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Dieser Titel hält, was er verspricht. Die hier versammelten Geschichten sind ein Niederschlag des ganz normalen Lebens. In ihnen geben sich die unterschiedlichsten Figuren ein Stelldichein: geschwätzige Männer und verstummte Frauen, Großeltern und intrigante Schwestern, missgünstige Ehefrauen und Männer auf dem Abstellgleis. Helden treffen auf sympathische Feiglinge, Tiere auf Menschen und umgekehrt, Glück und Unglück buhlen um die Vorherrschaft, Unheimliches konkurriert mit mörderischen Energien, Niedertracht stolpert über schlichtes Gemüt und Mut arbeitet sich an der Schwermut ab.
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Seitenzahl: 255
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Iasst mich an den Anfang dieser Kurzgeschichtensammlung eine kleine Warnung stellen. Viele Erzählungen werden euch zum Lachen bringen, zumindest aber zum Schmunzeln. Nur sind nicht alle Geschichten leicht und luftig, besonders die Krimis haben es in sich und die gruseligen Stories könnten Gänsehaut hervorrufen. Aber spannend sind sie alle, denn sie sind dem Leben abgeschaut.
Viel Freude beim Lesen!
Neuanfang
Med in Afrika
Schwamm drüber
Stille Nacht
Die Farben des Waldes
Apoll
Gerettet
Jagdgründe
Stummgeschaltet
Open House
Rosige Aussichten
Die Frauen von Helmut Newton
Fünf vor zwölf
Bewährungsprobe
Fast wie damals
Lieblingstochter
Richtungswechsel
Der Nachlass
Alles neu macht der Mai
Nicht aufgepasst
Frau Engel sorgt vor
Drei in Reih und Glied
Die Zeit wird knapp
Treibgut
Betrug
Vergessen
Viola oder Veilchen trifft Ente
Eine wird gewinnen
Das Bildnis der Josefina K.
Rollentausch
Gedränge
Schlagabtausch
Die Stacheln der Kastanie
Kindermund
Runter
Tagtraum
Das Ende von Unschuldslamm
Schlüsselgewalt
Wut
Déjà-vu
Die große Reise
Garfield ist so laut
Kühles Aquamarin
Reihe 6, Platz 7
Kurzgefasst
Neulich im Hotel
Richtungswechsel
Das Haus
Seifenoper
Viele Grüße
Immer wieder sonntags
Die Überfahrt
Vergebliche Liebesmüh
Alte Mauern
Ihr Kinderlein kommet
Zuhause im Park
Der Weihnachtshase
Luzy hatte den ganzen Nachmittag gottergeben auf der Fensterbank gehockt, wenn sie nicht gerade die Studenten vom Umzugstrupp mit ihrem Medizinköfferchen versorgte. In jeder stillen Minute fragte Marja sich, warum zum Teufel sie die Warnungen ihrer Freundinnen ignoriert hatte und nach Karlsruhe gezogen war, zu Victor! In dieses Haus, das seiner Mutter gehört! Offensichtlich hatte der Wasserschaden nicht nur ihre alte Wohnung, sondern auch ihren Verstand unter Wasser gesetzt. Marja konnte gar nicht aufhören den Kopf zu schütteln.
Victor. Sie hatte seine Besuche gehasst. Weil er immer nur sporadisch gekommen war. Weil er sich nie angekündigt hatte. Weil er die absurdesten Geschenke mitbrachte. Und weil Luzy jedes Mal aus dem Häuschen war vor lauter Begeisterung über ihren Papa. Beim letzten Besuch hatte er mitsamt Frau Holle und einem kleinen Käfig vor ihrer Tür gestanden und Luzy hatte sich in seine Arme geworfen und geschluchzt: „Ich werde ein Heimkind, wegen dem vielen Wasser, weil, wir sind doch jetzt obachtlos!“
Victor hatte die freie Wohnung in der Karlsruher Südstadt aus dem Hut gezaubert wie der große Zampano und es dabei sogar geschafft, bescheiden auszusehen. Schon aus Prinzip hatte Marja abgelehnt und es hinterher bitter bereut, denn sein Wohnungsangebot war das einzige geblieben. Alleinerziehende Studentinnen standen auf der Beliebtheitsskala von Vermietern ganz weit unten. Aus diesem Grund war sie zu Kreuze gekrochen und nicht bereit, ihm genau das zu verzeihen.
Der nächste Tag begann genauso bescheuert, wie sein Vorgänger zu Ende gegangen war. Maja versuchte, das unregelmäßige Schnaufen irgendwo in diesem Chaos zu orten, aber der Verkehrslärm, der durch die offenstehenden Fenster drang, machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Kurz überlegt sie, die Fenster zu schließen, aber bei der bulligen Hitze, die hier oben in dem kleinen Raum herrschte, käme das einem Selbstmord gleich. Sie zog sich aus bis auf Slip und BH und begann so systematisch wie möglich bei ihrer Suche vorzugehen. Sie tastete sich an den Wänden entlang und ließ nichts aus, nicht die unteren Schubladen im Kleiderschrank, nicht die aufeinander gestapelten Pappkartons, nicht das Puppenhaus. Innerhalb kürzester Zeit wanden sich ihre hüftlangen Haare wie feuchte Lianen um ihren Körper.
