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„Ich schreibe so lange, wie der Leser davon überzeugt ist, in den Händen eines erstklassigen Wahnsinnigen zu sein.“ Stephen King
Während der Genesung nach einem schweren Unfall schreibt Stephen King seine Memoiren – Leben und Schreiben sind eins. Ein unverzichtbarer Ratgeber für alle angehenden Schriftsteller und eine Fundgrube für alle, die mehr über den König des Horror-Genres erfahren wollen. Ein kluges und gleichzeitig packendes Buch über gelebte Literatur.
»Eine Konfession.« Frankfurter Allgemeine Zeitung
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Seitenzahl: 471
Das Buch
Lange Zeit ist Stephen King, einer der meistgelesenen Schriftsteller unserer Zeit, mit der eigenen Biografie eher zurückhaltend umgegangen. In diesem Buch gibt er erstmals ausführlich Einblick in seine Lebensgeschichte und seinen Werdegang als Buchautor. King versenkt sich und seine Leser in das »neblige Land der Kindheit«, das viele seiner Romane inspiriert hat, und in die Ängste und Sehnsüchte des jungen Mannes, der sich am Rande einer reichen Gesellschaft durchkämpfen musste. Er schildert seine große Liebe zu seiner Frau Tabitha und die Nöte seiner kleinen Familie und erzählt von den ersten Schreibversuchen, dem plötzlichen Erfolg und dem schwierigen Umgang mit dem Ruhm. Und natürlich schreibt King auch über das Schreiben: was es für ihn bedeutet, wie seine Werke entstehen und welche Autoren und Ereignisse ihn und sein Werk geprägt haben.
Der Autor
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, veröffentlichte schon als Student Kurzgeschichten. Sein erster Romanerfolg, Carrie, erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit über 400 Millionen Bücher in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. Die großen Werke des Autors erscheinen im Heyne Verlag.
DAS LEBEN UNDDAS SCHREIBEN
Aus dem Amerikanischenvon Andrea Fischer
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Ehrlichkeit kommt weiter.
MIGUEL DE CERVANTES
Die Wahrheit leidet Not.
SPRICHWORT
Inhaltsverzeichnis
Erstes Vorwort
Zweites Vorwort
Drittes Vorwort
Lebenslauf
Was Schreiben ist
Der Werkzeugkasten
Über das Schreiben
Über das Leben: Ein Nachtrag
Ein Nachtrag, Teil I: Geschlossene Tür, geöffnete Tür
Ein Nachtrag, Teil II: Eine Bücherliste
Nachtrag zum Nachtrag, Teil III
Anhang
Register
Erstes Vorwort
In den frühen Neunzigern (es kann 1992 gewesen sein, aber es ist schwer, sich zu erinnern, wenn man Spaß hat) stieß ich zu einer Rock-’n’-Roll-Band, die hauptsächlich aus Schriftstellern bestand. Die Idee zu den Rock Bottom Remainders hatte Kathi Kamen Goldmark, eine Publizistin und Musikerin aus San Francisco. Zu der Band gehörten Dave Barry an der Sologitarre, Ridley Pearson am Bass, Barbara Kingsolver an den Keyboards, Robert Fulghum an der Mandoline und ich an der Rhythmusgitarre. Außerdem hatten wir einen heißen Chor im Stil der Dixie Cups, der meistens aus Kathi, Tad Bartimus und Amy Tan bestand.
Die Band war als einmalige Sache geplant – wir wollten zwei Auftritte bei der American Booksellers Convention bestreiten, ein paar Lacher einstecken, drei oder vier Stunden lang unsere vertane Jugend aufleben lassen und danach wieder unserer eigenen Wege gehen.
Aber es kam anders, denn die Band löste sich nie ganz auf. Es machte uns viel zu viel Spaß, gemeinsam zu spielen. Und wir hörten uns ziemlich gut an mit den »eingeschmuggelten« Profis an Saxofon und Schlagzeug (anfangs war auch unser musikalischer Guru Al Kooper als Herz der Band dabei). Sie würden zahlen, um uns zu hören. Nicht so viel wie für U2 oder E Street Band, aber vielleicht immerhin das, was die alten Hasen »roadhouse money« nennen. Wir gingen mit der Band auf Tournee, schrieben ein Buch darüber (und meine Frau machte die Fotos und tanzte, wann immer ihr danach war, was ziemlich oft vorkam). Auch heute spielen wir noch ab und zu, mal als The Remainders, mal als Raymond Burr’s Legs. Die Besetzung kommt und geht – der Kolumnist Mitch Albom hat Barbara an den Keyboards abgelöst, und Al ist nicht mehr dabei, weil er sich nicht mit Kathi versteht –, aber den Kern aus Kathi, Amy, Ridley, Dave, Mitch Albom und mir gibt es immer noch. Dazu Josh Kelly am Schlagzeug und Erasmo Paolo am Saxofon.
Wir spielen, weil es uns Spaß macht, aber auch weil wir gern zusammen sind. Wir können einander gut leiden, und uns gefällt, dass die Band uns die Möglichkeit gibt, über unsere Arbeit zu reden, über unseren Alltagsjob, zu dem uns die Menschen immer wieder ermutigen. Wir sind Schriftsteller, aber wir fragen uns gegenseitig nie, woher wir unsere Ideen bekommen. Wir wissen, dass wir das nicht wissen.
Als wir eines Abends vor einem Auftritt in Miami Beach bei einem Chinesen aßen, fragte ich Amy, ob es eine Frage gebe, die ihr in der Diskussion, die beinahe jeder Lesung folgt, noch nie gestellt worden sei. Die eine Frage, die nie aufgeworfen wird, wenn man vor einer Menge ehrfürchtiger Fans steht und so tut, als stiege man nicht mit einem Bein nach dem anderen in seine Hose, so wie alle anderen auch. Amy hielt inne, dachte gründlich nach und sagte schließlich: »Es fragt nie einer nach der Sprache.«
Ich bin ihr für diese Antwort außerordentlich dankbar. Denn ich spielte damals schon seit über einem Jahr mit der Idee, ein kleines Buch über das Schreiben zu verfassen, zögerte aber, weil ich meinen Beweggründen misstraute. Warum wollte ich von der Arbeit des Schriftstellers berichten? Wieso war ich der Ansicht, etwas Sinnvolles darüber zu sagen zu haben?
Die einfachste Antwort lautet, dass jemand, der so viele Romane verkauft hat wie ich, einfach etwas Lohnendes über das Schreiben zu sagen haben muss. Doch die einfachste Antwort ist nicht immer die richtige. Colonel Sanders von Kentucky Fried Chicken hat Unmengen von Hühnerschenkeln verkauft, aber ich bin mir nicht sicher, ob irgendjemand wissen will, wie er es gemacht hat. Wenn ich vermessen genug wäre, eine Anleitung zum Schreiben herauszugeben, müsste ich meiner Meinung nach einen besseren Grund als meinen großen Erfolg vorweisen können. Anders ausgedrückt, ich wollte kein auch noch so kurzes Buch wie dieses schreiben, bei dem ich mir hinterher wie ein literarischer Klugschwätzer oder aufgeblasener Dummkopf vorkomme. Von diesen Büchern (und diesen Autoren) gibt es schon genug auf dem Markt – danke.
Aber Amy hatte recht: Wir werden nie nach der Sprache gefragt. Die DeLillos, Updikes und Styrons werden darauf angesprochen, die Autoren der Unterhaltungsliteratur jedoch nicht. Aber auch wir profanen Kritzler machen uns auf unsere bescheidene Art Gedanken über die Sprache, auch wir verrichten unser Handwerk, die Kunst, Geschichten zu Papier zu bringen, mit Leidenschaft. Dieses Buch ist ein Versuch, kurz und bündig darzulegen, wie ich zu dieser Kunst kam, was ich inzwischen über sie weiß und wie sie gefertigt wird. Dieses Buch handelt von der alltäglichen Arbeit – von der Sprache.
Ich widme dieses Buch Amy Tan, die mir auf sehr schlichte, direkte Art sagte, dass ich es beruhigt schreiben kann.
Zweites Vorwort
Dies ist ein kurzes Buch, denn Bücher über das Schreiben sind voller Blödsinn. Belletristikautoren, ich eingeschlossen, haben keine große Ahnung davon, was sie eigentlich tun. Sie wissen nicht, warum etwas Gutes funktioniert und etwas Schlechtes nicht. Ich dachte mir: Je kürzer das Buch, desto weniger Blödsinn steht drin.
Die einzige Ausnahme von dieser Blödsinn-Regel ist The Elements of Style von William Strunk jr. und E. B. White. In diesem Buch ist wenig oder gar kein erkennbarer Blödsinn zu finden. (Es ist natürlich kurz; mit 85 Seiten sogar viel kürzer als dieses hier.) Ich möchte Ihnen ans Herz legen, dass jeder angehende Schriftsteller The Elements of Style lesen sollte. Regel Nr. 17 in dem Kapitel »Grundsätze des Textaufbaus« lautet: »Überflüssiges streichen«. Das will ich hier versuchen.
