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Aki lebt in einem Internat für Mädchen. Ihre Eltern sind vor vielen Jahren gestorben. Dafür hat sie aber ihren geliebten Patenonkel, Onkel Erich, der sich um sie kümmert und sie unterstützt. Bald hat Aki ihr Abitur in der Tasche und muss sich Gedanken um ihre Zukunft machen. Die meisten ihrer Freunde beginnen ein Studium oder gehen vorerst zurück zu ihrer Familie. Aki hat aber noch keine genauen Pläne.Eines Tages liest sie durch Zufall eine Anzeige in der Zeitung – genauer ein Stellengesuch: Eine alleinerziehende, berufstätige Mutter sucht für ihre vier "ungezogenen" Kinder eine Abiturientin, zum Beaufsichtigen von Schulaufgaben, zum Klavierüben und zum Halswaschen. Aki amüsiert sich sehr über die Annonce, zumal die Mutter kein Hehl daraus macht, dass ihre Kinder ungezogen sind und sich nicht waschen. Lustig ist auch noch, dass die Mutter zwar nur ein kleines Taschengel zahlen kann, aber dafür mit Familienleben und Freizeit lockt. In den folgenden Tagen kann Aki nicht aufhören, an die lustige Anzeige zu denken. Ständig stellt sie sich die Mutter vor. Einmal träumt sie sogar von ihr. Wenn das kein Zeichen ist!DAS LEBEN FINDET HEUTE STATT ist ein fröhlicher und herzlicher Roman über den Beginn einer innigen Freundschaft. Wieder einmal zeigt Lise Gast, dass Familie und Familienleben aus viel mehr besteht als nur Verwandtschaft. -
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Seitenzahl: 340
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Lise Gast
Fast ein Roman oder auch keiner
Saga
Das Leben findet heute statt
© 1958 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711508794
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Personen,
Begebenheiten und Ereignisse dieses Buches,
Orte der Handlung, Witterungseinflüsse,
Mixgetränke,
Vieh- und Menschennamen,
Schiffsfirmen und topographische Einzelheiten,
Ohrfeigen, Liebespfade und Küsse,
sowohl das,
was möglicherweise
zwischen den Zeilen steht
oder vom Leser
hineininterpretiert werden könnte,
- all dies
beruht lediglich auf freier Erfindung
blühender Phantasie,
und ist dieses nicht statthaft,
es mit der Wirklichkeit
in Verbindung zu setzen.
Wer dennoch Parallelen zieht,
bzw. sich getroffen fühlt,
überfordert das Buch
und die geistige Potenz des Verfassers.
Lediglich Kuchenrezepte sind ausprobiert
und bewährt,
auf Wunsch kostenlos lieferbar
(bitte Rückporto einlegen!).
Suche beherzte Abiturientin
zu vier ungezogenen Kindern. Beaufsichtigung von Schularbeiten, Klavierüben und Halswaschen. Mutter berufstägig, Großmutter im Haus. Wenig Taschengeld, dafür viel Famienanschluß und Freizeit. Zuschriften unter: „Mit uns durch dick und dünn“ an die Redaktion dieses Blattes.
„Na, ich muß ja sagen“, murmelte Aki. Sie saß im Waschsaal auf dem Fensterbrett, die Beine auf einen Schemel gestemmt, ein Handtuch als Turban um den Kopf. Was sie sonst noch anhatte, war nicht der Rede wert. Auf ihrem Schoß immerhin befand sich ein Zeitungsblatt, das sie gerade glattstrich. Eine Tube Schampun war darin eingewickelt gewesen, die Mechtild diesmal hatte bezahlen müssen. Sie und Mechtild wetteten immer um Schampun und verbrauchten es dann gemeinsam. Auf diese Weise tat es nicht so weh, wenn man verlor.
„Was hast du denn?“ fragte Mechtild. Sie war noch beim Kopfwaschen, stand, in Turnhemd und Sporthose, über das Becken gebeugt und massierte ihre Seifenmütze.
„Ach, hier, eine Anzeige. Ob da jemand drauf antwortet?“
„Heirats ...?“
„Bewahre. Du denkst immer dasselbe. Ich glaube, wenn du in Geschichte mit der Politik Maria Theresias drankommst ...“ „Die war aber auch eine tüchtige Frau! Und weißt du, warum sie alle Leute verheiratete? Weil sie selber ...“
„’türlich. Sie wollte alle Welt um sich her glücklich sehen. Kann ich nachfühlen. Nein, diesmal handelt es sich nicht ums Heiraten, sondern um dessen Konsequenzen. Um vier ungezogene Kinder, die ungern Schularbeiten machen, sich vor dem Klavierüben drücken, obwohl die schuftende Mutti die teuren Stunden bezahlt, und die sich ihre Hälse nicht waschen. Toll, so was zuzugeben. Mütter sind da doch gewöhnlich total verblendet.“
„Wer gibt was zu? Du sprichst in Rätseln, holde Sphinx“, sagte Mechtild. Sie hatte jetzt den Kopf unter den warmen Hahn gesteckt und bewegte ihn hin und her. Es sah aus wie die Vorübung zu einem Schlangentanz. Dann drehte sie zu, warf die vor Nässe dunkle Mähne, klatsch, zurück, wischte sich das Gesicht ab und die Augen aus und kam herübergetappt. „Zeige mal! Was bewegt dein Herz?“
„Bitte.“ Aki hielt das Zeitungsblatt so, daß das spärliche Licht der Deckenlampe drauffiel. „Vorsicht, tropf’ es nicht voll! Vielleicht ...“
„Willst du hinschreiben? Klar! Student mit Auto, Reise nach Südfrankreich, getrennte Kassen ...“
„Du bist gemütskrank. Drunter! Hier! Student mit Auto – was denkst du denn! So was täte ich doch nie ...“
„Eben. Wahrscheinlich ist er klein und schielt oder hat einen Sprachfehler. Sonst brauchte er doch nicht zu annoncieren. Drunter? Zwergdackel, auf den Namen Schnucki hörend, entl ...“
„Quatsch, hier! Abiturientin – vorsichtshalber steht davor ‚beherzte‘ –“ Aki las, ungeduldig und ein wenig ärgerlich über Mechtilds Begriffsstutzigkeit, die Anzeige nun selbst vor. „Mach’ schon, daß du fertig wirst. Es wird gleich gongen.“
„Eile mit Weile, sagt die Lene immer. Ich eile also weilend. Du, ich find’ das gar nicht unflott. Wenn ich Klavier spielen könnte, würde ich hinschreiben. Wenig Taschengeld, hm – aber der reichliche Familienanschluß macht alles wett. Vielleicht ist da auch ein größerer Sohn. An den könnte man sich anschließen.“
„Ach, Mechtild. Du mit deinem ewigen Kehrreim! Aber Taschengeld, etwas wenigstens, ehe man gar nichts verdient. Und freie Station hätte man doch auch, könnte also alles sparen. Freilich, vier ungezogene Gören ...“
Aki lag an diesem Abend noch lange wach, als alle andern im Schlafsaal schon schliefen. Sie dachte an Onkel Erich, ihren Vormund, den sie heiß verehrte.