Sie musste Frau Holle finden, bevor die an einem Hitzekollaps starb; das Schnaufen war bereits in jämmerliches Fiepen übergegangen und auch die Intervalle des hektischen Schabens hatten sich deutlich verlängert. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was Luzy mit der armen Kreatur angestellt hatte. Dummerweise konnte sie ihre Tochter nicht fragen, die hatte sich zu ihrem Vater verzogen und an dessen Wohnungstür würde sie nicht klingeln, auf gar keinen Fall.
Den Arztkoffer hatte Marja ihrer Tochter geschenkt in der Hoffnung, er würde den Kummer über den Wegzug aus Heidelberg lindern. Die Rechnung war aufgegangen, Luzy hatte alle am Umzug beteiligten mit dem Stethoskop untersucht, die Frauen vor allem am Knie, bei den Männern hatte sie sich auf den Adamsapfel konzentriert. Der Gedanke an ihre neugierige und unerschrockene Tochter ließ sie kurz lächeln, auch wenn dieses Lächeln etwas gequält ausfiel. Ihr Stolz wurde gedämpft von der Furcht, dem Einfallsreichtum der Fünfjährigen auf Dauer nicht gewachsen zu sein.
Beim Versuch, ein Minimum an Ordnung in das Kinderzimmerchaos zu bringen, fiel ihr auf, dass in dem Arztköfferchen nur noch zwei Heftpflaster lagen, dann hörte sie das Schnaufen. Erneut durchwühlte sie den Kleiderstapel auf dem Boden, zerrte die schmuddeligen Kissen aus dem Puppenwagen und kontrollierte Luzys Bett. Zu guter Letzt ließ sie sich vor einem quadratischen Lego-Haus ohne Fenster und Türen, aber mit stabilem Dach, auf alle viere nieder und schüttelte das Bauwerk vorsichtig. Aus seinem Inneren drangen undefinierbare Geräusche. Mit einem Ruck zerrte sie das Dach herunter und legte die asthmatisch keuchende Frau Holle frei. Das braunweiß gescheckte Fell des Meerschweinchens war über und über mit Pflastern versehen, besonders große Exemplare legten die Vorderpfoten lahm und versiegelten Frau Holles Hintern.
Erschöpft rollte sich die verschwitzte Patientin so gut wie möglich auf dem niedrigen Tisch zusammen und ließ apathisch Marjas Prozedur mit der Nagelschere über sich ergehen. Danach sah sie aus wie ein struppiger Flickenteppich.
Marja entließ Frau Holle in den Schutz ihres Käfigs, füllte neues Futter in die kleine Schüssel und erneuerte das Wasser, sank erschöpft auf Luzys Bett.
Dieser Umzug stand unter keinem Stern.
Als Julia im Reisebüro den Katalog von Sabato-Tours entdeckt, weiß sie, dass sie das Richtige gefunden hat. Diesmal wird sie ganz bestimmt keine Pauschalreise buchen, bei der man hinter einem Fähnchen schwingenden Leithammel von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit hetzt, ohne auch nur einen Luftzug vom warmen Atem des wirklichen Lebens zu spüren. Mit Sabato-Tours wird sie das etwas andere Namibia erleben, sich einlassen auf die afrikanische Lebensart, den schwarzen Rhythmus, wird die Bevölkerung hautnah erleben. Und dabei still und leise ihren 60. Geburtstag feiern. Julia hat es jetzt sehr eilig mit der Buchung.
Anfang Januar 2010 fluten die Passagiere des Air Namibia Fluges NT 435 in Wellen die Rollbahn von Windhoek, strömen dem Ausgang zu und verteilen sich in die bereitstehenden Reisebusse. Zurück bleibt eine kleine Handvoll Menschen in gedämpftem Khaki, die sich um einen altersschwachen Toyota-Bus scharen, unschlüssig den Sonnenhut in der Hand haltend. Es sind erst 18 Grad und der Himmel ist bewölkt. Julia fröstelt.
Zwei Tage bleiben sie in Windhoek, besuchen soziale Projekte, das Museum und ein ehemaliges Slumgebiet. Am Dienstag werden sie in Richtung Owambo aufbrechen. Wer diesen Landstrich nicht kennt, kennt Namibia nicht, sagt Erich. Erich ist ihr Reiseleiter, ihr Kofferträger und Inhaber von Sabato-Tours.
Julia spürt Unruhe wie Ameisen durch ihre Blutbahnen wandern, sie will endlich weg aus der Großstadt, die nicht so sehr viel anders aussieht als Stuttgart, nur eben viel ärmer. Sie sehnt sich nach dem Herzschlag der Natur, nach dem einfachen Leben. In letzter Zeit ist sie der westlichen Zivilisation ziemlich überdrüssig. Alles ist reglementiert, durchstrukturiert, kontrolliert. Wie kann man sich da noch selber spüren?
