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Eine kraftvolle Familiensaga vor der spektakulären Kulisse des Lake Superior
Elizabeth und ihre Zwillingsschwester Emily wachsen in der rauen Einsamkeit des Lake Superior auf. Ihr Vater ist Leuchtturmwärter auf Porphyry Island, einer kleinen, sturmumtosten Insel. Die beiden Mädchen sind unzertrennlich, obwohl Emily nicht spricht – doch sie hat ein bemerkenswertes Gespür für Tiere, und sie malt wunderschöne Pflanzenbilder. Ihr Bruder Charles fühlt sich für die Schwestern verantwortlich. Doch dann setzt ein schreckliches Ereignis der Idylle für immer ein Ende …
Siebzig Jahre hat Elizabeth nicht mit ihrem Bruder gesprochen, als am Ufer des Sees Charles' Boot angespült wird. Von ihm fehlt jede Spur, doch sie weiß, dass es nur einen Ort gibt, zu dem er unterwegs gewesen sein kann. Nur was hat ihn nach all den Jahren dazu gebracht, nach Porphyry zurückzukehren?
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Seitenzahl: 520
JEAN E. PENDZIWOL
Das
Licht
der
Insel
ROMAN
Aus dem kanadischen Englisch von Veronika Dünninger
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Die kanadische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Lightkeeper’s Daughters« bei HarperCollins, Toronto.
PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.
Copyright © 2017 by Jean E. Pendziwol
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by
Penguin Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Covergestaltung: www.buerosued.de
Covermotiv: Fels/597060101/Getty Images/Susan Dykstra/Designpics; Leuchtturm: C23RGB/alamy/Gene Ahrens
Redaktion: Christine Neumann
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-21861-4V002
www.penguin-verlag.de
Teil Eins Enden und Anfänge
1
Arnie Richardson
Der schwarze Labrador wird allmählich alt. Seine arthritischen Beine bahnen sich steif einen Weg über den ausgetretenen Pfad, steigen vorsichtig über Wurzeln und tragen seine füllige Gestalt zwischen den Stämmen von Fichten und Pappeln hindurch. Seine Schnauze, grau meliert, schnuppert dicht über dem Boden, nimmt die Geruchsspur seines Herrchens auf.
Es ist ein morgendliches Ritual, eines, das sie von den Cottages auf Silver Islet durch die Wälder zur Middlebrun Bay führt – ein Ritual, das sie praktizieren, seit der Labrador ein Welpe auf schlaksigen Beinen war. Aber schon damals, vor all den Jahren, war das Haar des Mannes weiß, seine Augen umrahmt von Krähenfüßen, sein Bart silbrig gesprenkelt. Inzwischen werden sie beide langsamer, Mann und Hund, zucken an steifen Gelenken, setzen ihre Schritte vorsichtig. Jeden Morgen, wenn sie sich beim ersten fahlen, orangefarbenen Tageslicht auf den Weg machen, begrüßen sie einander mit der schlichten Befriedigung des Wissens, dass sie wieder einen Tag miteinander haben.
Der Mann stützt sich bequem auf einen Gehstock, ein knorriges Stück Kiefernholz, erst geglättet von den Wellen des Lake Superior und dann in seiner Werkstatt lackiert, bis es glänzte. Er braucht ihn nicht, nicht bevor der Weg anzusteigen beginnt, doch dann wird sein Griff fester, und das Holz wird ein Teil von ihm, notwendig und wesentlich. Oben auf einem Kamm angekommen, hält er inne.
Zwei Wege führen hier zusammen. Der, auf dem sie gehen, mündet in die weitaus breitere, häufiger begangene Route, die ein Teil der Wanderwege des Sleeping Giant Provincial Park ist. Jetzt ist der Park still.
