Von der politischen Berufung der Philosophie - Donatella Di Cesare - E-Book

Von der politischen Berufung der Philosophie E-Book

Donatella Di Cesare

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Beschreibung

Während in der vollends globalisierten, kapitalisierten und integrierten Welt ohne Außen Krise auf Krise folgt und menschenfeindliche Positionen immer mehr Raum gewinnen, verhält die Philosophie sich eigentümlich konformistisch: In Ethikkommissionen stellt sie hier und da eine zaghafte Empfehlung moralischer Angemessenheit aus und bescheidet sich ansonsten damit, das Bestehende intellektuell mitzuverwalten. In ihrer ebenso leidenschaftlichen wie scharfsinnigen Abhandlung ruft Donatella Di Cesare die Philosophie dazu auf, sich wieder ins politische Handgemenge zu begeben und in die Stadt, die globale Polis, zurückzukehren, aus der sie nach dem Tod des Sokrates vertrieben worden war. Getragen von radikalem Existenzialismus und einem neuen Anarchismus zeigt sie, dass in die abendländische Philosophie seit ihrem antiken Anfang eine politische Berufung eingeschrieben war, deren Verdrängung sie um ihr Wertvollstes, um ihre aufklärerische Potenz, bringt. Doch Kritik und Dissens allein reichen nicht mehr aus. Der Niederlage des Exils, der inneren Emigration eingedenk kehren die Philosophen jetzt zurück, um ein Bündnis mit den Unterdrückten zu schmieden. Ein fulminantes Plädoyer für die politische Relevanz der Philosophie, ihre radikale Zeitgenossenschaft und ihre atopische Widerstandskraft.

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Donatella Di Cesare

Von der politischen Berufungder Philosophie

Aus dem Italienischen von Daniel Creutz

Die Philosophie soll nicht prophezeien,aber sie soll auch nicht schlafen.

Martin Heidegger

Und so wird uns und euch die Polis wachendverwaltet werden und nicht träumend.

Platon

Wir verwirklichen uns nie. Wir sind zwei Abgründe –ein Brunnen, der in den Himmel schaut.

Fernando Pessoa

Inhalt

Die gesättigte Immanenz des Globus

Heraklit, das Wachen und der ursprüngliche Kommunismus

Lichtnarkose: Von der Nacht des Kapitals

Zur polis berufen

Staunen: Eine unruhige Leidenschaft

Zwischen Himmeln und Abgründen

Die Atopie des Sokrates

Ein politischer Tod

Platon: Als die Philosophie in der Stadt ins Exil ging

Migranten des Denkens

»Was ist Philosophie?«

Radikale Fragen

Der Außer-Ort der Metaphysik

Dissens und Kritik

Das 20. Jahrhundert: Zäsuren und Traumata

Nach Heidegger

Gegen Unterhändler und normative Philosophen

Ancilla democratiae: Eine traurige Rückkehr

Poetik der Klarheit

Kraftvolle Prophezeiungen des Sprunges: Marx und Kierkegaard

Die Ekstase der Existenz

Für eine Exophilie

Philosophie des Erwachens

Gefallene Engel und Lumpensammler

Anarchische Nachschrift

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Die gesättigte Immanenz des Globus

Es gibt kein Außen mehr. So präsentiert sich das letzte Stadium der Globalisierung. Bis zur Moderne dachten die Bewohner des irdischen Gestirns bewundernd, staunend und erschüttert über den Kosmos nach und richteten ihre Augen in den offenen Himmel. Jenes unermessliche Gewölbe bot ihnen gleichwohl Schutz, schirmte es sie doch gegen die absolute Äußerlichkeit ab, der sie sich ausgesetzt sahen. Als der Planet jedoch von vorne bis hinten erkundet – umrundet, besetzt, vernetzt, vor- und dargestellt – war, brach der kosmische Himmel auf, und es eröffnete sich ihnen: der Abgrund. Ihr Blick verlor sich im eisigen Außen. Die Herausforderung war ohne Beispiel. Die Entdeckung des Globus erscheint daher als die Geschichte einer »raumpolitischen Entäußerung«.1 Das Äußere übte eine magnetische Anziehungskraft aus, es zog an und stieß zugleich ab, wobei es die Alterität zu reduzieren, zu beherrschen und zu kontrollieren galt. Auch zu jener Zeit fehlte es dafür nicht an philosophischen Modellen. An die Stelle des kosmischspekulativen Universums, das Mutmaßungen, Intuitionen und Ideen über lange Zeit hinweg angeregt hatte, trat die kopernikanische Revolution, dank derer – während auch noch die äußersten Grenzen eine nach der anderen eingerissen wurden – mit Nachdruck der Anthropozentrismus proklamiert werden konnte. Das umherirrende Gestirn folgte dieser Bahn über Jahrhunderte hinweg in verwickelten Rotations- und Schwingungsbewegungen, ohne jedoch seinem Schicksal zu entgehen.