Acht Uhr morgens, die Sonne leckt die Pfützen der vergangenen Nacht auf, die Luft ist diesig, der Kleinbus startbereit. Auf Erichs Anraten haben sie gestern vier große Plastikkanister mit Wasser gekauft und alle Mitreisenden sich zudem mit ausreichend Keksen und Obst als Reiseproviant eingedeckt. Mit dem heutigen Tag endet die ihnen vertraute Zivilisation, sagt Erich. Sie werden in den Norden nach Owambo fahren, die Heimat des gleichnamigen Stammes, aber auch aller anderen Ethnien, die das Land hat. Die Region ist karg, arm und abgelegen und Julia kann es kaum erwarten loszufahren.
Die Savannenlandschaft mit ihren mattbraunen Farben verschwimmt in der Mittagshitze, die Klimaanlage im Bus ist defekt, Regen wäre gar nicht so übel. Zehn Stunden bis Outapi.
Julia durchwühlt ihren Rucksack nach der Obsttüte, befingert jede einzelne Pflaume und entscheidet sich für eine mit besonders festem Fleisch. Beißt hinein, hält inne und überlegt, was sich da soeben in ihrem Mund verändert hat. Schickt ihre Zunge auf Tatortbegehung und wird fündig. Es dauert eine Weile, ehe ihr Gehirn die Botschaft übersetzen kann: Ihr fehlt ein Zahn. Oben. Vorne. Da, wo eine Brücke kunstvoll die Lücke schließt, die ein Medizinball in der zehnten Klasse geschlagen hat.
Hektisch sucht sie nach dem Spiegel, klappt ihn auf und starrt auf das schwarze Loch, das sich zwischen ihren ebenmäßigen Zähnen breitgemacht hat. Sie sieht aus wie eine – nein, sie will dieses Wort nicht mal denken!
Ihr Mund ist trocken. Wo ist der verdammte Zahn? Hat sie ihn verschluckt? Gott sei Dank, nein, der Ausreißer ruht anmutig im honigfarbenen Fruchtbett der Pflaume. Vorsichtig pickt sie ihn heraus, lässt ihn in einem Taschentuch verschwinden und verstaut beides sorgsam in ihrem Rucksack. Morgen wird sie nach Hause fliegen, zu ihrem Zahnarzt. Bis dahin spricht sie kein Wort mehr. Lächeln wird sie auch nicht, schon gar nicht lachen.
Aber die Gruppe lässt sie im Stich, weigert sich stur, zurück nach Windhoek zu fahren. Einziges Zugeständnis: Erich darf im nächstgelegenen Ort einen Zahnarzt suchen.
Der nächste Ort liegt vier Stunden Fahrzeit entfernt und heißt Okashaki. Sie sind die einzigen Weißen weit und breit. Dreimal müssen sie die Hauptstraße rauf und runter fahren, bis sie fündig werden. Zwischen der First National Bank und einem Geschäft mit Herero-Puppen liegt die Praxis eines Dentisten. Erich bleibt beim Bus, der Rest der Gruppe begleitet Julia.
In der Praxis sieht es aus wie in der Wartehalle vom Stuttgarter Bahnhof. Zwei Frauen in bunten Gewändern halten auf den Stühlen im Wartebereich ihren Mittagsschlaf. Der Doktor ist nicht da, hat ebenfalls Mittagspause. Julia ist erleichtert, doch irgendwie traut sie dem Laden nicht. Der Doc wird herbeitelefoniert, sie soll kurz warten. Zu siebt lassen sie sich im Wartebereich nieder. Es ist kein Altruismus, der die Weggefährten an Julias Seite schweißt – draußen brüllt inzwischen die Sonne alles nieder, was sich bewegt.
Julia möchte sich die Zähne putzen. Eine der Frauen versichert ihr in holprigem Englisch, das sei nicht nötig. Julia möchte sich trotzdem die Zähne putzen, schließlich muss sie diese gleich dem Zahnarzt präsentieren. Abermalige Versicherung, das sei nun wirklich nicht nötig. Julia besteht darauf. Bedächtig den Kopf schüttelnd händigt man ihr den Schlüssel aus.
Augenblicklich ist auch sie der Meinung, dass Zähneputzen überschätzt wird, denn das Örtchen ist in einem trostlosen Zustand. Sie konzentriert sich auf das Fließen des Wassers und verbietet sich, irgendwo anders hin zu starren als auf das Rinnsal, das aus dem Hahn läuft, schon gar nicht in den Spiegel. Im Wartezimmer wird sie mit der freudigen Botschaft konfrontiert, dass der Doc schon da sei und sehr vertrauenswürdig aussehe. Wie schön. Zögernd betritt sie das Behandlungszimmer und tatsächlich, der junge Mann im weißen Kittel sieht vertrauenswürdig und kompetent aus. So ganz anders als der Raum.
Julia ist Ende der fünfziger Jahre geboren und schon sehr frühzeitig mit Zahnarztpraxen in Berührung gekommen. Aber sie kann sich nicht erinnern, dass eine darunter gewesen war, die sich ansatzweise mit dieser hier vergleichen ließe.
