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Nadja Brügge hat ihre Mutter nie kennengelernt. Als sie nach einem Todesfall jedoch als letzte lebende Verwandte der Familie Kaltenstein identifiziert wird, sieht sie sich mit einem ungewöhnlichen Erbe konfrontiert: Plötzlich ist sie die Besitzerin eines prunkvollen Anwesens, das auf einer abgelegenen Insel scheinbar jedem Fortschritt getrotzt hat. Gemeinsam mit der mysteriösen Amalia schickt Nadja sich an, den Rätseln ihrer Vergangenheit auf den Grund zu gehen. Allerdings ahnen die beiden Frauen zunächst nicht, dass dunkle Geheimnisse, unangenehme Wahrheiten und uralte Schrecken auf sie warten. Werden sie begreifen, mit welchen Mächten sie sich angelegt haben, bevor es zu spät ist? Das letzte Kind von Kaltenstein ist ein spannender Mystery-Roman im Stil der Schauerromantik.
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Seitenzahl: 166
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Nadja Brügge hat ihre Mutter nie kennengelernt. Als sie nach einem Todesfall jedoch als letzte lebende Verwandte der Familie Kaltenstein identifiziert wird, sieht sie sich mit einem ungewöhnlichen Erbe konfrontiert: Plötzlich ist sie die Besitzerin eines prunkvollen Anwesens, das auf einer abgelegenen Insel scheinbar jedem Fortschritt getrotzt hat.
Gemeinsam mit der mysteriösen Amalia schickt Nadja sich an, den Rätseln ihrer Vergangenheit auf den Grund zu gehen. Allerdings ahnen die beiden Frauen zunächst nicht, dass dunkle Geheimnisse, unangenehme Wahrheiten und uralte Schrecken auf sie warten.
Werden sie begreifen, mit welchen Mächten sie sich angelegt haben, bevor es zu spät ist?
Über den Autor
Thomas Michalski, Jahrgang 1983, verbrachte seine Kindheit und Jugend in der schroffen Landschaft der Eifel. 2003 zog er nach Aachen und absolvierte dort an der RWTH ein Studium der Germanistischen und Allgemeinen Literaturwissenschaft sowie der Philosophie.
Er war dort mehrere Jahre als Journalist tätig, veröffentlicht Artikel in verschiedenen Fachmagazinen und ist der Autor mehrerer Bücher aus den Bereichen Sachbuch und Belletristik.
Heute ist er in die Eifel zurückgekehrt, arbeitet dort als Verlagsleiter bei einem Spiele-Verlag und widmet sich nebenher weiterhin seinen Büchern.
Weitere Bücher von Thomas Michalski
Belletristik
Sachbücher
Schleier aus Schnee
Einfach Filme machen
Verfluchte Eifel
Lovecraft und Duve
Verdorbene Asche
Tänze von einst
Für jene, mit denen ich nach Saig reiste. Sie wissen, was das heißt.
Triggerwarnungen findet ihr unten auf Seite → dieses Buches.
Teil 1: DEINO
Kapitel 1: DER FÄHRMANN
Kapitel 2: AUFENTHALT
Kapitel 3: KALTENSTEIN
Kapitel 4: DIE TÜCHTIGE
Kapitel 5: VESTIBÜL
Kapitel 6: NIEMAND WIRD DORT SEIN
Teil 2: PEMPHREDO
Kapitel 7: GESINDETRAKT
Kapitel 8: MEMORABILIA
Kapitel 9: SCHATTEN
Kapitel 10: AHNENFORSCHUNG
Kapitel 11: MATER MEA
Kapitel 12: THRONE UND HERRSCHAFTEN
Kapitel 13: ACHERON
Kapitel 14: ACHERON
Teil 3: ENYO
Kapitel 15: DER STURM
Kapitel 16: DER HINTERGRUND
Kapitel 17: DIE KAMMER
Kapitel 18: PATER MEUS
Kapitel 19: SCHWARZES HERZ
Kapitel 20: SCHWARZES HERZ
Teil 4: NADESCHDA
Kapitel 21: FLUTEN
Kapitel 22: REINIGUNG
Kapitel 23: DER ANLEGER
Kapitel 24: EPILOG
NACHWORT
Die Steinformation ragte aus dem Wasser empor wie die Hand eines ertrinkenden Riesen. Die Felsnadeln brachen Fingern gleich durch das endlos dunkle Wasser, die hilfesuchende Geste eines vorsintflutlichen Wesens – für immer gefangen in der Unsicherheit, ob jemand die Hand rechtzeitig ergreifen wird.