Bei Anbruch des dritten Jahrtausends kann die Globalisierung als vollendet gelten. Sie präsentiert sich als Resultat eines ununterbrochenen, von der treibenden Kraft der Welt geführten Monologes, einer höheren Gewalt, die unmöglich zum Stillstand zu bringen ist, als handele es sich um die Vernunft selbst. Jedwede kritische Instanz erwiese sich damit als überflüssig. Man stellt Analysen über die globale Situation an. Mehr aber auch nicht. Zum ersten Mal scheint die Philosophie vom Axiom der Aktualität überrollt zu werden.

Wie kann es in einer Welt ohne Außen noch Philosophie geben? Einer sorgfältigen Diagnose erscheint die ontologische Ordnung des Globus als diejenige einer gesättigten Immanenz, wobei Immanenz hier im etymologischen Sinne dessen zu verstehen ist, was bleibt, was in sich verbleibt, stets Innen, ohne Außen, ohne Äußerlichkeit. Es handelt sich um eine statische und verdichtete Immanenz: Weder gibt es Einschnitte noch Lücken, Fluchten oder Auswege. Die Sättigung ist eine räumlich-zeitliche. Das mag eventuell überraschen: Leben wir nicht vielmehr in einer Welt der absoluten Flüsse: des Kapitals, der Technik, der Medien? Information, Fusion und Dichte folgen dem hektischen Herzschlag einer schwindelerregenden Beschleunigung. Und das alles natürlich im Zeichen des unweigerlichen Fortschritts. Damit wird jedoch nur der Anschein einer Welt getroffen, die vollkommen im ökonomischen Strudel der Zeit eingeschlossen ist und deren Wesen paradoxerweise auf Geschwindigkeit beruht.2 Die Flüsse des globalen Netzwerkes beschreiben die immer gleichen Umlaufbahnen und folgen einer Wiederholungsbewegung, die in sich identisch bleibt. Nicht, dass es an chaotischen Spiralen und aufrührerischen Strudeln fehlen würde – aber sie stören den konstanten Rhythmus jener absoluten Flüsse nicht, die unerschütterlich geschlossen und insgeheim unbeweglich bleiben. Schnelligkeit wird zum Stillstand, Beschleunigung endet in Trägheit, wie auf einem Laufband, auf dem man stets weiter vorwärts rennt, um nicht zurückzubleiben. Alles ändert sich – aber im Grunde ändert sich nichts wirklich. Träg-verharrende Veränderung ist das Signum des synchronisierten Globus.

Die gesättigte Immanenz zeigt die erstickende Gegenwart einer Welt an, die im Glauben an das Unversehrte verlangt, sich gegen das »Außen« zu immunisieren.3 Daher hat sie alles, was anders ist als sie selbst, aufgesaugt, verbannt und zerstört, gesteuert von einem übermächtigen immunologischen Trieb: unversehrt bleiben, unverletzt und unbeschädigt ausharren. Alle negativen Mächte wurden aufgeboten, um der vitalen Negativität entgegenzuwirken, um jedweder Wandlung zuvorzukommen, jede Veränderung abzuwenden, allen Verlust zu neutralisieren. Obgleich der immunologische Trieb auch in der Vergangenheit keineswegs vollkommen abwesend war, hat er heute insbesondere durch die Technik bislang unbekannte Formen angenommen.4 Der Globus der absoluten Flüsse in gesättigter Immanenz ist das monumentale Ergebnis jenes Triebes.

Wozu sich noch in das eisige und tote Jenseits hinauswagen? Es triumphiert die Exophobie, eine abgründige Angst, eine kalte Panik, das nackte Entsetzen vor dem, was äußerlich ist. Diese Angst ergreift auch das Denken und hält es gefangen. Wie lässt sich überhaupt noch eine Alternative denken? Jede Distanznahme, jede Unterbrechung gilt – noch bevor sie als terroristische Tat angeprangert wird – als Ding der Unmöglichkeit. Nur im Inneren lässt sich träumen, unter der Herrschaft der gesättigten Immanenz, in der die Träume nicht selten in Albträume umschlagen. »Es gibt kein Außen mehr«, das ist die bittere Feststellung, die das radikalste Denken der letzten Jahre durchzieht.5 Auf diese Weise ist der hyperrealistische Refrain »There is no alternative!«, jene höhnische und traurige Summa des gegenwärtigen Zeitalters, schließlich zu einer schonungslosen Prophezeiung geworden, die sich nur unaufhörlich bewahrheiten kann.