Es ist ein mystischer Ort, diese Halbinsel, die in den Lake Superior hinausragt. Gemeißelte Felsklippen und ausgetretene Kämme, auf geheimnisvolle Weise geformt vom Wind und dem Regen und der Zeit, nehmen die Gestalt eines Riesen an, der in einer Wiege aus eisigem grauem Wasser schlummert. Legenden erzählen von einem Ojibwe-Gott, Nanibijou, der sich an der Einfahrt in die Thunder Bay niederlegte, wo seine überragende Gestalt in Stein verwandelt wurde und die reichen Silbervorkommen bis in alle Ewigkeit beschützt. Die Geschichte mag ein Mythos sein, aber das Silber ist echt. Seine Reichtümer zu erobern, führte zu tiefen Schächten, weit unter der Oberfläche des Lake Superior versunken, wo Bergarbeiter den Erzadern unter der ständigen Bedrohung des vordringenden Wassers folgten. Die Mine verhalf der Stadt zum Aufschwung, nicht mehr als ein Weiler im Grunde, ein Häuflein Holzhäuser, eine Schmiede, ein Laden – alles aufgegeben, als der See seinen Kampf gewann und das Silber in einer eisigen Gruft begrub. Nach ein paar Jahren kamen die Cottagebewohner, wischten den Staub von den Böden und Tischen, putzten die Fenster, nagelten lose Schindeln fest, und Silver Islet erwachte wieder zum Leben, wenn auch nur für eine Saison jedes Jahr. Seit Generationen verbringt die Familie des Mannes nun schon ihre Sommer in einem solchen Haus, kommt in den Wintermonaten für ein paar Tage oder sogar Wochen zu Besuch, wenn das Wetter es zulässt. Er ist diesen Weg gegangen, seit er ein Kind war.
Mann und Hund beginnen mit dem Abstieg zum Ufer hinunter. Der Schwanz des Hundes zeichnet Halbkreise in die Luft hinter ihm, der Stock des Mannes klopft abwechselnd gegen feuchte Erde und schlägt gegen harten Stein, während der Weg sie zur Bucht herabführt. Der Lake Superior beginnt sich zu regen, schüttelt den Nebel ab, der sich im Laufe der Nacht wie ein Leichentuch über ihn gebreitet hat. Die Nebelhörner der Leuchtturmstationen von Trowbridge und Porphyry, schweigsam jetzt, haben die Stunden vor Sonnenaufgang damit zugebracht, unsichtbaren Schiffen zuzurufen, die sich vorsichtig ihren Weg durch die Thunder Bay bahnten – vorbei am Cape am Fuß des Sleeping Giant, hinaus in Richtung Isle Royale und auf die Schifffahrtswege des Lake Superior. Aber die aufgehende Sonne und der erwachende Wind haben jegliche noch verbliebenen Schwaden vertrieben. Anstelle der unheilvollen Warnung der Nebelhörner bringen Singvögel dem Gespann auf seinem Spaziergang ein Ständchen.
Die Warnung wäre eine passendere Begleitung gewesen.
Die Gangart des Hundes beschleunigt sich, als er die Nähe des Sees spürt. Auch wenn seine Knochen müde und seine Augen schwächer geworden sind, ist er doch ein Labrador, und das Wasser ruft ihn. Er läuft an dem Mann vorbei, springt auf den Strand der Middlebrun Bay und schnappt sich einen Stock aus dem schmalen Streifen mit Strandgut, das bei einem kürzlichen Sturm von den Wellen weit über die Wasserlinie geworfen wurde. Er beginnt am Ufer entlangzulaufen, während seine Pfoten eine Spur in den Sand zeichnen, die vom See ebenso rasch ausgelöscht wird, wie sie gezogen wird.
Der Mann folgt nicht weit dahinter, aber doch so weit, dass der Hund es entdeckt hat, bevor der erste Fußabdruck seines Besitzers sichtbar wird. Auch wenn das Sehvermögen des Labradors getrübt ist, kann er seine Gegenwart spüren und seine Form erkennen, während es zwischen den Felsen und den Bäumen und dem Strand und den Wellen auftaucht. Er steht im Wasser und bellt, hat den Stock fallen gelassen und vergessen.
Es ist etwa sechsundzwanzig Fuß lang, sein hölzerner Rumpf zersplittert, mit einem klaffenden Loch auf der Backbordseite, und sein Baum schwingt hin und her, während der See sich unter ihm hebt und senkt. Jeder Atemzug des Wassers stemmt es von dem felsigen Grund hoch, bevor er es mit einem Ruck wieder absetzt. Das Großsegel ist noch gesetzt, aber flatternd, zerfleddert. Das Boot hat Schlagseite, der Bilgenboden ist gebrochen, und der See schiebt sich hindurch. Der Mann muss den Namen nicht sehen, der auf das Heck gemalt ist. Er weiß, dass der kursive Schriftzug Windtänzer lautet.