Der Raum ist ungefähr so groß wie ein normales Schlafzimmer und an zwei Seiten mit einer maroden Küchenzeile möbliert, in einer Ecke hängt ein rostiges Ausgussbecken. An der dritten Wand baumelt eine Apparatur, bei der es sich um ein Röntgengerät handeln könnte, sie ist nicht alt genug, um das zu beurteilen. Der Behandlungsstuhl in der Ecke – verdammt, sie hat so ein Ding im Museum gesehen, aus der Kaiserzeit, wenn sie sich richtig erinnert. Allerdings war das besser in Schuss gewesen, bei dem hier versuchen drei altersschwache Streifen Leukoplast vergeblich, die Füllung ins Polster zurückzuzwingen. Drei ausgeblichene Plastikstühle mit hoher Lehne harren an der Wand aus. Sie lässt sich vorsichtig im Behandlungsstuhl nieder und behält den Ausgang fest im Auge.
Der Zahnarzt hat ein prachtvolles weißes Gebiss und spricht Englisch sehr viel besser als sie. Er betrachtet aufmerksam ihre Zahnlücke, die Reste der Klammer und den einsamen Zahn in ihrer Hand. Lächelt ihr aufmunternd zu und macht sich an die Arbeit. Es wird geschliffen und poliert. Gespült wird auch, unter fließendem Wasser, hinten an der Wand, da wo der Hahn still vor sich hin tröpfelt.
Um sich abzulenken unterzieht Julia die Praxis einer erneuten Prüfung, es muss doch auch Erfreuliches geben. Der Bohrer zum Beispiel wird nicht mehr mit einem Fußpedal angetrieben. Und der Doc und seine Assistentin tragen Latexhandschuhe. Immerhin!
Auf dem maigrün lackierten Hocker neben ihr steht ein Tablett aus hellblauem Plastik. Mit bräunlichen Flecken drauf. Julia hofft inbrünstig, dass es sich dabei um chemische Verfärbungen handelt. Sie beäugt die sparsam darauf verteilten zahnärztlichen Instrumente. Eines erinnert sie an einen gusseisernen Korkenzieher mit Flügelschraube. Sie fokussiert den Blick, falsch geraten, es ist eine vorsintflutliche Spritze. Instinktiv presst sie die Zähne zusammen, hört aber abrupt damit wieder auf – sie kann sich keinen weiteren Zahnverlust leisten.
Der Doktor benötigt etwas, leider spricht er Oshivambo, sie muss also raten. Die Helferin greift nach einem betagten Wasserkocher und eilt hinaus, vermutlich zur einzigen anderen Steckdose in der Praxis und kommt mit kochendem Wasser zurück. Schüttet aus einer ramponierten Dose etwas Weißes auf die Arbeitsfläche, das verdächtig nach Scheuermittel aussieht, und bearbeitet mit einer Zahnbürste, die schon etliche ihrer Borsten verloren hat, Brücke plus Zahn. Gießt erneut Wasser darüber, das längst nicht mehr kocht und reicht es dem Doktor. Um das Ersatzteil zu trocknen, wedelt der Arzt damit eine Weile durch die stickige Luft.
Julia schielt auf ihre Uhr. Seit genau fünfundvierzig Minuten hockt sie hier. Wollen die beiden jetzt Zeit schinden? Halbherzig steht sie auf, setzt sich wieder hin. Ohne Brücke kann sie nicht weg.
Fünf Minuten benötigt der dentale Meister, um sein Werk in ihr Gebiss einzufügen und drückt ihr mit einem zufriedenen Lächeln einen bonbonrosa Spiegel in die Hand, damit sie sich bewundern kann.
Die obere Zahnreihe ist genauso makellos wie vor dem Malheur. Julia bedankt sich beim Chef und seiner Assistentin, begleicht im Vorraum die beschämend niedrige Rechnung und gibt ein großzügiges Trinkgeld.
Draußen auf dem Parkplatz winkt sie ein paar Kinder zu sich, die im Schatten einer löchrigen Markise mit einem Kronkorken spielen. Sie zerrt ihren Rucksack aus dem Bus und verteilt alle Pflaumen und einen prallen Beutel mit gesalzenen Nüssen unter ihnen. Einem weiteren Zahnarztbesuch fühlt sie sich nicht gewachsen.
Zurück in Stuttgart sucht sie ihren Zahnarzt auf, damit er nötige Korrekturen vornehmen kann. Der begutachtet das Provisorium von vorne und von der Rückseite, rüttelt leicht am Zahn, schiebt seine Brille hoch auf die Stirn und schaut Julia mit merkwürdigem Gesichtsausdruck an.
„Respekt! Der Mann hat erstklassige Arbeit geleistet, ich hätte es nicht besser machen können.“
Gestern habe ich zu unserem monatlichen Weiberabend eingeladen. Acht jung gebliebene Frauen, leckeres Essen und sechs Flaschen erstklassiger Wein. Wie üblich haben wir uns gegenseitig durch den Kakao gezogen und Witze gerissen und hatten eine Menge Spaß. Nur einen Moment gab es, in dem ich die Contenance verlor. Das war, als die liebe Gudrun geradezu bösartig über mich herzog und mich eine vertrocknete alte Schachtel nannte. Sie hat uns dann früh verlassen.