Es ist kein Geheimnis mehr, dass die Reden vom »Ende der Welt« ernst zu nehmen sind.6 Diese werden vor allem von den empirischen Wissenschaften unterfüttert: von Klimatologie, Geophysik, Ozeanografie und Ökologie. Die Menschheit scheint geradewegs und unmittelbar auf die Katastrophe zuzusteuern. Die nahe Zukunft – unvorhersehbar, weil vollkommen anders – wird den Szenarien der Science-Fiction oder messianischen Visionen überantwortet. Der prometheische Schrei droht in einem apokalyptischen Röcheln zu ersticken. Zumindest eines ist klar: Die Welt des Spätkapitalismus ist die des planetarischen ökologischen Kollapses. Die Verschmelzung von Technoökonomie und Biosphäre vollzieht sich vor den Augen aller.7 Das Erdzeitalter, in dem die Menschen beinahe machtlos die verheerenden und todbringenden Ergebnisse jener asymmetrischen Verschmelzung betrachten, mit der die Natur bis hin zu ihrem Verschwinden erodiert wurde, ist heute unter dem Namen Anthropozän bekannt. Doch die Heftigkeit und Gewalt des menschlichen Eingriffs wäre ohne die unerbittliche und glühende Souveränität des Kapitals nicht möglich gewesen. Und dennoch scheint es der zeitgenössischen Vorstellung leichter zu fallen, sich das Ende der Welt auszumalen, als das Ende des Kapitalismus zu denken. Darin zeigt sich die ungeheuer große Kluft zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Ohnmacht. Zu diesem Zeitpunkt besetzt der Kapitalismus bereits den gesamten Horizont des Denkbaren. Dies wurde möglich, indem er noch jeden Herd eines Widerstands der Imagination aufzehrte sowie jedwedes ihm Äußerliche, das vor oder nach seiner Geschichte liegen mag, auslöschte: vor ihm nur düster Archaisches, nach ihm nichts anderes als die Finsternis der Apokalypse.

Für eine Menschheit, die in der gesättigten Immanenz eingeschlossen ist, in jenem fensterlosen Globus des fortgeschrittenen Kapitalismus, auf dem für Menschliches kaum noch Raum ist, bleibt allein der Transhumanismus vorstellbar, der letzte technognostische Traum von der Unsterblichkeit – ob dieser sich nun durch kryogene Hibernation oder durch Übertragung der Identität in eine Software verwirklicht –, der ersehnte Traum einer Spezies, die ebenso unvermittelt wieder verschwinden könnte. Dann lebe wenigstens das Posthumane!

Im Inneren ist alles möglich – außen hingegen: rein gar nichts. Man hätte sich also zu fragen, was hier »möglich« heißt und was »unmöglich«, wenn es im zukunftsorientierten wissenschaftlich-technologischen Kontext keinerlei Grenzen gibt, während im politischen Feld jegliche Perspektive eines möglichen Wandels a priori vom harten »Nein« des Marktes versperrt wird.8 Zwar kann man unsterblich werden, es gibt jedoch keinen Ausweg aus dem Kapitalismus.

Die Welt der gesättigten Immanenz ist die des globalen kapitalistischen Regimes, der klaustrophobische Raum, in dem man zwischen dem Nicht-Ereignis des liberaldemokratischen Dahinfließens und dem unmittelbar bevorstehenden planetarischen Kollaps hin- und herschwankt. Der Widerstand dagegen teilt sich in zwei Lager: in diejenigen, die auf eine entfesselte Akzeleration setzen, welche dann in die Selbstzerstörung des Kapitalismus münden soll,9 und diejenigen, die darauf abstellen, die Fahrt der Lokomotive noch durch das Ziehen der Notbremse zu stoppen – nach der Apokalypse das Gottesreich.

Der kapitalistische Realismus bekräftigt indes die Immanenz und festigt die Abschließung.10 Nur eine Logik des Unmöglichen könnte diese verschieben und verlagern. Der Zukunft zuvorkommen, um sie zu umgehen: Das Regime der gesättigten Immanenz stellt sich als geschlossene Welt einer Präventivpolizei dar, als zeitliches Gefängnis, in dem der Weitblick zu einer Hellsichtigkeit verkommt, die jede Veränderung zum Neuen zu exorzieren trachtet. Diese Welt hat ihren Schatten bereits verloren. Sie ist dem Imperativ des jeweiligen Tages unterworfen, verurteilt zur erschöpften Trägheit permanenten Alarmiertseins, zum unermüdlichen Halbschlaf im nie erlöschenden Licht, zu einer taghellen Virtualität, die keine Nacht mehr kennt.