Er hatte ihr die Schule finanziert, nun kam also das Studium. Wie oft hatte sie diesen Zeitpunkt herbeigesehnt, und jetzt, da es fast soweit war, wünschte sie beinah, in Unterprima sitzengeblieben zu sein. Was sollte nun aus ihr werden?
Die andern wußten es alle. Wer nicht sofort in den Beruf startete, ging nach Hause. Sie hatten alle ein Zuhause, manche zwar nur noch die Mutter, doch alle Geschwister. Bis auf sie. Sie hatte kein „Wir“, sie hatte nur Onkel Erich.
Übrigens war es gemein, „nur“ zu denken, geschweige denn, es je zu sagen im Zusammenhang mit Onkel Erich. Dr. Erich Brückner, Freund und bester Kamerad ihrer Eltern, war der geliebteste und beste Patenonkel unter der Sonne, nein, unter Sonne, Mond und sämtlichen Fixsternen und Planeten. Aki wußte nicht mehr, wie es war, Eltern zu haben, eins aber wußte sie genau: sie würde Onkel Erich für keine der Mütter ihrer Klassenkameradinnen hergeben. Er war einmalig und das Große Los. Das hatte ihr auch jede aus der Klasse neidlos zugestanden, als er sie einmal hier besuchte. Alle fanden ihn prima.
Er praktizierte nicht mehr. Ganz plötzlich hatte er damit aufgehört, war nach München gegangen und hatte dort bei einem Bildhauer viele Wochen verbracht. Hatte ihr nichts davon geschrieben und sie nicht angerufen, nur ein kurzer herzlicher Gruß stand immer auf dem Abschnitt ihrer Taschengeld-Überweisung. Jetzt lebte Onkel Erich wieder in seinem Haus, das er bis auf das Dachgeschoß an seinen Nachfolger vermietet hatte. Dort arbeitete er.
Aki wußte, woran. Deshalb war er ja auch bei dem Bildhauer gewesen. Er hatte seine Frau früh und den einzigen Sohn im Krieg verloren. Das Gesicht dieses Sohnes zu modellieren, war sein Wunsch. Es war kein besessener Ehrgeiz, kein verrückter Versuch, etwas wieder lebendig zu machen, was der Vergangenheit angehörte. Er modellierte auch andere Dinge, Tiere, Kinderköpfe, Hände. Aber immer wieder kehrte er zu dieser Aufgabe zurück.
Aki war glücklich, wenn sie die Sachen sehen durfte, an denen er sich mühte. Er war still, versunken in das, was ihm wichtig schien; immer freundlich, wenn man kam, immer beschäftigt, wenn man wieder fort mußte. Aki fühlte eine plötzliche erstickende Sehnsucht, ihn wiederzusehen, schnell, am liebsten gleich. Er war nicht mehr jung, älter als ihr Vater jetzt sein würde, er konnte ihr heute oder morgen genommen werden. Sie hatte schon die Beine aus dem Bett und angelte nach den Hüttenpatschen. Bademantel an und los. Die „Lene“ war sicher noch wach. Aki sauste die Treppe lautlos, obwohl immer drei Stufen auf einmal nehmend, hinauf.
Die Lene, Frau Dr. Helene Ludwig, war wirklich noch wach. Aki klopfte, nachdem sie tief Luft geholt hatte, und trat ein. Es roch nach Äpfeln, Zentralheizung und Zigaretten.
„Na, so später Besuch? Was gibt’s denn Besonderes?“ fragte die Lene und legte das Buch weg, in dem sie gelesen hatte. Sie saß nicht etwa korrigierend am Schreibtisch, sondern lag auf ihrer Couch, ein Buch in der Hand, bei abgeschirmter Lampe, sehr behaglich.
„Ja. Ich möchte morgen gern – ich hätte gern Sonntagsurlaub“, sagte Aki. Sie stand, ein wenig linkisch, vor der Couch der Gestrengen, die absolut nicht streng guckte; der Kragen ihres Bademantels bauschte sich um ihr Gesicht und ließ es schmaler erscheinen als sonst. Es war länglich und mehr gescheit als hübsch, jetzt sah es gespannt und anziehend aus.
Die Lene betrachtete Aki wohlwollend. Sie mochte diese Art von jungen Mädchen besonders – uneitel, zielbewußt, gescheit und voller Pläne, eine Jugend, an der man seine Seele weiden konnte.
„Skilaufen? Freilich, bei dem Schnee!“
„Nein, nicht skilaufen. Ich möchte zu meinem Onkel.“ Einen Augenblick war vor Aki die Vision von blendenden Hängen, von stiebendem Pulver und knarrendem Harsch. Warum eigentlich nicht? Onkel Erich lief ihr nicht weg, dieser Schnee aber blieb nicht ewig.
Sie strich das durch. Wußte sie, was ihr nächsten Sonntag dazwischenkommen konnte?
„Ich habe ihn so lange nicht gesehen.“
„Gut, fahr! – Übrigens ...“
Aki hatte sich sofort verabschieden wollen, das war so Sitte im Heim. Man konnte jederzeit zur Lene, mußte sich aber so kurz fassen, daß man eigentlich schon wieder draußen war, ehe man recht zur Besinnung kam. Nur auf diese Weise war es möglich, daß tatsächlich jeder mit einer Wichtigkeit bis zur höchsten Instanz gelangen konnte.
„Ja?“ fragte Aki und bremste.
„Hast du Fahrgeld? Dann komm, hier, zwei Mark. Das übrige mußt du selbst auftreiben. Still, bitte. Gute Nacht.“
Nun war Aki wirklich draußen. Toll, diese Lene, großartig! Zwei Mark! Damit kam man per Bummelzug bis zu Onkel Erich, um die Rückfahrt machte man sich noch keine Gedanken. Wundervoll! Der erste Zug ging gleich nach sechs in der Frühe. Schnell noch den Wecker stellen.
Als sie im Bett war, fiel ihr ein, daß sie Onkel Erich doch etwas mitbringen müßte. Im Werkunterricht hatten sie jetzt schöne Kästchen hergestellt, Holz, wunderbar geschliffen, das sich anfaßte wie Seide. Aki sprang aus dem Bett und kramte ihres hervor, wickelte es in Seidenpapier und suchte dann nach etwas Festerem, um es richtig einzupacken. Dort lag ein Bogen Zeitungspapier. Schön, in die Mappe damit. Und nun ins Bett, Augen zu, die Nacht war kurz.