Drittes Vorwort
Ein Gesetz der Straße, das in diesem Buch sonst nicht so direkt formuliert wird, lautet: »Der Lektor hat immer recht«. Daraus folgt logischerweise, dass kein Autor alle Ratschläge seines Lektors1 beherzigen wird, denn wir sind alle kleine Sünder und werden niemals die Perfektion eines Lektors erreichen. Anders ausgedrückt: Schreiben ist menschlich, Lektorieren ist göttlich. Chuck Verrill hat dieses Buch lektoriert, wie schon so viele Romane von mir. Und wie immer, Chuck, warst du göttlich.
– STEVE
1 Hier und auch sonst nutzt King hin und wieder die Gender-Sprachregelung, in der deutschen Übersetzung steht jedoch die grammatikalisch männliche für die weibliche Form mit. (Anm. d. Red.)
LEBENSLAUF
Die Autobiografie von Mary Karr, Der Club der Lügner (Originaltitel: The Liars’ Club), hat mich vollkommen überwältigt. Nicht nur die Grausamkeit, die Schönheit und Karrs meisterhafte Beherrschung der Muttersprache, sondern vor allem ihre Totalität. Diese Frau erinnert sich wirklich an jedes Detail aus ihrer Kindheit.
Bei mir ist das anders. Ich hatte eine turbulente Kindheit, heute hier – morgen da. Während meiner ersten Lebensjahre zog meine alleinerziehende Mutter ständig um. Einmal brachte sie meinen Bruder und mich, glaube ich, für eine Weile bei einer ihrer Schwestern unter, weil sie finanziell oder psychisch nicht in der Lage war, mit uns zurechtzukommen. Vielleicht war sie auch nur auf der Suche nach unserem Vater, der einen Stapel verschiedenster Rechnungen anhäufte und sich dann aus dem Staub machte, als ich zwei und mein Bruder David vier Jahre alt war. Wenn ja, dann hatte sie keinen Erfolg damit. Meine Mutter Nellie Ruth Pillsbury King war eine der ersten emanzipierten Frauen Amerikas, wenn auch nicht freiwillig.
Mary Karr schildert ihre Kindheit als fast lückenloses Panoramabild. Meine Jugend ähnelt eher einer vernebelten Landschaft, in der gelegentlich Erinnerungen wie vereinzelte Bäume auftauchen … diese Art von Bäumen, die aussehen, als wollten sie einen packen und fressen.
Es folgen nun einige dieser Erinnerungen, dazu ausgewählte Schnappschüsse aus den Tagen meiner Jugend und dem frühen Mannesalter, daran kann ich mich besser erinnern. Dies ist keine Autobiografie. Es ist eher eine Art Lebenslauf, mein Versuch, die Entwicklung zum Schriftsteller nachzuzeichnen. Kein Bericht darüber, was einen zum Schriftsteller macht, denn ich glaube nicht, dass man Menschen zu Autoren machen kann, weder durch äußere Einflüsse noch durch reine Willenskraft (früher war ich anderer Meinung). Das Zubehör befindet sich in der Originalverpackung. Und es ist ganz und gar kein ungewöhnliches Zubehör. Ich glaube, dass sehr viele Menschen zumindest etwas Talent zum Schreiben oder Erzählen besitzen und dass dieses Talent verfeinert und gefördert werden kann. Wäre ich davon nicht überzeugt, wäre es reine Zeitverschwendung, ein Buch wie dieses zu schreiben.
So war es bei mir – das ist alles. Ein unzusammenhängender Entwicklungsprozess, an dem Ehrgeiz, Wille, Glück und ein wenig Talent ihren Anteil hatten. Machen Sie sich nicht die Mühe, zwischen den Zeilen lesen zu wollen oder nach einer durchgängigen Linie zu suchen. Es gibt nichts Durchgängiges, nur Schnappschüsse, viele davon unscharf.
1
Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört die Vorstellung, jemand anders zu sein, genauer gesagt, der Kraftmensch aus dem Zirkus der Ringling Brothers. Das war bei meiner Tante Ethelyn und meinem Onkel Oren in Durham, Maine. Meine Tante kann sich noch ziemlich gut daran erinnern. Sie meint, ich sei zweieinhalb oder vielleicht drei Jahre alt gewesen.
In einer Ecke der Garage hatte ich einen Hohlziegel aus Zement gefunden und es geschafft, ihn hochzuhieven. Langsam schleppte ich ihn über den glatten zementierten Garagenboden und stellte mir vor, dass ich ihn, gekleidet in einen Einteiler aus Pelz (wahrscheinlich Leopardenfell), durch eine Manege trug. Das Publikum hielt den Atem an. Ein greller blauweißer Scheinwerfer verfolgte meinen beachtlichen Weg. In den verblüfften Gesichtern stand geschrieben: Noch nie hatte jemand so ein unvorstellbar starkes Kind gesehen. »Und er ist erst zwei Jahre!«, stammelte jemand ungläubig.
Was ich nicht wusste: In der unteren Hälfte des Hohlziegels hatten sich Wespen ein kleines Nest gebaut. Eine von ihnen war vielleicht sauer über den unverlangten Umzug, sie flog heraus und stach mich ins Ohr. Der Schmerz war schrill wie eine bösartige Eingebung. Es war der schlimmste Schmerz, den ich in meinem kurzen Leben erlitten hatte, doch er hielt den Rekord nur wenige Sekunden. Ich vergaß die Wespe auf der Stelle, als ich den Hohlziegel auf meinen nackten Fuß fallen ließ und mir alle fünf Zehen quetschte. Ich weiß nicht mehr, ob ich zum Arzt gebracht wurde. Tante Ethelyn weiß es auch nicht mehr (Onkel Oren, dem der bösartige Hohlziegel mit Sicherheit gehörte, ist seit fast zwanzig Jahren tot), aber sie erinnert sich noch an den Stich, die gequetschten Zehen und an meine Reaktion. »Du hast geschrien wie am Spieß, Stephen!«, sagte sie. »An dem Tag warst du auf jeden Fall gut bei Stimme.«
2
Ungefähr ein Jahr später zogen meine Mutter, mein Bruder und ich nach West De Pere, Wisconsin. Warum, weiß ich nicht. Eine andere Schwester meiner Mutter, Cal (eine ehemalige Schönheitskönigin des Women’s Army Corps aus dem Zweiten Weltkrieg), wohnte mit ihrem geselligen, biertrinkenden Mann in Wisconsin; vielleicht wollte Mom in ihrer Nähe sein. Aber selbst wenn, kann ich mich nicht erinnern, die Weimers oft gesehen zu haben. Oder überhaupt einen von ihnen. Meine Mutter arbeitete, aber was genau sie machte, weiß ich nicht mehr. Fast hätte ich gesagt, sie arbeitete in einer Bäckerei, aber das war, glaube ich, erst später, als wir nach Connecticut zogen, in die Nähe ihrer Schwester Lois und deren Mann (bloß bekam Fred kein Bier, und mit der Geselligkeit war es auch nicht weit her; er war ein Typ mit Bürstenschnitt, der stolz darauf war, sein Cabrio mit geschlossenem Verdeck zu fahren, Gott weiß, warum).
In der Zeit in Wisconsin hatten wir einen Babysitter nach dem anderen. Ich weiß nicht, ob sie aufhörten, weil David und ich solche Nervensägen waren, weil sie besser bezahlte Jobs fanden oder weil meine Mutter zu hohe Anforderungen an sie stellte, die sie nicht erfüllen wollten. Ich weiß nur, dass wir Babysitter in rauen Mengen verschlissen. Die Einzige, an die ich mich deutlich erinnern kann, ist Eula, vielleicht hieß sie auch Beulah. Sie war ein Teenager, fett wie ein Walross, und lachte viel. Eula-Beulah hatte einen herrlichen Humor, das konnte ich schon mit vier Jahren erkennen, aber er war auch gefährlich: Hinter ihren ausgelassenen Heiterkeitsausbrüchen, bei denen sie Klapse verteilte, ihr Hintern wackelte und sie den Kopf in den Nacken warf, schien immer ein potenzieller Donnerschlag zu lauern. Wenn ich die mit versteckter Kamera aufgenommenen Filme sehe, in denen echte Babysitter und Kindermädchen plötzlich sauer werden und die Kleinen verdreschen, muss ich immer an meine Zeit mit Eula-Beulah denken.
