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Wer zieht die Fäden? Wer steckt dahinter? Wem nützt es? Immer mehr Menschen stellen sich angesichts der überbordenden Komplexität unserer globalen Gegenwart Fragen dieser Art. Die unlesbar gewordene Welt muss eine verborgene Seite, ein geheimes Reich des tiefen Staats im Staate und der Neuen Weltordnung besitzen, in dem Pläne geschmiedet, Informationen manipuliert und Gedanken kontrolliert werden. Dabei handelt es sich nicht länger nur um Verschwörungstheorien. Donatella Di Cesare diagnostiziert einen Komplottismus als Symptom einer demokratischen Gesellschaft, die in weiten Teilen entpolitisiert ist. Das Komplott ist die Form, in der sich die Bürgerinnen, die sich einer gesichtslosen, techno-ökonomischen Macht ausgeliefert fühlen, auf die Welt beziehen. Der Komplottismus, der die Leere der Demokratie freilegt, erweist sich so als gefährliches Instrument zur Manipulation in einer Welt, in der die gemeinsame Wahrheit in Scherben liegt. In ihrem luziden und originellen Essay sondiert die italienische Philosophin die neuartigen Aspekte eines weltweiten Phänomens vor seinen historischen Hintergründen. Dabei tut sie das Verschwörungsdenken nicht als bloßes Hirngespinst oder argumentativen Fehlschluss ab, sondern entwickelt eine neue Perspektive, in der das Komplott als Phantom der gesichtslosen Macht eine zersplitterte Gemeinschaft heimsucht.
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Seitenzahl: 160
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Donatella Di Cesare
Aus dem Italienischen von Daniel Creutz
Wer zieht die Fäden? In den Untiefen der Intrige
Die Politik und ihr Schattenreich
Die Unlesbarkeit der Welt
Rätsel und Missverständnisse
Das Dispositiv des Komplotts
Demokratie und Macht
Die Ursache allen Übels
Mythenhungrig
Der Friedhof von Prag: Die Urszene des Komplotts
Die Wortführer der Täuschung
Souveränes Ressentiment
Die Neue Weltordnung
Der »Große Austausch« und die Patrioten von QAnon
Der extreme Kitzel der Apokalypse. Kosmische Feinde
Komplottismus und Populismus
Opferrolle und politische Ohnmacht
Komplottistische Häresie? Eine Kritik an Eco
Transparenz und Geheimnis. Zur Presse
Lob des Verdachts
Jenseits des Antikomplottismus
Anmerkungen
Weitere Literatur
Nur wenige Zeichen – und die auf Twitter lancierte Nachricht verbreitet sich prompt und unauslöschlich im planetarischen Raum des Netzes. Die Follower retweeten, Sympathisanten leiten sie weiter. Das auf den ersten Blick harmlose Gezwitscher bringt einen Zweifel zum Ausdruck, wirft Fragen auf: »#5G Schützt Euch vor den bösartigen Wellen und schädlichen Signalen«, »#Bigpharma Wem nützt die Massenimpfung?« Die Einwände jagen diesem Gezwitscher hinterher, die Entgegnungen verfolgen es vergeblich, während einen der Verdacht beschleicht und sich Angst breitmacht. Eine große Erzählung ist da überhaupt nicht mehr vonnöten; einige wenige Klicks genügen, um die Stimmen des Komplotts in alle Welt hinauszutragen.
Im 21. Jahrhundert hat das Phänomen derartige Ausmaße angenommen, dass immer öfter von einem goldenen Zeitalter des Komplottismus die Rede ist. Kein unverhofft eintretendes Ereignis, das nicht zugleich auch einen Schauder des Misstrauens erregen würde: Umweltkatastrophen, Terroranschläge, unaufhaltsame Migrationen, Wirtschaftskrisen, brisante Konflikte, politische Umstürze. Nach erstem Erstaunen und Empörung greift Panik um sich, steigt die verschwörerische Fieberkurve an. Wer steckt dahinter? Wer zieht die Fäden? Wer hat jene Ränke geschmiedet? Man sucht nach den Schuldigen für Katastrophen, für Armut, Kriege, Ungleichheiten, aber auch für die unzähligen Gewaltakte, Übergriffe und Missbräuche, für einen allgemeinen Mangel an Ethik und Moral, für ein diffuses Unbehagen, für den unendlichen Sinnverlust.