Hinter diesem bedrückenden Anblick konnte man, dem diesigen Wetter zum Trotz, bereits die Konturen der Insel ausmachen. Es war eine kleine Insel, gedrungen inmitten dieses stillen Sees, vergessen vermutlich von allen außer jenen wenigen Seelen, die sie bis heute ihr Zuhause nannten.
Nadja stand an der vorderen Reling der Fähre und saugte all diese Eindrücke in sich auf. Streng genommen war dies ihre Heimkehr, aber nichts von alledem hatte sie je zuvor gesehen. Diese niedrige, bewaldete Insel, die wie der Schatten eines lauernden Raubtiers langsam an Konturen gewann, war ihr vollkommen fremd, und wenn sich irgendeine Form von erhabenem Erkennen ihres Geburtsortes hätte einstellen sollen, so ließ sie auf sich warten.
Der Wind war kühl und zog an ihr, ließ ihr schulterlanges, kastanienbraunes Haar wehen. Ein romantischer Maler hätte vielleicht Freude daran gehabt, wie ihre schlanke Silhouette dort vom Bug aus über die Nebelschwaden ragte – ein Gedanke, der sie genug amüsierte, um sie aus ihrem dunklen Sinnen zu reißen. Plötzlich bemerkte sie, wie ihre Hände sich um die Reling geklammert hatten, und zwang sich, ihre Finger zu lockern, sodass Blut in ihre weißen Knöchel zurückfließen konnte. Verschämt wischte sie Reste des überall abblätternden, grünen Lacks an ihrer Cordjacke ab.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, ertönte die sonore Stimme des Kapitäns hinter ihr. Wenn Nadja ihn mit einem Wort hätte beschreiben müssen, hätte ›Seebär‹ einen guten Dienst getan. Sie zwang sich zu einem Lächeln und nickte.
Er erwiderte das Nicken und wandte sich schon zum Gehen, aber Nadja war nicht gewillt, direkt wieder in ihren Gedanken zu versinken: »Sie haben selten Fahrgäste?«
Es war ein schwacher Versuch des Smalltalks, aber der Fährmann wandte sich ihr wieder zu und musterte sie mit den durchdringenden, vom Wind schmal geschliffenen Augen. »Nie.«
»Besucht denn niemand die Insel?«
»Nur Sie.« Dann aber schien er eine Entscheidung zu treffen und trat zu ihr an die Reling, blickte mit ihr gemeinsam raus auf die größer werdende Insel. »Gibt keinen Tourismus hier, wir selbst fahren nur Post und Lebensmittel auf die Insel. Fragen Sie mich nicht, warum Menschen dort noch immer wohnen.«
»›Noch immer‹?«, hörte sie sich selbst seine Worte wiederholen.
Der Seebär aber hatte offenbar entschieden, schon zu viel gesagt zu haben und nickte nur auf ihre Frage. Nadja versuchte einen Moment lang, das Alter des Kapitäns zu schätzen, aber es war unmöglich. Er sah alt genug aus, um ihr Großvater zu sein, aber sagte man nicht auch, dass Seeleute schnell alterten durch Wind und Wetter? Einen Moment standen sie dort, und nur der Motorenlärm der Fähre und die Schläge des Wassers gegen den stählernen Rumpf des Schiffes waren zuhören, bevor er doch wieder das Wort ergriff: »Darf ich so forsch sein zu fragen, gute Frau, was Sie nach hier treibt?«
»Oh, ich bin auf der Insel geboren«, erklärte Nadja und versuchte vergeblich, seine Züge zu deuten.
»Sie wirken nicht so, als wären Sie von hier, wenn Sie mir den Hinweis erlauben«, brummte er in seinen Bart und begann, sich eine Zigarette zu drehen.