War sie zu meinem Bruder David genauso gemein wie zu mir? Keine Ahnung. Er kommt in meinen Erinnerungen an sie nicht vor. Außerdem wäre er den gefährlichen Winden des Hurrikans Eula-Beulah sowieso nicht so ausgesetzt gewesen wie ich, da er mit sechs Jahren bereits im ersten Schuljahr und daher den Großteil des Tages außerhalb der Kampfzone war.
Einmal war Eula-Beulah zum Beispiel am Telefon, lachte mit irgendjemandem und winkte mich zu sich. Sie schlang die Arme um mich, kitzelte mich, brachte mich zum Lachen und gab mir dann, immer noch lachend, eine so heftige Kopfnuss, dass ich hinfiel. Dann kitzelte sie mich mit ihren nackten Füßen, bis wir beide wieder lachten.
Eula-Beulah furzte oft, und zwar richtig laut und übel riechend. Manchmal, wenn sie von dieser Plage heimgesucht wurde, warf sie mich auf die Couch, drückte ihren Hintern im Wollrock auf mein Gesicht und legte los. »Peng!«, rief sie dann lustvoll. Es war, als stünde ich unter Sumpfgasbeschuss. Ich erinnere mich an die Dunkelheit, an das Gefühl zu ersticken … und an das Lachen. Denn was passierte, war zwar irgendwie furchtbar, aber auch gleichzeitig irgendwie lustig. In mancherlei Hinsicht bereitete mich Eula-Beulah auf die Literaturkritik vor. Wenn einem erst mal ein zwei Zentner schwerer Babysitter aufs Gesicht gefurzt und dabei lustvoll »Peng!« gerufen hat, kann einen die Wochenzeitung Village Voice nicht mehr arg schrecken.
Ich weiß nicht, was mit den anderen Babysittern passierte, aber Eula-Beulah wurde gefeuert. Und zwar wegen der Eier. Eines Morgens briet sie mir ein Ei zum Frühstück. Ich aß es und wollte noch eins. Eula-Beulah briet mir ein zweites Ei und fragte mich dann, ob ich noch ein drittes wolle. Sie hatte diesen Blick drauf, der besagte: »Du wagst es nicht, noch eins zu essen, Stevie.« Daher wollte ich noch eins haben. Und noch eins. Und so weiter. Nach dem siebten, glaube ich, hörte ich auf. Jedenfalls ist mir diese Zahl im Gedächtnis geblieben, und das recht deutlich. Vielleicht hatten wir auch keine Eier mehr. Vielleicht wollte ich auch keins mehr. Oder Eula-Beulah bekam es mit der Angst. Ich weiß es nicht mehr, aber wahrscheinlich war es ganz gut, dass das Spiel bei sieben aufhörte. Für einen Vierjährigen sind sieben Eier eine ganze Menge.
Eine Weile fühlte ich mich noch gut, und dann kotzte ich alles auf den Boden. Eula-Beulah lachte, gab mir eine Kopfnuss, steckte mich in den Wandschrank und schloss die Tür ab. Peng. Hätte sie mich im Badezimmer eingeschlossen, hätte sie ihren Job möglicherweise behalten. Das tat sie aber nicht. Mir machte es eigentlich gar nichts aus, im Wandschrank zu hocken. Es war zwar dunkel, doch es roch nach dem Coty-Parfüm meiner Mutter, und unter der Tür leuchtete tröstlich ein Lichtstreifen.
Ich krabbelte in die hinterste Ecke, Moms Mäntel und Kleider strichen mir über den Rücken. Dann fing ich an zu rülpsen – lange, laute Rülpser, die wie Feuer brannten. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir richtig schlecht war, doch muss es so gewesen sein, denn als ich den Mund öffnete, um den nächsten beißenden Rülpser zu tun, übergab ich mich ein zweites Mal. Auf die Schuhe meiner Mutter. Das war Eula-Beulahs Ende. Als meine Mutter an diesem Tag von der Arbeit nach Hause kam, schlief der Babysitter tief und fest auf der Couch, und Klein-Stevie war im Wandschrank eingeschlossen. Er schlief tief und fest, und in seinem Haar klebten halb verdaute Spiegeleier.
3
Unser Aufenthalt in West de Pere war weder lang noch erfolgreich. Wir wurden gewaltsam aus unserer Wohnung im dritten Stock vertrieben, nachdem ein Nachbar meinen sechsjährigen Bruder auf dem Dach hatte herumkraxeln sehen und die Polizei gerufen hatte. Ich weiß nicht, wo meine Mutter war, als das passierte. Auch nicht, wo der Babysitter der Woche war. Ich weiß nur, dass ich im Badezimmer barfuß auf dem Heizofen stand und gespannt beobachtete, ob mein Bruder vom Dach fiel oder es zurück ins Badezimmer schaffte. Er schaffte es. Heute, zur Jahrtausendwende, ist er fünfundfünfzig und lebt in New Hampshire.
4
Als ich fünf oder sechs war, fragte ich meine Mutter, ob sie schon mal jemanden sterben gesehen habe. Ja, antwortete sie, sie hätte einen Menschen sterben sehen und einen sterben hören. Ich fragte, wie man einen Menschen sterben hören könne, und sie erzählte mir, dass in den Zwanzigern ein Mädchen vor Prout’s Neck ertrunken sei. Sie war an der Kabbelung vorbei nach draußen geschwommen, schaffte es nicht wieder zurück und schrie um Hilfe. Mehrere Männer versuchten, zu ihr herauszuschwimmen, doch die Strömung hatte an jenem Tag einen bösen Sog entwickelt, sodass sie zum Umkehren gezwungen wurden. Schließlich konnten die Touristen und die Einheimischen, darunter auch der Teenager, der später meine Mutter werden sollte, nichts anderes tun, als herumzustehen und auf ein Rettungsboot zu warten, das niemals kam. Sie hörten das Mädchen schreien, bis es keine Kraft mehr hatte und unterging. Die Leiche wurde oben in New Hampshire an Land gespült, erzählte meine Mutter. Ich fragte sie, wie alt das Mädchen gewesen sei. Mom meinte, sie war vierzehn. Dann las sie mir aus einem Comic vor und brachte mich ins Bett. An irgendeinem anderen Tag erzählte sie mir von dem Todesfall, den sie gesehen hatte: ein Matrose, der vom Dach des Graymore Hotels in Portland, Maine, gesprungen und auf der Straße gelandet war.
»Er war Matsch«, sagte meine Mutter in ihrem sachlichsten Tonfall. Sie machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Das Zeug, das aus ihm herauskam, war grün. Das werde ich nie vergessen.«
Damit wären wir zwei, Mom.
5
Den größten Teil der neun Monate, die ich in der ersten Klasse hätte verbringen sollen, lag ich im Bett. Alles begann mit den Masern – das war noch vollkommen normal – und wurde dann immer schlimmer. Ständig aufs Neue litt ich an einer Krankheit, von der ich fälschlicherweise annahm, sie hieße »Tonnelitis«; ich lag im Bett, trank kaltes Wasser und stellte mir vor, mein Hals wäre aufgebläht wie eine Tonne (womit ich wahrscheinlich gar nicht so falschlag).
Irgendwann schlug die Krankheit auf die Ohren, und meine Mutter rief ein Taxi (sie selbst konnte nicht fahren) und brachte mich zu einem Arzt, der so ungemein wichtig war, dass er keine Hausbesuche machte – ein Ohrenspezialist. (Aus irgendeinem Grund dachte ich, so ein Arzt heiße »Otiologe«.) Mir war egal, ob er auf Ohren oder Arschlöcher spezialisiert war. Ich hatte 40 Grad Fieber, und wenn ich schluckte, flammte der Schmerz an meinem Gesicht auf wie die Lichter einer Musikbox.
Der Arzt sah mir in die Ohren, wobei er das linke (glaube ich) besonders gründlich untersuchte. Dann legte er mich auf seine Untersuchungsliege. »Heb mal kurz den Kopf, Stevie«, sagte die Arzthelferin und breitete ein großes Verbandstuch, möglicherweise war es auch eine Windel, unter meinem Kopf aus. Als ich mich wieder hinlegte, lag ich mit der Wange darauf. Ich hätte ahnen müssen, dass etwas faul war im Staate Dänemark. Wer weiß, vielleicht tat ich es ja.
Es roch scharf nach Alkohol. Mit einem klirrenden Geräusch öffnete der Ohrenarzt den Sterilisator. In seiner Hand erblickte ich eine Nadel, so lang wie das Lineal in meinem Griffelkasten, und wurde ganz steif. Der Ohrenarzt lächelte aufmunternd und sprach die Worte, für die Ärzte postwendend in den Knast wandern sollten (mit verdoppelter Haftstrafe, wenn sie die Lüge einem Kind erzählen): »Keine Angst, Stevie, es tut nicht weh.« Ich glaubte ihm.
