Bei Fred an der Hotelbar - Karlheinz Lappler - E-Book

Bei Fred an der Hotelbar E-Book

Karlheinz Lappler

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Beschreibung

Sein Leben war nahezu vollständig durch seine Arbeit bestimmt. Hinter der Theke der Hotelbar war er zufrieden und glücklich. Er schätzte die Gäste und die Gäste schätzten ihn.

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Lange bevor die Schließung des Hotels offiziell bekanntgegeben wurde und jeder darüber einen Bericht in der Zeitung lesen konnte, munkelte man schon im näheren Umfeld, dass das Ende des renommierten Betriebes gekommen sei. Als dann die Kündigungen für das gesamte Personal versandt wurden, die sofort im Kreis der Beschäftigten die Runde machten, dort aufgeregt diskutiert wurden und sich wichtige Angestellte wie der Chefkoch und einige seiner Mitarbeiter in der Küche, zwei Rezeptionisten, der Oberkellner des Restaurants und vor allem der Hotelmanager selbst nahezu fluchtartig in Richtung anderer Betriebe aufmachten, wo sie umgehend, aber nicht immer gleichwertig unterkamen, war auch für den Barmann Manfred Czerwionczik, der vielen nur unter dem Kurznamen Fred bekannt war, der letzte Arbeitstag in Sichtweite. Fred trug es mit Fassung, denn er hatte nur noch wenige Monate bis zu seinem Renteneintritt durchzustehen. Doch er verwandt den Einschnitt vom beliebten, geschätzten Barmann zu einem plötzlich in eine Leere fallenden Rentner nicht leicht.

Die Jahre, die Fred dem Hotel und vor allem seinen Gästen diente, musste er immer wieder nachrechnen, denn es waren viele. Nach dem Zweiten Weltkrieg, der ihn als Oberschlesier in den Westen Deutschlands verschlagen hatte, musste er als junger Flüchtling erst Fuß fassen. Der Vater war im Osten verschollen und die Mutter hatte ihn bei der Flucht aus den Augen verloren. Er hatte sich allein in den Westen durchgeschlagen. Anfangs war er bei einer Kriegerwitwe untergekommen, die ihn, da sie Mann und Sohn verloren hatte, wie einen Mann- und Kindersatz versorgte. Doch nach Monaten war ihm die erdrückende Betreuung zu eng geworden und er suchte sich ein Zimmer in der großen Stadt. Er hatte eine gute Arbeit in einem Hotel gefunden und stand nun, da er vom Hilfskellner zum Barmann gewechselt hatte, auf eigenen Beinen.

Sein feiner, freundlicher Umgang mit Gästen im Hotelbetrieb war nur anfangs durch die fremd gefärbte Sprache mit kleinen Schwierigkeiten beeinträchtigt. Durch seine Beliebtheit bei den Stammgästen, die sofort nachfragten, wenn sie ihn bei ihrer Ankunft nicht gleich entdecken konnten, war er nach einigen Jahren im Hotelbetrieb nicht mehr wegzudenken.

So vergingen viele Jahre und keiner, weder Fred selbst noch die Gäste, die kamen und wieder abreisten, konnten sich vorstellen, dass es das Hotel einmal nicht mehr geben würde. Viele Tage und Abende liefen für Fred gleich oder ähnlich ab, doch es gab Momente, die Fred immer wieder ins Gedächtnis kamen, wenn er von seinem Zuhause kam und auf das Hotel zusteuerte. Oft verweilte er kurz vor dem Eingang, blickte stolz auf das Firmenschild des Hauses, um dann mit einem frischen Schwung, der ungewöhnlich für sein Alter war, die Stätte seines Arbeitsplatzes zu betreten.

Eines Abends, daran erinnerte sich Fred, der Barkeeper, noch gut, betrat ein Paar, intensiv diskutierend, die Bar. Ganz automatisch schwangen sich die beiden, ein großer, hagerer Mann und eine vollbusige brünette Frau, auf die Barhocker. Es war kurz nach dem späten Abendessen. Beide kamen aus dem Theater, wo sie ihre letzte Vorstellung in dieser Saison hatten.