Aber Schwamm drüber. Jetzt heißt es abwaschen! Auf der Ablage neben der Spüle warten acht Teller mit den Spuren von roter Spaghettisauce, dazu die entsprechenden Löffel und Gabeln, an denen noch der Parmesan in klebrigen Fäden hängt und die teuren Weingläser, alle mit fettigen Lippenstiftspuren. Daneben haben sich die Schälchen fürs Tiramisu, Kaffeetassen und Aschenbecher versammelt. Und die Töpfe natürlich, einer von ihnen groß und fettig, in dem sich noch zwei einsame Spaghetti an den Boden klammern. Der andere ist kleiner, dafür aber mit unappetitlichen Resten eingetrockneter Sauce verziert.
Ich lasse heißes Wasser ins Becken laufen, verdammt, ich habe den Stöpsel vergessen. Also noch einmal: heißes Wasser ins Becken laufen lassen, einen Spritzer duftendes Spüli dazu und feinporiger Schaum lädt ein zum Baden – pardon: zum Spülen. Und nun die Gläser eintauchen. Vorsicht! Die hohen Kelche mit den zierlichen Gravuren vertragen nur behutsame Spülhände, die mit dem Schwammtuch die Spuren roter Lippen beseitigen, danach die eingetrockneten Weißweinreste aufweichen und den Stiel drehen… Da warens nur noch sieben! Mit spitzen Fingern fische ich zwei etwa gleich große Glasscherben aus dem Wasser. Hoffentlich bringen sie Glück, ich kann es brauchen.
Wenn diese blöden Gläser sowieso zu Bruch gehen, muss ich sie auch nicht wie rohe Eier behandeln. Meine Bewegungen werden kühner, das Schwammtuch leistet ganze Arbeit und wunderbarerweise bleiben die restlichen Gläser heil. Jetzt die Schälchen und die Tassen und schon mal das Besteck zum Einweichen ins Wasser gelegt. Dabei fällt mir auf, dass die Temperatur merklich abgekühlt ist. Also wird der Hahn mit dem roten Punkt aufgedreht, und ein Schwall kochend heißes Wasser strömt ins Becken. Gut für die angetrockneten Parmesanfäden an den Gabeln, schlecht für meine linke Hand, die ich nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringe. Nachher muss ich nach der Brandsalbe suchen.
Die acht Teller versinken im heißen Wasser, der Wasserspiegel steigt über den Beckenrand und die nun rot gefärbte Brühe flutet die schon sauberen Gläser. Habe ich schon gesagt, dass mich Geschirrspülen wahnsinnig macht? Mürrisch schrubbe ich die Teller, schichte sie so auf dem Ablaufbrett, dass sie tatsächlich abtropfen können und wende mich voller Ingrimm den Töpfen zu. Wer soll zuerst ertränkt werden, der große Fettige oder der kleine Krustige? Ich nehme mir den großen vor, ein weiterer kräftiger Spritzer Zitronenduft muss her, die betagte Bürste kommt zum Einsatz. Nun schwimmen die beiden Spaghetti einträchtig im Spülwasser, meine Finger sind schon ganz schrumpelig geworden.
Aber ich werde nicht vorzeitig aufgeben, nicht, bevor der kleine Krustige sauber abtropfen kann. Ich lasse ihm Zeit zu quellen und widme mich dem Besteck, das sich ohne Gewaltanwendung von den Käsefäden trennt. Das Spülwasser hat nun Geruch und Farbe venezianischer Kanäle angenommen, obwohl die eigentlich keine Rotfärbung haben. Scheuermilch kommt zum Einsatz und die Bürste und noch ein Schwall heißen Wassers und siehe da, blitzender Edelstahl lässt die letzten Wassertropfen abperlen. Ich ziehe den Stöpsel an seiner Kette aus dem Spülbecken, das Wasser gurgelt durch den Abfluss, zurück bleibt ein öliger Film auf dem Boden der Spüle. Heißes Wasser und der erneute Einsatz der Bürste lassen auch ihn verschwinden.
Zufrieden blicke ich über das elegant gestapelte Geschirr und das tropfnasse Besteck. Für eine winzige Sekunde geraten meine Augen ins Taumeln, huschen erneut über die Löffel und Gabeln, suchen nach dem Steakmesser mit der schlanken, sauscharfen Klinge. Ich habe es benutzt, gestern, ich weiß es genau, um Zwiebeln zu schneiden für die Sauce. Nervös durchforste ich erst die Schubladen, dann mein Gehirn. Ganz deutlich erinnere ich mich, wie elegant es in meiner Hand gelegen und durch Fleisch geschnitten hat wie durch weiche Butter.