In dieser Nacht hatte Aki einen Traum. Sie dachte später oft daran zurück, ihr war, als habe sie Andrea Kohlschreiber damals schon kennengelernt, in diesem Traum. Jedenfalls floß ihr das Bild der Frau, die sie kennenlernen sollte, mit dem des Traumes zusammen. Natürlich lag das nahe, denn sie hatte von je die Angewohnheit, sich Leute auszumalen, die sie nie gesehen hatte. Wie sie wohl aussehen würden, wie sie wohnten und was sie trieben, worüber sie sich freuten und was sie erlitten. Nach dieser etwas merkwürdigen Anzeige war es relativ leicht, sich das Richtige auszumalen. Keinen Mann mehr, berufstätig, Kinder, ein großzügiger Haushalt. Sie selbst resolut und nicht ohne Humor. Stichwort: Mit uns durch dick und dünn.
Später schüttelte Aki oft insgeheim den Kopf, wenn sie an diesen Traum zurückdachte. Sie hatte damals schon gespürt, daß diese Frau eine starke, eine ausschlaggebende Rolle in ihrem Leben spielen würde. Die Rolle einer Mutter, einer Freundin, eines Kameraden – beinah undenkbar, dies alles in einer Person zu vereinen. Aber schon im Traum spürte Aki, daß man diese Frau die Hauptrolle ohne Bedauern, ja ausgesprochen gern übernehmen ließ ...
Es saß sich himmlisch-schön hier, gemütlich in einem völlig unspießigen Sinne. Mit Onkel Erich hätte man es auf einem zugigen Bahnsteig ohne Dach, auf einer regennassen Bank inmitten fremder Leute mit Koffern und Reiseunruhe gemütlich gefunden. Er gehörte zu der Art Menschen, die einfach der Pol sind, um den das Leben kreist, in ruhigen, schwingenden Rhythmen. Ob man jemals auch so werden würde? „Was hast du Neues da, Onkel Erich?“ fragte Aki brennend vor Interesse. „Wie ist der Kopf des Musikers geworden, den du neulich modelliertest? Schön? Darf ich ihn sehen?“
„Ich habe jetzt wenig daran getan, Aki“, sagte Erich Brückner und lächelte ihr zu mit jenem Lächeln, das sein breites braunes Gesicht so überraschend verschönte. „Ich habe jetzt etwas anderes vor. Glaube nicht, daß ich mich überschätze, Kind, bitte! Aber ich habe so viel in meinem Leben gesehen und erlebt, das möchte ich nicht verlorengehen lassen. Es gibt ein Buch, das heißt ‚ich – kleingeschrieben‘. Das finde ich nett. Mein Buch – oder meine Aufzeichnungen, ich will wahrhaftig nichts weiter, als Interessantes vor dem Vergessenwerden bewahren – müßte eigentlich heißen: ‚ich – nicht dabei‘. Ich bin nur die Linse des Fotoapparates, durch den das Licht fällt, verstehst du? Aber was sich da sammelte, das möchte ich festhalten. Kurz und schlecht, ich schreibe meine Erinnerungen.“
„Onkel Erich!“ rief Aki leise. Ihre Augen glänzten. „Da kommen auch meine Eltern drin vor?“
„Natürlich.“ Er legte seine große warme Hand auf ihre beiden. „Selbstverständlich. Deine Eltern waren mir sehr wichtig und teuer. Aki, es ist schön, ein solch reiches Leben gehabt zu haben wie ich.“
„Bestimmt!“ Sie sah zu ihm auf. Ihr ganzes Herz lag in ihrem Blick. „Onkel Erich, aber sag nicht: gehabt zu haben. Sag: zu haben. Du bist doch noch mittendrin.“
„Meinst du?“ Er sah sie nachdenklich an. „Ich meine – ich persönlich meine – vielleicht irre ich mich –, aber ich habe das Gefühl, als stünde ich an einem neuen Anfang. Immer wieder gibt es neue Anfänge im Leben. Versuch dir das zu merken, Aki. Bei dir ist das wohl klar, daß immer wieder etwas Neues anfängt, aber später ...“
„Und nun erzähl von dir. Vom Abitur. Das Schriftliche bestanden? – Angst vor dem Mündlichen?“ fragte er nach einem kleinen Schweigen freundlich.
„Nein, keine, Onkel Erich. Erzähl lieber du. Erzähl weiter!“ „Was soll ich denn erzählen, Kind. Daß ich täglich viele Stunden lang sitze und schreibe? In Schulhefte? Drei sind schon voll. Da, wenn es dich glücklich macht ...“ Aki klappte das erste blaue Heft auf. Sie liebte Onkel Erichs Schrift. Er schrieb deutsch, halbgroß, klar und doch so eigenartig, daß nur die wenigsten Menschen es fließend lesen konnten. Mechtild hatte einmal einen Brief von ihm gesehen und gesagt, sie könnte nicht ein Wort entziffern. Aki war beinah tätlich geworden. „Jetzt wird aber hier nicht gesessen und gelesen“, sagte Onkel Erich, „wir wollen ein Stück Spazierengehen. Es ist so herrlich draußen, und mein Hausarzt hat mir frische Luft verordnet.“
Aki lachte. Onkel Erich, dieser von ihr so heiß geliebte und innig bewunderte Mann, diese Persönlichkeit, zu der man aufblicken mußte, hatte zwei Schwächen. Er lief nicht gern, obwohl es ihm gutgetan hätte, und er aß gern, obwohl es ihm nicht guttat. Diese beiden Dinge wirkten Hand in Hand und hatten aus dem einstigen Hünen einen – leider mußte sie es zugeben – etwas schwerfälligen Riesen gemacht. „Mann mit Bauch“, sagte er selbst und lachte, wenn sie wütend protestierte. Jetzt wäre sie lieber hier sitzen geblieben, in diesem Zimmer mit der schrägen Wand, das warm war und sehr heimelig, aber er sollte sich ja bewegen. So legte sie die Hefte schnell auf den kleinen Rauchtisch mit der Messingplatte und stand auf.
„Gern, Onkel Erich. Es ist wunderschön draußen bei diesem Schnee.“
Das war es wirklich. Kalt, aber windstill – ein wunderbarer Sonntag. Aki fühlte einen verborgenen Stolz, als Onkel Erich nach einigen Schritten ihren Arm nahm. „Komm, Kind, und sei mir eine Stütze.“
Sie gingen durch die Stadtanlagen, in denen überall kleines Volk in bunter Wolle mit Rodelschlitten umherwimmelte. Die Sonne blendete auf dem Schnee und malte die Schatten himmelblau. Aki und Onkel Erich gingen langsam, guckten um sich und schwatzten oder schwiegen.