»Mein Vater ist mit mir von hier weggezogen, als ich nur wenige Wochen alt war. Meine Mutter war im Kindbett gestorben und ihn hielt nichts mehr hier.«
»Mein Beileid.«
»Ach, das ist ein Leben lang her. Aber danke.«
»Und was treibt Sie nun her?«
»Ein Erbe.« Der Kapitän hielt in seinen Bewegungen inne, die frisch gedrehte Zigarette noch nicht entzündet zwischen den Lippen. Eindringlich musterte er sie mit seinen grauen Augen, doch sagte er nichts, also fuhr Nadja fort: »Mich erreichte vor einigen Wochen ein Brief. Erst hielt ich es für einen schlechten Scherz, aber offenbar hatte ich noch lebende Verwandte hier auf der Insel, auf Seiten meiner Mutter. Die sind nun schon eine Weile tot, aber erst jetzt hat der Testamentsverwalter mich ausfindig gemacht. Es scheint, als besäße ich ein Haus auf der Insel.«
»Entschuldigen Sie, gute Frau«, sagte der Fährmann so leise, dass es kaum über das Raunen des Wassers zu hören war, »ich hatte Sie, glaube ich, nie nach Ihrem Namen gefragt.«
»Nadja Brügge«, erklärte sie ihm und reichte ihm die Hand. »Aber der Name meiner Mutter war Margaretha Kaltenstein. Vielleicht kennen Sie die Familie?«
Er erwiderte den Handschlag, wirkte aber regelrecht betroffen dabei. Als das laute Horn der Fähre ertönte, riss er sich los und beendete damit endgültig, was auch immer an ungelenker Unterhaltung zwischen ihnen stattgefunden hatte.
»Denken Sie beim Anleger an ihren Obolus, Frau Brügge.«
»Meinen was?«
»Ihre Bezahlung. Der Lohn des Fährmanns für jene, die er über die dunklen Wasser fahren muss.«
Die ersten Schritte nach Verlassen der Fähre waren ungewohnt. Zwar war das alte Ungetüm zu groß, um starken Seegang zu haben, aber dennoch war es schön, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Auch wenn Nadja keine Angst vor offenen Gewässern hatte, vermittelte ihr, von den anthrazitfarbenen Fluten des Sees herunter zu sein, das Gefühl, sich wieder ein bisschen mehr in der Wirklichkeit wiederzufinden.
Der Anleger mündete im Grunde direkt im Ort, oder zumindest dem, was hier den Ort darstellte. Sie sah ein paar ungeordnete Reihen von Wohnhäusern, ein größeres Gebäude, in dem sie die Verwaltung vermutete, sowie einen kleinen Supermarkt. Nein, korrigierte sie sich selbst, einen kleinen Laden, denn es schien so, als habe sie den letzten Ort Deutschlands gefunden, in den die üblichen Ketten noch nicht vorgedrungen waren.
Ein letztes Mal sah sie sich um, wollte sich von dem Fährmann noch verabschieden, doch der Kapitän war nun wohl mit anderen Dingen beschäftigt und außer Sicht. Sie zahlte ihre Überfahrt, ihren »Obolus«, an einen der anderen Fährleute, schwang sich ihren Seesack über die Schulter und stapfte auf den Ort zu. Der Wind war auch hier frisch und es lag Regen in der Luft, doch Nadja begann, es zu genießen. Sie wusste ja selbst nicht, was sie erwartete, aber ein Abenteuer würde es zweifelsohne werden.
Da niemand auf der Straße war, den sie ansprechen konnte, hielt die junge Frau auf den kleinen Gemischtwarenladen zu und trat ein. Es war wirklich kein Supermarkt. Der Boden war altes, abgelaufenes Parkett, die meisten Regale aus dunklem Holz gefertigt, die Schilder von Hand geschrieben. Über dem Regal mit Kaffee, Zucker und einigen anderen Gütern stand in alter Schrift schwungvoll »Kolonialwaren«, was Nadja mit einer hochgezogenen Augenbraue bedachte. Einzig eine Kühltheke wirkte wie ein grausamer Fremdkörper in diesem ansonsten geradezu antiken Gesamtkunstwerk.
Eine gescheckte Katze lag zusammengerollt auf einem der oberen Regale und schenkte der neuen Besucherin keinerlei Aufmerksamkeit. Eine kleine, rundliche Frau mit Nickelbrille und auffälligen grauen Strähnen in ihrem schwarzen Dutt tauchte hingegen beim Läuten der Türglocke hinter dem Tresen auf – wenn auch nur knapp, ob ihrer Größe – und winkte Nadja freudig näher.
Sie bemerkte, dass dies ihr erster freundlicher Kontakt mit einem Menschen seit Beginn ihrer Reise war.