Eine Ahnung treibt mich hinüber ins Esszimmer, wo der ausgezogene runde Tisch noch immer darauf wartet, dass er wieder auf Normalgröße zusammengeschoben wird. Zögernd gehe ich um die Ecke Richtung Gästezimmer und siehe da, im Ohrensessel finde ich Gudrun, die auch wartet. Darauf nämlich, dass jemand das Steakmesser aus ihrem Brustkorb zieht, das bis zum Heft in ihrem wabbeligen Körper verschwunden ist. Selbst schuld dran, du alte Giftspritze, denke ich und ziehe es kraftvoll aus dem inzwischen steifen Fleisch. Es fühlt sich an, als würde die Klinge durch eine halbgefrorene Schweinelende schneiden.
Mit spitzen Fingern trage ich meine Beute hinüber in die Küche, lasse heißes Wasser über die Klinge laufen und schaue zu, wie das getrocknete Blut den Wasserstrahl rosa färbt, solange, bis alle Spuren beseitigt sind.
Fertig! Zufrieden koche ich mir Kaffee und buttere mir einen Toast, bestreiche ihn mit Quittengelee und nehme beides mit hinaus auf den Balkon.
Setze mich auf meinen Lieblingsplatz, wo mir die Sonne freundlich entgegenlacht und genieße mein Frühstück.
Um die liebe Gudrun werde ich mich später kümmern.
Nellie versucht sich zu erinnern, wann ihr zuletzt so elend war. ‚Herr Meier‘ fällt ihr ein, ihr sandfarbener Rauhaardackel, er ist unter die Räder eines Traktors geraten, als sie sieben war. Auch damals wollte die Traurigkeit nicht enden. Sie hat große Lust zu heulen, wegen ‚Herrn Meier‘ und wegen… Nellie schnieft und wischt sich mit dem Ärmel über die Nase. An Weihnachten sollte einfach niemand alleine sein müssen.
In ihrer Wohnung nadelt kein geschmückter Baum vor sich hin, nicht einmal Kiefernzweige hat sie sich erlaubt. Und den Adventskranz hat sie bereits am letzten Sonntag entsorgt, als die Zwillinge damit herausrückten, dass sie dieses Jahr Weihnachten gerne mit ihrem Vater feiern würden. Und seiner neuen Frau. Sie hatten tatsächlich ‚Frau‘ gesagt, obwohl die beiden gar nicht verheiratet waren.
Nellie stellt sich ans Fenster und betrachtet missmutig den Wohnblock gegenüber. Vor dem flackernden Blassblau der Fernseher blinken bunte Lichterketten und scheußliche Weihnachtsmänner klettern die Fassade hoch. Sie seufzt noch einmal, vorsichtig, damit die in ihrer Brust lauernden Schluchzer nicht entkommen.
Sie ist jetzt noch stolz, dass sie ihren Töchtern mit einem Lächeln erklärt hatte, das sei doch überhaupt kein Problem. Sie würden halt am ersten und zweiten Festtag zusammen Weihnachten feiern. Das Lächeln war ihr allerdings eingefroren, als die beiden die Bombe platzen ließen: Die Neue hatte sie über die Feiertage in die Schweiz eingeladen. Nellie hatte ihnen versichert, sie fände es spannend, Weihnachten mal alleine zu feiern – die Mädchen hatten nicht einmal skeptisch geguckt.
Zuerst hatte sie mit der Weihnachtsveranstaltung der evangelischen Kirche geliebäugelt, sich dann aber dagegen entschieden. Genau wie gegen die Einladung ihrer Freundin, die Feiertage mit deren großer Familie zu verbringen. Sie war eine erwachsene Frau und es sollte doch zu schaffen sein, Weihnachten alleine zu verbringen. Andere konnten das auch.
Am frühen Nachmittag hat sie die Mädchen bei ihrem Ex abgeliefert. Mit Unbehagen denkt sie an die freundliche junge Frau an Rolands Seite und an die Selbstverständlichkeit, mit der die Zwillinge ins Haus gestürmt waren. Bei der Erinnerung an Rolands unbeholfenen Versuch, sie zu umarmen, könnte sie schon wieder in Tränen ausbrechen. Oder die Schere nehmen und alle seine Konterfeis aus den Fotoalben herausschneiden. Völlig überhastet war sie aufgebrochen und hatte zu Hause in einem Anfall von Arbeitswut alle ungeliebten Hausarbeiten in Rekordzeit erledigt. Jetzt ist nichts mehr zu tun.
Sie gießt sich ein Glas Wein ein, zappt durch die Kanäle, blättert in Zeitschriften, knabbert Salzmandeln, macht den Fernseher wieder aus. Sie ist unruhig. Und ihr ist kalt. Nellie schaltet das Licht aus, setzt sich in den bequemsten Sessel und deckt sich mit der alten Kinderdecke zu. Sie wünscht sich, ‚Herr Meier‘ würde es sich in ihrem Schoß bequem machen.
