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Als eine junge Frau tot in einer Hütte im Wald aufgefunden wird, scheint die Liste offener Fragen kaum ein Ende zu nehmen: Warum liegt sie dort im Wald? Wer hat sie ermordet, und warum? Schnell kommt der Verdacht auf, dass mehr hinter der Tat steckt als bloße Willkür. Als ein altgedienter Journalist und seine junge Kollegin beginnen, Fragen zu stellen, stoßen sie bald schon auf ein Netzwerk aus Andeutungen und Intrigen. Doch auch dem zuständigen Kommissar werden offenbar willentlich Steine in den Weg gelegt. Während die ganze Stadt im Schneechaos versinkt, zeigt sich schon bald, dass noch mehr Menschen in Gefahr sind, während irgendjemand ohne Rücksicht auf Verluste versucht, ein Geheimnis zu wahren. Führen die Spuren zur ansässigen Universität? Oder steckt etwas ganz anderes dahinter?
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Seitenzahl: 202
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Als eine junge Frau tot in einer Hütte im Wald aufgefunden wird, scheint die Liste offener Fragen kaum ein Ende zu nehmen: Wer ist sie? Warum liegt sie dort im Wald? Wer hat sie ermordet – und warum?
Schnell kommt der Verdacht auf, dass mehr hinter der Tat steckt als bloße Willkür. Als der Journalist Philipp Kreil und seine junge Kollegin Karin Weidenroh beginnen, Fragen zu stellen, stoßen sie bald schon auf ein Netzwerk aus Andeutungen und Intrigen. Doch auch dem zuständigen Kommissar Gelbach werden offenbar willentlich Steine in den Weg gelegt, denn irgendjemand möchte, dass die Sache schnell zur Ruhe kommt.
Während die ganze Stadt im Schneechaos versinkt, zeigt sich schon bald, dass noch mehr Menschen in Gefahr sind, während irgendjemand ohne Rücksicht auf Verluste versucht, ein Geheimnis zu wahren.
Führen die Spuren zur ansässigen Universität?
Oder steckt etwas ganz anderes dahinter?
Über den Autor
Thomas Michalski studierte in Aachen Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft sowie Philospie.
Er hat bereits mehrere Bücher verfasst und arbeitet derzeit freiberuflich als Übersetzer, Lektor und Setzer, sowie gelegentlich als Grafiker und Fotograf.
Weitere Bücher von Thomas Michalski
Belletristik
Verfluchte Eifel
Verdorbene Asche (2016)
Weltenscherben (2016)
Sachbücher
Einfach Filme machen
Für meine Freunde.
Worte können euch nicht gerecht werden.
Prolog
Tag 1
1 Waldlichter
2 Weckruf
3 Leichen
4 Analyse
5 Treffen
6 Fakten
7 Sturmfront
8 Eisgänger
9 Vergangenes
10 Aussagen
11 Mondlicht
Tag 2
12 Familienbande
13 Strick
14 Zittern
15 Besuch
16 Niederschlag
17 Sichtung
18 Erwartung
19 Spiegelreflex
20 Einst
21 Zornesröte
22 Nachtlichter
Tag 3
23 Morgenstimmungen
24 Spuren
25 Anrufer
26 Wirtschaft
27 Nordgalerie
28 Druckmittel
29 Sokolow
30 Abgefangen
31 Abgenommen
32 Zimmerservice
33 Gabelung
Tag 4
34 Ereignishorizont
35 Versammlung
36 Festnahme
37 Distanz
38 Standpunkt
39 Dunkelkammer
40 Erkenntnis
41 Wahnsinn
42 Feierabend
Heimkehr
Nachwort
Hatte sie dort vorne ein Licht gesehen? Sie war sich unsicher. Die Dunkelheit der Nacht, das dichte Unterholz des Waldes und der starke Schneefall, der sie unerwartet erwischt hatte, machten es schwer, mehr als die Hand vor Augen zu sehen.