»Junge Frau!«, jauchzte die Verkäuferin regelrecht. »Sie sind aber nicht von hier!«
»Nein, ich bin gerade erst angekommen.«
»Was hat sie denn nach hier …«, begann sie, stockte, und ihre Augen wurden groß. »Nein, sagen Sie es nicht! Kann es denn wahr sein?«
»Entschuldigung?«
»Sind Sie … sind Sie womöglich die junge Frau Kaltenstein?«
Nadja war perplex. »Meine Mutter war Margaretha Kaltenstein. Aber ich heiße Brügge, wie mein Vater.«
»Ihr Vater.« Es war eine eigentümlich kühle Feststellung, die Nadja nicht zu deuten verstand.
»Wie haben Sie das erkannt?«
»Oh, Sie sind ihrer Frau Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, Frau … Brügge. Als würde man noch einmal in ihr jugendliches Gesicht blicken.«
»Sie kannten meine Mutter?«
»Natürlich, ich lebe auch schon seit Kindheitstagen hier. Sind Sie denn gekommen, um nun hier zu bleiben? Oh, es würde der Insel so gut zu Gesicht stehen, wenn doch wieder eine Kaltenstein hier leben würde. So viel hat Ihre Familie für die Insel getan. Wir waren alle ganz bestürzt über den Tod der guten Henriette. Das muss dann ihre Tante gewesen sein?«
»Ich nehme es an«, gestand Nadja. »Ich bin erst vor kurzem überhaupt über den Todesfall, die Erbschaft und, wenn ich ehrlich bin, lebende Verwandte informiert worden. Mein Vater hat nie viel über sein Leben auf der Insel gesprochen.«
»Natürlich.«
»Aber um Ihre Frage zu beantworten – ja, vielleicht bleibe ich tatsächlich. Wir werden sehen.«
Es gab eine Menge, was sie in dem Moment nicht aussprach. Auch wenn es in Nadja loderte, sich so vieles vom Herzen zu reden – der Kern war, dass es eigentlich nirgendwo, wo sie bisher gelebt hatte, noch viel gab, was sie hielt. Und dass ihr der Gedanke, fast wie ein Einsiedler auf eine einsame Insel zu ziehen, gerade verlockender klang, als sie es sich bisher eingestehen wollte.
Aber eines nach dem anderen.
»Zuerst einmal«, setzte Nadja an und lächelte erneut entschuldigend, »muss ich aber offenbar mein Haus finden. Ich hatte versucht, es über einen Routenplaner zu suchen, aber es gibt scheinbar keine Straßennamen hier im Ort?«
»Nein, die gibt es nicht«, fuhr die Krämerin fort. »Aber das würde Ihnen im Ort selbst auch gar nicht helfen. Warten Sie.« Die kleine Frau zauberte hinter dem Verkaufstresen eine Karte der Insel hervor, die aussah, als wäre sie ebenso Antik wie die Einrichtung des Geschäfts. Nadja brauchte einen Moment, sich darauf zu orientieren, doch der knubbelige Zeigefinger der Frau wies ihr den Weg. »Hier sind wir gerade. Hier ist der Steg. Und dann sehen Sie hier, diesen Weg, durch den Wald, einmal hier um den kleine Hügel herum – und hier nun ist Ihr Anwesen.«
Triumphal tippte sie auf das alte Papier. Nadja studierte, was sie dort sah. Die Insel brachte es an ihrer längsten Stelle auf etwa dreieinhalb Kilometer, und es schien, als hätte man versucht, ihr neues Haus so weit vom Ort entfernt wie möglich zu errichten.
»Kann man irgendwo hier im Ort einen Mietwagen bekommen?«, fragte sie.
»Oh, nein, es gibt nahezu keine Autos hier im Ort. Nathan hat einen Pritschenwagen, aber den braucht er selber. Nathan ist unser bester Handwerker hier. Den werden Sie sicherlich eh früher oder später brauchen. Ich vermute, Ihr Herrenhaus hat ja nun auch eine Weile leergestanden.«
Anwesen. Herrenhaus. Nadja fragte sich zunehmend, auf was sie sich hier eingelassen hatte. Aber mindestens bis die Fähre am nächsten Morgen wiederkam, hatte sie nun ja Zeit, all dem auf den Grund zu gehen.
»Sagen Sie Nathan, Editha hätte sie geschickt«, erklärte die Verkäuferin und ergänzte mit einem Lächeln: »Das bin ich.«
Weit kam Nadja zunächst nicht. Sie kaufte noch ein paar Vorräte ein und verließ den Laden, um die frische Luft draußen genießen und dort zugleich in Ruhe alles in ihren Seesack packen zu können, ohne weiterhin Smalltalk mit Editha betreiben zu müssen.