Der Komplottismus ist eine unmittelbare Reaktion auf überbordende Komplexität. Er stellt eine Abkürzung, mithin den schnellsten und einfachsten Weg dar, um einer unlesbar gewordenen Welt beizukommen. Wer zum Komplott Zuflucht sucht, hält die Beunruhigung, die offene Frage nicht mehr aus. Er erträgt es nicht, in einer äußerst wandelbaren und zutiefst instabilen Landschaft zu wohnen, duldet kein Befremden, keinerlei Fremdheit. Er zeigt sich unfähig dazu, sich gemeinsam mit den anderen als exponiert, verletzlich und schutzlos wahrzunehmen, daher jedoch auch als umso freier und verantwortlicher.
Enthüllen, entlarven, entmystifizieren – die erklärende Allmacht des Komplotts lässt keine ungelösten Rätsel oder Geheimnisse zurück. Was bislang noch keine Antwort gefunden hat, erklärt sich durch die Evidenz des Komplotts. Ja, das muss die Lösung sein! In der aus dem Halbschatten hinausgetretenen Welt wird es möglich, trennscharf zwischen Weiß und Schwarz, Licht und Dunkel, Gut und Böse zu unterscheiden. Das Prisma des Komplotts lässt ein beruhigendes, streng manichäisches Szenarium aufscheinen.
Es wäre demnach ein Fehler, es als Spleen isolierter Splittergruppen, als leierhaft wiederholten Ohrwurm von Subkulturen, als Residuum prälogischer Mentalitäten oder schlicht als hartnäckigen Aberglauben anzusehen. Der Komplottismus ist kein Wiederaufleben einer Vergangenheit, die nicht vergehen will, keine Wiederkehr eines alten Gespenstes, dessen endgültiges Verschwinden wir vertrauensvoll erwarten dürften. Darin gleicht er eng verwandten Phänomenen wie dem Negationismus, dem Antisemitismus und dem Rassismus. Ja, man kann sogar sagen, dass das Prisma des Komplotts ein getreuer Spiegel unserer Zeit ist. Wenn Verschwörungserzählungen ein derart großer Erfolg beschieden ist und sie inzwischen die öffentliche Meinung beeinflussen und durchdringen, dann weil sie konkurrierende Bedürfnisse miteinander in Einklang bringen und gemeinsame Bestrebungen mobilisieren.
Als Phänomen an den Rändern – das jedoch alles andere als marginal bleibt – spricht der Komplottismus insbesondere diejenigen an, die sich als Opfer der gegenwärtigen Krisen und der beängstigenden Zukunft empfinden, zu einer frustrierenden Ohnmacht verdammt und zu Statisten in den »Spielen der Politik« herabgesetzt. Deswegen konnte die bislang obskure komplottistische Versuchung inzwischen zu einem Massenphänomen aufsteigen und erscheint zunehmend als eine gewöhnliche Weise des Seins, Denkens und Handelns.