Der Strand zieht an seinen Füßen, während er auf das Boot zustürzt. Seine Fußabdrücke sind punktiert vom runden Ende seines Gehstocks, sodass seine Spur wie eine in Morseschrift verfasste Nachricht aussieht. Die Bucht ist seicht, aber Felsen säumen das hintere Ende, und das ist die Stelle, an der das Boot liegt. Er achtet kaum auf das Gebell des Labradors, ruft stattdessen irgendjemandem zu, der noch an Bord sein könnte. Er stolpert auf die Landspitze zu, platscht in das eisige Wasser. Ein taubes Gefühl kriecht in seinen Beinen hoch, umklammert ihn, krallt sich an ihm fest. Doch er ignoriert es, läuft weiter über die Felsen, meidet die klaffende Lücke zwischen Boot und Ufer und stemmt sich ins Cockpit hoch, wo er fröstelnd stehen bleibt.
Er war noch nie zuvor an Bord des Windtänzers, aber eine Flut von Erinnerungen droht ihn dennoch zu ertränken, während er von dem gebrochenen Ruder zu einer gerissenen Fallleine sieht. Er erinnert sich an das Fort, das sie beide als Jungen aus Treibholz gebaut haben, spürt das Ziehen an seiner Angelrute, als sie mit dem kleinen Gaffelkutter Sweet Pea zum ersten Mal allein zum Fischen in den Walker’s Channel hinausfuhren, schmeckt das Bier, das sie sich geteilt haben, aus einem Picknickkorb am schwarzen vulkanischen Strand auf der anderen Seite von Porphyry Island stibitzt. Er hört das Flüstern von Namen, Elizabeth und Emily.
»Gottverdammt, Charlie!« Er spricht laut, sieht hoch zu dem Mast und dem zerfledderten Segel, der Silhouette zweier Möwen, die hoch über ihm schweben. »Was zum Teufel hast du denn jetzt wieder angestellt?«
Es ist sechzig Jahre her, seit sie sich zuletzt gesprochen haben, sechzig Jahre, seit Porphyry Island in Flammen aufgegangen ist. Er hat den Windtänzer viele Male gesehen, hat Geschichten von seinem Kapitän gehört, von Elizabeth. Emily. Aber sie haben sich nicht gesprochen, er und Charlie. Es zu tun, hätte ihrer Komplizenschaft, egal wie gut gemeint, eine Stimme verliehen und den Schmerz der Reue genährt. Es hat ihn heimgesucht. In all der Zeit ist nicht ein Tag vergangen, an dem er nicht an sie gedacht hat. Nicht ein einziger.
Der alte Mann hält sich an einer Klampe fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und späht durch den Niedergang in die Kajüte hinunter. Ein Sitzkissen und eine Baseballkappe treiben in der Wasserlache. Auf dem Kartentisch liegt ein Stapel Bücher, seine verblichene Schutzhülle aus Segeltuch lose, ein verworrener Haufen Bindfaden daneben.
Er setzt sich auf den Platz des Steuermanns. Der Labrador schweigt. Nur Vögel unterbrechen seine Gedanken, und das leise Geplapper des Windes und des Sees und die knarrenden Klagen des Boots. Charlie Livingstone ist nicht an Bord.
Der Windtänzer ist leer von Leben, bis auf den flackernden Schimmer einer Kerosinlampe, die schwach, aber trotzig brennt, am Baum festgebunden wie ein Leuchtfeuer.
2
Morgan
Was für eine verdammte Zeitverschwendung. Ein Haufen Gutmenschen, die herumsitzen und sich idiotische Maßnahmen ausdenken. »Wir erkunden« – wie haben sie es genannt? – »förderliche Resozialisierungsprozesse«. Sie können sagen, dass sie es versucht haben, dass sie irgendeiner armen, unterprivilegierten Seele voller Mitgefühl die Hand ausgestreckt haben – seht nur, wie brillant und fortschrittlich eingestellt wir sind. In ihre winzig kleinen Welten eingehüllt, mit ihren perfekten, höflichen Kindern, die zur Schule gehen und ihre Hausaufgaben machen und Petitionen einreichen, um Junkfood zu verbieten und den Hunger in Afrika zu beenden, im Basketballteam spielen und samstagabends nie bekifft nach Hause kommen. Sie klopfen sich auf den Rücken und sagen: Seht nur, was für gute Eltern wir sind. Seht nur, was für gute Bürger wir sind. Wenn sie nur wüssten.
Sollen sie doch eine klaffende Wunde mit einem winzigen Stich nähen, meine Füße auf den richtigen Weg setzen. Ich werde mich entschuldigen und so tun, als würde ich ihr Mitgefühl akzeptieren. Es war nicht meine Schuld, wirklich. Es war das System, das mich im Stich gelassen hat.