Heraklit, das Wachen und der ursprüngliche Kommunismus

Von ihrem Beginn an bildete das Wachen ein bevorzugtes Thema der Philosophie. Das ging so weit, dass es zu ihrer symbolischen Repräsentation werden konnte, zur ihr vorausgehenden, anschaulichen Metapher, noch bevor die Philosophie überhaupt einen Namen angenommen hatte. Wundersames Aufgehen des inneren Lichts, welches das Wiederauftauchen aus der Nacht anzeigt, Kraft der Mahnung und des Rückrufs, das Staunen des erwachenden Lebens, Rückkehr zu sich: Mehr als alles andere ist das die Philosophie.

Die Helle des Tages vom Mythos gelöst und zu einer metaphysischen Kategorie erhoben zu haben, war das Werk Heraklits, des »Dunklen«, wie er aufgrund seines enigmatischen und orakelhaften Stils genannt wurde. Damit beginnt das Abenteuer des Denkens, das vom Licht des logos geleitet die Welt zur Sprache bringt, die so zum Kosmos wird und sich mit der ununterbrochenen Überschreitung ihres beschränkten und niederen Radius in eine immer weitere, höhere und gemeinschaftlichere Sphäre hinein entfaltet.

Von Heraklits Leben ist nur sehr wenig bekannt. Die antiken Biografen schreiben ihm königliche Abstammung zu. Diogenes Laertius sagt, dass er »stolzen Sinnes, wie kaum ein anderer«11 gewesen sei. Seine fast schon abschätzige Haltung war einem grundlegenden Konflikt mit den Mitbürgern geschuldet, denen er zum Vorwurf machte, seinen Freund Hermodoros nach der gescheiterten demokratischen Revolution ins Exil gezwungen zu haben. Ephesos, die an der Grenze zwischen der kleinasiatischen Küste und dem europäischen Mittelmeer gelegene ionische Stadt, war gewiss noch nicht Athen. Doch fehlte es auch hier nicht an Spannungen. Gekränkt entfremdete sich Heraklit dem politischen Leben und wies das an ihn gerichtete Ansuchen zurück, der polis Gesetze zu geben, die ihm inzwischen von einer schlechten Verfassung regiert zu werden schien. Er zog sich in den Artemistempel zurück, wo er der Legende nach sein in drei Abschnitte unterteiltes großes Buch niederschrieb: den ersten über das Ganze, dann einen politischen Teil und schließlich einen theologischen. Dem Werk wurde später ein künftig oftmals gebrauchter Titel verpasst: Peri physeôs – ganz so, als hätte Heraklit ein Traktat über die physis verfasst, über die als Prinzip und Substanz von allem verstandene Natur. Aristoteles leistete seinen Beitrag, diese beschränkende und irreführende Deutung weiter zu festigen. Gleichwohl existiert auch eine andere antike Tradition, verkörpert durch den Stoiker Diodot, der zufolge das Buch Heraklits abgesehen von einigen Beispielen nichts mit der Natur zu tun hat, sondern ausschließlich politische Themen behandelt: Peri politeias.

Im Übrigen ist vor einem numinos bleibenden Hintergrund die politisch-tragische Inspiration des Denkens Heraklits in den mehr als 120 von seinem Werk erhaltenen Fragmenten unschwer auszumachen. Es spricht darin nicht so sehr der Erforscher des Kosmos als vielmehr der strenge Wächter der Stadt, der Interpret des polemos, jenes Konfliktes und Krieges, der »aller Dinge Vater, aller Dinge König« ist (B 53). Der Streit der polis wird auf die gesamte Wirklichkeit projiziert, um so von Grund auf das sie regierende Gesetz zu erforschen und miteinander zu verbinden, was in seiner Einheit zunächst verstreut und vielfältig erscheint, damit schließlich die palintropos harmoniê, die »gegenstrebige Vereinigung« der Gegensätze (B 51), erfasst werde. Die Stadt bildet damit das hermeneutische Paradigma der Welt.