Eben wollten sie die Straße überqueren, die hier eine Biegung machte. Von oben her kam ein Auto, das keine Schneeketten hatte und entsprechend langsam fuhr. Hier aber war die Fahrbahn glatt durch die Schlitten der Kinder, die immer wieder über den Bürgersteig hinaus ein Stück auf den Fahrdamm rutschten. Das war verboten, ließ sich aber nicht vermeiden. Auch jetzt wieder geschah es, daß ein kleiner buntwolliger Schlittenfahrer über die Grenze des Erlaubten hinaus auf die Fahrbahn schoß, gerade auf das Auto zu. Der Fahrer sah das und bog aus. Aber auf der glatten Straße schleuderte der Wagen und glitt, ungesteuert, seitlich auf den kleinen Rodler zu.
Das alles begab sich in Bruchteilen einer Sekunde, und Aki und Onkel Erich sahen es beide.
Aki starrte wie gebannt auf die ungleichen Fahrzeuge, die einander anzuziehen schienen. Sie verstand sich hinterher selbst nicht, daß sie dagestanden, die Fäuste geballt und die Zähne zusammengebissen und sich nicht gerührt hatte. Onkel Erich aber, der Mann mit Bauch, war, so unwahrscheinlich das klang, nicht still stehengeblieben. Mit einer Behendigkeit, die keiner ihm zugetraut hätte, hatte er Akis Arm losgelassen und war über die Straße gelaufen, um den kleinen Rodler am Genick zu packen. Ruck, riß er ihn aus der Fahrbahn des Wagens, der im selben Augenblick nur noch den Schlitten erwischte. Onkel Erich bekam einen Stoß vom Kotflügel des Wagens ab, der ihn aber nicht umwarf, sondern nur gegen einen an der Straße stehenden Hydranten drückte. Das alles ging so schnell, daß alle, die es gesehen hatten, noch den Atem anhielten, als Onkel Erich den kleinen Rodler – es war ein Mädchen in Trainingsanzug und Bommelmütze – wohlbehalten auf die Beine stellte.
„Das ist noch mal gut gegangen!“ sagte Onkel Erich und bückte sich nach seinem Hut. Nicht einmal dabei war ihm Aki zuvorgekommen. Sie mußte heute wahrhaftig von allen guten Geistern verlassen sein und im Schneckentempo schalten. Der Autofahrer hatte seinen Wagen zum Stehen gebracht und stieg aus, blaß und verstört.
„Nein, nein, nichts als der Schlitten, der drüben angebumst ist, ging kapee“, sagte Onkel Erich. Auch das hatte er schon registriert. „Natürlich ist der kleine Kerl hier schuld, es ist ja verboten, auf der Fahrstraße zu rodeln. Aber ebenso natürlich wären Sie und ich in diesem Alter hier auch gerodelt.“
Er hatte den Fahrer mit einem seiner unaufdringlich scharfen, freundlich-klaren Blicke abgeschätzt. Der sah nicht aus, als ob ihn die Ausgabe für einen neuen Rodelschlitten ernsthaft erschüttern könnte.
„Na, nun weine nur nicht, kleine Olympiasiegerin in spe, du kriegst einen neuen. Dazu sind alte Onkels da. Nein, Kloppe bekommst du auch nicht. Der Schreck war wohl so auch heilsam genug. Wollen wir ihn nicht gemeinsam begießen?“
Aki war jetzt wieder so weit, daß sie sich um das Mädchen kümmern konnte. Sie hatte den zerbrochenen Schlitten von der Fahrbahn geräumt und jenseits des Fußsteiges in den Graben geworfen, so daß er keinem Auto mehr gefährlich werden konnte. Jetzt nahm sie das Mädchen an der Hand, wischte ihm die Nase und rückte die verrutschte Mütze zurecht. Das Kind machte große, erwartungsvolle Augen. Es hatte ein rundes Gesicht mit zwei Grübchen in den Wangen und einem dritten im Kinn und so unwahrscheinlich rote Backen, daß man kaum widerstehen konnte, einen Kuß drauf zu schmatzen.
„Du goldiger Affe!“ dachte Aki und richtete sich schnell auf. Onkel Erich hatte sich wieder bei ihr„eingeöst“, wie eres nannte.
„Los, ein Versöhnungstrunk. Ich spendiere. Ihr Kinder bekommt Schokolade mit Schlag, wir etwas Besseres. Wo ist die nächste Konditorei?“
Natürlich! Aki hätte es sich denken können, daß der Gesundheits- und Bewegungsausflug in den Besuch eines Cafés ausarten würde. Allerdings hatte Onkel Erich jetzt einen triftigen Grund gefunden. Sie lachte. Erwachsene machen sich also mitunter auch etwas vor. Sie blinzelte zu Onkel Erich auf.
„Bitte, Kind, leg nicht immer den Finger auf die wundeste Stelle meiner Seele“, sagte er halblaut und schuldbewußt, „du bist in dieser Beziehung geradezu brutal. Ich wollte wahrhaftig spazierengehen und die schöne Winterluft genießen. Kann ich dafür, daß dieser Herr hier die Absicht hatte, unschuldige kleine Englein zu überfahren? Und ich ihn dran hindern durfte? Also – das erfordert einen Besuch im Café. Mir zittern noch die Knie.“
„Das ist nicht wahr, Onkel Erich, du schummelst“, sagte Aki und lachte zärtlich. „Dich kann doch nichts erschüttern ...“
„Onkel Erich, du blutest ja!“ sagte sie nach einer Weile erschrocken. Sie saßen in einer warmen, gemütlichen Konditorei, und ein Fräulein mit freundlichem Gesicht brachte eben wahre Kuchenberge angeschleppt. Sie hatte seine rechte Hand gesehen, die auf seinem Knie lag. „Ist es schlimm? Zeig!“
„I wo, Kind, nicht der Rede wert. Ich muß an den Hydranten gekommen sein. Weiter nichts als ein Riß. Die Finger sind intakt.“ Er bewegte die Hand mit gespreizten Fingern, öffnete und schloß die Faust. Alle Gelenke gehorchten. Aki seufzte erleichtert.
„Aber es blutet. Soll ich in die Apotheke springen und Verbandszeug holen?“
„Warum nicht die Rettungswache anläuten? Den Krankenwagen bestellen? Aki, sei vernünftig! Wir gehen nachher zu Dr. Brückner, vielleicht ist der alte Trottel zu Hause. Aber er wird Sonntagstaxe verlangen ...“
Onkel Erichs Zimmer war mächtig geheizt, der kleine Ofen bullerte, es schlug einen zunächst zurück, wenn man aus der frischen, kalten Spätnachmittagsluft hereinkam. Schnell aber gewöhnte man sich. Aki meinte, man spüre richtig, wie man auftaue, nur die Haut begann zu brennen.