Anja atmete tief durch, um sich zur Ruhe zu bringen. Ihre Freunde hatten sie gewarnt, so kurz vor dem Eintreffen eines Tiefausläufers noch zu einer Wanderung in den Wald zu fahren, aber sie hatte ihre Mahnungen in den Wind geschlagen. Unangenehm war ihr bewusst, dass sie ihre Lage selber Schuld war.
Sie zog an dem Reißverschluss ihres Anoraks, als würde ihr so irgendwie wärmer werden können, umfasste die Griffe ihre Nordic-Walking-Stöcke wieder fester und beschloss, dieser vagen Verheißung eines Lichtes in der Ferne einmal nachzugehen. Ihre Freunde hatten ja Recht gehabt. Ohne den Schneefall hätte sie vermutlich den Wanderweg auch nicht verloren und würde nun nicht, bereits tief in der Nacht, inmitten eines Waldes durch die Kälte irren.
Aber ja: Es war ein Licht! Das Wogen der Äste hatte es verraten – ein gelblicher Schein durchfuhr kurzzeitig das schier endlose Weiß um sie herum. Sie beschleunigte ihre Schritte, zumindest soweit es ihre Wanderschuhe zuließen, die mit jedem Tritt spürbar im Schnee versanken. Doch die Hoffnung, bald wenigstens eine Heizung, vielleicht sogar ein heißes Getränk vorfinden zu können, beflügelte sie.
Eine Hütte ragte dort auf, erkennbar erst nur als Schemen vor den weißverschneiten Ästen der Bäume. Ein schmaler Waldweg führte darauf zu und – ihre Hoffnung fand Erfüllung – ein warmes Licht, wie das einer Glühbirne, schien durch die Fenster hinaus in die Nacht.
Anja schaute, dass sie möglichst schnell auf den Waldweg gelangte, um zumindest beim Gehen nicht mehr bei jedem zweiten oder dritten Schritt über das Wurzelwerk zu stolpern. Ihre Schritte knarzten vernehmlich und im Licht des Hauses sah sie, wie ihr Atem mit jedem Tritt als weiße Wolke vor ihr aufstieg.
Wie lange war sie jetzt eigentlich schon hier draußen? Und wie kalt mochte es wohl sein?
Sie konnte im Inneren des Hauses nicht viel erkennen – Eisblumen entlang der Scheiben versperrten ihr jedwede Sicht. Sie trat zwei, drei Mal kräftig mit den Wanderschuhen auf der Steinplatte auf, die vor der Eingangstüre gleich einer Fußmatte in den Boden eingelassen war, um nicht zu viel Schmutz und Wasser hinein zu tragen. Dann klopfte sie.
Für einen Moment stand sie draußen in fast vollkommener Stille. Kein Wind ging, kein Rascheln ertönte im Dickicht. Der Schnee legte sich sanft und ohne Klang auf die Landschaft nieder.
Anja hob gerade zum zweiten Mal ihre Hand empor, um zu klopfen, als sie glaubte, Schritte in dem Häuschen zu hören. Schnelle Schritte. Dann erklang ein kurzes, scharrendes Geräusch. Sie zögerte, war verunsichert.
Mehr von dem Wunsch getrieben, endlich der erbarmungslosen Kälte zu entkommen, drückte sie die Klinke herunter – und die Türe sprang auf. Anja fühlte sich nicht wohl bei dem, was sie tat, fühlte sich wie eine Einbrecherin, die unbefugt in den Privatbereich fremder Leute eindringt. Aber sie wollte sich doch nur wärmen! Sie sammelte sich, klopfte noch einmal am Türrahmen, wenngleich ihre Handschuhe das Geräusch großteilig verschlangen, und trat dann ein.
Der Raum vor ihr nahm in etwa die Hälfte der kleinen Hütte ein. Ein Tisch mit vier Stühlen stand in der Raummitte, eine Elektroheizung neben der Türe schenkte ihr augenblicklich die Wärme, nach der sie sich so gesehnt hatte. Zwei weitere Türen führten zu weiteren Räumen, doch kein Mensch war zu sehen. Die ganze Einrichtung wirkte zugleich rustikal und willkürlich, das übliche Bild einer Wohnung, die jemand mit Möbeln versehen hatte, die andernorts aussortiert worden waren.
