Das letzte Klassentreffen - Karlheinz Lappler - E-Book

Das letzte Klassentreffen E-Book

Karlheinz Lappler

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Beschreibung

Klassentreffen unterliegen in der Regel psychologischen und soziologischen Gesetzmäßigkeiten. In der ersten Phase herrschen die erst kurz zurückliegenden Erinnerungen vor. In der Phase der Berufs- und Studienanfänger spielen Berufswahl für einen Start- oder vermeintlichen Lebensberuf die Hauptrolle. In der folgenden Phase treten Partner und Partnerinnen in den Lebenslauf ein, gefolgt von den Kindes- und Kindeskindern. Familiäre Schicksale fließen in der folgenden Phase ein und werden mehr oder weniger wichtig herausgestellt oder verschwiegen.

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Es ist schon lange her, vielleicht schon achtzehn Jahre oder mehr, als sich die Klassenkameraden nach ihrem Schulabschluss zum letzten Mal getroffen haben. Mehrere Anläufe waren gescheitert, meistens aus beruflichen und terminlichen Gründen. Das erste Treffen hatte noch gleich nach dem Ende ihrer Schulzeit am Johannes-Kepler-Gymnasium stattgefunden und jeder, der gekommen war, und es waren fast alle gekommen, berichteten damals schwärmerisch von ihren ersten Studien- oder Ausbildungsmonaten an der Universität oder in der freien Wirtschaft.

Aber nun hatte Claus, der ehemalige Klassensprecher in der Abschlussklasse, dem das Abstimmen und Abgleichen nach vielen Telefonaten, Briefen und Mails über viele Wochen langsam auf die Nerven ging und es ihm zu dumm geworden war, sich mit einem anderen Klassenkameraden, seinem Banknachbarn Georg, zusammengetan, einfach eine abgelegene Hütte in den oberbayerischen Bergen ausgekundschaftet und gemietet. Sie war nicht zu hoch gelegen, da sie die Kameraden, die sie mit ihrem Schreiben mehr ultimativ gezwungen als eingeladen hatten, dort zu einem bestimmten Termin einbestellt hatten.

„Wer kommen will, soll kommen, wer es nicht schafft, wird leider ein interessantes, einmaliges Klassentreffen verpassen!“, schrieb er in seiner ziemlich befehlshaft verfassten Einladung.

Die Begrenzung auf zwölf Übernachtungsplätze, die er anbot, sollte den Druck auf die angeschriebenen Kameraden verstärken.

„Die Anmeldungen werden nach ihrem zeitlichen Eingang berücksichtigt!“, setzte er hinzu.

„Und erwartet keine großen Umstände. Wir sind Selbstversorger. Ich organisiere Essen und Getränke.“

»Ist das nicht ein wenig scharf formuliert«, versuchte sein Mitstreiter in dieser Sache einzuwenden.

Die Rückmeldungen waren enttäuschend. Aber Claus dachte: »Lieber weniger, als ein unübersichtlicher Haufen, mit dem ich in der Schule ohnehin nie richtig etwas anfangen konnte. Der macht nur viel Arbeit.«

Claus nahm an, dass jetzt eigentlich alle – vielleicht mit einigen Ausnahmen – sich wie er selbst im Ruhestand befinden müssten. Darum sollte es zeitlich besser klappen als vor einigen Jahren, in denen nichts zusammen gekommen war und kein Treffen stattfand.

Letztlich ging die Rechnung der beiden Organisatoren knapp auf. Nur zwei, die sich leider verspätet angemeldet hatten, mussten abgewiesen werden.

Der vereinbarte Tag im Herbst war schließlich gekommen. Die Sonne war gerade über den östlichen Gipfeln des Werdenfelser Landes aufgegangen. Schon früh war Claus, als der Hauptorganisator des Klassentreffens, von zu Hause aufgebrochen, um vor allen anderen am Veranstaltungsort zu sein. Die Hütte, die er gemietet hatte, lag nicht weit von Mittenwald entfernt. Werner war zu seiner Unterstützung nur eine geringe Zeit später an der Hütte angelangt.

Claus wartete schon vor dem Eingang der Hütte und genoss die frühen Sonnenstrahlen. Einen Teil der Lebensmittel und Getränke hatte er schon nach drinnen getragen und verstaut. Den Rest erledigte er zusammen mit Georg. Sie hatten nun Zeit, zu beobachten wie seine früheren Mitschüler mit ihren Autos die Serpentinen der schmalen Bergstraße emporkrochen.