Die stattliche und sich gerade in den letzten Jahren vervielfachende Anzahl einschlägiger Studien zum Thema, die sogenannten conspiracy studies, nehmen im Laufe des letzten Jahrhunderts auf den Weg gebrachte Untersuchungslinien auf, entwickeln diese weiter und ergänzen sie.1 Ihre Anlage bleibt jedoch nicht vom gängigen Negativurteil verschont, und ihre Grundhaltung reicht dementsprechend von gütiger Ironie bis hin zu strengster Missbilligung. Die vorherrschenden Interpretationslinien sind hauptsächlich zwei: Der Komplottismus wird entweder als psychische Pathologie oder aber als logische Anomalie betrachtet. Im ersten Fall fasst man die dunklen Winkel des Geistes ins Auge, in denen eine Clique winziger, allzeit zum Komplott bereiter Neuronen dem Denken unzählige Fallen stellt und es dazu treibt, einer angeborenen und gefährlichen Veranlagung nachzugeben, die sehr rasch degenerieren kann.2 Im zweiten Fall hingegen fokussiert man auf die Logik komplottistischer Aussagen, das heißt auf falsche oder verfälschte Sätze, kurz, auf die Fake News, die im Zeitalter der post-truth und des Postfaktischen allerorten verbreitet werden.3 In beiden Fällen handelt es sich um zutiefst normative Herangehensweisen. Der mutmaßliche Komplottist müsse einer kognitiven Umerziehung unterworfen werden, um die Verzerrungen seines Räsonnements zurechtzurücken. Zudem sei es erforderlich, seine Aussagen der Praxis des debunking zu unterziehen, also jenem Widerlegungsprozess, der deren Unlogik und Falschheit ans Licht bringt. Trotz all dieser unternommenen Anstrengungen funktioniert keine dieser beiden Therapien wirklich, während die komplottistische Welle weiter anwächst.
Entweder Delirium oder Lüge – eine solche Stigmatisierung bleibt nicht nur unwirksam, sie wirkt überdies meist kontraproduktiv. Wie stets nützen polizeiliche Sanktionierungen des Denkens und inquisitorische Denunziationen wenig. Dennoch konnte sich seit einiger Zeit eine antikomplottistische Vulgata etablieren, die den Besitz der Wahrheit für sich reklamiert und die als deviant, irrrational und gefährlich eingestuften Theorien ins Lächerliche zieht und delegitimiert. Ein solcher polemischer und pathologisierender Ansatz, der jedwede Kritik an den Institutionen von vornherein abqualifiziert, befeuert jedoch letztlich nur das Spiel der gegnerischen Parteien und vertieft eine zusehends unüberwindliche Kluft: auf der einen Seite diejenigen, die sich dazu bekennen, gegen das System zu sein und als Komplottisten beschuldigt werden; auf der anderen Seite jene, die sich auf die Richtschnur der eigenen Vernunft verlassen und wiederum bezichtigt werden, der herrschenden Ideologie Vortrieb zu leisten. Kurzum: Ein allzu reduktiver Antikomplottismus läuft Gefahr, die Fronten zwischen »offizieller« und »verborgener« Wahrheit weiter zu verhärten und dem Verständnis eines komplexen, polyedrischen Phänomens im Weg zu stehen.
Der Komplottismus ist weder ein mentaler Krampf noch eine Anhäufung irregeleiteter Argumente. Er ist vielmehr ein politisches Problem. Er betrifft nicht so sehr die Wahrheit als vielmehr die Macht. So gesehen ist es durchaus verwunderlich, dass in der breiten Reflexion zum Thema bislang ausgerechnet dieser entscheidende Knotenpunkt noch nicht ausreichend beleuchtet wurde: derjenige nämlich, der Komplott und Macht miteinander verknüpft.
Wer die offizielle Version bestreitet, zielt darauf ab, diejenigen anzugreifen, die Wissen und Macht in den Händen halten. Das Misstrauen gegenüber der Politik, den Institutionen, den Medien, den Experten steigert sich zu systematischer Ablehnung und wird zu einer Spirale des grenzenlosen Verdachts. Wenn sich katastrophische Ereignisse unter dem trüben Himmel der Globalisierung multiplizieren und die Welt auf ein unaufhaltsam vordringendes Chaos zuzusteuern scheint, dann wegen der »Kaste«, der »Oligarchie«, dem »internationalen Finanzwesen«. Das bringt die Forderung mit sich, den Blick zu schärfen und die geheimen Pläne der »Neuen Weltordnung« zu entlarven. Denn welche Art von Revolte wäre überhaupt noch denkbar gegen eine vollkommen gesichtslose Macht? Das stillschweigende Eingeständnis dieser Ohnmacht geht mit einem dumpfen Ressentiment einher, mit sich aufstauender Wut und dem unaufschiebbaren Bedürfnis, jenes Komplott an der Macht endlich aufzudecken. In der Spiegelgalerie des Komplottismus sind es dabei stets die anderen, die sich verschwören und Komplotte schmieden – und wer dementsprechende Anschuldigungen erhebt, will sich im Grunde nur verteidigen. »Okkulte Kräfte« und »starke Mächte« werden von einer politischen Theorie herbeizitiert, welche die globale Governance als Komplott ansieht und sich deshalb einer Strategie und Praxis der Gegen-Macht verschreibt, die unausweichlich als Gegen-Komplott verstanden wird. Die »Schwachen« besäßen überhaupt keine andere Möglichkeit des Widerstands gegen die »Herren der Welt«.