Sie zuckte zusammen, als ihr Handy mit einem leisen Glockenklang vermeldete, dass es offenbar wieder ein Netz gefunden hatte. Sie lächelte kurz – selbst wenn hier keine Gastfreundschaft zu finden war, konnte sie jetzt wenigstens ein paar Freunde anrufen und bitten, sie abzuholen. Falls sie herausfand, wo genau sie eigentlich war.
»Hallo?«, fragte sie zögerlich in den Raum hinein, ihre eigene Stimme als schrecklich fremd empfindend. »Jemand da?«
Eigentlich war die zweite Frage mehr rhetorisch gewesen, sie hatte die Schritte ja gehört, doch nun grüßte sie einzig Schweigen. Sie atmete erneut tief durch und ging dann langsam in den Raum hinein. Eine dampfende, halbvolle Tasse Tee stand auf dem Tisch, offenbar in einem kleinen Kessel auf einer portablen, elektrischen Herdplatte in der Raumecke zubereitet.
Auf eine absurde Art und Weise beruhigte sie der Tee. Für einen Moment hatte sich der Gedanke an diese Filme, in denen junge Menschen in der Wildnis stranden und dort dann von irren Waldbewohnern aufgelesen, gefoltert und getötet werden, unangenehm in ihrem Kopf ausgebreitet, aber der Tee sprach für sie dagegen. Das passte nicht.
Vorsichtig ging sie auf die rechte der beiden Türen zu, die aus dem Raum herausführten. Sie öffnete sie mit einer leichten Bewegung und fröstelte direkt, denn das große Fenster des offensichtlichen Schlafraumes, den sie hier entdeckt hatte, stand sperrangelweit offen und die kalte Nachtluft wehte, in kecker Begleitung einiger, weniger Schneeflocken herein. Ein violetter Vorhang tanzte im Takt der Böen, sonst regte sich auch in diesem Raum nichts.
Anja trat zum Fenster, um es zu schließen, als ihr Blick neben das massive, alte Bett fiel. Mit einem Mal schien ihre Welt an Farbe zu verlieren. Zumindest alle Farben außer Rot schienen ihrer Wahrnehmung zu entschwinden, der Klang ihrer eigenen Schritte erschien ihr ebenso dumpf wie der Schrei, den sie ausstieß.
Fassungslos starrte sie auf die junge Frau, die dort, mit halb zerrissenen Kleidern, in ihrem eigenen Blut lag und sie mit toten, leeren Augen anblickte.
Das rhythmische Schlagen der Scheibenwischer und das konstante Geräusch, das aus dem Zusammenwirken von Schnee und Reifen entstand, begannen langsam, zu einem Schlaflied zu werden. Müde blinzelte er in die Nacht hinaus, sah aber kaum mehr als die Schneeflocken, die direkt in das Licht seiner Scheinwerfer gerieten.
Nicht zum ersten Mal in dieser Nacht fragte sich Phillip Kreil, was er hier draußen machte. »Ein geistig gesunder Mensch wäre jetzt daheim«, murmelte er zu sich selbst.
Offenbar war er kein geistig gesunder Mensch. Ansonsten wäre er vermutlich nie Journalist geworden. Dann müsste er jetzt auch nicht, in dem, was die ersten Ausläufer des schlimmsten Schneesturms des Jahres sein dürften, seine Heimreise von einem Termin antreten. Er würde dann vermutlich gerade neben seiner Frau einschlafen – ein Gedanke, den er schnell wieder aus seinem Kopf verbannte.