»Wenigstens im Schlussakt hättest du ausdrucksstärker spielen können, Wilfried.«

»Ach, es war doch schon egal, das Parkett war nur zu Zweidrittel gefüllt und man merkte das Desinteresse des Publikums.«

»Aber trotzdem, wenn du mit mir spielst, erwarte ich mehr. Denn negative Kritiken färben auch auf mich ab.«

»Was interessieren mich die Kritiken!«

»Mich schon, ich spiele doch die Hauptrolle im Stück.«

»Das heißt aber noch lange nicht, dass deine Rolle die Wichtigste im Stück ist.«

»Ach, hör auf. Lass uns endlich was bestellen. Der Barkeeper wartet schon. Er will dein Genörgel nicht hören.«

»Gut, ich nehme einen ... Was nimmst eigentlich du?«

»Weiß noch nicht, irgendetwas länger Anhaltendes, nicht was man nur hinunterschüttet.«

»Was können Sie uns denn empfehlen?«, wandte sich der Mann an den Barkeeper, der den Dialog mitgehört hatte.

»Wünschen Sie einen kleinen Cocktail oder einen Longdrink?«

Der Barmann listete eine Reihe von den bekanntesten Drinks auf.

»Also mir ist es egal. Ich nehme dann einen „Screwdriver", ich glaube da hat man lange daran und kann dann gut schlafen«, sagte der Mann.

»Und für mich machen Sie bitte einen „Plunter's Punch"«, entschied sich letztlich die Frau an Fred gewandt.

»Sehr wohl die Herrschaften«, sagte Fred hinter der Bar und machte sich an die Arbeit.

»Aber trotzdem, fandst du deinen Auftritt nicht etwas zu schwach, nicht der Rolle eines Königs angemessen?«

»Es gibt auch Könige, die nicht unbedingt als Protze auftreten. Ich spiele so, wie es die Rolle verlangt und vor allem wie der Regisseur sie ausgestaltet haben will.«

»Und hat er sie so ausgestaltet haben wollen?«

»Bist du jetzt der Regisseur?«

»Du hast es doch genau mitbekommen, wie er sie beschrieben hat.«

»Und du richtest dich immer genau nach dem Regisseur? Du bist doch der bekannte Schauspieler. Den Namen des Regisseurs hat das Publikum bald vergessen. Du hast doch Einfluss darauf, wie die Rolle ausgestaltet werden soll.«

»Ja, aber ich beziehe die Absicht des Autors mit ein und orientiere mich an dessen Intensionen.«

»Und welche hatte er?«

»Er hatte die Intension, dass der König so dargestellt werden sollte, wie ich ihn gespielt habe.«

»Und woher wusstest du das?«

»Das spürt man, wenn man den Text vollständig und genau gelesen hat.«

»Soll das etwa heißen, dass ich den Text nicht gelesen habe?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber du hast das so gemeint.«

»Wie kommst du auf so etwas?«

»Das spüre ich, eine empfindsame Person wie ich, spürt so etwas.«

»Du musstest dich doch gar nicht mit dem gesamten Text befassen. Deine Rolle beschränkte sich doch nur auf die Hälfte des Stückes.«

»Willst du damit sagen, ich hätte nur eine Nebenrolle auszufüllen gehabt?«

»Nein, aber.... «

Jetzt stellte der Barkeeper die beiden Drinks auf den Tresen.

Das Paar nippte jeder an seinem Getränk.

»Schmeckt lecker«, sagte die Frau.

»Es ist trinkbar«, knurrte der Mann.

Sie nippten wieder.

»Ich glaube, so ein Drink reicht am Abend.«

»Kommt darauf an, was du noch vorhast.«

»Was soll ich noch vorhaben. Text lernen? Die Rolle nochmals durchgehen?«, giftete der Mann provokant.

»Schätzchen, das Stück ist durch, jedenfalls für diese Saison.«

»Was willst du immer noch mit dem Stück, entspann dich doch endlich.«

»Wie soll ich mich entspannen, wenn du immer noch nicht loslassen kannst.«

»Ich kann nicht loslassen? Ich habe mich von dem Stück längst verabschiedet.«

»Das habe ich deutlich im letzten Akt gemerkt, wie du als König agiert hast.«

Der Mann wollte gerade zu einer aggressiven Erwiderung ansetzen, da hob die Frau ihr Glas und sagte künstlich lächelnd: »Cheers, Schatz!«

Der Mann hob missmutig auch sein Glas. Sie nippten jetzt wieder beide.

»Jetzt ist aber Schluss mit dem Gerede über das Stück«, sagte der Mann. »Wer weiß wann wir wieder zusammen spielen.«

»Jedenfalls nächste Saison nicht«, sagte die Frau. »Ich bin die ganze Saison in Braunschweig.«

»Wenn ich in Freiburg spiele, werden wir uns höchstens einmal im Monat sehen.«

»Reden wir dann wieder über unsere Rollen?«

»Jetzt fang bloß nicht schon wieder mit dem König an. In Freiburg spiele ich einen Räuber.«

»Den Hauptmann oder nur eine Nebenrolle?«

»Glaubst du, ich gebe mich für eine Nebenrolle her?«

»Und du, spielst du wieder die Königin?«

»Ja, natürlich, jetzt wo ich in der Rolle schon drin bin.«

»Ich hoffe, du hast dann einen besseren König als mich.«

»Jedenfalls einen, der auf mich hört. Nicht nur was die Rolle anbelangt.«

Sie nippte an ihrem Drink.