Verdammte Zeitverschwendung.
Sie haben meinen Rucksack durchsucht. Ich hätte ihn wegwerfen sollen, bevor ich zu dem McDonald’s kam. Oder wenigstens die Dosen mit Sprühfarbe. Keine Chance, mich aus dieser Sache herauszureden. Nein, Officer. Ich war nicht einmal in der Nähe des Altersheims Boreal. Nein, Sir. Ich hatte nichts mit diesem Graffiti zu tun. Die gehören nicht mir. Ich habe sie nur für einen Freund aufbewahrt. Welchen Freund? Oh, ähm … er ist nicht hier.
Arschlöcher. Niemand ist für mich eingetreten. Niemand. Sie haben alle den Blick gesenkt und an ihren Diät-Colas genuckelt, mit denselben herablassenden Mienen im Gesicht, die ihre Eltern aufsetzen. Das arme Ding. Kann man ihr wirklich die Schuld geben?
Offenbar konnten sie es.
Als sie mich nach Hause brachten, konnte ich sehen, dass Laurie sauer war. Sie hielt mir diese »Enttäuschungs«-Standpauke, bei der ich die Augen verdrehte. Ich wurde vor etwas über einem Jahr bei ihr und Bill untergebracht, und auch wenn sie sich so benehmen, als ob sie sich kümmern, kratzt es mich nicht. Sie sind nicht meine Eltern, und ich habe auch kein Interesse, so zu tun, als ob sie es wären. Ich werde nicht lange dort sein. Ich bin nur ein weiteres Pflegekind in einer Reihe von Pflegekindern, die ihr Zuhause durchlaufen.
Der Bus kommt vor einem weitläufigen Gebäude schlingernd zum Stehen und setzt mich vor dem Altersheim Boreal ab, bevor er schnaubend weiterfährt. Ich stehe allein auf der stillen, baumgesäumten Straße, während der kalte Wind an mir zerrt. Hier und da tänzeln Häuflein gefallener Blätter über den Bordstein. Ich folge ihnen den Gehsteig hinunter zum Eingang.
Gott, ich hasse den Herbst.
Die Tür ist abgeschlossen, und ich reiße ein paarmal an ihr, bevor ich die Gegensprechanlage bemerke. Natürlich ist sie abgeschlossen. Dieses Haus ist voll mit reichen alten Leuten, Leuten, die sich die privaten Krankenschwestern und Vollzeitköche und die Lage am Fluss leisten können. Als ob sie einen Scheiß davon hätten. Vermutlich können sie sich nicht einmal erinnern, was sie zum Frühstück hatten. Ich drücke auf den Summer. Eine Stimme kommt knisternd über den Lautsprecher der Gegensprechanlage. Konnte nicht ein verdammtes Wort verstehen, aber ich nehme an, sie fragen mich nach meinem Namen.
»Hier ist Morgan. Morgan Fletcher.«
Eine lange Pause tritt ein, bevor die Tür summt und das Schloss aufklickt.
Ich finde das Verwaltungsbüro und bleibe stehen, um an die offene Tür zu klopfen. Hinter dem Schreibtisch blättert eine Frau mittleren Alters in Aktenheftern.
»Setz dich, Morgan«, sagt sie, ohne auch nur aufzusehen.
Ich kauere mich auf die Kante eines der Stühle und warte. Auf einem Schild, kaum zu sehen zwischen den Stapeln mit Unterlagen auf dem Schreibtisch, steht: »Anne Campbell, examinierte Krankenschwester, Geschäftsführerin«. Ich nehme an, sie ist für meine »förderliche Resozialisierung« zuständig.
»Na schön«, seufzt Miss Campbell und streckt einen Aktenhefter in ihrer Hand aus. »Du bist also Morgan Fletcher.« Sie nimmt ihre Brille ab und legt sie auf den Schreibtisch. »Ich sehe schon.«
Ich weiß, was sie sieht. Sie sieht, was sie sehen will. Sie sieht meine glatten schwarzen Haare, so gefärbt, dass sie wie Mitternacht glänzen. Sie sieht dunkles Kajal, das meine grauen Augen umrandet, meine enge Jeans und meine hohen schwarzen Stiefel und die Reihe silberner Stecker in meinen Ohrläppchen. Sie sieht mein blasses Gesicht, das ich noch blasser gemacht habe, und meine knallroten Lippen. Sie sieht nicht, dass ich, vielleicht, ein klein wenig verängstigt bin. Das werde ich sie nicht sehen lassen.