In jeder Differenz das Eine zu vernehmen: Darin liegt das Verdienst Heraklits, dem anerkannten Wegbereiter der Dialektik. So konnte Hegel schreiben: »Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen«.12 Gleichwohl gilt es, Verzerrungen der historischen Perspektive zu vermeiden. Die Eintracht der Gegensätze, jene rätselhafte Verbindung, von der Heraklit spricht, ist nicht die spekulative Einheit, sondern der plötzliche Übergang, aufgrund dessen sich das Eine unaufhörlich in das Andere wandelt: Leben und Tod, Tag und Nacht, Wachen und Schlaf, Sommer und Winter, Frieden und Krieg. Irrigerweise ist diese Auffassung zu einer Doktrin des ewigen Werdens, des Fließens, zu jenem panta rhei verfestigt worden, von dem sich in den Fragmenten Heraklits jedoch keine Spur findet. Er erwähnt zwar den Fluss – »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht« (B 49a) –, nur um damit allerdings den Wechsel stets unterschiedlicher Wasser hervorzuheben. Es überrascht daher keineswegs, dass bei Heraklit insbesondere das Feuer, das lebt, indem es sich verwandelt, und sich gemäß den Düften verändert, mit denen es sich vermischt, die gegenstrebige Vereinigung der Gegensätze sinnfällig wiederherstellt.

Diesem Gesetz entziehen sich nicht einmal die Namen, die vielmehr die Gegensätzlichkeiten gerade ans Licht bringen. Heraklit eröffnet die Reihe jener Denker, die auf die Sprache blicken, um die Wirklichkeit zu verstehen. Die den Kosmos regierende verborgene Harmonie ist im logos, gemäß dem alles geschieht, enthalten, dem ewigen und universellen Gesetz, das dazu befähigt ist, das Werden zu regulieren, das seinerseits kein blindes Sichüberstürzen darstellt, sondern ein weises Dahinschreiten vom einen Gegensatz zum nächsten.

Wer aber wird dem logos Gehör schenken wollen? Wer ihn in seiner sibyllinischen Mehrdeutigkeit zu verstehen versuchen? Das ist die eigentliche Frage Heraklits, die bereits eine Mahnung in sich birgt. Taub, abwesend und wie dahinschlummernd, zur Beute von Traumflüssen und partikulären Meinungen geworden und weit entfernt davon, was weise, sophôn, ist, entziehen sich die Sterblichen dem Zuhören. Sie leben in sich selbst zurückgezogen und in sich gekehrt, als schliefen sie, sind Gefangene der eigenen Privatheit, ihrer erstickenden Kleinlichkeit. So wird von Heraklit die grassierende Idiotie angeprangert, die im Griechischen etymologisch – idiotês kommt von idios, »eigen« – auf das Eigentum verweist. Ihnen ist es folglich unmöglich, Zugang zu dem zu finden, was kommun oder gemeinschaftlich, koinon, ist. Heraklit gebraucht die ionische Form xynon, die er im Rahmen eines Wortspiels auf xyn noi zurückführt, d. h. mit noûs, »mit Verstand« (B 114), begabt. Nicht nur ist der Verstand allen gemeinsam, sondern auf den Verstand gründet sich, was gemeinsam ist, das Gemeinsame. Es handelt sich dabei nicht um eine unmittelbare Intuition, sondern um die ordnende Erkenntnis des Kosmos, die sich im logos bündelt und zum Ausdruck gelangt. Ein Idiot ist derjenige, der sich dem Zuhören verweigert, der in der Isolation der Nacht verbleibt und sich dadurch der Teilhabe am gemeinsamen Tag und der gemeinsamen Welt verschließt. Heraklit drückt es folgendermaßen aus: »Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt, doch jeder Schlummernde wendet sich nur an seine eigene« (B 89).

Nacht und Tag skandieren, sich gegenseitig überschreitend und abwechselnd, die Zeit. Im Unterschied zur Vorstellung Hesiods jedoch bleiben sie nicht voneinander getrennt. Vielmehr sind sie eins – nur dass sie einander abwechseln, wie es auch die Gegensätze tun. Sie schlagen aber auch nicht wechselseitig ineinander um und bleiben voneinander verschieden. Nacht und Tag weisen über sich hinaus, sie sind Hinweise, mehr noch: Symbole. Die Gegensätze vermehren und multiplizieren sich. Während sich auf dem Grund rätselhaft die letzte Polarität von Leben und Tod abzeichnet – wird es eine Rückkehr vom Tod ins Leben geben? –, verweisen Licht und Dunkel auf Schlaf und Wachen. Heraklit, der erste Metaphysiker des Lichts, macht aus dem Tag jene vom logos verbreitete Weisheit, die in der Klarheit verbindet und vereinigt. Das Wachen wird zum Auftakt der Philosophie.