Der Komplottismus verleiht einem diffusen Unwohlsein Ausdruck und offenbart tiefreichendes Unbehagen. Er ist kein bloßes Anzeichen von Obskurantismus, sondern ein obskures Symptom. Er verweist auf die Krise, welche unsere Demokratien durchzieht. Wie viele gebrochene Versprechen! Wie viele verratene Hoffnungen! Aber welche andere Bedeutung kommt jenem viel herbeizitierten Terminus der Demokratie zu, wenn nicht die einer so lange erwarteten »Regierung des Volkes«? Und doch fühlt sich – wie in einem bitteren Scherz – das souveräne Volk alles andere als souverän. Die demokratische Macht scheint – von jener unkontrollierbaren des Komplotts bedroht – zu entgleiten. Dies ist bereits mehr als ein Verdacht: Die Demokratie scheint völlig illusorisch zu sein. Es wechseln die Regierungen, Parteien lösen einander ab, aber nichts ändert sich wirklich. Zurück bleibt der sogenannte »tiefe Staat«, jene institutionelle Macht, die sich dank der Kasten, Lobbys, Banken, Dynastien und Mediengruppen intakt halten und verstetigen kann. Das sind sie also, die mehr oder weniger heimlich die Fäden in den Händen halten, hier haben wir es endlich, das Fundament und Prinzip der wahren Macht!
Dass es neuerdings aber Präsidenten und Regierungschefs sind, die den deep state anprangern und eine Verschwörung wähnen, sollte zum weiteren Nachdenken anregen. Es handelt sich nämlich nicht nur um einen Vorwand, um sich aller Regierungsverantwortung zu entschlagen, und auch nicht nur um ein Vorgehen zu Zwecken geopolitischer Verteidigung. Der »tiefe Staat« wird zum Losungswort, um hinterlistig die ubiquitäre Qual zu verschärfen, in welche die demokratische Begeisterung inzwischen umgeschlagen ist. Man unterstellt, dass die Demokratie jeglichen Wertes entleert würde, ja, dass sie bereits nichts anderes mehr sei als eine »Farce«. Der komplottistische Zweifel läuft hier mit einer bestimmten populistischen Auffassung der Volkssouveränität zusammen, die zum Simulacrum von »starken Mächten« geronnen sei.
Ist es denn möglich, dass die Demokratie nur ist, was sie zu sein scheint? Der leere Ort der Macht erscheint allzu leer. Weshalb der Komplottismus kurzerhand wieder die archaische Vorstellung einer absoluten und mit der Demokratie unvereinbaren Macht schürt. Aber womöglich ist der Komplottismus gerade die Maske der Macht in Zeiten der Macht ohne jedes Gesicht. Dann wäre es vielmehr geboten, dieses archaische Dispositiv selbst zu demaskieren, das dazu antreibt, eine arché – ein Prinzip und einen Befehl – vorauszusetzen, welche die Demokratie bereits seit Langem destituiert haben sollte.