Ich lümmele mich auf dem Stuhl nach hinten und schlage die Beine übereinander. So wird es also laufen. Na schön.
Miss Campbell klappt den Aktenhefter auf. »Nun, Morgan, gemeinnützige Arbeit, richtig? Hier steht, dass du dich bereit erklärt hast, das Graffiti zu entfernen und unter der Anleitung unseres Hausmeisters bei weiteren Instandhaltungsarbeiten behilflich zu sein.« Sie sieht mich wieder an. »Du wirst in den nächsten vier Wochen jeden Dienstag und Donnerstag gleich nach der Schule hier sein.«
»Ja.« Ich klopfe mit der Zehe gegen die Vorderseite des Schreibtischs und sehe auf meine Fingernägel. Sie sind rot angemalt, genau wie meine Lippen. Blutrot.
»Ich sehe schon«, sagt sie. Wieder. Miss Campbell hält einen Moment inne, und ich kann sehen, dass sie mich mustert. Ich weiß, was in diesem Aktenhefter steht. Ich will ihr Urteil nicht. Noch schlimmer, ich will ihr Mitleid nicht. Ich verlagere den Blick zu einer Grünlilie oben auf dem Aktenschrank. Sie seufzt. »Na schön, ich denke, dann machen wir dich jetzt besser mit Marty bekannt.« Sie lässt den Aktenhefter, der meine Vergangenheit enthält, auf ihrem Schreibtisch liegen, und ich habe keine andere Wahl: Ich folge ihr den Flur hinunter.
Marty ist alt, aber nicht alt wie die Leute, die hier leben. Er erinnert mich an einen bartlosen Weihnachtsmann, natürlich mit einem runden Bauch, der von roten Hosenträgern umrahmt ist. Seine Augenbrauen haben ein Eigenleben, und seine Haare stehen in alle Himmelsrichtungen ab und ringeln sich nach unten, schneeweiß und buschig. Sie machen den Mangel an Haaren oben auf seinem Kopf wett, wo er glänzend kahl ist, allerdings von diesem struppigen Kranz gesäumt, der von einem Ohr zum anderen reicht. Es sind die Augen unter den fliehenden Brauen, die mir am meisten auffallen: durchdringend blau, die Farbe des Himmels an einem kalten Wintertag.
Marty sitzt an seinem Schreibtisch, einem alten Kartentisch, der an eine Wand eines gut gefüllten Vorratsraums geschoben ist. Auf dem Tisch liegen ein Stapel Zeitungen und ein Buch mit einem Gemälde von Tänzerinnen auf dem Umschlag. Ich erkenne den Künstler: Degas. Er ist einer meiner Lieblingsmaler. In unserem zerfledderten alten Buch waren Gemälde von allen Impressionisten, aber ich mochte Degas am liebsten. Marty benutzt die Seiten vermutlich, um Pinsel abzuwischen.
»Das hier ist Morgan«, sagt Miss Campbell.
Er steht auf, rückt seine Hosenträger zurecht und sieht mich mit diesen eisblauen Augen an, bis ich seinem Blick nicht mehr standhalten kann und auf den bekleckerten Fliesenboden zu meinen Füßen hinuntersehe.
»Morgan«, sagt er mit einem Nicken. »Ich habe dich schon erwartet. Zieh dir besser einen Overall an.«
Miss Campbell wendet sich ab und geht ohne ein weiteres Wort.
Ich habe so ein Gefühl, dass Marty mehr damit zu tun hat, dass ich hier bin, als sie.
3
Elizabeth
Der Tee ist mit der gewohnten Pünktlichkeit gekommen. Das ist etwas, was ich an diesem Ort bewundere.
Ich nehme an, mein Hang zur Routine ist ein Überbleibsel aus meiner Kindheit auf der Leuchtturmstation. So viele Jahre wurde mein Leben in Stunden und Minuten gemessen, aufgeteilt in Abschnitte, die man im oder außer Dienst war, geprägt von der Zeit, um den Kamin zu entfachen, die Uhrwerke aufzuziehen, den Brennstoff zu überprüfen.