Der Aufruf zum Wachen kehrt in den Fragmenten unaufhörlich wieder.13 In der Folge wird sich die Philosophie diese Aufforderung zu eigen machen. Denken heißt, an der Wachsamkeit des vereinigenden logos teilzuhaben. »Private Weisheit«, idia phronêsis, ist ein Oxymoron, da das, was im Einzelnen auftaucht – Träume, Bilder, Meinungen, Ideen –, nur eine leere und tote Illusion darstellt. Und eine solche wird es so lange bleiben, wie es nicht den Weg der Gemeinschaftlichkeit findet. Also: Schlaft nicht! Überlasst Euch nicht dem Schlaf der privaten Idiotie! So wiederholt es Heraklit denen zugewandt, die in der Benommenheit leben. »Man soll nicht handeln und reden wie Schlafende« (B 73), gebietet er unmissverständlich. Jedoch gibt es zwei Arten von Schlaf. Rechtmäßig ist der wohltuende und erquickende. Ein Fehler wäre es jedoch, den Tag für die Nacht zu nehmen, Wachen und Schlafen zu verwechseln, wo sie doch jene Plötzlichkeit trennt, die wie ein Feuerstrahl den geheimnisvollen Übergang der Gegensätze in Kraft setzt.

Für Heraklit gilt das für Wachen und Schlaf noch gesteigert. Wer schläft, scheint – obgleich er derselbe ist – ein anderer zu sein, ergatas, »Arbeiter und Wirker« der je eigenen Welt (B 75). Er gleicht einem Toten, der dort ruht, leblos und unendlich weit entfernt. In einem verworrenen, von Clemens von Alexandrien überlieferten Fragment heißt es: »Der Mensch zündet sich in der Nacht ein Licht an, wann er gestorben, erloschen ist; im Leben berührt er den Toten im Schlummer, wann sein Augenlicht erloschen; im Wachen berührt er den Schlummernden« (B 26). Wer dem Schlaf nachgibt, verlässt das koinon, die geteilte Welt, um ganz in die eigene zu versinken, wo er mit den Toten ruht. Der Schlaf gleicht einem kurzen Abstieg in den Hades, in den finsteren Untergrund der Stadt. Und damit ist der schlafende Stadtbürger nicht nur apathisch und alogisch, sondern auch apolitisch und anomisch. Ja, im Grunde hört er auf, ein Stadtbürger zu sein; er schließt sich seinen Toten in der privaten Grabstätte an, die zugleich das Grab des Öffentlichen bildet. Er wälzt sich in seinen Verblendungen hin und her, in seinen Albträumen, im Ersehnten und Erträumten, in seinen Halluzinationen. Jeder ist dabei ganz für sich. Womöglich wacht niemand mehr über die polis, wenn in der Nacht der Stadt die Welt unterzugehen scheint. Aber nein, es gibt eine Ausnahme oder vielmehr zwei: Der weise Gott, der über die Mauern wacht, sowie sein Stellvertreter, der Philosoph, der aufmerksam deren Inneres hütet, damit jenes lichtvolle Offene nicht für immer durch die private Idiotie versperrt bleibt.

Ist die Politik also eine Tochter der Philosophie? Der Philosoph tritt dem vernichtenden Dunkel der Nacht entgegen. Und auch wenn ihr eines Tages alle verfallen sollten, die Stadt bliebe im Denken dieses ihres aufmerksamen und außergewöhnlichen Bürgers behütet und aufgehoben.

Bereits vor Platon und seiner Politeia erfährt die politische Nacht durch Heraklit, den Wächter der Stadt, die höchste Missbilligung. Er richtet den Finger auf den Somnambulismus, der bei seinen Mitbürgern so weitverbreitet ist, dass sie auch bei Tage nicht mehr erwachen wollen; »Nachtwandler« sind sie, nyktipoloi, die, anstatt das geforderte Leben eines gemeinsamen Tages in der Stadt zu führen, mit der Nacht verkehren. Sarkasmus, Verachtung und Enttäuschung leiten die Worte Heraklits, dessen logos des Tages den Raum der griechischen polis und allgemeiner den Bereich der europäischen Politik eröffnet. Die Stadt kann nur dank des koinon, dank des Gemeinsamen und Gemeinschaftlichen existieren, das sich im logos versammelt. Darin liegt der den nomos verbürgende, ordnende Verstand, auf den sich die Stadt gründet. Der logos des Tages enthüllt die Existenz der polis und kündigt die politische Ontologie an: »Wenn man mit Verstand reden will, muss man sich wappnen mit diesem allen Gemeinsamen wie eine Stadt mit dem Gesetz und noch stärker« (B 114).