Doch kaum, dass sie aus dem Laden trat, musste sie schon ausweichen, als ein junger Mann beinahe mit ihr zusammenstieß. Nadja murmelte eine Entschuldigung und wollte es schon dabei bewenden lassen, als sie merkte, dass der junge Mann nicht weiterging. Erst jetzt schaute sie ihn sich aufmerksam an. Er war jung, jünger als sie. Entweder Mitte 20 und glattrasiert, oder noch etwas jünger und noch auf dem Weg zum richtigen Bartwuchs. Blonde Locken umspielten sein unglaublich symmetrisches Gesicht, aus dem stahlblaue Augen und ein charmantes Lächeln hervordrangen.
Das bizarrste aber war, dass er über seiner Jeans offenbar nur eine Weste trug, den durchtrainierten Oberkörper ansonsten entblößt. Das Wetter war eigentlich zu kalt dafür, und doch präsentierte er so eine bemerkenswerte Menge definierter Muskeln. Er trug eine Holzkiste, vermutlich Waren für den Laden von der Fähre, und obgleich sie schwer wirkte, hielt er sie lässig mit einem Arm auf seiner Schulter fest.
»Hey«, hauchte er mit einer Stimme, die irgendwie zu tief für ihn wirkte.
»Hey«, gab sie gezwungen zurück und begann, sich beflissentlich an ihrem Seesack und den Einkäufen zu schaffen zu machen.
»Ich bin Paul.«
Sie nickte und versuchte, ihn bestmöglich zu ignorieren, ohne ganz unhöflich zu wirken.
»Wenn Sie irgendwie Hilfe brauchen, ich bin da«, sagte er mit gedämpfter Stimme. Als sie nichts weiter antwortete, fuhr er säuselnd fort: »Ich kann Ihnen den Weg zeigen. Ich könnte auch Ihren Seesack tragen. Alles, was sie brauchen.« Und dann, nach einer Pause: »Alles.«
»Danke, Paul, ich komme klar.« Und ehe er widersprechen konnte, ergänzte sie: »Ich bin sicher, Editha wartet bereits auf den Inhalt dieser Kiste.«
Der Name der Verkäuferin wirkte. Paul nickte ihr noch einmal zu und verschwand dann im Inneren des Ladens. Nadja hatte jedenfalls nicht vor, noch hier zu sein, wenn er wieder rauskam, und der Weg zum Haus der Kaltensteins schien einfach genug. Eine Wanderung, ja, aber nichts, wobei man sich verlaufen konnte. Sie verstaute die letzten Einkäufe, dann schulterte sie ihr Hab und Gut erneut und machte sich auf den Weg.
Der Weg war angenehm. Die kühle Luft war perfekt für die kleine Wanderung und die Straße hinaus aus dem Ort zwar nicht asphaltiert, aber dennoch fest und gut zu laufen. Die Äste der dunklen Laubbäume hingen von beiden Seiten zur Mitte herunter und bildeten eine Art gewaltigen Bogen, unter dem sie nun herschritt.
Sie reiste zudem mit leichtem Gepäck. Der Seesack hatte zwar ein gewisses Gewicht, aber Nadja war nicht unsportlich und die Insel klein genug, dass sie ihr Ziel erreichen sollte, ohne auf dem Weg auch nur müde zu werden. Zugleich bedeutete das aber auch, dass sie viel Zeit hatte, ihren Gedanken nachzuhängen, während sie ein halbes Stündchen dem gewundenen Waldweg folgte. Was würde sie dort am Ende erwarten? Was hatten ihr ihre nahezu unbekannten Vorfahren hinterlassen?
Alle möglichen Bilder spielten sich vor ihrem geistigen Auge ab. War es eine Art verfallener Bauernhof? Eine glorifizierte Scheune mit leckendem Dach? Ein unscheinbares, abgelegenes Häuschen, oder gar wirklich ein Herrenhaus oder Anwesen, wie die Krämerin angedeutet hatte?
Als der Weg erneut eine leichte Kurve beschrieb und sie ein erstes, kleines Türmchen zwischen den Bäumen hindurch blitzen sah, wurde ihr klar, dass ihr neues Haus wohl eher in letztere Kategorie fiel. Unbewusst beschleunigte sie ihre Schritte, getrieben von unbändiger Neugier, und es kostete sie plötzlich Mühe, nicht auf den letzten Metern ins Laufen zu verfallen.