Finster wanderte sein Blick zu seiner eigenen Reflexion im Rückspiegel. Das graue Haar hatte mittlerweile ohne Zweifel seinen Rückzug eingeleitet und entblößte nun langsam zu viel von seiner Stirn, als dass er sich selber noch einreden könnte, Frauen fänden das sicher sexy. In seinen Augen schien allerdings noch immer der Schalk zu sitzen und das Grinsen, was ihm dieser Gedanke auf die ausgeprägten Wangen zauberte, bestätigte diesen Eindruck nur umso mehr.
Kreil blickte kurz auf die Uhr seines Armaturenbretts und verzog wie unter Schmerzen das Gesicht. Halb fünf in der Frühe. Selbst wenn er jetzt gut durchkam, würde er vermutlich gerade noch ins Schlafzimmer gehen können, um den Wecker auszuschalten und zur Redaktion zu fahren.
Ohne hinzuschauen griff er auf seinen Beifahrersitz und führte einen der Pappbecher zu seinem Mund. Drei seiner fünf »Coffee to Go«-Becher hatte er noch übrig. Das sollte eigentlich reichen, um aus diesem verfluchten Wald herauszukommen. Er nahm einen kräftigen Schluck und war angenehm überrascht, wie warm die Brühe noch war. Der Schneesturm würde vermutlich in der Stadt erst morgen richtig losschlagen und bis dahin hatte er dann noch genug Zeit, sich mit einem guten Buch an den Ofen zu kuscheln. Oder in der Redaktion zu arbeiten. Zuhause –
Er unterbrach seinen eigenen Gedankengang. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt, auch wenn er sich teils selber wünschte, dass dem nicht so wäre. Ein Lichtschein in der Dunkelheit, flackernd und blau. Vielleicht ein Streifenwagen am Straßenrand? Ehe er sich selbst davon überzeugen konnte, dass es eigentlich dringend Zeit war, heimzufahren, ging er etwas vom Gas und schaute suchend den Streckenrand ab.
Da! Da war es wieder!
Es war nicht am Straßenrand, korrigierte er sich selbst, sondern scheinbar mitten im Wald. Neugierig suchte er das Dickicht ab, folgte mit dem Auge den Straßenpfosten, die aus dem Neuschnee aufragten und fand schnell, was er suchte. Ohne weiter auf die mahnende, innere Stimme zu hören, die ihn auf die fortgeschrittene Uhrzeit hinweisen wollte, lenkte er den Wagen auf den Waldweg und fuhr dem Lichtsignal entgegen.
Zu seiner Freude fuhr er sein Auto nirgendwo fest, sondern näherte sich dem Streifenwagen bis auf wenige Meter. »Und jetzt?«, fragte er sich selbst, mahnte sich, die Selbstgespräche bald wieder einstellen zu müssen und hatte eine Idee. Er ergriff die beiden verbleibenden Kaffeebecher und öffnete die Wagentüre.
Die langen, kalten Greifarme des Winters bahnten sich augenblicklich ihren Weg in das Innere des Fahrzeugs und Kreil sah zu, schnell die Becher auf das Wagendach zu stellen, seinen Mantel zu schließen und den Schal enger um sich zu schlingen, bevor er auch nur einen anderen Schritt tat.
Er schloss die Türe, griff sich die beiden Becher und steuerte langsam auf die Hütte zu.
Er hatte schon den Streifenwagen passiert, als dessen Türe aufflog und ein Polizist ebenfalls in die Kälte trat. Hätte Kreil raten müssen, so hätte er darauf getippt, dass der junge Mann das Heil in der Wärme des Wagens gesucht hatte und ihn jetzt erst bemerkte, als er in den Lichtkegel des Polizeiautos trat.
»Entschuldigen Sie, Sie können hier nicht einfach –«
»Schönen guten Abend. Schrecklicher Schneefall, oder?«, fiel Kreil ihm ins Wort. ‚Abend‘ war natürlich relativ, aber ‚Morgen‘ wirkte auch unpassend inmitten dieses eisigen Panoramas aus Weiß und Schwarz. Die Fröhlichkeit seiner Anrede hatte dagegen etwas Entwaffnendes.