„Ich sehe wohl aus wie angestrichen“, sagte sie ein wenig verlegen und hielt den Handrücken an die Backe. Onkel Erich sah sie an.
„Wie gemalt“, lächelte er in ihre Augen hinein, „aber nicht wie angemalt. Wie alt bist du jetzt, Aki? Achtzehn? Achtzehn. Komm, setz dich! Wie schön, daß dein Zug erst spät geht.“
„Du mußt aber jetzt deine Hand verbinden“, erinnerte Aki, „damit sie nicht noch schlimm wird, nachdem alles gut ausgelaufen ist.“
„Ja, tu ich. Aber du setzt dich und tust nichts als zusehen. Nein, bitte, nichts helfen wollen!“
Ach, es war wundervoll, es war unbeschreiblich schön und beglückend, hier sitzen zu dürfen und zu wissen: es war nichts passiert. Es gibt ja kaum ein schöneres Gefühl als das, einem Unfall entgangen zu sein. Nie ist man dankbarer für jede Kleinigkeit, aufgeschlossener für seine Umgebung und glücklicher über den andern, den man nicht verlor.
„Das hatte mir noch gefehlt“, sagte Aki lächelnd und schnupperte, als Onkel Erich das Köfferchen aufschnappen ließ. Sie roch so gern alles, was an Arzt und Sprechstunde erinnerte: Jod, Äther, Alkohol, kurzum, diesen schwachen, aber unvergeßlichen Onkel-Doktor-Geruch. Eifrig war sie jetzt dabei, ihm doch zur Hand zu gehen. Es war ja seine Rechte, die verbunden werden mußte. Lächelnd ließ er es sich gefallen.
„Ich habe dir überhaupt was mitgebracht“, sagte sie plötzlich, sich erinnernd. „Nein, daß ich nicht dran dachte! Etwas Selbstgemachtes, aus dem Werkunterricht.“
Sie hatte die Mappe auf den Tisch gelegt und nahm das Kästchen heraus. Vorsichtig wickelte sie das Papier ab. „Da!“
„O schön. So etwas kannst du? Kind, Kind, das habe ich in meinem ganzen langen Leben nicht gelernt. Wunderschön!“
Aki legte das Einwickelpapier zusammen. Sie wußte immer nicht, was für ein Gesicht sie machen sollte, wenn jemand sie lobte. Plötzlich lachte sie.
„Richtig, Onkel Erich, jetzt hätte ich beinah die Hauptsache vergessen. Das kommt davon, wenn du dich so mir nichts, dir nichts in Lebensgefahr begibst. Hier, die Zeitung! Darin haben wir eine Anzeige gefunden, Mechtild und ich. Willst du mal sehen? Um ein Haar hätte ich das Blatt weggeworfen ...“
Die Straßen waren noch reichlich winterlich, rechts und links im Graben lag schmutziger Schnee. Aber der Wind ging lau. Leider war es Gegenwind, aber konnte man es anders erwarten? Erste Erfahrung aller Langstreckenradler: der Wind kommt immer von vorn.
Aki strampelte und sprang dann resigniert ab. Es ging bergauf, nicht steil, aber bei dem Wind doch so, daß man schieben mußte. Sie hatte nach der Landkarte ausgerechnet, daß sie die Strecke an einem Tage schaffen könnte, dabei aber die Steigungen nicht beachtet. Theoretiker! Blaustrumpf! So was muß man fühlen, so viel praktische Erdkunde muß man in den Fingerspitzen haben ...
Hinter ihr rauschte ein Wagen heran. Sie schob das Rad rechts an den Rand der Straße und blieb verschnaufend stehen. Es war ein Caravan, sie erkannte ihn als Kind ihrer Zeit natürlich sofort und beobachtete sein Herankommen. Wahrscheinlich blickte sie etwas unglücklich drein, der Caravan minderte seine Geschwindigkeit, fuhr an die Seite und zeigte rote Stopplichter. Wirklich? Galt das ihr?
Neu belebt lief sie, das Rad schiebend, dem Wagen nach. Die rechte Autotür wurde von innen aufgestoßen, Aki guckte hinein. Eine Frau. Na, das war doch merkwürdig. Aber vielleicht war das auch eine Mitgenommene?
Nein, es war der Fahrer. Der Fahrer war eine Frau. Sie sah nicht einmal unsympathisch aus, breitschultrig zwar, aber gar nicht männlich. Blondes, schon graudurchzogenes Haar, Ledermantel, helle Augen.
„Na, nun kommen Sie schon.“
„Und mein Rad?“
„Geht hinten hinein. Der Caravan hat einen guten Magen. Die Sitze sind heruntergeklappt, ich habe ein paar Möbel weggebracht. Können Sie es allein?“
Aki nickte. Ach, es war so erleichternd, mitgenommen zu werden, zumal, da man nicht gewinkt hatte. Winken fiel ihr immer schrecklich schwer.
„Wohin fahren Sie denn?“ fragte sie aufatmend, während sie sich neben die Fahrerin setzte. Die schaltete. Der Wagen fuhr an.
„Wohin wollen Sie?“ fragte die Fahrerin
„Nach Rypen. Muß ein Rittergut sein, vielleicht noch dreißig Kilometer von hier. Ich kenne es noch nicht. Es Hegt nicht an der großen Straße, aber leicht erreichbar.“
„So. Na, da sind Sie richtig. Ich muß auch nach Rypen.“
Besser konnte sie es also nicht treffen, wahrhaftig. Aki stemmte die Schultern genießerisch an die Rückenlehne und lockerte die Beine. Muskelkater würde sie wohl trotzdem kriegen, durch die Abiturwochen war man körperlich schmählich eingerostet.
Der Wagen fuhr schnell. Die Fahrerin summte vor sich hin. Aki kam nicht auf den Text zu der Melodie, obwohl sie die gut kannte. Ohne es eigentlich zu wollen, pfiff sie leise mit.
„Was wollen Sie denn in Rypen?“ fragte die Frau neben ihr schließlich.
Aki saß mit halbgeschlossenen Augen und sah nach vorn. Ihr war herrlich zumute, entspannt und aller Sorgen ledig.
„Ach, da stand eine Anzeige in der Zeitung. Da sucht jemand für seine ungezogenen Gören eine Art Erzieherin. Ich finde das großartig, sich mal nicht besser zu machen, als man ist. Sonst – lesen Sie doch mal die Zeitung von hinten! Überall wird das Beste versichert, und was steckt dahinter? Lieber mal umgekehrt, da wird man eventuell angenehm überrascht.“
Die Frau lachte vor sich hin, suchte nach Zigaretten und bot Aki an. Aki dankte. Die Fahrerin zündete sich geschickt eine Zigarette an.