Die Lamettafäden fallen ihr ein, die sie als Kind liebevoll über alle erreichbaren Zweige hängte, während ihr Vater wie immer den Engel schief auf die Spitze steckte. Sie schließt die Augen und kann fast den Duft von Honigkerzen riechen. Als sie die Augen wieder öffnet, hat sich die Welt verändert. Finsternis wohin sie blickt. Kein Weihnachtsmann, kein Rentier blinkt zu ihr herüber, alle Fenster draußen sind dunkel. Sie geht davon aus, dass es nur ein Stromausfall sein kann und heißt die Schwärze willkommen. Allmählich verkriecht sich der Lärm ihres täglichen Lebens in die Winkel des Zimmers und Stille beginnt wie silberfedriges Engelshaar im Raum zu schweben.
Eigentlich müsste sie sich fürchten. Aber seltsamerweise fühlt sie sich getragen, aufgehoben. Ihr Herz schlägt ruhig, der Atem fließt gleichmäßig, sie kann sich spüren, viel deutlicher als zuvor. Sie wird nicht untergehen! Die Erkenntnis raubt ihr beinahe den Atem.
An einigen Stellen im Haus gegenüber bewegen sich winzige Lichter. Eine brennende Kerze wird in ein Fenster gestellt, zwei weitere folgen. Auf der Straße werden Stimmen laut, kurzes Gelächter, eine Wagentür fällt ins Schloss. Auch in ihrem Haus regt sich jetzt Leben. Oben hört sie es rumoren, dann ein Poltern. Schneiders scheinen auf der Suche nach Streichhölzern zu sein. Nebenan flucht Herr Wieland in mindestens zwei Sprachen. Nellie meint so etwas wie „Krippel, damischer“ zu verstehen und ein „Herrgott sakra“.
Sie beginnt leise zu summen, sucht nach der Melodie, die Worte gesellen sich wie von selbst dazu: „Stille Nacht, Heilige Nacht. Alles schläft, einsam wacht…“ Erst geniert sie sich ein bisschen, aber mit jedem Ton wird ihre Stimme fester.
Bei der zweiten Strophe muss sie passen. Stille. Dann erklingt aus der Nachbarwohnung die brüchige Stimme von Herrn Wieland: „Stille Nacht, Heilige Nacht. Gottes Sohn, oh wie lacht…“ Nellie kann sich wieder an den Text erinnern, fällt ein, hübsch hört sich das Duett an. Der Alt von Frau Schneider aus dem ersten Stock gesellt sich dazu. Ein wenig zittrig zwar, aber dafür kennt Frau Schneider die dritte Strophe.
Das Lied ist zu Ende, die Sänger verstummen. Wieder Stille, verschämt diesmal.
Dann ertönt Applaus aus dem Treppenhaus, jemand klopft an ihre Tür und an die von Herrn Wieland. Mit Kerzen bewaffnet haben sich die Schneiders auf den Weg nach unten gemacht. Sie laden ein zu Mohnstollen und Tee.
Noch vor zwei Stunden war die Sonne alleinige Herrscherin am kobaltblauen Himmel. Aber dann war es ziemlich schnell düster geworden und grauschwarze Wolkenberge mit fahlgelben Rändern verschluckten nach und nach jeden Sonnenstrahl. Jetzt sind selbst die Vögel verstummt.
Marie kneift die Augen zusammen und mustert misstrauisch das Blättergewirr. Wie eine undurchdringliche Mauer liegt der Wald vor ihr. Und direkt über ihr steht die Gewitterfront. Sie hasst Gewitter. Beim letzten Blitz hat sie noch nicht mal bis zwei zählen können, bevor der Donner die Stille zerfetzte. Aber solange es nicht regnet, wird sie freiwillig keinen Schritt in dieses grüne Labyrinth setzen.
Im Nachhinein könnte sie sich ohrfeigen, dass sie Norman so gepiesackt hatte. Wieder mal. Aber die heiße stickige Luft im Wagen und das Dröhnen der Bässe aus den Boxen hatten sie aufgestachelt. Und als er sie schließlich anbrüllte, verlangte sie wutentbrannt, dass er anhielt und, kaum dass der Golf stand, riss sie theatralisch die Tür auf und stöckelte los Richtung Brachland, angelockt vom strahlenden Gelb des Löwenzahns.
Keine Sekunde zweifelte sie daran, dass er sie zurückholen würde. Norman war bisher immer zu Kreuze gekrochen. Sie hörte ihn rufen und drehte sich aufreizend langsam um. Zu ihrer Verblüffung heulte der Motor des aufgemotzten Golfs TDI einmal kurz auf und dann raste Norman davon. Die Staubwolke konnte man weithin sehen.
Sie setzte sich auf einen mickrigen Feldstein, schlug die Beine übereinander und beobachtete zufrieden, wie der Saum ihres kurzen Rocks bis ganz nach oben rutschte. Versuchsweise ließ sie den Träger ihres Tops über die Schulter gleiten und wippte erwartungsvoll mit dem Fuß, bis die Sandalette nur noch an einem Riemchen hing. Und wartete. Außer ihr keine Menschenseele weit und breit.