Armin, der promovierte Chemiker, natürlich in einer schweren schwarzen Limousine, machte den Anfang. Er parkte, da der große Platz noch bis auf Claus‘ Auto frei war, neben dessen Auto. Er nahm den kurzen Weg zur Hütte mit strammen Schritten, die ihn leicht außer Puste brachten. Da noch einige Minuten vergingen, bis zwei weitere Teilnehmer, geradezu wie ein Gespann hintereinander am Horizont auftauchten, blieb den dreien, Claus, Werner und Armin, Zeit, einen ersten Smalltalk zu beginnen und schon erste Eindrücke zum Wetter und der sonnigen Entwicklung des Tages auszutauschen. Sich nach sehr langer Zeit wieder zu sehen und die Vorfreude auf ein gemeinsames Zusammensein war zu spüren:

»Schön euch wieder zu sehen. Doch deine Einladung war aber sehr trocken und schmucklos gehalten!«, brachte Armin vorsichtig schon eine erste Kritik an.

»Wie zur Schulzeit. Du findest immer einen Kritikpunkt!«, gab Claus lachend zu.

»Was soll‘s, der Zweck heiligt die Mittel! Es war schon nötig ein wenig Druck auszuüben«, war die Entgegnung von Claus.

»Wie geht‘s sonst? Haben uns ja lange nicht gesehen«, lenkte Armin rasch auf ein anderes Thema.

»Muss ja! Es geht schon« Claus war noch immer sehr wortkarg.

War es Nervosität oder die Anspannung, ob sein organisatorischer Aufwand die Erwartungen seiner früheren Mitschüler erfüllen würden. Da sich keine weiteren Gesprächsinhalte ergaben, war Armin froh, dass neuankommende Teilnehmer ihr Ziel soeben erreichten. Zwei Mittelklassewagen wurden auf der Parkfläche unterhalb der Hütte abgestellt. Alfred, der Fabrikant und Ludwig, der Musiker, parkten neben dem schweren Gefährt des zuvor Eingetroffenen. Zum Glück für die Autofahrer hatte der Erbauer und Besitzer der Hütte genügend Parkplätze eingeplant.

»Hallo zusammen! Kommen wohl öfter Gäste mit dem Auto herauf? Herauflaufen möchte ich nicht«, war der Begrüßungskommentar von Alfred, der seit der Schulzeit einiges an Gewicht zugelegt hatte.

»Die wenigen PS meines Autos haben gerade noch ausgereicht für diese Bergfahrt«, sagte Ludwig und deutete auf seinen alten, klapprigen 2CV.

»Was will denn ein Taxi hier oben«, sagte Claus und deutete auf ein eben eintreffendes cremefarbiges Fahrzeug.

Das Taxi hielt. Der Insasse verweilte noch im Fahrzeug, zahlte den Fahrpreis und stieg aus. Der Taxifahrer folgte ihm zum Fahrzeugheck und öffnete den Kofferraum, von wo der Fahrgast einen Rucksack und eine Tasche entnahm. Ein älterer, grauhaariger Herr blickte zur Hütte hinauf. Er hielt sich die Hand schützend an die Stirn und winkte dann den oben Wartenden zu.

»Das ist ja der Erwin!«, sagte Ludwig, der als Erster den näherkommenden Mitschüler aus früheren Zeiten erkannte.

»Er ist ganz schön alt geworden.«

»Wie wir alle!«, meinte Claus kurz angebunden.

»Wenn man ohne Auto ist, muss man andere Verkehrsmittel benutzen. Erst den Zug, dann ein Taxi«, bemerkte Erwin, nachdem er das kurze Wegstück nach oben zurückgelegt und sein Gepäck vor die andern am Vorplatz vor der Hütte abgesetzt hatte.

Gerhard kam mit seinem in die Jahre gekommenen Mercedes-Diesel den Berg herauf. Nicht bei allen wurde der Schulkamerad so herzlich begrüßt, wie es bei den anderen auffällig geschehen war.

Die wartenden Mitschüler standen nun im Halbkreis zusammen und schauten immer wieder auf den Zufahrtsweg zur Hütte ins Tal hinunter, auf dem sich ein Motorrad näherte.

»Ich wette, das ist der Werner!«, meinte einer.

Der Motorradfahrer winkte schon in der letzten Kehre zum Berg hinauf.