Kurz gefasst: Ohne das koinon des logos gibt es keine polis. Ohne jenen Zusammenhang des logos, der allen gemeinsam ist und sie verbindet, könnte es keine Stadt geben. Das, was die Stadtbürger zusammenhält, ist das koinon, die gemeinsame Teilhabe am Tag jenseits der nächtlichen Isolation, aufgrund derer die Rückkehr zu sich gleichbedeutend einhergeht mit der Rückkehr in den öffentlichen Raum. Der ursprüngliche Kommunismus des Wachens, zu dessen Hüterin die Philosophie sich macht, ist die Bedingung der politischen Existenz.

Lichtnarkose: Von der Nacht des Kapitals

Im Abendland beschreitet die Metaphysik des Lichts einen langen Weg, der vom gemeinsamen Wachen zum exklusiven und systematischen Wissen führt. Es handelt sich um eine unaufhörliche Neuordnung des Tages, der sich ausbreitet und ausdehnt, um schließlich weit mehr zu sein als ein einfaches Intervall zwischen zwei Nächten. Die dunklen Zonen werden nach und nach ausgemerzt, während das Kontinuum der Gewissheit jeden Bereich mit glasklarer Evidenz ausleuchtet. Es gibt nichts mehr – oder fast nichts –, was die universale Vernunft nicht enthüllte, nicht freilegte. So will es der Triumph des Ausdrücklichen über das Verborgene, der Sieg der Gegenwart über die Abwesenheit. Das, was nicht mehr oder noch nicht ist, sinkt dank der dumpfen Ontologie, die jede Alterität exorziert, zu einem reinen Nicht-Sein herab.

Im Rahmen eines erneuerten prometheischen Unterfangens wird versucht, das immerwährende Licht des Jenseits einzufangen, um es im Diesseits in eine beständige Illumination zu übersetzen, die – ohne je zu entflammen und ohne zu erlöschen – stets dieselbe gleichbleibende Stärke bewahrt. Es handelt sich um eine entschiedene, sich als endgültig setzende Erwiderung auf den pavor nocturnus, der über Jahrhunderte hinweg die Weltgeschichte aufgerüttelt hat. Besser eine Lichtnarkose als Präventivmaßnahme gegen die unmittelbar bevorstehende Apokalypse. In der Offenbarung des Johannes heißt es: »Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, dass sie ihr scheinen […]. Und ihre Tore werden nicht verschlossen des Tages; denn da wird keine Nacht sein« (Offenbarung 21,23–25). Der Kampf gegen die verborgenen Mächte erreicht mit der neuzeitlichen Aufklärung seinen Höhepunkt. Danach aber erhält er eine Auszeit, als die ersten Romantiker – anstatt sie anzuklagen – den Verlust der Nacht beklagen. In seinen Hymnen wird sie von Novalis zur »heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht«14 erklärt. Sie wird zur festen Verbündeten jener Innerlichkeit, die andernfalls zu verschwinden droht. Der Marsch hebt danach jedoch mit beschleunigtem Rhythmus wieder an und wird jetzt von der Wissenschaft angeführt und von der Technik unterstützt, die der Dunkelheit den totalen Krieg erklären. Die metaphysischen Lichter nehmen konkrete Formen an und verwandeln sich in elektrische Installationen. Die Stadt, die von einem positiven Denken taghell erleuchtet wird, das einen pragmatischen Lebensstil verbürgen soll, kann die Nacht getrost vergessen oder besser: sie eingedenk der romantischen Mahnung zurückgewinnen, um ihre Restbestände der Psychoanalyse zu überantworten. Die Überwindung der Nacht verfügt und ratifiziert den Sieg des Tages, der danach strebt, sich zu verewigen und seinen Rhythmus in den Zeitläuften zu verstetigen.

Was hätte Heraklit wohl zu diesem metaphysischen Illusionismus gesagt, der die Nacht zum Tag macht, die Gegensätze aufhebt und den Pulsschlag und Rhythmus des antiken Kreislaufs von Schlaf und Wachen auslöscht? Sein Missfallen wäre gewiss gewesen. Selbst in seiner Furcht vor der politische Nacht, die den Kommunismus des Wachens zu zersetzen droht, hätte er das narkotische Licht mitnichten gutgeheißen, das – anstatt die Aufmerksamkeit wachzuhalten – nur Somnambulismus erzeugt. Gewiss hätte er sich kaum die Hunderte Millionen von Individuen ausmalen können, die nachts vor erleuchteten, magnetisch anziehenden Bildschirmen verharren, welche für immer ihre Vorstellungskraft beschädigen – jenes vortreffliche menschliche Vermögen, mit offenen Augen träumen und sich in den eigenen Gedanken verlieren zu können.