»Ja, das sicherlich. Hören Sie, ich kann Sie nicht durchlassen, das hier ist ein Tatort.« Der junge Polizist wirkte wirklich verfroren und übernächtigt zudem. Er stellte den Kragen seiner Jacke auf und rieb sich die Hände.
»Ist Ihnen auch so kalt wie mir? Ich sage Ihnen, selbst mit der Heizung im Wagen hab ich auf der Fahrt gerade gefroren.«
»Ja … Ich muss Sie trotzdem bitten, zu gehen«, beharrte der Beamte unsicher.
»Ich sag Ihnen was«, spielte Kreil seinen Trumpf, »ich lasse Ihnen meinen Kaffee hier und bringe dem Herrn Kommissar nur schnell seinen. Danach verschwinde ich wieder.«
Das mit dem Kommissar war natürlich gepokert, aber wenn es schon ein Tatort war, war es einen Versuch wert, darauf zu spekulieren. Fast schon verzückt beobachtete er den nahezu gierigen Blick, den der junge Polizist auf einen der beiden Kaffeebecher gerichtet hat. Er zögerte – und zögerte lange genug, damit Kreil wusste, dass er gewonnen hatte. Er streckte den angestarrten Becher dem Beamten leicht entgegen. Als dieser ihn ergriff, machte der Journalist auf der Stelle kehrt und hielt auf das Haus zu, bevor der junge Mann es sich noch anders überlegte.
»Was willst du denn hier?«
Kreil schaffte es nicht einmal ganz durch die Fronttüre, als die Adleraugen Kommissar Gelbachs ihn erfassten. Der Reporter überging das »du« in den Worten des Kommissars – das genaue Maß ihrer Anrede schwankte ohnehin von Treffen zu Treffen – und er beschloss, heute höflich zu sein.
»Guten Morgen«, grüßte er. »Ich hab Ihnen Ihren Frühstückskaffee gebracht.«
Sie kannten sich und hatten zwar über die Jahre gelernt, dass es in der Natur ihrer beiden Berufe lag, dass sie sich regelmäßig in die Quere zu kommen drohten, doch diese Erkenntnis hatte Gelbach bisher nie dazu bewogen, es Kreil irgendwie leicht zu machen.
Kreil hielt dem Polizisten seinen letzten Coffee-to-Go entgegen. Gelbach trat durch den Raum herüber und nahm den Becher entgegen, doch der Blick in seinen Augen glich weiterhin einer Sammlung eisiger Nadeln. Überhaupt war Gelbach eine einprägsame Erscheinung. Ein markantes Gesicht, von einer dicken Haut eng umspannt, wache Augen und kräftige Brauen. Er war hager, doch bewegte er sich stets auf eine Art, die Kreil irgendwie an einen Habicht erinnerte. Ein Raubvogel, der ihm nun den Kaffee entriss. Dennoch gab ihm das zumindest Zeit, den Raum einmal kurz anzuschauen.
Rechteckig, die Eingangstür auf der langen Seite. An der Wand gegenüber zwei Türen, ansonsten vier Fenster an den drei Außenwänden. In der Mitte stand ein schöner, ovaler Tisch mit vier Stühlen, dazu eine Heizung und eine Herdplatte, beides elektrisch. Der Strom erschien Kreil kurios, hier, mitten im Wald, doch als er mit den Augen den Wänden folgte, entdeckte er noch zwei weitere Steckdosen. Von dort aus folgte sein Blick dem Kabel einer Mehrfachsteckdose entlang zu zwei Netzteilen, ging dann weiter deren Kabeln nach bis zu dem Tisch – und stockte. Offenbar fehlten beide Endgeräte.
»Danke für den Kaffee, Kreil«, riss ihn Gelbach aus seinen Überlegungen, »aber jetzt ist es Zeit zu gehen.«
»Was ist denn eigentlich vorgefallen?«, fragte er mit einer Unschuld, die ihm in dieser Situation schon fast absurd vorkam.