„Vielleicht ist es nur fishing for compliments?“ sagte sie leichthin.
Aki zuckte die Achseln.
„Kann sein. Die Anzeige lief unter: Mit uns durch dick und dünn. Das gefiel mir. Ich schrieb hin und bekam Antwort von einer Frau Kohlschreiber. Ob das die Gutsbesitzerin ist?“
„Nein. Da muß ich Sie enttäuschen. Gromu sagte gleich, man wird denken, es wäre ein herrschaftlicher Erzieherinnenposten, weil ich ‚Rittergut Rypen‘ als Absender angab. Wir gerieten uns darüber in die Haare. Nein, Frau Kohlschreiber ist eine Frau mit Gelegenheitsfuhren, nicht ganz Taxe, nicht mehr Fernfahrerin. So mitten zwischen. Sie sitzt neben Ihnen.“
Aki lachte, merkwürdigerweise gar nicht überrascht.
„Eigentlich schade ...“
„Was ist schade?“
„Daß es nicht andersrum ging. Daß ich nicht gesagt habe: Na, so eine Verrücktheit. Das muß ja eine komische Schrulle sein, die solche Anzeigen aufgibt und sich noch was dabei erhofft!“
„Vielleicht sagen Sie es hinterher. Wenn Sie uns kennen. Vielleicht aber gefällt es Ihnen auch ganz gut bei uns. Ich habe nur immer Angst, wir verlieren bei näherem Kennenlernen. Wir leben anders als andere Leute, gänzlich unbürgerlich, aber furchtbar nett, finde ich. Bürgerlich kann jeder sein.“
Lieber Onkel Erich,glaubst Du an Fügungen? Ich tu es jetzt beinah. Es war doch zu komisch, wie mir das Zeitungsblatt mit der Anzeige nachlief, sich mir erst im Waschsaal aufdrängte und dann mit mir zu Dir fuhr. Der nächste Zufall war, daß mich Frau Kohlschreiber in ihren Caravan lud und nach Rypen mitnahm. Ich habe also ja gesagt, zu der Stellung und zu der Fügung, wenn man dieses große Wort gebrauchen will.
Es ist prima hier, aber wirklich anders als bei andern Leuten, als bei normalen Leuten, sagt Frau Kohlschreiber immer in schöner Selbsterkenntnis. Das ist überhaupt das, was mich besticht: sie macht sich nichts vor. Ihre Mutter, weißhaarig, leider etwas schwerhörig, aber geistig durchaus auf der Höhe, war sicher mal eine große Dame. Man merkt das noch jetzt. Die ungezogenen Gören sind äußerst manierlich, jedenfalls bei Tisch und sonst im Umgang. In der Schule sind sie faul und liederlich, obwohl sie einen reizenden Lehrer haben. Überhaupt habe ich noch nie solch eine Anhäufung netter Leute erlebt. Oder ist das eine Täuschung, so zu Anfang?
Es sind praktisch sechs Kinder, über denen ich wache. Auf demselben Dachboden wie wir – ich sage schon „wir“! – wohnt ein Schornsteinfegerehepaar, das zwei eigene, schon größere Kinder besitzt, die bereits in der Lehre sind, und zwei im Alter von unseren, die ihnen nicht gehören. Sie sind auf den Kindern sitzengeblieben, aus einem wochenlangen Ferienaufenthalt wurden Monate und mehr. Diese beiden Mädchen sind praktisch immer bei uns, und Gromu macht keinen Unterschied zwischen ihnen und unsern, sondern backpfeift und verwöhnt sie genau wie leibliche Enkel.
Der Haushalt ist gut durchdacht, keiner pfuscht dem andern ins Handwerk. Frau Kohlschreiber – ich sage der Einfachheit halber einfach „Mutter“ Dir gegenüber – verdient das Geld. Sie war früher Journalistin, zweimal verheiratet, der erste Mann war Graphiker, von ihm stammt Ernst, der älteste Sohn, der zweite war Beamter, starb kurz nach der Geburt unseres Jüngsten. Mutter sah sich also immer wieder gezwungen, Geld zu verdienen. Aus ihrer Journalistinnenzeit stammt auch die Schreibmaschine, auf der ich Dir diesen Bericht einherklappere. Nach dem Tode ihres zweiten Mannes rutschte sie durch Zufall in den Fernfahrerberuf hinein. Erst als Beifahrer, dann übernahm sie einen eigenen Lastzug. Sie ist ein Mensch, der in vielen Berufen etwas leisten würde. Jetzt ist sie eben das, morgen könnte sie Hausdame bei einem Großindustriellen sein, ein Mensch ohne jede Romantik und ohne Vorurteile, aber mit einem trockenen Humor begabt. Ich fühle mich ihr seelenverwandt – siehe journalistische Laufbahn. Jetzt ist ihr Hauptverdiener der Caravan, in dem sie mich mitnahm und mit dem sie kleine Lohnfuhren macht.
Weiter gehört Clärchen zur Familie, die Stütze der Hausfrau, die singend und zigarettenrauchend putzt, wäscht, kocht, Radio hört und jedes Silben- und Kreuzworträtsel löst, das ihr unter die Finger gerät. Gromu beschränkt sich darauf, für alle Kinder zu schneidern, sie hat bisher die Schularbeiten überwacht, aber bei ihrer Schwerhörigkeit dieses Amt jetzt niedergelegt. Daher der Notschrei nach mir.
Mein Ehrenamt ist es also, die Kinder zu beaufsichtigen, wenn sie da sind. Sind sie in der Schule, so habe ich frei, auch abends. Die Anzeige hat nicht gelogen, wenig Taschengeld und reichlich Freizeit samt Familienanschluß.
Das Essen ist einfach, aber gut und genießbar. Clärchen hat eine panische Angst davor, dick zu werden, und wir wetteifern im Ersinnen schlank- oder doch wenigstens nicht dickmachender Menüs. Die Kinder essen alles, sie sollten sich unterstehen, zu mäkeln. Sie bunkern wie leere Frachtkähne.
Wir wohnen, wie schon erwähnt, auf dem Dachboden. Drei Zimmer im Giebel und eine Küche seitlich davor, die Frau Kohlschreiber mit Clärchen selbst baute. Daneben die Räucherkammer des Gutes, die Elevenzimmer, dann Schornsteinfegers. Der Flur ist lang, man kann darin auf Kurzstrecke trainieren. Vorn an der Treppe der allgemeine Waschraum und meine „Zwiebelkammer“, in der ich mit Franzis hause. Davon später. Der Waschraum ist auch ein Kapitel für sich.