Diese Art des Somnambulismus ist auch unter dem Namen 24/7 bekannt. Dabei handelt es sich um einen auf grenzenlose Produktion und schrankenlosen Konsum getrimmten Zeitbegriff, wie er vom System des Marktes durchgesetzt wurde. Er verweist auf das Nonstop einer Betriebsamkeit, die sich 24 Stunden am Stück vollzieht, an sieben Tagen von sieben. Nur aufgrund eines vorsätzlichen und höhnischen Missverständnisses bezieht man sich damit noch auf die Woche. Bei genauerem Hinsehen verleugnet das Konzept des 24/7 jeden Rhythmus, beseitigt es jede Einteilung.15 Wenn das Paradigma des Globus darauf abzielt, stets einsatzbereit zu sein, warum sollte sich die menschliche Existenz dem nicht anpassen können?

Man unterläge einem Irrtum, würde man das Konzept des 24/7 mit dem trostlosen und immer gleichförmigen Verlauf der Moderne verwechseln, wie er zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Lukács, Benjamin und anderen kritisiert worden ist. Denn jene Zeit wurde noch von der Agenda des Fortschritts mit der dazugehörigen Illusion des Wachstums getaktet. 24/7 hingegen ist die Zeit ohne Werden des Posthistoire, der andauernde Tag, das letzte Blendwerk des Kapitalismus. Dieses Ergebnis war im Grunde bereits in den ursprünglichen Plänen angelegt, schon von der ersten elektrischen Beleuchtung der Städte an, die Sicherheit verbürgen und Erfolg in Aussicht stellen sollte. Die hohe Lichtintensität, die sich im Supermarkt des Universums verbreitet, scheint jenes anfängliche Versprechen einzulösen. Der Kampf gegen Dunkelheit, gegen Finsternis, gegen Schatten und Geister, gegen das Geheimnisvolle und Unbekannte ist das paroxysmale Resultat einer unnachgiebigen und sich ausdehnenden Aufklärung, die einen neuen Himmel erschlossen hat: denjenigen des Desasters, auf dessen Etymologie Blanchot so nachdrücklich verwiesen hat.16 Es handelt sich um ein Firmament ohne Sterne, ohne jedwede Orientierungspunkte. Und selbst wenn es die Sterne noch gäbe, so wären sie nicht mehr sichtbar, vom niemals verlöschenden künstlichen Licht verfinstert. Unter jenem leeren Himmel operiert emsig und ununterbrochen das planetarische Einkaufszentrum, das eine endlose Mannigfaltigkeit an Angeboten ermöglicht.

Keinerlei Hindernis scheint der endgültigen Durchsetzung des 24/7 mehr entgegenzustehen, wenn nicht die menschliche Fragilität. Der Kapitalismus ebnet jede Differenz ein: zwischen Heiligem und Profanem, Mechanischem und Organischem. Marx hatte diesen gewaltsamen Versuch, die natürlichen Schranken einzureißen, erkannt. 24/7 setzt die Grenze zwischen Licht und Dunkel, Tag und Nacht, Aktivität und Ruhe außer Kraft. Der Schlaf erscheint sodann als ein regelrechter Affront gegen die vom Markt auferlegte rastlose Betriebsamkeit, als unzulässiger Widerstand gegen die von den digitalen Netzwerken geforderte Anpassung. Auf dem Planeten, der seinen Herzschlag beschleunigt hat, indem er sich jubilierend dem Nonstop in die Arme wirft, darf unsere Existenz keine Ausnahme mehr bilden.

Was ist demnach noch der Schlaf, jenes »aus der Welt Sein«, jenes dunkle Sichzurückziehen vom Dasein, in dem sich die Welt selbst entzieht, für eine Weile verschwindet und eine Pause einlegt? Nein, die taghell erleuchtete, lange Nacht des Kapitals kann keine Pause, keinerlei Abwesenheit zulassen. Und das umso mehr, als die Akosmie, jene zeitweise Weltflucht, zugleich eine unzulässige Flucht aus der Welt bedeutet, eine gefährliche Unterbrechung, eine Anomie der Einzelexistenz, die – auch wenn sie nur schläft – sich stillschweigend dem Gesetz des planetarischen Nonstop widersetzt.