»Ich könnte Sie verhaften lassen«, fuhr Gelbach fort. »Störung einer Amtshandlung. Dann hängen sie mindestens bis morgen Vormittag fest und die Spurensicherung kann gleich in Ruhe ihre Arbeit machen.«
»Die Spurensicherung war also noch nicht hier?«
Die Augen des Polizisten verengten sich zu Schlitzen.
Schnell blickte Kreil von ihm weg, damit sein breites Grinsen den Moment nicht zerstörte. Erst als er die Mundwinkel wieder unter Kontrolle hatte, drehte er sich um und schaute erneut in die harte Miene des Kommissars.
»Geben Sie mir irgendwas, Gelbach. Meinen Sie, ich steh gerne hier mitten im Wald? Nur eine grobe Richtung.«
Er konnte sehen, wie der Kommissar scheinbar langsam im Stillen bis fünf zählte. Ein Blick zur Tür, einer zum Nebenraum, dann ein langer, langer Blick auf Kreil.
»Also gut. Mord. Junge Frau, Ende 20, Anfang 30 würde ich schätzen. Mit dem Durchwühlen ihrer Handtasche wollte ich warten, bis die Spurensicherung da ist, insofern gibt es noch keinen Namen, den ich der Presse aber ja sowieso vorenthalten würde. Es gibt Hinweise auf ein Sexualdelikt, aber das müssen mir die Pathologen sagen.«
»Wie ist sie gestorben?«
»Durch einen aufgesetzten Schuss in den Kopf.«
Kreils Augenbrauen gingen unmerklich hoch, doch Gelbach entging das nicht. Was Feinheiten betraf, so hatten sie sich nie viel getan. »Frag nicht mich«, ergänzte er, »frag den Täter.«
»Gibt es denn schon einen Hinweis darauf, wer der Täter sein könnte?«
»Ohne die Identität des Opfers ist das alles sehr spekulativ. Die Zeugin, die uns den Leichenfund gemeldet hat, hat niemanden am Tatort gesehen. Vielleicht aber gehört. Spuren rund um das Haus kann man bei dem verdammten Schneefall ja eh vergessen.«
Kreil dachte kurz nach, gelangte dann aber zu einer Entscheidung.
»Danke Gelbach, das reicht mir schon.«
Er erkannte die Verwunderung in den Zügen des Kommissars und sah, wie sie langsam Misstrauen wich. Aber, da war sich Kreil sicher, hier würde sich ohnehin nichts mehr ergeben.
Als er wieder in seinem Wagen saß und sich rückwärts seinen Weg aus dem Wald heraus ertastete, rasten seine Gedanken bereits. Sexualverbrecher erschießen ihre Opfer selten mit aufgesetzter Waffe. Welche Blockhütte im Wald hat schon sauber verlegte Steckdosen? Und was waren das für Netzstecker, deren Endgeräte fehlten? Wo waren die Endgeräte?
Er war neugierig geworden. Und er hatte auch schon eine präzise Idee, wo er morgen anfangen würde.
»Wirst den Wecker selbst ausmachen müssen …«, murmelte er, halb zu sich und halb zu seiner abwesenden Frau. Dann legt er den ersten Gang ein und fuhr langsam durch den unerbittlich fallenden Schnee der Stadtgrenze entgegen.
Schon die ersten Töne rissen sie aus den Träumen, aber Karin brauchte einen Moment, sich vollständig zu orientieren. Die grellen, roten Buchstaben ihres Weckers verkündeten blinkend »6:00«. Der Wecker hatte, per Zufallsverfahren, aus einer Sammlung von Liedern zu John Frusciante gegriffen, was unter den gegebenen Umständen nicht die unangenehmste Wahl war.
Karin rollte noch mal auf die Seite, versuchte sich das Kopfkissen über beide Ohren zu falten, aber die Nacht war vorbei. Es war eine dieser Morgenstunden, an denen der Weckruf einem erbarmungslos jede Chance genommen hatte, noch einmal einzuschlafen. Aber heute war das eine gute Sache. Zumindest, wenn man es objektiv betrachtete – und darauf hatte sie derzeit eigentlich keine Lust.