Nein, Onkel Erich, ich kann nicht chronologisch vorgehen. Ich muß erzählen, wie es mir in die Tasten der kleinen Schreibmaschine hineinfließt, wenn man so sagen darf. Aber von eiliger Feder kann keine Rede sein, keine wäre eilig genug, um dies alles so schnell verarbeiten zu können. Dies nur nebenbei. Es ist Vormittag, und die Sonne scheint in die Küche herein. Meine Kinder sind in der Schule, Frau Kohlschreiber auf Tour, sie „schaukelt Nonnen durch die Gegend“, nebenan ist ein von Nonnen geleitetes Jugendhaus. Dafür muß sie öfters Fahrten machen. Gromu sitzt an der Maschine, Frau Schornsteinfeger Bräsig rauchend daneben. Clärchen wäscht ab und singt. Ich könnte gern drüben im Zimmer sitzen. Aber ich bleibe hier. Hier ist immerfort was los.
Eben war Herr Herzog oben, der Gutsherr, Mittelalter, goldne Brille, verschmitzte Augen. Er ist der neugierigste Mann, der mir begegnet ist, aber dabei reizend. Überhaupt, wie gesagt, wohnen hier lauter nette Leute. Toi toi toi – ich werde schon abergläubisch.
Herr Herzog kam sofort, als er hörte, die neue Erzieherin wäre da. Als er mich sichtete, war er enttäuscht. Er sagte das ganz offen. Ich wäre doch so ein grünes Gemüse. Ich vertröstete ihn auf später, aber er schüttelte betrübt den Kopf. Er mag nur vollreife Frauen, sagte er. Gromu warf ihm einen scharfen Blick zu. Sie versteht manchmal erstaunlich gut, besonders Sachen, die nicht für sie berechnet sind.
„Mäßigen Sie sich, Herr Herzog!“
Dann geht er zu ihr hin, küßt sie trotz ihres belfernden Protestes auf die Backe und versichert: „Ich bin alt und gemäßigt. Früher war ich jung und gar nicht gemäßigt ...“, und dann wirft sie ihn hinaus.
Ja, vom Waschraum wollte ich erzählen! Dort wäscht sich der ganze Dachboden. Wochentags geht das wunderbar, zuerst die Eleven, dann wir, dann Schornsteinfegers. Sonntags und vor allem, wenn Besuch da ist – wir haben sehr viel Besuch –, ist es eine Katastrophe. Hier ist alles katholisch, man geht also in die Messe. So müssen die meisten trotz längeren Schlafens doch zu einer bestimmten Zeit fertig sein. Wenn man den Dachboden entlanggeht, lauert ungefähr hinter jedem Schornstein ein Mensch im Bademantel oder in der Trainingshose, Seife und Handtuch unterm Arm und die Zahnbürste hinters Ohr gesteckt. Herr Bräsig bezeichnete es neulich als den reinsten Partisanenkrieg. Öffnet sich die Tür des Waschraums, so stürzt alles sternförmig darauf zu. Oft gibt es erbitterte Kämpfe. Die Eleven haben Bärenkräfte und scheuen nicht davor zurück, sich mit Wasser zu verteidigen. Nicht etwa nur spritzend, sondern mit halb- oder dreiviertelvollen Waschschüsseln nach uns schwappend. Wasser als Waffe ist an sich verboten. Der Fußboden im Waschraum hält das nicht aus. Nach solchen Schlachten ist es die Pflicht des Unterlegenen, die Spuren zu vertilgen. Das ist ärgerlich.
Eigentlich macht der Sohn von Herzogs hier sein praktisches Jahr, bekleidet also den einen Elevenposten. Er heißt Michael wie einer unserer Söhne, wird aber nur Mickosch genannt. Die beiden Eleven sind viel bei uns, erbetteln sich warmes Wasser, wenn sie vom Feld kommen, oder fragen, ob nicht jemand eine Zigarette hat. Der Zigarettenhandel ist hier stark im Schwunge. Ich habe schon dran gedacht, ob ich mir nicht einen kleinen Bauchladen einrichte. Von Gromu bis zu Clärchen raucht alles. Man kauft sich gegenseitig einzelne Exemplare ab oder schickt die Kinder zu Völlermann, der Schenke und dem einzigen Lädchen des Ortes. Ich bin froh, daß ich von solchem Laster unangefochten durchs Leben gehe.
Ehe ich kam, hatte Clärchen das Amt des Schularbeiten-Überwachens von Gromu übernommen. Sie beteiligt sich auch jetzt noch oft daran, ist überhaupt ein aufgeschlossener und vorurteilsfreier Mensch. Ostern sollen Michael und Gregor in die höhere Schule kommen, deshalb entschloß sich Mutter, mich zu engagieren. Ich soll ihnen etwas Vorhilfe leisten. Übrigens sind alle Kinder begabt, die beiden ältesten Jungen gehen in die gleiche Klasse, obwohl Gregor ein Jahr älter ist als Michael, es ist bequemer so. Gregor ist bildhübsch, mit schönen dunkelgesäumten Augen. Dann kommt Franzis, neun Jahre, und Chris, noch nicht ganz acht. Dazu Heide und Moni, die Schornsteinfeger-Mädchen, auch etwa in dieser Preislage.
Chris, eigentlich Christian, der Jüngste, wird von uns allen geradezu sinnlos verwöhnt. Seine Schularbeiten macht er fast nie selbst. Neulich, als ich mich neben ihn setzte, fällt ein Blatt Papier herunter. „Heb’s auf, das ist für Reli“, ruft er angstvoll – angstvoll vor Nelly, der Rauhhaardackelin, die mit Vorliebe mit Papier spielt und auch vor einem Religionsblatt keinen Respekt hat. Nelly gehört zwar Herzogs, ist aber fast immer bei uns. Wir füttern sie nie, aber sie zieht den Aufenthalt bei uns dem im eigenen Heim vor. „Sie sucht geistige Anregung bei uns“, sagt Gromu.