Er schob die Nadel in mein Ohr und durchstach das Trommelfell. Einen derartigen Schmerz habe ich seitdem nicht mehr gespürt. Das Einzige, was ihm nahekam, war der erste Monat nach meinem Unfall im Sommer 1999, als ich von einem Van angefahren wurde. Die Schmerzen waren nicht ganz so intensiv, dauerten dafür aber länger. Die Punktierung des Trommelfells überstieg alles bisher Gewesene. Ich schrie. In meinem Kopf gab es ein Geräusch wie einen laut schmatzenden Kuss. Heiße Flüssigkeit rann aus dem Ohr. Es war, als würde ich aus der falschen Öffnung weinen. Und ich weinte, weiß Gott, schon genug aus den richtigen Öffnungen. Ich hob das tränenüberströmte Gesicht und sah den Ohrenarzt und seine Helferin ungläubig an. Dann warf ich einen Blick auf das Tuch, mit dem die Schwester das obere Drittel des Untersuchungstisches abgedeckt hatte. Darauf war ein großer, nasser Fleck mit dünnen gelben Eiterfasern.
»Siehst du«, sagte der Doktor und klopfte mir auf die Schulter, »du bist sehr tapfer gewesen, Stevie. Und jetzt ist es vorbei.«
Eine Woche später rief meine Mutter wieder ein Taxi, wir fuhren erneut zum Ohrenarzt und wieder lag ich auf der Seite mit einem Mulltuch unter dem Kopf. Wieder roch es nach Alkohol – diesen Geruch verbinde ich, wie wohl viele Menschen, noch immer mit Schmerz, Krankheit und Angst – und dann kam der Arzt mit der langen Nadel. Wieder versicherte er mir, es täte nicht weh, und wieder glaubte ich ihm … nicht richtig, aber immerhin so sehr, dass ich ruhig blieb, als er mir die Nadel ins Ohr führte.
Es tat doch weh. Fast ebenso sehr wie beim ersten Mal. Auch das Knutschgeräusch in meinem Kopf war lauter. Es war, als küssten sich zwei Riesen (»so richtig mit Saugen und Zunge«, wie wir immer sagten). »Siehst du«, meinte die Arzthelferin, als es vorbei war und ich weinend in einer Pfütze wässrigen Eiters lag, »es tut nur ein bisschen weh, und du willst doch nicht taub werden, oder? Außerdem ist es ja jetzt vorbei.«
Gute fünf Tage glaubte ich ihr, dann stand das nächste Taxi vor der Tür. Wir fuhren zum Ohrenarzt. Ich weiß noch, dass der Taxifahrer meiner Mutter sagte, er würde anhalten und uns rausschmeißen, wenn sie das Kind nicht zum Schweigen brächte.
Wieder lag ich auf dem Untersuchungstisch mit der Windel unter dem Kopf, während meine Mutter mit einer Zeitschrift im Wartezimmer saß, auf die sie sich wahrscheinlich nicht konzentrieren konnte (jedenfalls möchte ich mir das so gern vorstellen). Wieder wehte der durchdringende Geruch von Alkohol durchs Zimmer, und der Arzt wandte sich mit einer Nadel zu mir um, die so lang war wie mein Lineal in der Schule. Wieder dieses Lächeln, dieses Näherkommen, die Versicherung, es würde diesmal nicht wehtun.
Seit diesen wiederholten Ohrbohrungen im Alter von sechs Jahren ist einer meiner festen Grundsätze im Leben: Legt mich einer rein, soll er sich schämen. Legt er mich zweimal rein, muss ich mich schämen. Legt er mich dreimal rein, müssen wir uns beide schämen. Als ich zum dritten Mal auf dem Tisch des Ohrenarztes lag, schlug ich um mich, strampelte, kämpfte und kreischte. Jedes Mal, wenn sich die Nadel meinem Gesicht näherte, schlug ich sie fort. Schließlich rief die Schwester meine Mutter im Wartezimmer, und gemeinsam gelang es ihnen, mich so lange festzuhalten, dass der Arzt seine Nadel einführen konnte. Ich schrie so lange und so laut, dass ich es heute noch hören kann. Ich glaube sogar, dass dieser letzte Schrei noch immer in einem versteckten Winkel meines Kopfes widerhallt.
6
Nicht lange darauf, in einem düsteren, kalten Monat (es muss Januar oder Februar 1954 gewesen sein, wenn ich richtig gezählt habe), stand das Taxi wieder vor der Tür. Diesmal war der Spezialist kein Ohrenarzt, sondern ein Halsarzt. Und wieder saß meine Mutter im Wartezimmer, wieder hockte ich auf dem Untersuchungstisch, mit einer Krankenschwester in der Nähe, und wieder hing der beißende Geruch von Alkohol in der Luft. Dieser Geruch schafft es noch immer, meinen Herzschlag innerhalb von fünf Sekunden zu verdoppeln.
Diesmal jedoch passierte nicht mehr, als dass eine Art Abstrich von meinem Hals gemacht wurde. Es pikste und schmeckte fürchterlich, aber nach der langen Nadel des Ohrenarztes war das hier wie ein Spaziergang im Park. Der Halsarzt setzte sich eine interessante Vorrichtung auf den Kopf, die mit einem Halteriemen befestigt war. In der Mitte war ein Spiegel, aus dem ein helles, grelles Licht wie ein drittes Auge schien. Lange sah er mir in den Hals, wies mich an, den Mund so weit aufzureißen, bis meine Kieferknochen knackten. Aber weil er keine Nadeln in mich schob, mochte ich ihn. Nach einer Weile durfte ich den Mund wieder schließen, und er ließ meine Mutter holen.
»Das Problem sind seine Mandeln«, sagte der Arzt. »Die sehen aus, als hätte eine Katze ihre Krallen daran gewetzt. Sie müssen raus.«
Irgendwann danach wurde ich unter sehr helle Lampen geschoben. Ein Mann mit einem weißen Mundschutz beugte sich über mich. Er stand am Kopfende des Tisches, auf dem ich lag (1953 und 1954 lag ich andauernd auf Tischen). Für meine Begriffe stand er auf dem Kopf.
»Stephen«, sagte er, »kannst du mich hören?«
Ich bejahte.
»Du musst jetzt ganz tief einatmen«, erklärte er. »Wenn du aufwachst, kannst du so viel Eis essen, wie du willst.«
Er drückte mir etwas aufs Gesicht. In meiner Erinnerung sieht es aus wie ein Außenbordmotor. Ich atmete tief ein, und alles wurde schwarz. Als ich aufwachte, durfte ich tatsächlich so viel Eis essen, wie ich wollte. Aber das war ein Witz, denn ich wollte gar keins. Mein Hals fühlte sich dick und geschwollen an. Aber es war besser als die alte Nummer mit der Nadel im Ohr. O ja. Alles wäre besser gewesen als die Nummer mit der Nadel im Ohr. Nehmt mir meinetwegen die Mandeln heraus, schraubt mir einen Vogelkäfig aus Stahl ans Bein, wenn es denn sein muss, aber Gott bewahre mich vor dem Otiologen.
7
In dem Jahr kam mein Bruder David in die vierte Klasse, und ich wurde ganz aus der Schule genommen. Ich hätte in der ersten Klasse zu viel verpasst, meinten meine Mutter und die Lehrer einhellig. Im Herbst sollte ich noch einmal von vorn anfangen, wenn meine Gesundheit es erlaubte.
Dieses Jahr verbrachte ich größtenteils im Bett oder ans Haus gefesselt. Ich las mich durch ungefähr sechs Tonnen Comics und machte weiter mit Tom Swift und Dave Dawson (ein heroischer Pilot aus dem Zweiten Weltkrieg, dessen verschiedene Flugzeuge sich immer ›in die Höhe emporschraubten‹). Danach waren Jack Londons gruselige Tiergeschichten an der Reihe. Irgendwann fing ich an, selbst zu schreiben. Doch vor dem eigenen Schaffen stand das Imitieren. Den Comic Combat Casey pinnte ich Wort für Wort in meinen Blue-Horse-Block ab und fügte manchmal meine eigenen Schilderungen hinzu, wo es mir angebracht erschien. »Sie wurden in einem großen verflixten Farmhauszimmer2 untergebracht«, schrieb ich zum Beispiel; ich brauchte noch ein oder zwei Jahre, bis ich lernte, dass drat (verflixt) und draft (Zugluft) unterschiedliche Wörter waren. Ich weiß noch, dass ich damals immer details (Einzelheiten) und dentals (Prothese) verwechselte und dachte, eine bitch (Miststück/Hündin) sei eine besonders große Frau. Ein son of a bitch (Hurensohn) musste daher prädestiniert für Basketball sein. Mit sechs Jahren befinden sich die meisten Bingokugeln noch immer in der Lostrommel.