»Drecksbiest«, knurrte sie das kleine Plastikei an, das nun unter der Uhrzeit auch brav den Interpreten, das Lied und das Album vermeldete. »To Record Only Water for Ten Days« – irgendwie war das wirklich passend.
Murrend stieß sie die Bettdecke beiseite und schwang sich aus dem Bett. Es war kalt in ihrer neuen Wohnung. Sehr kalt. Schnell schlüpfte sie in ihre Hausschuhe und den Bademantel, um wenigstens irgendwas am Körper zu tragen, während sie sich ihren Tee vorbereitete. Sie stellte das Wasser auf, befüllte das Teeei und legte alles parat. Dann verschwand Karin erst einmal unter der Dusche.
Nach geraumer Zeit, von der sie die meiste mit dem heißen, fließenden Wasser und einen letzten Rest mit dem Kämmen ihrer langen Haare zugebracht hatte, erschien der junge Tag nicht mehr so grausam, wie es zu Beginn den Anschein gemacht hatte. Sie schlüpfte wieder in ihren Bademantel und zog sich mit einer dampfenden Tasse und dem Teeei in den Raum zurück, der bisher lediglich durch die kleine Couch als das zukünftige Wohnzimmer ausgewiesen wurde.
Während sie dort auf ihrem kleinen Tablet die ersten News des Tages sowie die Geschehnisse seit ihrem Schlafengehen in den anderen Zeitzonen dieser Welt sondierte und sie auf die belebende Wirkung des Tees hoffte, sickerte langsam aber sicher die Nervosität durch.
Heute stand ihr erster Arbeitstag an, ihr erster Tag als feste Redakteurin der hiesigen Presse. Vorbei die Zeit als freie Mitarbeiterin, vorüber das sorgenvolle Leben von Honorar zu Honorar, von Mietzahlung zu Mietzahlung.
Noch einmal nahm sich Karin das Begrüßungsschreiben vor und las es in dem bleichen Licht der aufgehenden Sonne, die sich mühsam über die Stadt erhob. Sie würde im Lokalbetrieb arbeiten, hieß es dort, allerdings sozusagen im Prestige-Bereich. Neuigkeiten, die zwar vor allem die Region betrafen, aber groß genug waren, Recherche und Vorbereitung zu rechtfertigen. Was auch immer damit genau gemeint war.
Als sie den Brief senkte, fiel ihr Blick zum ersten Mal auf die erwachende Stadt. Sie war zwar erst seit zwei Tagen hier, aber es gefiel ihr bereits jetzt. Aus ihrer Mansarde hatte sie einen hervorragenden Blick über die vielen Altbauten, die selbst die meisten Hauptverkehrsstraßen in ein erbarmungsloses Labyrinth zu zwingen schienen. Kein Haus schien mehr als vier Stockwerke zu haben, vermutlich sogar tatsächlich per Richtlinie, um das Stadtbild zu erhalten. Den Brief unterbewusst und den Tee sehr bewusst in der Hand haltend, trat sie an die große Fensterfront, die ihr den Blick nach draußen gewährte.
Es hatte über Nacht angefangen zu schneien. Ganz sanft fielen einzelne Flöckchen an ihrem Fenster vorbei dem Boden entgegen. Die Sonne hüllte die Silhouetten der Häuser, die im sanften Morgendunst aufragten, in ein zartes, helles Rosa. Das alles verlieh der Stadt noch einmal den zusätzlichen Hauch von Idylle, der dann letztlich doch ein erstes Lächeln auf ihr schmales Gesicht zauberte.
Zehn Minuten später war Karin angezogen. Die ersten Funde, die sie in den Umzugskartons gemacht hatte, waren eine braune Cordhose und ein mit etwas gutem Willen burgunderfarben zu nennender Pullover gewesen. Nicht die typische Kleidung zum ersten Arbeitstag, das war ihr auch klar, aber auch ganz Recht. Sie hasste es, wenn sie sich äußerlich verstellen musste und so würde sie wenigstens von Anfang an mit offenen Karten spielen. Sie war weder der Typ für Hosenanzüge noch für kurze Röcke.