Er schwieg.

Sie fuhr fort: »Summa summarum war es doch eine schöne Zeit, hier gemeinsam in einem Stück.«

»Wir könnten es ja in der übernächsten Saison wieder miteinander probieren.«

»Trink aus«, sagte er zu ihr mit einem Mal.

Und zum Barkeeper: »Schreiben Sie es auf das Zimmer 207.«

»Sehr wohl, der Herr«, sagte Fred.

Beide rutschten von den Barhockern. Er legte seinen Arm um ihre Hüfte und sie verließen langsam die Bar. Er hatte sie fest an sich gedrückt, so dass ihr Gang etwas ungelenk war. Als er sie auf ihren Nacken küsste, kamen sie fast ins Taumeln und kichernd betraten sie den Lift.

Fred, der Barkeeper sagte halblaut: »Schauspieler. Einfach nur Schauspieler!«

Fred ordnete gerade seine Flaschen, die sich hinter der Theke in einem verspiegelten Glasregal befanden, das von so überwältigender Breite war, um alle Spirituosen aufzunehmen, die er täglich oder nahezu täglich brauchte. Sein Kollege, auf weniger Akribie als er auf Ordnung achtend, hatte wie immer ein größeres Durcheinander nach seiner Schicht hinterlassen. Nun schob er Flaschen hin und her, stellte sie in die Regalhöhe, die er für praktisch und richtig hielt und drehte die Flaschen so, dass des Etikett deutlich zu lesen war.

Als die Seitentür der Bar aufging, drehte er sich nur kurz in diese Richtung um. Aber er stoppte dann und wandte sich mit einem Ruck der Person zu, die eben eingetreten war. Es war Veronika. Mit Veronika hatte er vier Jahre zusammengelebt. Mit ihr hatte er eine gemeinsame Tochter, Lisa. Merkwürdigerweise hatten sie jedoch nie geheiratet.

Veronika hatte damals vor 25 Jahren ebenfalls im Hotel gearbeitet. Sie war Kellnerin im Hotelrestaurant. Durch ihre Begegnungen während des Arbeitstages entstand anfangs eine freundschaftliche, dann eine vertraute Beziehung. Zu freien Arbeitszeiten gingen sie zusammen aus, ins Kino oder in den Botanischen Garten der Stadt. Veronika liebte Blumen.

Die unterschiedlichen Arbeitszeiten von Veronika und Fred brachten bald eine gewisse Entfremdung voneinander mit sich. Ihre Wege trennten sich ganz, als Fred für sich eine kleine Wohnung in Hotelnähe bezog. Von da an sahen sie sich nur sehr unregelmäßig, dann als Veronika einen Kraftfahrer kennen lernte nur noch zufällig.

»Was führt dich denn direkt zu mir hier her?

»Ich habe etwas zum Unterschreiben, es ist für Lisa, etwas Amtliches.«

Veronika entnahm ihrer Tasche ein Kuvert und legte es auf den Tresen.

Fred trocknete sich mit einem Tuch die Hände ab. Doch bevor er dann das Schreiben aus dem bereits aufgeschlitzten Kuvert zog, fragte er ohne aufzusehen:

»Wie geht es Lisa, was macht sie?«

»Willst du das wirklich wissen? Du hast dich lange nicht mehr um sie gekümmert.«

»Ja, ich weiß. Es tut mir auch richtig Leid, aber die Arbeit hier...«. Fred schwieg schuldbewusst.

»Lisa geht es gut. Sie hat ihre Ausbildung als Anwaltsgehilfin abgeschlossen und möchte jetzt weiter auf eine Schule gehen.«

»Das ist vernünftig. Man kann nie genügend lernen. Was soll ich jetzt unterschreiben?«

»Hier, dieses Schreiben vom Vormundschaftsgericht. Lisa wird in einem Monat achtzehn.

»Mein Gott, schon achtzehn, in vier Wochen.«

»Daran hast du wahrscheinlich nie gedacht.«

Fred nahm das Schreiben, überflog es kurz und unterschrieb an der Stelle, dort wo er „Vater" las. Veronika hatte schon an der für sie vorgesehenen Stelle unterschrieben. Fred faltete das Schreiben wieder zusammen und legte es auf das Kuvert.

»Warum hat denn dein Mann, der Herr Berger, nicht unterschrieben.«

»Erstens ist nicht er der Vater, sondern du. Zweitens hat er sie nie an Kindes statt angenommen. Und drittens sind wir seit zwei Jahren geschieden.«

»Du bist nicht mehr verheiratet?«

»Nein, wenn man geschieden ist, dann ist man nicht mehr verheiratet«, sagte sie spitz.

»Wie lange ward ihr denn verheiratet?«

»Es werden wohl fünf Jahre gewesen sein.«

»Warum hast du den Herrn Berger denn überhaupt geheiratet?«

»Das war eine Torschlusspanik. So seh' ich das heute«, sagte sie kurz, fuhr aber dann fort:

»Anfangs habe ich mir auch viel davon versprochen. Er war Kraftfahrer, er fuhr einen mittelgroßen Lkw und kam täglich nach Hause. Dann wechselte er die Stelle und fuhr nun im Fernverkehr, nach Dänemark oder in den Süden bis nach Palermo. Da kam er nur noch am Wochenende nach Hause. Er war dann zu nichts mehr zu bewegen, saß vor dem Fernsehgerät, trank ein Bier und schlief dann ein. Am Montagmorgen ging er dann wieder auf Tour. Ich hatte eine Tagesstelle in einer Kantine. Auf Dauer wollte ich dieses Leben nicht mehr so fortführen. Das war's dann. Aus. Fertig. Den Rest will ich dir gar nicht mehr erzählen.«

»Ich wusste das alles nicht«, Fred blickte auf den Boden.

»Das glaube ich dir gerne, woher auch.«

»Lisa würde ich gerne einmal sehen«, Fred sah wieder auf.

»Ich denke, sie traut sich nicht hier herein, obwohl sie bald alt genug ist, eine Bar zu besuchen. Außerdem würde sie dich nicht und du sie nicht erkennen.«

»Aber Grüße ausrichten kannst du wenigstens. Vielleicht kommt sie doch einmal vorbei.«

»Gut. Ich sag's ihr. Aber jetzt muss ich los. Eine Freundin vertritt mich an meinem Arbeitsplatz. Ich bin nur kurz weg. Ciao, Fred«, sagte sie und war schon zur Tür geeilt.

»Auf Wiedersehen, Veronika«, Fred murmelte die Worte nur.

»Du verdammter Narr«, sagte er zu sich selbst, nachdem Veronika bereits draußen war, »Im Verpassen von Chancen bist du der Größte.«

In seiner Verträumtheit, in den Gedanken, denen er jetzt nachhing, ließ er eine Flasche aus dem Regal fallen. Die Flasche zerplatze in ungezählte Scherben. Der teure Whiskey ergoss sich zwischen Regal und Theke. Fred war schlagartig wieder wach geworden.

Täglich musste sich Fred auf die verschiedensten Gäste einstellen, was nicht immer einfach war. Da war der Umgang mit den Angestellten, die im Hotel arbeiteten, einfacher, wenn auch nicht immer problemloser. Einer begegnete ihm täglich. Unauffällig und umsichtig bewegte er sich durch die Eingangshalle, die angrenzende Bar und in den Fluren zu den Gästezimmern, um Wasser in den Hydrokulturbehältern nachzufüllen, Papierkörbe in der Rezeption, im Sekretariat und in der Launch auszuleeren. Darüber hinaus erledigte er anfallende Arbeiten der Elektrik, eine defekte Glühbirne oder eine Leuchtstoffröhre auszutauschen. Der Mann in seinem grauen Arbeitskittel war Ante Plavac, der wie ein fast unsichtbarer Geist des Hauses sich in den Räumen bewegte. Sobald Gäste auftauchten, verschwand er leise und war nach wenigen Sekunden nicht mehr gesehen. Das schätzte das Hotelmanagement an ihm.

Ante hatte schon vor Jahren seine Heimat Jugoslawien verlassen. Was die Gründe dafür waren, hatte er bislang niemanden erzählt, nicht einmal Fred, dem Barmann, obschon er immer am frühen Morgen, wenn dieser seine Morgenschicht antrat, dort vorbeischaute.

»Zeit für einen Slibowitz«, rief ihm Fred beim Vorbeigehen gut gelaunt zu.

»Gerne, aber es soll keiner sehen«, antwortete Ante.

»So früh ist noch keiner in der Nähe. Wir sind ganz unter uns.«

Fred schenkte ein Glas ein und sagte: »Živjeli«