Irgendwann zeigte ich eins dieser abgeschriebenen Zwitterwesen meiner Mutter, die ganz entzückt war. Ich erinnere mich noch an ihr leicht verwundertes Lächeln, so als könnte sie gar nicht glauben, dass eins ihrer Kinder so begabt sei – genau genommen ein richtiges Wunderkind, du lieber Himmel. Diesen Ausdruck hatte ich noch nie auf ihrem Gesicht gesehen, wenigstens nicht als Reaktion auf meine Taten, und ich fand ihn herrlich.
Sie fragte mich, ob ich mir die Geschichte selbst ausgedacht hätte. Da musste ich zugeben, dass ich den Großteil aus einem Comic abgeschrieben hatte. Sie wirkte enttäuscht, und das dämpfte meine Freude ganz entscheidend. Schließlich gab sie mir den Block zurück. »Denk dir selbst eine Geschichte aus, Stevie«, sagte sie. »Diese Comics mit Combat Casey sind doch Schrott, da werden den Leuten immer nur die Zähne ausgeschlagen. Ich wette, du kannst das viel besser. Schreib eine eigene Geschichte.«
2 Einige der Wortspiele in diesem Buch klängen in der Übersetzung im besten Fall bemüht oder würden sich sehr weit vom Original entfernen. Der Werktreue wegen werden bei derartigen Stellen lediglich die deutschen Übersetzungen in Klammern angegeben. (Anm. d. Red.)
8
Ich weiß noch, dass ich bei dieser Aufforderung von dem Gefühl unendlicher Möglichkeiten überwältigt wurde, so als wäre ich in ein riesiges Gebäude mit Unmengen geschlossener Türen geführt worden und habe die Erlaubnis erhalten, jede davon zu öffnen, wenn ich wollte. Es waren mehr Türen, als ein Mensch im Laufe seines Lebens öffnen konnte, glaubte ich (und glaube es immer noch.)
Letztlich schrieb ich eine Geschichte über vier Zaubertiere, die in einem alten Auto herumfahren und kleinen Kindern helfen. Der Anführer war ein großer weißer Hase namens Mr. Rabbit Trick. Er durfte das Auto fahren. Die Geschichte war vier Seiten lang und mühsam mit Bleistift geschrieben. Soweit ich mich erinnern kann, kam darin niemand vor, der vom Dach des Graymore Hotels sprang. Als ich fertig war, gab ich sie meiner Mutter, die sich damit ins Wohnzimmer setzte, ihr Taschenbuch auf den Boden neben sich legte, und meine Geschichte in einem Schwung las. Ich merkte, dass sie ihr gefiel, denn sie lachte an allen richtigen Stellen, aber ich wusste nicht, ob sie mir damit nur eine Freude machen wollte, weil sie mich mochte, oder ob die Geschichte wirklich gut war.
»Und die hast du nicht abgeschrieben?«, fragte sie, als sie fertig war. Nein, antwortete ich, hätte ich nicht. Sie sagte, die Geschichte wäre so gut, dass sie in einem Buch stehen könnte. Keine andere Bemerkung, die jemand zu mir machte, hat mir seitdem ein größeres Glücksgefühl beschert als dieses Lob. Ich verfasste noch vier Geschichten über Mr. Rabbit Trick und seine Freunde. Für jede gab sie mir einen Vierteldollar und schickte sie an ihre vier Schwestern, die wohl ein bisschen mitleidig auf sie herabsahen. Sie waren alle immer noch verheiratet. IhreMänner waren dageblieben. Es stimmte zwar, dass Onkel Fred nicht viel Sinn für Humor hatte und stur das Verdeck seines Autos geschlossen hielt; außerdem stimmte es, dass Onkel Oren ganz schön trank und dunkle Theorien darüber aufstellte, wie die Juden die Welt regierten, aber immerhin waren die Männer da. Ruth dagegen war mit dem Baby von Don sitzen gelassen worden. Jetzt wollte sie ihrer Familie wenigstens beweisen, dass das Baby begabt war.
Vier Geschichten. Für jede einen Vierteldollar. Das war der erste Dollar, den ich in diesem Geschäft machte.
9
Wir zogen nach Stratford, Connecticut. Ich kam in die zweite Klasse und verknallte mich Hals über Kopf in das hübsche, etwas ältere Mädchen von nebenan. Sie würdigte mich tagsüber keines Blickes, aber nachts, wenn ich im Bett lag und einschlief, flüchteten wir gemeinsam immer wieder vor der grausamen Welt. Meine neue Lehrerin war Mrs. Taylor, eine freundliche Frau mit hervorquellenden Augen und grauem Haar wie Elsa Lanchester in FRANKENSTEINS BRAUT (Originaltitel: BRIDE OF FRANKENSTEIN). »Wenn ich mich mit Mrs. Taylor unterhalte, will ich immer die Hände unter ihre Glupschaugen halten, falls sie herausfallen«, sagte meine Mutter.
Unsere neue Wohnung befand sich in der dritten Etage eines Hauses auf der West Broad Street. Einen Häuserblock weiter hügelabwärts, nicht weit entfernt von Teddy’s Market und gegenüber von Burrets Building Materials, erstreckte sich ein weitläufiges, verwuchertes Gelände, das rückseitig von einem Schrottplatz begrenzt und in der Mitte von Eisenbahnschienen durchquert wurde. Dieses Stück Wildnis gehört zu den Orten, auf die ich in meiner Fantasie immer wieder zurückgreife. Es taucht hier und dort unter allen möglichen Bezeichnungen in meinen Büchern und Geschichten auf. Die Kinder in Es (Originaltitel: It) nennen es »die Barrens«, wir nannten es den Dschungel. Mein Bruder Dave und ich erkundeten das Gelände zum ersten Mal, kurz, nachdem wir nach Stratford gezogen waren. Es war Sommer. Es war heiß. Es war herrlich. Schon waren wir tief in die grünen Geheimnisse dieses tollen neuen Spielplatzes vorgedrungen, als ich ein dringendes menschliches Bedürfnis verspürte.
»Dave«, sagte ich, »bring mich nach Hause! Ich muss drücken!« (Dieser Ausdruck war uns zur Beschreibung dieser besonderen Körperfunktion beigebracht worden.)
David wollte nichts davon hören. »Mach’s doch hier zwischen den Büschen«, antwortete er. Es hätte mindestens eine halbe Stunde gedauert, mit mir nach Hause zu gehen, und er hatte nicht die Absicht, sich so viel wertvolle Zeit stehlen zu lassen, nur weil sein kleiner Bruder einen Haufen machen musste.
»Das kann ich nicht!«, rief ich. Mir schauderte bei der Vorstellung. »Ich kann mich doch gar nicht abputzen!«
»Klar kannst du das«, gab Dave zurück. »Putz dich mit ein paar Blättern ab. So haben das die Cowboys und Indianer auch gemacht.«
Nun, zu dem Zeitpunkt war es wahrscheinlich eh zu spät, um es bis nach Hause zu schaffen. Ich glaube, mir blieb keine Wahl. Außerdem fand ich die Aussicht verlockend, wie ein Cowboy zu kacken. Ich tat so, als wäre ich Hopalong Cassidy, der sich mit gezücktem Gewehr ins Unterholz hockt. In so einer intimen Situation wollte man ja nicht böse überrascht werden. Ich erledigte mein Geschäft und vergaß auch nicht die von meinem älteren Bruder vorgeschlagene Säuberungsmethode. Sorgfältig wischte ich mir den Hintern mit einer großen Handvoll glänzender grüner Blätter ab. Später stellte sich heraus, dass es giftiger Efeu war.
Zwei Tage später war ich von den Kniekehlen bis hoch zu den Schulterblättern knallrot. Mein Penis blieb verschont, aber meine Hoden waren rot wie Bremslichter. Mir kam es so vor, als juckte mir der Hintern bis zum Brustkorb. Am schlimmsten aber war die Hand, mit der ich mich abgewischt hatte: Sie schwoll so stark an wie die Hand von Micky Mouse, nachdem Donald Duck mit einem Hammer draufgeschlagen hat. Wo die Finger aneinanderrieben, bildeten sich gigantische Blasen. Als sie aufplatzten, blieben tiefe Furchen im rohen rosa Fleisch zurück. Sechs Wochen lang saß ich in lauwarmen Stärkebädern und fühlte mich elend, gedemütigt und dumm. Durch die offene Tür konnte ich meine Mutter und meinen Bruder lachen hören, die in der Küche Peter Tripps Hitparade im Radio lauschten oder Mau-Mau spielten.