»Der Werner war schon immer ein besonderer Typ.«

»Ein Individualist eben.«

»Wer fehlt denn noch?«, wollte Ludwig wissen.

»Nach den Anmeldungen müsste noch der Günther kommen. Walter und Helmut haben mir telefonisch mitgeteilt, dass sie erst am Spätnachmittag eintreffen werden«, erklärte Claus. »Sie haben den weitesten Anfahrtsweg.«

Die oben Versammelten begrüßten mit einem vielstimmigen, lauten „Hallo“ den Motorradfahrer, der seinen Helm abgenommen, ihn auf den Unterarm gesteckt, und seinen Rucksack auf den Rücken geschwungen hatte.

»Na, da kann ich jetzt ja schon mit einigen Erklärungen beginnen!«, sagte Claus und unterbrach das Durcheinander der Begrüßungsgespräche.

Kaum hatte Claus mit seinen Erklärungen begonnen, steuerte ein Kombi mit einer merkwürdigen, jedoch deutlich lesbaren Werbeaufschrift den Parkplatz an. Zu lesen war: „Tanz- und Gymnastik-Club“. Dem Fahrzeug entstiegen ein Mann und eine zierliche Frau.

»Gehört der zu uns? Der wird doch nicht eine Frau mit heraufbringen!«, frotzelte Armin.

»Nein, schau doch, die verabschieden sich gerade«, bemerkte Alfred.

»Ja, wir haben Glück und bleiben unter uns. Die Frau fährt ja schon wieder.«

Der Kombi verließ den Parkplatz und bewegte sich die Serpentinenstraße abwärts.

»Jetzt sehe ich es erst, das ist der Walter.«

Claus war bemüht, sich mit seinen organisatorischen Erklärungen durchzusetzen.

»Also, ich habe eine Art Fahrplan oder Essensplan gemacht, was wir wann essen, den lese ich euch kurz vor. Ich hoffe ihr seid mit allem einverstanden, denn es wird euch nichts anderes übrigbleiben, denn wir können nur das essen, was da ist. Wie ich euch schon geschrieben habe, sind wir nämlich Selbstversorger.«

Kritische Stimmen erhoben sich kaum, da jeder froh war, dass Claus, der als guter Organisator bekannt war, im Vorfeld einiges an Vorbereitung, wenn nicht alles, übernommen hatte.

Claus erklärte die Einteilung und Zuordnung der Schlafplätze.

»Zu den Schlafplätzen: Wir haben vier Einzelzimmer und vier Doppelzimmer zur Verfügung. Die Doppelzimmer haben Stockbetten. Ihr müsst euch untereinander einigen, wer mit wem sich ein Zimmer teilt und wer ein Einzelzimmer beansprucht. Die Zimmer sind alle nicht sehr groß. Nicht so groß, wie ihr es wohl von euern üblichen Hotelaufenthalten gewohnt seid. Halt! Fast hätte ich es vergessen. Hier im unteren Bereich gibt es noch zwei kleine Kammern.«

Erstaunlich, dass es auch hier kaum keinen Widerspruch gab. Schnell waren alte Beziehungen und Kameradschaften aufgefrischt und man hatte sich auf die Zimmerverteilung geeinigt. Nur Gerhard fand keinen Zimmergenossen und er zog schließlich eine Kammer vor.

Es wurde der Zeitpunkt des Abendessens bekannt gegeben und alle fanden sich wider Erwarten pünktlich im Aufenthaltsraum der Hütte ein, die von allen als komfortabel und großzügig ausgestattet gefunden wurde.

»Endlich einmal kein 5-Sterne-Hotel, auch wenn mir eine Kühlbox neben dem Bett fehlen wird«, stellte Alfred fest.

»Du wirst schon genügend kühle Getränke hier in der Küche nebenan vorfinden«, bemerkte Claus.

»Jetzt habe ich noch eine erfreuliche Information bekannt zu geben. In meinem Einladungsschreiben erwähnte ich, dass wir Selbstversorger sein werden. Durch gute Beziehungen konnte ich eine Fachkraft aus dem Restaurant meines Lieblingsitalieners speziell für uns verpflichten, die uns kulinarisch verwöhnen wird. Allerdings kann sie erst morgen bei uns sein!«

Die versammelte Gruppe drückte spontan ihre freudige Begeisterung aus.

»Also wenn alle versammelt sind, können wir mit dem Essen beginnen«, drängte Armin, der beim Platznehmen an der Stirnseite des langen Holztisches schon seinem Appetit Ausdruck verlieh.