Nadja wusste nicht, was sie erwartet hatte – doch egal, was es gewesen war, dieses Haus übertraf es deutlich. Sie betrat das Grundstück durch ein schmiedeeisernes, teils vom Efeu überwuchertes Tor, schritt entlang einer Zierhecke weiter darauf zu und konnte den Blick doch nicht von der dunklen Fassade abwenden.
Es war ein gewaltiges Bauwerk. Nadja schätzte, dass es seine 60 Meter breit sein musste und scheinbar weniger tief, auch wenn das von vorne schwer zu sagen war. Es wirkte fast, als wären drei einzelne Häuser aneinander gefügt worden, wobei das mittlere mit Frontportal und zwei gewaltigen Glasfenstern fast wie ein Gesicht erschien, das sie anstarrte. Zwei separate Flügel spreizten dann von diesem zentralen Haupthaus ab, alles aus gewaltigem, über Jahrzehnte oder Jahrhunderte dunkel gewordenem, einstmals rötlichem Stein gefertigt. Unwillkürlich blickte sie sich um. Die Steine mussten einst auf die Insel gebracht worden sein, um dieses Haus – nein, um dieses Anwesen – zu errichten. Nie im Leben konnten die hier abgebaut worden sein.
Das Haus war reich an Fenstern und, das stellte Nadja schon mal zufrieden fest, die allermeisten schienen intakt zu sein. Generell schien das Haus gut in Schuss, selbst das Dach wirkte, von dort unten aus betrachtet, sauber gedeckt. Zehn Schornsteine zählte sie, einige davon ganz schmal und nahezu fragil wirkend über dem gewaltigen Bau, zwei hingegen regelrechte Schlote.
Der Eingang zum Haus war ebenerdig, jedoch von zwei Engelsstatuen gesäumt. Beide Engel, vom Körper her betont weiblich geformt, waren zum Haus gedreht und wirkten in ihrer Haltung geradezu abwehrend. Nadja konnte sich nicht erinnern, solch eine Pose schon mal gesehen zu haben. Sie beschloss, den Rest der Außenanlage zuerst zu beschauen, bevor sie in das Gebäude hineinging.
Sie lehnte ihren Seesack an die Haustüre und begann, einmal um das große Bauwerk herumzugehen. Der Rest des Grundstücks war nicht weniger imposant. Verwildert, ja, aber imposant. Nadja vermutete, dass nicht erst mit dem Tod ihrer letzten Verwandten hier die Arbeiten eingestellt worden waren. Dicke Wurzeln und Rankpflanzen krochen aus allen Richtungen auf das Gebäude zu, hatten bereits einen alten Brunnen und einen Statuengarten erobert.
Die meisten jener Statuen waren erst bis zur Hüfte überwuchert, ein oder zwei hatte das Efeu aber offenbar auch schon umgeworfen. Auch hier standen viele Engel, doch drei Gestalten in der Mitte waren anders. Die gleiche Bildhauerkunst, das gleiche helle Gestein, aber definitiv keine Engel. Vorsichtig entfernte Nadja einige der rankenden Pflanzen und fand darunter die Gestalten dreier scheinbar uralter Frauen, die dort geduckt standen, als würden sie etwas aushecken oder sich vor etwas zusammenkauern. Irgendetwas hielten sie gemeinsam in ihrer Mitte in den Händen. Neugierig entfernte Nadja weitere Pflanzen und runzelte dann die Stirn – es war ein Auge. Und tatsächlich, keines der Gesichter schien Augen zu besitzen, nicht einmal Höhlen, nur dieses eine, das sie sich teilten.
Irritiert schüttelte Nadja den Kopf, als ein leises Rauschen an ihr Ohr drang. Es kam nicht vom Haus her, sondern von dem hinteren Waldrand. Also passierte sie die restlichen Statuen und genoss es, dabei mit den Füßen durch das knöchelhoch aufgehäufte Laub zu fegen, drängte sich vorsichtig durch das Unterholz und stieß dort nach nur etwa zwanzig Metern auf die Quelle des Geräuschs: die Küste. Es war wirklich, wie die Karte gezeigt hatte – das Haus lag so weit es ging am abgelegenen Ufer der Insel.