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Dave war ein toller Bruder, bloß zu klug für einen Zehnjährigen. Sein Grips brachte ihn immer in Schwierigkeiten, und irgendwann (wahrscheinlich nachdem ich mir den Hintern mit giftigem Efeu abgewischt hatte) merkte er, dass es meistens möglich war, Bruder Stevie mit ins Boot zu ziehen, wenn Ärger ins Haus stand. Dave bat mich nie, die ganze Schuld für seinen oft brillanten Bockmist auf mich zu nehmen, denn er war weder ein Kriecher noch ein Feigling, doch bei mehr als einer Gelegenheit wurde ich gebeten, mir mit ihm die Schuld zu teilen. Deshalb bekamen wir wohl auch beide Ärger, als Dave den Bach staute, der durch den Dschungel floss, und dadurch den unteren Abschnitt der West Broad Street unter Wasser setzte. Die Verantwortung gemeinsam tragen zu wollen, war auch der Grund, warum wir gemeinsam unser Leben aufs Spiel setzten, als wir Daves möglicherweise todbringendes Projekt in Naturwissenschaften durchführten.
Es muss wahrscheinlich 1958 gewesen sein. Ich ging zur Center Grammar Grundschule, Dave zur Stratford Junior High. Meine Mutter arbeitete in der Wäscherei von Stratford, wo sie die einzige weiße Frau unter den an den Wäschemangeln arbeitenden Beschäftigten war. Dort war sie auch und schob Bettlaken in die Mangel, als Dave sein Projekt für die naturwissenschaftliche Ausstellung aufbaute. Mein großer Bruder gehörte zu den Jungen, die sich nicht damit zufriedengaben, Diagramme von Fröschen auf Millimeterpapier zu zeichnen oder das Haus der Zukunft aus Tyco-Plastikbausteinen und angemalten Toilettenpapierrollen zu basteln. Dave griff immer nach den Sternen. Sein Projekt in dem Jahr hieß Daves Super-Duper-Elektromagnet. Mein Bruder hatte eine große Schwäche für Dinge, die super-duper waren und mit seinem Namen anfingen; letztere Vorliebe gipfelte in Dave’s Rag, wozu wir noch kommen werden.
Das erste Experiment mit dem Super-Duper-Elektromagneten war allerdings gar nicht so super-duper. Vielleicht funktionierte es auch überhaupt nicht, das weiß ich nicht mehr genau. Die Idee dazu stammte aus einem richtigen Buch, war also nicht Daves Fantasie entsprungen. Die Idee lautete wie folgt: Man magnetisierte einen Nagel, indem man ihn an einem Magneten rieb. Die magnetische Aufladung des Nagels sei zwar nur schwach, stand im Buch, doch reiche sie aus, um ein paar Eisenspäne aufzuheben. Wenn man das probiert hatte, sollte man den Nagel mit Kupferdraht umwickeln und beide Enden des Drahtes an die Pole einer Trockenbatterie halten. Dem Buch zufolge verstärkte der Strom den Magnetismus, sodass man viel mehr Eisenspäne anziehen konnte.
Dave jedoch wollte sich nicht mit einem Haufen dusseliger Metallspäne zufriedengeben; er wollte Autos, Güterwagen, wenn möglich sogar Transportflugzeuge der Armee anheben. Dave wollte den Saft andrehen und die Erde aus ihrer Umlaufbahn werfen.
Peng! Super!
Beim Bau des Super-Duper-Elektromagneten hatten wir die Aufgaben zwischen uns aufgeteilt. Dave war verantwortlich für die Konstruktion, ich sollte ihn testen. Klein Stevie King war Stratfords Antwort auf den Piloten Chuck Yeager, der als Erster die Schallmauer durchbrach.
Daves Version des Schulbuchexperiments überging die lahme alte Batterie (die seiner Meinung nach sowieso schon leer war, als wir sie im Eisenwarenladen kauften) zugunsten des richtigen Stroms aus der Steckdose. Er schnitt das Kabel einer alten Lampe ab, die jemand mit dem Müll an die Straße gestellt hatte, trennte die gesamte Ummantelung bis zum Stecker ab und umwickelte den magnetisierten Nagel mit dem freigelegten Draht. Dann reichte er mir in der Küche unserer Wohnung in der West Broad Street den Super-Duper-Elektromagneten und bat mich, meines Amtes zu walten und ihn anzuschließen.
Ich zögerte (wenigstens das muss man mir zugutehalten), doch am Ende sprang Daves manische Begeisterung auf mich über. Ich steckte den Stecker in die Steckdose. Eine magnetische Aufladung war nicht festzustellen. Stattdessen gingen alle Lichter und elektrischen Geräte in unserer Wohnung, alle Lichter und elektrischen Geräte in unserem Haus und alle Lichter und elektrischen Geräte im Nachbarhaus aus (wo mein Traummädchen im Erdgeschoss wohnte). Der Transformator draußen machte ein lautes Geräusch, und es kamen ein paar Polizisten. Eine furchtbare Stunde lang beobachteten Dave und ich das Treiben vom Schlafzimmerfenster unserer Mutter aus, das als einziges auf die Straße ging (alle anderen Fenster blickten auf einen graslosen, mit Hundedreck übersäten Hinterhof, auf dem nur eine räudige Töle namens Roop-Roop lebte). Als die Polizisten gingen, kam ein Wagen vom E-Werk. Ein Mann mit nagelbeschlagenen Schuhen kletterte auf den Mast zwischen den beiden Wohnhäusern, um den Transformator zu untersuchen. Unter anderen Umständen hätte uns dieses Schauspiel gefesselt, aber an dem Tag nicht. An diesem Tag beschäftigte uns nur ein Gedanke: ob wir bei der Rückkehr unserer Mutter schon in der Besserungsanstalt steckten. Irgendwann gingen die Lichter wieder an, und der Wagen vom E-Werk fuhr fort. Wir wurden nicht erwischt, durften uns weiter durchs Leben schlagen. Dave beschloss, für das Schulprojekt statt des Super-Duper-Elektromagneten einen Super-Duper-Segelflieger zu bauen. Ich dürfte den ersten Flug machen, bot er mir an. Wäre das nicht toll?
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Ich wurde 1947 geboren; unseren ersten Fernseher bekamen wir 1958. Soweit ich mich erinnere, habe ich darin als Erstes ROBOT MONSTER gesehen, einen Film, in dem ein Typ in einem Affenkostüm und mit einem Goldfischglas auf dem Kopf (er hieß Ro-Man) herumlief und versuchte, die letzten Überlebenden eines Atomkriegs zu töten. Meiner Meinung nach war das ziemlich hochwertige Kunst.
Außerdem sah ich HIGHWAY PATROL mit Broderick Crawford als furchtloser Dan Matthews und ALCOA PRESENTS: ONE STEP BEYOND, moderiert von John Newland, dem Mann mit den gruseligsten Augen der Welt. Es liefen Serien wie CHEYENNE und ABENTEUER UNTER WASSER (Originaltitel: SEA HUNT), YOUR HIT PARADE und ANNIE OAKLEY; Tommy Rettig war der Erste von Lassies zahlreichen Freunden, Jock Mahoney war der RANGE RIDER, und Andy Devine heulte mit seiner komischen hohen Stimme: »He, Wild Bill, warte auf mich!« Es war eine ganze Welt voller virtueller Abenteuer, die in Schwarz-Weiß auf Vierzehn-Zoll-Diagonale angeliefert und von Marken gesponsert wurden, die in meinen Ohren noch heute wie Gedichte klingen. Ich liebte sie alle.
Aber das Fernsehen erreichte den Haushalt der Kings relativ spät, und darüber bin ich froh. Wenn man drüber nachdenkt, gehöre ich einer ziemlich elitären Gruppe an: Wir sind die letzte Handvoll amerikanischer Schriftsteller, die erst lernten, eine tägliche Portion Schwachsinn im Fernsehen zu verschlingen, nachdem sie lesen und schreiben konnten. Vielleicht ist das unwichtig. Andererseits, wenn Sie Ihre ersten Schritte als Autor machen, gibt es Schlimmeres, als den Fernsehstecker aus der Wand zu reißen, das Kabel um einen Nagel zu wickeln und ihn dann wieder einzustöpseln.
Warten Sie einfach ab, wie weit die Fetzen fliegen.
Nur so ein Vorschlag.
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In den späten Fünfzigern veränderte ein Literaturagent und zwanghafter Sammler von Science-Fiction-Memorabilia namens Forrest J. Ackerman das Leben Tausender Kinder – auch ich gehörte dazu – durch sein Magazin Famous Monsters of Filmland. Sie können jeden nach diesem Magazin fragen, der sich in den letzten dreißig Jahren mit Fantasy, Horror und Science-Fiction beschäftigt hat. Er wird lachen, seine Augen werden aufleuchten, und dann wird er Sie an seinen lebhaften Erinnerungen teilhaben lassen – das kann ich so gut wie garantieren.