Da nun auch Walter und Helmut mit einer halbstündigen Verspätung eingetroffen waren, war das Klassentreffen vollzählig.

»Also Leute, da heute ein so schöner warmer Tag war, lasst uns mit einem „Bayerischen Wurstsalat“ mit viel Bier beginnen. Oder ist ein Mineralwassertrinker unter euch?«, fragte Claus in die Runde.

»Aber für mich bitte mit nicht so viel Zwiebeln. Die vertrage ich nicht so gut«, wehrte Ludwig ab, als Claus die Teller verteilte, die er in der Küche vorbereitet hatte.

»Dann schieb sie doch einfach zur Seite. Es zwingt dich keiner dazu, sie zu essen«, wies Claus den Einwand ab.

Es gab viel Gesprächsstoff am ersten Tag des Zusammentreffens über die zurückliegenden Jahre schon vor und während des Essens auszutauschen, in denen jeder voll mit seinen eigenen beruflichen und familiären Bindungen die anderen nach all den Jahren auf den neuesten Stand brachte. Jedoch merkten die Teilnehmer rasch, dass keiner an den individuellen Gegebenheiten der anderen so wirklich vertieft interessiert war. Alle hatten schon eine gewisse Zeit Abstand zum Berufsleben. Sie befanden sich jetzt in der Lebensphase danach.

»Ich bin froh, dass ich aus dieser Mühle heraus bin.«

»Ein, zwei Jahre hätte ich schon noch durchgehalten. Aber wenn man als Älterer die Situation betrachtet, sind die Jungen froh, wenn so einer wie ich freigesetzt wird.« Man hörte noch ehrliche, aber auch jammernde Worte.

»Was wollen wir heute noch tun, nur über unsere alten Jobs reden?«

»Sollen wir uns besaufen, wie damals auf der Abschlussfeier?«

»Nee, bloß nicht. Es kommen ja noch zwei Tage.«

»Und Abende!«, lachte Armin.

»Wir könnten noch Karten spielen oder ein Gesellschaftssiel. Karten sind da, aber kein „Mühle-Brett“, kein „Mensch ärgere dich nicht“, nicht einmal Würfel. Das was wir früher immer so gern gespielt haben?«

»Bedenke, wir sind aber schon einige Jahre älter geworden!«

»Aber das Spielen wird doch keiner verlernt haben!«

»Das nicht, aber ich bin nicht 450 Kilometer hier her gefahren, um Spielchen zu machen!«

»Du warst früher schon immer der Spieleverlierer!«

»Lasst das Gezänke! Dazu sind wir wirklich nicht hergekommen!«, beendete Claus die halbernsten Streitigkeiten.

»Wir könnten uns Geschichten erzählen, Stories, die noch keiner von uns kennt, die neu sind, wo auch keiner von uns dabei war!«

»Gut. Dann fang du schon mal damit an«, griff Armin in das Gespräch ein.

Erwin war überrascht, ja förmlich überrumpelt von der plötzlichen Aufforderung Armins.

»Ja, wenn ihr meint und alle einverstanden sind«, sagte Erwin mit einem gewissen Zögern. »Ich bin vermutlich am längsten aus dem Berufsleben heraus.«

»Mit meiner Geschichte möchte ich euch den schicksalshaften Lauf meines Lebens erzählen, der von Glück und Unglück geprägt ist.« Die Aufmerksamkeit für seine Geschichte war schlagartig bei der gesamten Gruppe da.

»Es begann mit dem Abriss und dem Wiederaufbau des Hauses auf der genüberliegenden Straßenseite. Anfangs verfolgte ich zwar das Geschehen mit Interesse, doch versperrte mir das neue Bauwerk zukünftig meinen gewohnten Ausblick, da der Bau zwei Stockwerke höher hochgezogen wurde.

Ich war zusehends verärgert, als das Gebäude gegenüber bezugsfertig stand und zog in einer hilflosen Wut die Vorhänge in meinem Zimmer zu. Ich fühlte mich nicht mehr richtig zu Hause, viel weniger als es früher der Fall war, zu Zeiten, in denen ich viel weniger dort anwesend war.

Einmal am Tag, außer sonntags, wenn ich dachte der Briefträger müsste auf seiner Runde an unserem Wohnblock vorbeigekommen sein, bequemte ich mich, meine Wohnung zu verlassen und nahm den Weg auf mich, die Treppen zum Hauseingang hinunterzusteigen.