Millionen Menschen auf der ganzen Welt glauben, die Politiker seien nichts als Marionetten in den Händen okkulter Kräfte. Nicht alles ist, wie es zu sein scheint. Hinter der sichtbaren, aber trügerischen Wirklichkeit verbirgt sich eine andere – eine authentischere und wahrere. Eine solche Spaltung der Wirklichkeit, diese Dichotomie von Innen und Außen, Oberfläche und Tiefe, die an das platonische Höhlengleichnis erinnert, bestimmt die politische Metaphysik der Gegenwart. Wenn es aber nur gesteuerte Strohpuppen und illusorische Simulacra sind, die sich in jenem Schattenreich bewegen, das sich als Wirklichkeit ausgibt, dann stellt sich die Frage, wo sich die Puppenspieler verstecken. Wer steckt dahinter? Wer regiert die Regierenden? Wer zieht die Fäden?
Diese Fragen, die bereits offen auf das Komplott hindeuten und zulaufen, lenken den Verdacht auf den Ort der Macht und das Fundament der Autorität. Insbesondere aber geht es darum, sich zu vergewissern, wer tatsächlich in deren Besitz ist. Sind es vielleicht diejenigen, die ein juridisches Mandat für sich beanspruchen und daher politische Ämter bekleiden dürfen? Oder aber ganz andere Instanzen, die unter der Hand einen weitaus größeren Handlungsspielraum besitzen, für dessen Ausschöpfung sie jedoch nicht verantwortlich gemacht werden können? Während sich die Wirklichkeit aufspaltet, kommt die Kluft zwischen offizieller und offiziöser Macht zum Vorschein, zwischen der anerkannten, jedoch impotenten und der verborgenen, aber effektiven Macht. Hinter der Fassade der scheinbaren Wirklichkeit mit ihren eingespielten Hierarchien, geordneten Verhältnissen und Prinzipien, bei der ein naiver und unbedarfter Blick stehen bleiben mag, verbirgt sich eine zweite, bedrohlichere und wirklichere, die von einer Macht bewohnt wird, deren Existenz, ja selbst deren Möglichkeit niemand vermutet hätte. Darin bewegen sich Individuen und Gruppen, die von familiären Banden, persönlichen Beziehungen, wirtschaftlichen Interessen und politischen Bestrebungen zusammengehalten werden. Eine solche Mitwisserschaft, die keinerlei juridisches Statut besitzt, bedeutet – mit gesenkten Augen beifällig nickend – ein fortwährendes gegenseitiges Unterstützen und Begünstigen in der Ausübung der Macht. In jenem zwielichtigen Halbschatten ist in Ränken, Netzwerken und Banden das Komplott am Werk.
Welche Kräfte regieren die Nation? Welche steuern den Markt? Welches Gesicht haben die Herren der Welt? Wer bestimmt den Gang der Geschichte? Gesucht werden die Verantwortlichen unzähliger Intrigen: Bankiers, Finanzleute, Kapitalisten oder aber Anarchisten, Umstürzler, Terroristen oder auch Juden, Internationalisten, Kosmopoliten, fremde Mächte, ausländische Agenten – die Mutmaßungen beginnen zu wuchern.
Gewiss ist indes, dass der Komplottismus triumphiert und – weit davon entfernt, ein Nischenthema zu bleiben – als ein globales Phänomen massenhafte Ausmaße annimmt. Verschwörungserzählungen haben sich im öffentlichen Raum breitgemacht und können nicht mehr, wie ein altes Klischee noch will, für Hirngespinste extremer Splittergruppen gehalten werden. Vielmehr bilden sie ein Kaleidoskop, mithilfe dessen viele das gegenwärtige Weltgeschehen lesen. Niemand scheint dem mehr vollständig entkommen zu können.