Um 1960 rief Forry (der sich manchmal auch »Ackermonster« nannte) die kurzlebige, aber interessante Zeitschrift Spacemen ins Leben, die sich mit Science-Fiction-Filmen befasste. 1960 schickte ich eine Geschichte an Spacemen. Soweit ich mich erinnern kann, war es die erste Geschichte, die ich zur Veröffentlichung einreichte. Den Titel weiß ich nicht mehr, doch ich befand mich noch immer in der Ro-Man-Phase meiner Entwicklung, und diese Geschichte verdankte dem Killeraffen mit dem Goldfischglas auf dem Kopf unzweifelhaft eine Menge.
Meine Geschichte wurde abgelehnt, doch Forry hob sie auf (Forry bewahrt alles auf, was jeder bestätigen kann, der einmal eine Führung durch sein Haus, Ackermansion genannt, genossen hat). Als ich ungefähr zwanzig Jahre später in einer Buchhandlung in Los Angeles Autogramme gab, stellte sich auch Forry an – mit meiner Einsendung von damals in der Hand. Die Blätter waren einzeilig beschrieben und auf der schon lange verschollenen Royal-Schreibmaschine getippt, die mir meine Mutter zu Weihnachten geschenkt hatte, als ich elf Jahre alt war. Er bat mich, die Geschichte zu signieren … Wahrscheinlich habe ich es getan, obwohl diese Begegnung so surreal war, dass ich mir nicht völlig sicher bin. Die Geister der Vergangenheit … Mannomann.
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Die erste meiner Geschichten, die tatsächlich veröffentlicht wurde, erschien in einer Fanzeitung von Horrorfreaks, die von Mike Garrett in Birmingham, Alabama, herausgegeben wurde (das macht er auch heute noch). Mike brachte die Erzählung unter dem Titel »In a Half-World of Terror« heraus, aber meiner gefällt mir immer noch besser. Er lautet: »I was a Teenage Graverobber«. Super-duper! Peng!
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Die erste wirklich originelle Idee (an die erste kann man sich immer erinnern, glaube ich) kam gegen Ende von Ikes achtjähriger gütiger Regierungszeit. Ich saß in Durham, Maine, am Küchentisch und sah zu, wie meine Mutter seitenweise grüne Rabattmarken von S&H in ein Sammelalbum klebte (weitere unterhaltsame Geschichten über Rabattmarken, siehe Der Club der Lügner). Unsere kleine Familientroika war zurück nach Maine gezogen, damit sich Mom um ihre Eltern kümmern konnte, mit deren Gesundheit es bergab ging. Grandma war damals ungefähr achtzig, fettleibig, hatte erhöhten Blutdruck und war so gut wie blind; Daddy Guy war zweiundachtzig, knochig, griesgrämig und neigte zu Wutausbrüchen à la Donald Duck, die nur meine Mutter verstehen konnte. Sie nannte Daddy Guy »Fazza«.
Die Schwestern meiner Mutter hatten ihr diese Aufgabe übertragen, vielleicht weil sie dachten, dadurch zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Die alten Herrschaften würden von einer liebevollen Tochter in der vertrauten Umgebung versorgt, und das nervige Problem mit Ruth wäre gelöst. Sie würde sich nicht länger ziellos treiben lassen und nebenbei versuchen, zwei Söhne großzuziehen, würde nicht mehr scheinbar ohne Grund von Indiana nach Wisconsin und weiter nach Connecticut ziehen, um fünf Uhr morgens Plätzchen backen oder in einer Wäscherei Bettlaken mangeln, in der die Temperatur im Sommer oft auf 43 Grad stieg und der Vorarbeiter von Juli bis Ende September jeden Nachmittag um eins und drei Salzpillen ausgab.
Mom hasste ihre neue Aufgabe, glaube ich. In ihren Bemühungen, unserer Mutter zu helfen, machten ihre Schwestern aus einer unabhängigen, lustigen, leicht verrückten Frau eine Pflegerin, die fast ohne Geld auskommen musste. Was die Schwestern ihr jeden Monat schickten, reichte gerade für die Lebensmittel, viel mehr war nicht drin. Für uns kamen immer Pakete mit Kleidung. Am Ende jedes Sommers schleppten Onkel Clayt und Tante Ella (die, glaube ich, gar nicht richtig mit uns verwandt waren) kistenweise eingemachtes Gemüse und Konserven an. Das Haus, in dem wir wohnten, gehörte Tante Ethelyn und Onkel Oren. Als sie erst einmal dort war, saß Mom in der Falle. Zwar fand sie noch richtige Arbeit, nachdem ihre Eltern gestorben waren, doch sie blieb dort wohnen, bis der Krebs ihrem Leben ein Ende machte. David und seine Frau Linda nahmen sie zu sich und pflegten sie in den letzten Wochen ihrer tödlichen Krankheit, und als sie Durham zum letzten Mal verließ, war sie, so habe ich den Eindruck, vermutlich mehr als bereit zu gehen.
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Eine Sache wollen wir klarstellen, okay? Es gibt keinen Ideenfriedhof, kein Geschichtenkaufhaus und keine Insel der begrabenen Bestseller; gute Geschichten scheinen buchstäblich aus dem Nichts zu kommen, aus dem blauen Himmel segeln sie direkt auf uns zu: Zwei Ideen, die ursprünglich nichts miteinander zu tun haben, treffen aufeinander und lassen etwas ganz Neues unter der Sonne entstehen. Ihr Job ist es nicht, diese Ideen zu finden, aber sie zu erkennen, wenn sie denn auftauchen.
An jenem Tag, als diese besondere Idee – die erste wirklich gute – auf mich zusegelte, bemerkte meine Mutter, sie müsse noch sechs Rabattmarkenbücher vollkleben, um die Lampe zu bekommen, die sie ihrer Schwester Molly zu Weihnachten schenken wolle. Sie glaubte aber nicht, es rechtzeitig zu schaffen. »Dann muss es wohl bis zu ihrem Geburtstag warten«, sagte sie. »Diese verflixten Dinger sehen immer aus, als hätte man Unmengen davon, aber wenn man sie ins Buch klebt …« Dann verdrehte sie die Augen, bis sie schielte, und streckte mir die Zunge heraus. Ich sah, dass ihre Zunge so grün war wie die Rabattmarken. Mir kam die Idee, dass es toll wäre, wenn man die leidigen Marken im eigenen Keller drucken könnte – das war der Moment, in dem »Happy Stamps« geboren wurde. Die Vorstellung, Rabattmarken zu fälschen, und der Anblick der grünen Zunge meiner Mutter ließen sie augenblicklich entstehen.
Der Held meiner Geschichte war der klassische Verlierer, ein Typ namens Roger, der schon zweimal wegen Falschgeld im Knast gesessen hatte – noch eine Verurteilung und er wäre ein Three-Time-Loser, ein dreifacher Versager. Anstelle von Geld fälschte er nun Happy Stamps, allerdings fand er schnell heraus, dass die Marken unglaublich simpel gestaltet waren, sodass Fälschen nicht der richtige Ausdruck für seine Tätigkeit war – er druckte das Original in rauen Mengen nach. In einer lustigen Szene (wahrscheinlich die erste richtig gute Szene, die ich schrieb) sitzt Roger mit seiner alten Mutter im Wohnzimmer. Sie hängen über den Heftchen mit den Happy Stamps, während die Druckerpresse im Keller rotiert und einen Stapel Rabattmarken nach dem anderen auswirft.
»Großer Scott«, sagt Mom, »hier im Kleingedruckten steht, dass man mit Happy Stamps wirklich alles bekommen kann, Roger. Du sagst, was du haben willst, und sie rechnen dir aus, wie viele Heftchen du dafür einreichen musst. Mensch, für sechs oder sieben Millionen Heftchen kriegen wir von Happy Stamps bestimmt ein Haus am Stadtrand!«
Aber dann stellt Roger fest, dass die Marken zwar perfekt sind, der Klebstoff jedoch nicht. Wenn man über die Marken leckt und sie ins Heft klebt, funktioniert es. Aber wenn man sie von einer Maschine befeuchten lässt, werden die rosa Happy Stamps blau. Am Ende der Geschichte steht Roger im Keller vor einem Spiegel. Hinter ihm auf einem Tisch liegen ungefähr neunzig Rabattheftchen, gefüllt mit einzeln angeleckten Marken. Die Lippen unseres Helden sind rosa. Er streckt seine Zunge raus, die noch stärker gefärbt ist. Selbst seine Zähne werden schon rosa. Fröhlich ruft seine Mutter die Treppe herunter, sie habe gerade mit der Prämienabteilung des Happy Stamps National Redemption Center in Terre Haute telefoniert, und die Dame am Telefon habe gesagt, für nur 11600000 vollgeklebte Rabattmarkenheftchen könnten sie wahrscheinlich ein hübsches Tudorhaus in Weston bekommen.
