnügt. »Schließlich bist du hier diejenige mit den Knallerideen.«

Deira machte die Organisation der Ausstellung riesigen Spaß; die Zusammenarbeit mit Gavin Boyer verlief viel problemloser als gedacht. Der Raum in dem Versicherungsgebäude, das in der Dawson Street lag, eignete sich ideal und Gavin befürwortete ihre Vorschläge. Am Abend der Vernissage dankte er ihr in seiner Rede vor den versammelten Gästen überschwänglich. Wider Willen fand Deira ihn charmant und fühlte sich geschmeichelt. Es tat gut, für eine Arbeit, die man liebte, gelobt zu werden, besonders wenn das Lob in Anwesenheit von Kulturminister und wichtigen Unternehmerpersönlichkeiten geäußert wurde. Hoffentlich würden sich diese Leute daran erinnern, dass Hagan's Gallery die Bilder zur Verfügung gestellt und die Ausstellung kuratiert hatte, ging ihr durch den Kopf, während sie ein Glas Weißwein in der Hand hielt, der mittlerweile viel zu warm war.

»Deira, ist das nicht herrlich?« Thelma Roache, die in einem himbeerfarbenen Samtkleid umwerfend aussah und ihr normalerweise offenes Haar zu einem eleganten Nackenknoten geschlungen hatte, ergriff ihren Arm. »Vielen, vielen Dank, dass Sie meine Arbeit vorgeschlagen haben. Möglichst viele Leute sollen mein Werk sehen und in einem Versicherungsgebäude herrscht mehr Kundenverkehr als in einer Galerie.«

»Gavin – Mr Boyer – hat seinen sämtlichen Kunden diesen neuen Raum für Kunst und Kultur eindringlich ans Herz gelegt«, sagte Deira. »Aber er steht nicht nur den Kunden offen, jeder hat Zutritt. Bestimmt wollen viele Menschen die Ausstellung sehen.«

»Das wäre natürlich mein größter Wunsch.« Thelma strahlte sie an. »Ich bin keine so arrivierte Malerin, dass ich nicht noch immer davon alpträume, in meinem Dachkämmerlein zu verhungern. Zu wissen, dass meine Bilder gesehen werden, ist eine große Sache für mich.«

»Sie werden sich bestimmt verkaufen«, versicherte Deira ihr, »auch die Ihrer Kolleginnen.«