Die Geschichte ist lang und die Beispiele vielzählig. Blickt man in die jüngere Vergangenheit, so ist das vielleicht emblematischste die Ermordung von John F. Kennedy: Die allermeisten schenken der »offiziellen Version« mittlerweile keinen Glauben mehr und hängen der Hypothese eines Komplotts an. Lee Harvey Oswald könne nicht der Einzige gewesen sein, der geschossen hat. Der Ku-Klux-Klan, die Mafia und die CIA müssen Beihilfe geleistet haben. Der Auslandsgeheimdienst, ein bösartiger Ausdruck amerikanischer Macht, ist ohnehin seit Langem der ideale Schuldige; sein Kürzel ist zum Siegel geworden, das zumindest vorübergehend jede weitere Untersuchung abschließt. In manchen Fällen hilft die Zeit eben nicht, die Zweifel zu zerstreuen. So glauben etwa immer mehr Menschen auf der ganzen Welt, die Anschläge vom 11. September seien das Ergebnis eines minutiös geplanten inside jobs unter direkter Beteiligung der amerikanischen Regierung. Die Liste der Komplotte ließe sich beliebig fortsetzen. Die Mondlandung von Apollo 11 sei in einem Fernsehstudio gedreht worden; der Klimawandel ein ausgemachter Schwindel von Wissenschaftlern; Obama ein aus Kenia stammender sozialistischer Muslim; George Soros wache über die Umsetzung des auf »ethnischen Austausch« der europäischen Völker abzielenden »Kalergi-Plans«; das Coronavirus sei eine im virologischen Institut von Wuhan ausgebrütete biologische Waffe aus chinesischer Herstellung; die Impfungen dagegen stellen ihrerseits einen überaus gefährlichen Notbehelf dar, da sie Pathologien wie Autismus Vorschub leisten. Die Intrigen von Big Pharma bilden eine beständige Quelle der Besorgnis, während der obskure Aufbau der »Neuen Weltordnung« tiefe Beunruhigung erzeugt.
Spuren des Komplotts finden sich überall, in der durch Chemtrails verschmutzten Atemluft, in dem mit Fluoriden durchsetzten Trinkwasser, in der irreparabel verseuchten Erde. Und ein Komplott ist auch auf der Basis von in der Vergangenheit wie in der Zukunft notwendig unentziffert bleibenden Spuren und Indizien aufzudecken. Dasjenige, dem man für gewöhnlich Glauben schenkt, ist nichts als eine Lüge, während die Wahrheit anderswo zu suchen ist. Also gilt es, auch die Geschichte von Neuem zu durchforsten, um die Komplotte zu entlarven, die weiterhin ihre anhaltende Wirkung entfalten. Und der allergrößte geglückte Betrug – so viel sei sicher – bleibt jener gewaltige »Mythos«, demzufolge Adolf Hitler sechs Millionen Juden umgebracht habe.
Der Komplottismus erstreckt sich von der extremsten Rechten bis hin zur fabulösesten Linken. Aber auch abseits des politischen Lebens lässt sich nur schwerlich ein Bereich ausmachen, der gegen die komplottistische Infizierung immun wäre: von der ökonomischen Governance bis hin zum Gesundheitswesen, vom wissenschaftlichen Kontext bis hin zum kirchlichen Universum, um von der Geschichte gar nicht erst zu sprechen. Die mächtige Verbreitung von Verschwörungserzählungen, begünstigt auch durch das Wuchern von Fake News, wird von unzähligen Büchern, Aufsätzen, Artikeln, Filmen, Fernsehserien, Dokumentarfilmen und journalistischen Ermittlungen bezeugt, bei denen auch ansonsten aufmerksam verfahrende Analysen nicht davor gefeit sind, Fiktion und Realität zu vermischen. Die Komplottindustrie kann weltweite Erfolge für sich verbuchen, darunter populäre Filme und Serien wie Matrix oder X-Files, aber auch Bestseller wie Dan Browns Da Vinci Code-Reihe, der auf alte antisemitische Stereotype zurückgreift und diese zu einer verharmlosenden Saga vermengt. Die Faszination für komplottistische Themen und Gegenstände überschreitet also die Grenzen der für sich genommen schon stattlichen Literatur des einschlägigen Genres, das sowohl Bücher, die Beweise und Gegenbeweise bezüglich einzelner Ereignisse beibringen, als auch Sammelbände mit den Schriften bekannter Verschwörungstheoretiker umfasst.4 Diese sprunghafte Verbreitung oder Dissemination lässt sich mit einem regelrechten Spiegelspiel, einer zirkulären Wirkungskraft erklären, die von der Multiplizierung der Medien sowie des unbegrenzten Raums des Internets, in dem sich Verschwörungsvorstellungen wie ein Lauffeuer verbreiten, noch gesteigert wird. Wir befinden uns im Reich des medialen Nihilismus, in dem alle jederzeit an alles glauben – und niemand mehr wirklich an irgendetwas.