Na gut, am Himmel lärmten die Vögel, aber als sie einmal kurz die vom Starren müden Augen schloss, verstummte innerhalb kürzester Zeit aller Gesang. Hinter ihren Lidern zuckte ein Blitz auf, gleich darauf ein zweiter. Sie riss die Augen wieder auf und sah Blitze wie giftige Schlangen über den rußgrauen Himmel näher kriechen, gespenstisches Krachen im Schlepptau. Und kein Unterstand weit und breit. Bis an den Horizont verwilderter Acker und verbrannte Weideflächen, nur im Osten ein Streifen Wald. Einöde pur. Wütend starrte sie auf ihre hohen Absätze. Wie zum Henker sollte sie hier wegkommen?
Innerhalb kürzester Zeit wurde es so drückend schwül, dass der Schweiß ihr in kleinen Rinnsalen den Rücken hinunterrann, sich zwischen ihren Brüsten sammelte und den winzigen Slip tränkte. Am schlimmsten aber war der Durst.
Die Minuten verstrichen mit quälender Langsamkeit. Wenn Norman zurückkäme, würde sie ihn dafür büßen lassen. Aber Norman kam nicht zurück und langsam verlor sie die Geduld. Ganz kurz liebäugelte sie mit dem Gedanken, sich ein Taxi zu rufen und hätte sich dann am liebsten selbst eine runtergehauen: der verdammte Akku ihres Handys war leer, genau wie ihr Portemonnaie. Und außerdem hatte sie keinen blassen Schimmer, wo sie sich befand. Scheiße, Scheiße, Scheiße.
Halb betäubt von einem gewaltigen Donnerschlag hört sie das Motorengeräusch erst ziemlich spät. Vor Erleichterung wird ihr ganz flau im Magen, so dringend will sie weg. Der schwarze Wagen kommt um die enge Kurve geschossen und bremst abrupt, ungefähr da, wo vor einer Ewigkeit Norman mit seinem Wagen gestanden hatte. Aber es ist nicht Normans alter Golf, dieser Wagen ist tiefer gelegt, hat riesige Auspuffrohre und ringsum dunkel getönte Fensterscheiben.
Als das Motorengeräusch erstirbt, legt sich Stille wie ein Leintuch über den Nachmittag. Selbst der Donner verstummt für einen Moment. Marie hockt wie eingefroren auf ihrem Feldstein, starrt den Wagen an und verliert dabei jedes Zeitgefühl. Aber kein Fenster senkt sich, keine Tür öffnet sich. Der Wagen belauert sie wie ein bösartiges Tier. Als wäre sie seine Beute.
Mit einer einzigen Bewegung streift sie die Sandaletten ab und rennt los. Ihre nackten Füße trommeln ein Stakkato auf den staubigen Boden, aber die Bäume kommen nur sehr langsam näher. Ihre Lungen brennen, die Wadenmuskeln sind bis zum Zerreißen gespannt, garstige Brennnesseln malträtieren ihre Beine und von der Hitze gebackene Erdklumpen lassen sie stolpern.
Zuerst bekommt sie gar nicht mit, dass der Wagen davonbraust, weil ihr Herzschlag so laut in den Ohren dröhnt. Erst als sie ihn aus den Augenwinkeln wie einen dunklen Schatten hinter dem Waldrand verschwinden sieht, sackt sie ausgepumpt zusammen und schnappt krampfhaft nach Luft. Aber ein Blitz direkt über ihr und in seinem Gefolge ein mächtiger Donnerschlag bringen sie sofort wieder auf die Beine.
Und jetzt steht sie schwer atmend vor den ersten Bäumen und kann sich nicht entschließen einzutauchen in die Wand aus Blättern und Zweigen. Solange sie zurückdenken kann, hat sie sich vorm Wald gefürchtet. Wie von selbst schärfen sich ihre Sinne, sie nimmt Witterung auf wie ein Tier.
Das Gewitter nimmt ihr die Entscheidung ab. Der Himmel öffnet seine Schleusen ohne Vorwarnung und lässt die Welt im Regen ertrinken. Nass bis auf die Haut schiebt Marie die tiefhängenden Äste einer Eiche beiseite und zwängt sich unter das schützende Blätterdach. Weiß nicht wohin in dieser tropfenden Düsternis und rennt einfach weiter, bis sie strauchelt und einen Abhang hinunterrutscht.
Zum Glück dämpft eine mit trockenem Laub gefüllte Mulde den Aufprall. Erschöpft bleibt sie liegen, rollt sich auf die Seite und zieht die Beine an, so wie sie es als Kind gemacht hat. Wie in einem Nest liegt sie da. Der Geruch von Pilzen und feuchtem Waldboden dringt in ihre Nase und zum ersten Mal an diesem Nachmittag lässt ihre Anspannung nach. Ihr Atem wird langsam ruhiger und das monotone Trommeln des Regens auf dem Blätterdach lullt sie ein.
Unter halb geschlossenen Lidern betrachtet sie träge ihre Umgebung und ist bestürzt, wie gut der Mann im Tarnanzug mit dem Wald verschmilzt. Nur die schwarzglänzenden Stiefel verraten ihn.
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