Ich angele also nach dem Papier. Darauf zu sehen ist der Eingang einer Höhle, vor der zwei seltsame Gestalten hocken. Verständnislos betrachte ich diese Kinderzeichnung und denke entfernt an Paul Klee. Während ich noch rätsele, erzählt Chris:
„Der Pastor hat gesagt – unsere Kinder sind evangelisch und haben Reli beim Pastor –: Bei dem Engel hat wohl Fräulein Biederich Pate gestanden?“
Fräulein Biederich ist Clärchen. Sie kommt auf meinen erstaunten Blick hin heran und erklärt, die Kinder hätten aufgehabt, das Grab Christi zu zeichnen. Chris meinte, das wäre zu schwer. Er macht dann ein unsäglich leidendes Gesicht und jammert: „Lorefore“, ein Wort aus Curt Goetz’ „Hund im Hirn“, einem Bühnenstück, das Frau Kohlschreiber ihren Kindern vorlesen muß, wenn diese krank sind. Es ist nicht ganz passend für kleinere Kinder, aber wenn sie es doch so lieben! Ein Hausfreund kommt darin vor, der sich recht kläglich benimmt und statt: „Ich bin verloren!“ versehentlich „Lorefore!“ ruft, als er glaubt, er habe die Tollwut. Er hat sie aber trotzdem nicht, und es wird schließlich noch alles gut, wie es sich bei deutschen Märchen gehört. Dieses Stück ist bei unsern lieben Kleinen überaus beliebt, Kranksein ist wundervoll, wenn es dabei „Hund im Hirn“ gibt. Frau Kohlschreiber liest auf die lebendigste Art vor, sie mimt dann die Figuren, klopft, tritt zur Tür herein und ist abwechselnd die schöne junge Frau, der ungemein häßliche, aber souveräne Professor und der lächerliche Hausfreund. Es ist eine Lust, in dieser Familie krank zu sein. Das kranke Kind wird dann in der Küche auf die „Chaise“ gelegt, die bessere Zeiten gesehen hat. Sie ist so durchgelegen, daß man nur in Kurven darauf ruhen kann. Den Rest gab ihr neulich Mickosch, als er die Totoergebnisse abhörte und beinah alles richtig, zuletzt aber doch falsch getippt hatte. Er warf sich mit solcher Wucht auf die Chaise, daß sie in allen Fugen krachte und wir schon fürchteten, sie wäre ganz hin. Drei Latten waren gebrochen.
Zurück zu den Schularbeiten. Auch Heide und Moni betreue ich, zum Glück haben immer einige Kinder dieselben Aufgaben. Auf dem Dachboden vor der Küchentür befindet sich eine Schaukel. Ich habe eingeführt, daß, wer in der Schule im Diktat mehr als zehn Fehler macht, nicht schaukeln darf. Das zieht mehr als Vorwürfe oder Backpfeifen. Nichts ist schöner, als bis in die Höhe des Balkens zu sausen, zumal wenn soundso viel andere mit neidischen Augen diesen Höhenflug verfolgen.
Auch die Erwachsenen schaukeln. Neulich gaben wir einen Damenkaffee. Gromu wird viel eingeladen und muß sich ab und zu revanchieren. Lauter seriöse ältere Damen erschienen. Als alle bis auf Frau Herzog versammelt waren, ging ich, den Kaffee aus der Küche zu holen. Da fand ich Frau Herzog auf der Schaukel, im dunklen Nachmittagskleid, Blumen und Torte – sie bringt immer noch etwas Eßbares mit, Reminiszenz aus vergangener Zeit – hatte sie auf einer Kiste abgestellt.
„Lassen Sie, ich komme nach“, winkte sie ab. Ich verriet sie nicht.
Mitunter geben die Eleven und Herr Bräsig Schaustellungen am Trapez. Mickosch kann am besten turnen, er macht dreißig Klimmzüge hintereinander, was ich bewundere. Ich kann leider nur drei. Natürlich beteilige ich mich nicht an solchen Wettkämpfen, sondern bilde das staunende Publikum. Für die Kleinen ist die Schaukel eine Quelle reinen Glücks. Wenn alles schläft, schaukle ich auch. Nicht, weil ich mich am Tage geniere, sondern weil nur dann dieses Glück aus Hanf und Holz frei ist.
Das Gut ist groß und alt, unser Haus ein altes Klostergebäude. Die Landschaft – Ausläufer des Eggegebirges – sanftwellig und anmutig. Jetzt fängt es an zu lenzen. Ich kann es nicht anders bezeichnen. Die Gegend hat Charme, wie die Menschen hier. Sie sind alle irgendwie besonders, ohne Anspruch darauf zu erheben, ja, ohne es zu wissen. Und grade deshalb mag ich sie.
Im Sommer wollen wir ...“
Aki brach ab. Chris war hereingekommen, in seiner gespielt schüchternen Art. Chris war das Kind, das überall und immer ohne Püffe und Anpfiffe durchkam, ja, getröstet und abgedrückt wurde, wo es bei den andern knallte. Es war, wie Frau Kohlschreiber mitunter seufzte, irgendwie sein verbrieftes Recht. „Aber jeder Mensch soll sein Talent nützen, und er hat dies. Er wird sich einmal trefflich durch die Welt mauzen“, pflegte sie zu sagen.
„Aki, der Hausfreund!“
Aki guckte verständnislos. Da sie aber an den Bericht in ihrem Brief dachte, sagte sie versuchsweise:
„Lorefore!“
„Ach wo. Der richtige!“
Es klopfte. Aki erhob sich halb. Sie war mit Chris allein in der Küche. „Ja bitte?“
Ein asthmatischer Herr, ziemlich fett, in hellem Staubmantel, schob sich herein. Er nahm Akis dargebotene Hand und beugte sich tief darüber. „Er wird doch nicht ...“, dachte Aki leicht angewidert. Es kam auch zu keinem Handkuß, er tat nur so. Aki schob die Schreibmaschine zurück. Es war eine symbolische Handlung. Immer wenn der Hausfreund kam – und er kam bemerkenswert oft – nein, penetrant oft – von nun an, war es aus und vorbei mit geistiger Handlung. Menschen, die nichts zu tun haben, stören pausenlos die, die arbeiten. Aki mußte das schmerzlich erfahren. Zunächst stellte er sich vor. „van Borgmeester.“ „Sehr erfreut“ – daß man doch immer heucheln muß! Er war für kurze Zeit verreist gewesen, wie er berichtete, aber nun entzückt, die Familie Kohlschreiber bei seiner Rückkehr um solch ein Mitglied erweitert zu sehen. Aki versuchte, den starken Tobak seiner Komplimente zu verdauen, und sah aus den Augenwinkeln zu Clärchen hinüber, die eben eintrat. Herr van Borgmeester nahm keinerlei Notiz davon, erst als Clärchen ziemlich vernehmlich „Guten Morgen!“ sagte, ließ er sich zu einem kurzen Gegengruß herab, fuhr dann aber unbeirrt fort, heftig zu raspeln. Süßholz – um Irrtümern vorzubeugen. Er raspelte übertrieben.
„Wer ist denn das? Der tut ja, als wäre er bei uns zu Hause“, sagte Aki, ziemlich erschlagen, als es ihr gelang, ihm und seinem plätschernden Gespräch einmal für kurz zu entfliehen. Clärchen stand im Flur und lud die „Patrone“, den Einsatz für den Sägemehlofen. Im Wohn- und Kinderzimmer standen diese Blechungeheuer, die billige Wärme spendeten hier im Waldland, wo Sägespäne Abfallprodukte waren. Clärchen sah kurz auf.
„Tut er auch. Gräßlich. Kocht er sich wieder Eier?“