Aber das wussten ihre neuen Arbeitgeber vermutlich eh. Immerhin hatten die sich bei ihr gemeldet, nicht anders herum. Und vermutlich viel Zeit damit verbracht, ihren Namen in allen erdenklichen Schreibweisen durch irgendwelche Internet-Suchmaschinen zu scheuchen.
Sie klappte den Umzugskarton wieder zu, als würde das ihrer Wohnung auch nur einen Hauch zusätzlicher Ordnung verleihen können, griff ihre Schlüssel und verließ das Haus.
Es war ein folgenschwerer Fehler gewesen, dämmerte es Kreil. Wieder und wieder sagte er sich, sein Glück an Automaten nicht mehr mit »Latte« zu versuchen. Doch gelegentlich überkam ihn doch wieder die Abenteuerlust und er riskierte es. Meist, wie heute, mit widerlichem Resultat.
Er ließ den halbvollen Becher in einen der Mülleimer in der Eingangshalle des Krankenhauses fallen, wanderte ohne auf die Bodenmarkierungen zu achten zu einem der Ein-Personen-Aufzüge und trat seine Reise in den Keller an.
Mit einer Geschwindigkeit, die einem das Gefühl gab, der eigene Magen rutsche die Kehle hinauf, rauschte die Kabine in die Tiefe und als sich die Türen mit einem schleifenden Geräusch öffneten, blickte Kreil auf einen kargen Gang mit einfachen, gekalkten Wänden. Aber es gab keine Besucher in diesem Teil der Pathologie, insofern sah man wohl auch keine Notwendigkeit, ihn mit Tapete oder gar Bildern zu verschönern.
Kaltes, weißes Neonlicht wies ihm den Weg und er schritt sicher auf eine der hinteren Türen zu. Er war schon öfter hier gewesen, kannte den einen oder anderen Mitarbeiter und wusste vor allem, was er an diesen Kontakten hatte.
Man sollte meinen, dass Türen zu einer Leichenhalle gesichert wären, doch die Praxis sah anders aus. Behutsam drückte Kreil die Klinke der schweren Türe herab und wappnete sich auf den unvermeidlichen Geruch.
Er hätte auch nicht gewusst, wie er den typischen Geruch einer Leichenhalle beschreiben sollte. Jeder, der einmal in einem Krankenhaus war, kannte diesen ganz klassischen Geruch der Flure dort. Jeder, der einmal einen Arzt aufgesucht hatte, verband ebenfalls für immer ein ganz bestimmtes Odeur damit. Die Pathologie war da noch einmal ganz eigen. Wer einmal dort war, vergaß dieses eigenwillige Aroma niemals, aber es schien fast unmöglich zu beschreiben. Süß, jedoch dumpf, ein wenig faul, aber ohne so gezielt den Würgereflex auszulösen, wie es etwa eine verdorbene Speise vermag.
Kreil nahm an, dass jemand, der jeden Tag in der Pathologie arbeitete, den Geruch irgendwann ausblenden konnte. Er jedenfalls konnte es nicht.
Er erspähte Dr. Norbert Hueck, den Mann, wegen dem er hier war, bevor dieser den ungebetenen Gast bemerkt hatte. Das Leichenschauhaus stand bis auf den leitenden Arzt bisher leer und Kreil sah zu, wie der Mann im weißen Kittel sich gerade interessiert mit einem Klemmbrett vor den Kühlkammern umsah.
Nach einem kleinen Moment beschloss der Journalist, durch ein leises Räuspern auf sich aufmerksam zu machen. Hueck fuhr herum, musterte seinen Gast erst erschrocken, lächelte dann zunächst erfreut, als er ihn erkannte und legte schlussendlich die Stirn in Falten, als er scheinbar ahnte, was zu dem Besuch geführt haben könnte.