»Das ist schön, Mom«, antwortet Roger. Er betrachtet sich noch etwas länger im Spiegel, die rosa Lippen und den trüben Blick, dann dreht er sich langsam zum Tisch um. Hinter ihm sind Milliarden von Happy Stamps in großen Kisten gestapelt. Langsam schlägt unser Held ein neues Heftchen auf und beginnt, die Marken anzulecken und einzukleben. Nur noch 11599910 Heftchen, denkt er am Ende der Geschichte, dann bekommt Mom ihr Tudorhaus.
Ein paar Einzelheiten in der Geschichte stimmten nicht (der größte Lapsus war wohl, dass es der Held nicht einfach mit einem anderen Klebstoff versucht), aber trotzdem war sie hübsch und einigermaßen originell. Ich wusste, dass ich etwas ziemlich Gutes geschrieben hatte. Nachdem ich in meinem zerlesenen Writer’s Digest gründlich die Märkte studiert hatte, schickte ich »Happy Stamps« an Alfred Hitchcock’s Mystery Magazine. Drei Wochen später kam die Geschichte mit einem beigelegten Formschreiben zurück. Der Zettel trug Alfred Hitchcocks unverwechselbares Profil in Rot, und man wünschte mir viel Glück mit meinem Werk. Am unteren Rand fand ich eine hingekritzelte, nicht unterschriebene Notiz, die einzige persönliche Antwort, die ich während der acht Jahre regelmäßiger Einsendungen von AHMM bekam. »Manuskripte nicht heften«, besagte sie. »Lose Blätter plus eine Büroklammer sind gleich die richtige Lösung, Texte einzureichen.« Ein ziemlich unterkühlter Ratschlag, dachte ich, aber auf seine Weise nützlich. Seitdem habe ich kein Manuskript mehr geheftet.
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Mein Zimmer in unserem Haus in Durham war unter dem Dach. Nachts lag ich im Bett unter der Schräge (wenn ich mich ohne nachzudenken aufsetzte, schlug ich mir ordentlich den Kopf an) und las im Licht einer Schwanenhalslampe, die einen lustigen Boa-Constrictor-Schatten an die Decke warf. Manchmal war es ganz still im Haus; nur das Bullern des Ofens und das Trippeln der Ratten auf dem Dachboden waren zu hören. Manchmal jedoch schrie meine Großmutter gegen Mitternacht eine geschlagene Stunde, jemand solle nach Dick sehen; sie machte sich Sorgen, dass er nicht gefüttert worden war. Dick, ein Pferd, das sie zu ihrer Zeit als Lehrerin besessen hatte, war seit mindestens vierzig Jahren tot. Unter der anderen Schräge standen mein Schreibtisch, meine alte Royal-Schreibmaschine und aufgereiht vor den Fußleisten ungefähr hundert Taschenbücher, überwiegend Science-Fiction. Auf meinem Schreibtisch war eine Bibel, die ich für meine auswendig aufgesagten Verse in der Jugendgruppe der Methodisten erhalten hatte, und ein Webcor-Plattenspieler mit automatischem Wechsler und einem mit grünem Samt belegten Plattenteller. Darauf spielte ich meine Schallplatten, hauptsächlich Singles von Elvis, Chuck Berry, Freddy Cannon und Fats Domino. Fats gefiel mir; er wusste, wie man rockt, und man merkte, dass es ihm Spaß machte. Als ich die Absage von AHMMbekam, schlug ich über dem Webcor einen Nagel in die Wand, schrieb »Happy Stamps« darauf und spießte sie auf den Nagel. Dann setzte ich mich auf mein Bett und hörte mir »I’m Ready« von Fats an. Eigentlich fühlte ich mich ganz gut. Wenn man noch zu jung zum Rasieren ist, ist es gut, auf eine Enttäuschung mit Optimismus zu reagieren.
Als ich vierzehn war (und mich zweimal pro Woche rasierte, ob es nötig war oder nicht), trug der Nagel in meiner Wand das Gewicht der gepfählten Absagen nicht länger. Ich ersetzte ihn durch einen Haken und schrieb weiter. Als ich sechzehn war, bekam ich mittlerweile Absagen mit handschriftlichen Bemerkungen, die etwas aufmunternder waren als der Rat, nicht länger Heftklammern, sondern Büroklammern zu verwenden. Der erste dieser Hoffnungsträger kam von Algis Budrys, damals Herausgeber von Fantasy and Science Fiction, der eine meiner Geschichten namens »The Night of the Tiger« gelesen hatte (inspiriert von einer Episode aus AUF DER FLUCHT (Originaltitel: THE FUGITIVE), in der Dr. Richard Kimble als Tierpfleger in einem Zoo oder Zirkus die Käfige säubert). Algis Budrys schrieb: »Gute Geschichte. Nichts für uns, trotzdem gut. Sie haben Talent. Reichen Sie uns weiter Geschichten ein!«
Diese vier kurzen Sätze, hingeschmiert mit einem Füller, der unförmige Kleckse um seine Schriftzeichen verteilte, erhellten den trüben Winter meines sechzehnten Lebensjahrs. Zehn Jahre später, als ich schon ein paar Romane verkauft hatte, entdeckte ich »The Night of the Tiger« in einer Kiste mit alten Manuskripten und fand, dass es immer noch eine ganz ansehnliche Geschichte war … auch wenn offensichtlich von jemandem verfasst, der gerade erst angefangen hatte, sein Handwerk zu lernen. Ich schrieb sie um und reichte sie aus Spaß wieder bei F&SF ein. Diesmal wurde sie angenommen. Das gehört zu den Dingen, die ich gelernt habe: Wenn man bereits ein wenig Erfolg gehabt hat, kommen die Zeitschriften nicht so schnell mit ihrer Phrase: »Nichts für uns.«
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Obwohl mein großer Bruder ein Jahr jünger war als seine Klassenkameraden, langweilte er sich auf der Highschool. Das lag teilweise an seiner Intelligenz (bei einem Test wurde festgestellt, dass er einen IQ von 150 oder 160 hatte), doch meiner Meinung nach war der Hauptgrund sein rastloses Wesen. Für Dave war die Highschool einfach nicht super-duper genug – kein Peng, kein Knall, kein Spaß. Er schuf Abhilfe, zumindest vorübergehend, indem er eine Zeitung ins Leben rief, die er Dave’s Rag nannte.
Das Redaktionsbüro des Rag war ein Tisch in unserem spinnenverseuchten Keller mit Steinwänden und Lehmboden, der irgendwo nördlich vom Heizkeller und östlich vom Gemüsekeller stand, wo die ungezählten Pakete mit Konserven und eingemachtem Gemüse von Clayt und Ella lagerten. Der Rag war eine ungewöhnliche Kreuzung aus Familienpostille und vierzehntägiger Kleinstadtzeitung. Manchmal, wenn Dave vorübergehend Interesse an anderen Dingen fand wie der Herstellung von Ahornzucker oder Cider, dem Konstruieren von Raketen oder dem individuellen Tuning von Autos (um nur einige zu nennen), erschien das Blatt nur einmal im Monat. Dann wurden immer Witze gerissen, die ich nicht verstand: dass Daves Rag3 in diesem Monat etwas spät dran sei oder dass wir Dave nicht stören sollten, weil er unten im Keller eine Nummer mache.
Witze hin oder her, die Auflage stieg langsam von ungefähr fünf Exemplaren pro Ausgabe (die an Familienangehörige in der Umgebung verkauft wurden) auf fünfzig oder sechzig Exemplare, und unsere Verwandten und die Verwandten unserer Nachbarn aus dem Dorf (1962 hatte Durham ungefähr 900 Einwohner) warteten ungeduldig auf jede neue Nummer. In einer typischen Ausgabe erfuhr man beispielsweise, wie sich das gebrochene Bein von Charley Harrington machte, welche Gastredner in der Methodistenkirche von West Durham möglicherweise sprechen würden, wie viel Wasser die King-Brüder von der städtischen Pumpe heranschleppten, damit der Brunnen hinter ihrem Haus nicht austrocknete (er trocknete natürlich jeden Scheißsommer aufs Neue aus, egal, wie viel Wasser wir aus der Stadtpumpe schöpften), wer die Browns oder die Halls auf der anderen Seite von Methodist Corners besuchte und wessen Verwandte sich im Sommer in der Stadt aufhalten würden. Dave brachte auch Sportnachrichten, Wortspiele und Wetterberichte (»Es ist ziemlich trocken gewesen, doch der ortsansässige Bauer Harold Davis sagt, er würde lächelnd sein Schwein knutschen, wenn wir im August nicht mindestens einen ordentlichen Regenschauer bekämen«). Außerdem Rezepte, einen Fortsetzungsroman (den schrieb ich) und Daves Witze und Humor, darunter Kleinode wie diese: