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dtv shorts Scott ist von dem berühmten Spieleentwickler Vince Powers auserwählt worden, dessen neues Spiel zu testen. Virtual Kombat, ein Video-Kampf-Spiel, das sich unglaublich echt anfühlt. Sobald die Spieler die Kampfwelt betreten, können sie nicht mehr zwischen der realen und der virtuellen Welt unterscheiden. Scott muss gegen immer stärkere Gegner antreten, um weiterzukommen. Doch als seine Rivalin Kate in der virtuellen Arena verschwindet, beginnt Scott sich zu fragen, ob das alles doch mehr ist, als ein Spiel …
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Seitenzahl: 79
Chris Bradford
Das letzte Level
Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Für Matt, einen treuen Freund
Ich kann den Blick nicht von den Kämpfern losreißen.
Donner, der Kickboxer, hat dem Zerstörer soeben die Vorderzähne ausgeschlagen. Der Schlag lässt den Zerstörer zurücktaumeln, er spuckt Blut. Aber er ist riesig und stark, senkt den Kopf wie ein Stier und greift Donner an. Seine Faust, mächtig wie ein Amboss, kracht in Donners Bauch. Donner klappt zusammen. Der Zerstörer erwischt ihn mit einem Aufwärtshaken genau an der Kinnspitze. Donners Körper wird durch die Luft geschleudert und fällt, schwer wie ein Sack Kartoffeln, mitten in der Kampfarena auf den Boden.
Die Zuschauer brüllen und jubeln.
Mir hat es den Atem verschlagen. Für diesen Kampf war Donner der absolute Favorit!
Donner stemmt den Oberkörper mühsam hoch. Der Zerstörer hebt die Fäuste bis zu den Ohren des Gegners und schlägt dann mit voller Kraft von beiden Seiten gegen seinen Kopf. Das ist der Schlag, der ihn berühmt gemacht hat – der Schädelbrecher.
Game over für Donner.
Auf dem riesigen 3D-Bildschirm über der Straße erscheint ein rot-schwarzes Logo, das den gesamten Bildschirm ausfüllt:
VK
Eine tiefe Stimme dröhnt: »VIRTUALKOMBAT. SOREAL, DASSESSCHMERZT.«
Es folgt ein Werbespot für Synapse-Drinks. Der Konzern ist der wichtigste Sponsor von Virtual Kombat. Ich versuche nicht hinzuschauen. Werbung bringt mich immer dazu, etwas haben zu wollen, das ich nicht haben kann.
Der Kampf ist vorbei, die Straßenkids verstreuen sich, huschen wie Ratten in die Seitengassen zurück, so wertlos wie der Müll, der die Stadt verschmutzt. Ungewollt. Unbeachtet. Vergessen.
Ich bin einer von ihnen. Scott. Eines der unzähligen Straßenkids.
Das Killervirus von 2030 hat mir die Eltern genommen. Es hat Millionen ausgelöscht. Seltsam war nur, dass es keine Straßenkids angriff. Als die Ärzte nicht mehr weiterwussten, behaupteten sie einfach, das Virus würde von uns Kids übertragen. Daraufhin jagten viele Eltern ihre eigenen Kinder aus dem Haus, trieben sie auf die Straße. Und als die Erwachsenen wegstarben, landeten natürlich auch unzählige Waisen auf der Straße. Jetzt sind wir Tausende, Abertausende.
Die ganze Welt verwahrloste, ging buchstäblich vor die Hunde. Bis schließlich die Armee eingriff. Sie verhängte Notstandsgesetze, und tatsächlich stellte sich allmählich wieder so etwas wie Ordnung ein. Aber der Schock saß zu tief: Die Menschen wagten sich nicht mehr aus den Häusern. Zwar war die Ausbreitung des Virus inzwischen wieder abgeflaut, aber die Erwachsenen fürchteten sich noch immer vor der Ansteckung. Die meisten Menschen flüchteten sich in ein Leben im Netz. Und damit begann die Erfolgsgeschichte von VK. Die Leute brauchten ein Ventil, irgendetwas, das ihnen die Möglichkeit bot, ihre Wut, Frustration und Verzweiflung hinauszulassen.
VIRTUALKOMBAT
REALISTISCHERALSJEDESANDEREKAMPFSPIEL!
Das jedenfalls wird in den VK-Werbespots immer behauptet. Und tatsächlich ist Virtual Kombat die Nummer eins der Kampfspiele auf der Welt. Monumentale Videowände stehen überall in der Stadt. Wie irre strahlende, kranke Sonnen, die niemals untergehen.
Gerade jetzt erscheint vor mir auf der Videowand ein riesiges 3D-Foto: ein Zing-Energieriegel. Schnell wende ich den Blick wieder ab. Zu spät: Mein Magen verkrampft sich. Das ist die reinste Folter.
Dann höre ich einen Fanfarenstoß und dumpfe Trommeln: die VK-Erkennungsmelodie. Die Werbepause ist vorbei und das Logo der Show erscheint wieder. Und wieder ist die Stimme zu hören: »REALISTISCHERALSJEDESANDEREKAMPFSPIEL! JEDERFEINDHATEINENEIGENENWILLEN!«
Zwei Ansager erscheinen auf dem Bildschirm und lächeln mit blitzend weißen Zähnen in die Kamera. Jetzt beginnt der Höhepunkt des Programms: Auf jeder der zehn Stockwerke hohen Videowände laufen nun Wiederholungen sämtlicher »Killings« des heutigen Tages. Köpfe werden abgeschlagen, Knochen gebrochen, Kämpfer getötet. Auf den monumentalen Bildwänden wird alles bis ins letzte grausige Detail sichtbar.
Danach erscheint die aktualisierte Bestenliste. Der Zerstörer hat sich um einen Rang verbessert, Donners Name ist verschwunden.
VIRTUALKOMBAT. SOREAL, DASSESSCHMERZT.
Ich selbst verspüre im Moment nur einen realen Schmerz – in meinem Magen. Seit Tagen habe ich nichts mehr gegessen. VK lenkt den Verstand vom Hunger ab. Solange die Sendung läuft, denkt man nicht so oft daran. Aber kaum ist sie vorbei, verkrallt sich der Hunger mit neuer Kraft im Magen.
Die Wiederholung will ich mir jetzt nicht mehr zumuten. Ich ziehe mich in eine schmale Seitengasse zurück. Dort stehen ein paar große Mülltonnen, direkt neben dem Hinterausgang eines Restaurants, in dem die Reichen und Mächtigen speisen. Oder jedenfalls diejenigen, die sich noch aus ihren Villen nach draußen wagen. Sofern man verspiegelte SUVs, verglaste Gehwege und riesige Shoppingcenter als »draußen« bezeichnen kann.
Mit ein bisschen Glück finde ich vielleicht ein paar Abfälle, die die Köche in den Müll geworfen haben.
Plötzlich höre ich jemanden brüllen: »Gib’s her!«
Im Halbdunkel der Gasse entdecke ich zwei Typen, die ein kleines Mädchen und einen Jungen in die Ecke getrieben haben.
Das kleine Mädchen schüttelt trotzig den blonden Kopf und presst eine braune Papiertüte an die Brust. Der größere der beiden Typen schlägt ihr brutal ins Gesicht und reißt ihr die Tüte aus den Händen.
Das Mädchen weint nicht. Straßenkids sind zäh. Aber selbst aus der Entfernung kann ich den roten Handabdruck auf ihrer Wange sehen.
»Lass meine Schwester in Ruhe!«, schreit der Junge und stellt sich zwischen das Mädchen und den Schläger. »Gib ihr die Tüte zurück, sie gehört uns!«
»Wer’s findet, darf’s behalten«, ruft der andere Schlägertyp spöttisch. Er ist kräftig gebaut und hat dunkelrotes Haar. Plötzlich stößt er den Jungen brutal zu Boden und lacht, als der mit dem Kopf hart auf dem Straßenpflaster aufschlägt.
Der andere hat inzwischen die Tüte geöffnet. »Du glaubst es nicht, Grizzly«, ruft er mit gierig glänzenden Augen. »Frisches Brot!«
Brot. Mein Magen knurrt laut. Was würde ich für ein Stück Brot nicht alles tun.
»Los, lass uns was essen, Cobra!«, fordert der Junge, der auf den Namen Grizzly hört, und will nach der Tüte greifen.
Cobra hält sie schnell außer Reichweite. »Pfoten weg.«
»He, komm schon«, bettelt Grizzly. »Die anderen merken es doch nicht, wenn ein Bissen fehlt.«
Während sie sich streiten, schleiche ich mich von hinten an, springe vor und entreiße Cobra die Tüte.