Seit einiger Zeit bietet der planetarische Raum das Schauspiel eines beunruhigenden Chaos. Tiefgreifende Umstürze, rapide Wandlungen, Krisen und unerwartete Ereignisse skandieren den beschleunigten Rhythmus eines Zeitalters, das – während es doch versprach, klar und deutlich, ja vollkommen transparent zu werden – in seiner ganzen ungeheuerlichen Undurchsichtigkeit aufscheint.
Die dem Kapital einverleibte Welt, die sich durch maßlose Verschuldung und abgründige Ungleichheiten auszeichnet, bildet ein instabiles und verworrenes Szenarium, das von Wutausbrüchen durchzogen und von einer diffusen Feindseligkeit umgetrieben wird. Der gespenstische Friede gerinnt zu einem endemischen Krieg, der Freund ist nicht mehr vom Feind zu unterscheiden, jedes Gesicht gleicht einer Maske. Alles scheint sich unter falscher Flagge abzuspielen.
Wir leben im Zeitalter der Ungewissheit. Die Angst vor den zunehmenden Gefahren wächst an, die Beklommenheit angesichts jener unbegreiflichen Vorfälle, die den Gang der Geschichte für immer umzulenken drohen, wird immer größer, die Furcht vor den Signalen einer heraufziehenden Katastrophe verschärft sich. Dem ersten Staunen folgt die kalte und nackte Empörung. Was geschieht, trotzt mit seiner unerträglichen Absurdität allem Verstehen.
Die Welt erscheint als unlesbar. Ihre Grammatik ist abstrus, ihre Syntax verworren. Es ist, als ließen sich keine inneren Zusammenhänge mehr erkennen, die zuvor noch alles zu einem Ganzen zu vereinen schienen. Der mythische Faden, den Ariadne Theseus zum Geschenk gemacht hatte, um sich mit dessen Hilfe im Labyrinth orientieren zu können, ist verschlissen, mehr noch: Er ist für immer gerissen. Diesem zeitgenössischen Drama eignet jedoch ein weiterer paradoxaler Zug, denn Theseus erkennt auch die Spuren nicht mehr, die er selbst hinter sich zurückgelassen hat. Als habe sich der Pfad nach langem Herumwandern derart komplex verschlungen, dass er kaum mehr nachvollziehbar ist. Es ist nun nicht mehr die Natur, die undurchdringlich ist; vielmehr ist jetzt die menschliche Geschichte selbst rätselhaft geworden.
Dies geschieht ausgerechnet am Gipfelpunkt der Globalisierung, wenn die eroberte, erschlossene und durchtechnisierte Welt endlich disponibel und stets zuhanden scheint. Das menschliche Subjekt hat diese als sein Gegenüber betrachtet und die eigene Weltanschauung ausgebildet, deren Grundlage der Glaube ist, sich selbst und die eigene Geschichte zu kennen. Doch auf einmal gelingt es jenem Subjekt, das sich für den Gebieter der Welt, für das privilegierte Zentrum des Systems, für den Regisseur des Handlungsgeflechts hielt, nicht mehr, sich zu orientieren. Es ist verloren. Die Zusammenhänge schwinden; die gesamtheitliche Anschauung löst sich auf. Im Konstrukteur der Welt steigt der Verdacht auf, selbst konstruiert worden zu sein. Der Lenker fühlt sich jetzt seinerseits gelenkt.