»He!«, faucht Cobra geschockt, als er herumwirbelt. »Das gehört uns!«
»Wer’s findet, darf’s behalten«, sage ich. Ich gebe mich furchtlos. Wer Furcht zeigt, ist in dieser Stadt so gut wie tot.
Wetten, dass sich Cobra und Grizzly immer nur kleinere Kids vornehmen? Vor solchen Typen habe ich keine Angst.
Aber es ist trotzdem ein riskantes Spiel. Zwei gegen einen.
»Es gehört euch nicht«, fahre ich fort und starre sie drohend an. »Und jetzt verpisst euch!«
Grizzly wirft Cobra einen unsicheren Blick zu, aber Cobra zieht ein abgebrochenes Stahlrohr aus dem Gürtel.
Sieht so aus, als hätte ich die Wette verloren.
Cobra holt aus und schwingt das Rohr gegen meinen Kopf. Ich lasse die Tüte fallen und springe vor, um seinen Angriff abzublocken. Dann packe ich seinen Schlagarm und verbiege ihn, bis er vor Schmerzen aufheult und das Rohr fallen lassen muss. Ich stoße ihn zu Boden. Im selben Moment greift mich Grizzly von hinten an und umklammert meinen Hals. Ich ramme ihm den Ellbogen in die Rippen. Er lässt los. Ich packe ihn und werfe ihn über meine Schulter. Er schlägt hart auf den Asphalt und ich trete ihn nicht sehr sanft in den Unterleib.
Cobra ist wieder aufgesprungen, aber statt erneut anzugreifen, packt er den stöhnenden Grizzly und zieht ihn auf die Füße. »Warte, bis Shark das erfährt«, faucht Cobra. »Der nimmt dich auseinander!«
Ich weiche nicht von der Stelle, während sie davonhumpeln. Aber meine innere Stimme schreit mich an: IDIOT!
Shark. Das ist keiner, mit dem man sich anlegen sollte. Nicht mal für eine Tüte voller Brotabfälle. Er hat einen schlechten Ruf. Aber woher hätte ich wissen sollen, dass diese Typen zu ihm gehören? Das hier ist Tigers Revier. Ergibt keinen Sinn für mich, warum Sharks Leute hier nach Nahrung grasen. Vielleicht sind die beiden neu und kennen die Regeln noch nicht so gut.
Als ich mich nach der Brottüte bücke, wird mir schwindelig. Der Kampf hat mich noch mehr geschwächt. Ich muss etwas essen, dringend.
Das Mädchen und der Junge stehen dicht beieinander, bibbernd vor Kälte und Hunger und Angst. In dieser Stadt hört der Nieselregen nie auf. Die beiden klammern sich aneinander und starren mich aus großen Hungeraugen an. Mir wird klar, dass sie Zwillinge sind. Blondes Haar, babyblaue Augen. Und der gleiche Ausdruck von Angst und Trauer im Gesicht, der mir fast das Herz bricht.
»Wie heißt ihr?«, frage ich.
»Ich bin Tommy. Meine Schwester heißt Tammy«, sprudelt es aus dem Jungen heraus.
So hungrig ich auch bin, ich gebe dem Mädchen die Brottüte zurück. »Okay. Das gehört dir, Tammy.«
Sie sagt nichts, presst die Tüte aber an die Brust.
»Wer bist du?«, flüstert Tommy mit weit aufgerissenen Augen.
Klar ist er geschockt: Hier auf der Straße ist Freundlichkeit selten. Den Luxus leisten sich nur Idioten. Das Blödeste, was du tun kannst, sage ich mir. Bist du nicht selbst am Verhungern?
»Scott«, sage ich.
»Wo hast du so kämpfen gelernt?«, fragt Tommy weiter.
»Na, mit Street Fighter 7.«
Ich muss unwillkürlich lächeln, als die Erinnerung zurückkommt.
Es stimmt. Vor dem Virus wohnte ich in einem großen Haus im Süden der Stadt. Meine Eltern waren super. Sie gaben mir alles, was ich haben wollte. Die absolut teuerste Spielekonsole. Und immer die neuesten Spiele. Mein Dad und ich waren absolut süchtig nach Street Fighter