Allmählich fühlt es sich hier wie zu Hause an. Nach so vielen Jahren. Wie viele sind es nun schon? Vielleicht drei jetzt. Die Tage verschmelzen; die Jahreszeiten gehen ineinander über, und ich habe den Überblick verloren. Ich hatte Glück, diesen Ort hier zu finden, wo ich mir einen Teil der Unabhängigkeit bewahren konnte, nach der ich mich sehne, und doch Zugang zu der Pflege habe, die nötig ist. Außerdem war es an der Zeit, zurückzukehren, die kleine Villa an der Küste der Toskana zu verlassen, die über ein halbes Jahrhundert unsere Zuflucht war. Wir haben sie nah genug am Wasser ausgewählt, um die Möwen und das Schlagen der Wellen zu hören. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass das Ligurische Meer nie dasselbe launische Temperament hatte wie der Lake Superior. Es war nur ein Ersatzzuhause. Wir waren so glücklich, wie man es erwarten kann, ein solch seltsames Paar, wie wir es waren, versteckt vor den bohrenden Blicken der Welt. Und wir haben unsere Spur hinterlassen, ein Vermächtnis gewissermaßen. Meines ist natürlich nicht annähernd so berühmt; nur eine Handvoll Bücher, ein paar noch immer zum Verkauf angeboten in Geschenkeläden und Kunstgalerien rund um die Welt.
Ich sitze in Pas Sessel, die Afghandecke, die Emily und ich gestrickt haben, über meine Knie gebreitet. Ich habe das Fenster offen, lade die Herbstbrise ein, durch mein Zimmer zu streichen.
Ich muss vorsichtig mit dem Tee sein, damit ich mich nicht verbrühe. Meine Finger erkunden das Tablett, gleiten über die kleine Kanne, folgen der Tülle, dem Griff. Meine andere Hand findet die Tasse. Ich zähle, während ich einschenke. Ich weiß, dass in die Tasse so viel passt, bis ich bis fünf gezählt habe. Sie haben mir Zuckertütchen gegeben, wie immer zwei, obwohl ich nur einen Teil von einem verwende. Der Löffel liegt nicht an seinem gewohnten Platz, und ich suche, bis ich ihn neben der Milch finde. Als ich fertig bin, führe ich die Tasse an meine Lippen, puste sanft, eher aus Gewohnheit denn aus Notwendigkeit, und nehme einen Schluck. Seufzend gestatte ich Pas Sessel, mich zu umfangen.
Ich habe zu träumen begonnen, dass ich wieder jung bin, mein Haar die Farbe von Raben hat, meine Augen stark sind. In meinen Träumen tanze ich. Ich bin wieder auf der Insel meiner Jugend, an dem schwarzen vulkanischen Strand von Porphyry, wo der See am Ufer leckt und der Wind das Riedgras wogen lässt. Ich bücke mich, um ein paar Handvoll Habichtskraut und sonnige Butterblumen zu pflücken, füge sie dem Strauß nickender Gänseblümchen hinzu, den ich bereits in der Hand halte. Emily ist auch da, die schöne, schweigsame Emily, die stets mit einem Fuß in der Welt der Träume stand. Wir nehmen uns bei den Händen, zwei Teile eines Ganzen, und wir lachen und tanzen und wirbeln umher, bis wir auf den warmen Boden fallen, atemlos, und zu den Wolken hochstarren, die über den Sommerhimmel jagen.
Aber in letzter Zeit streift ein Wolf durch meine Träume. Ich kann sehen, wie er uns durch die Lücken zwischen den Bäumen anstarrt. Er schlüpft immer wieder zwischen den Stämmen der Birken und Tannen hervor, streift am Ufer entlang und sieht uns mit seinen kalten, gelben Augen beim Tanzen zu. Emily hat keine Angst vor dem Wolf. Sie starrt ihn an, bis er sich am Rand des Strandes hinlegt und wartet. Aber mir macht er Angst. Ich weiß, warum er hier ist. Es ist noch nicht so weit. Aber jeden Tag kann ich sehen, dass er näher heranschleicht, und er braucht länger und länger, um sich niederzulassen.
Das ist einer der Gründe, weshalb ich entschied, dass es an der Zeit war, zurück an die Ufer des Lake Superior zu ziehen. An diesem Ort hier, trotz des Schmerzes, trotz der Erinnerungen, die er birgt, bin ich unserem Zuhause, Porphyry Island und dem Leuchtturm, so nah gekommen, wie es mir möglich war. Das hätte Emily gewollt.
Ich nehme noch einen Schluck Tee. Schon jetzt lauwarm. Die Nachmittagssonne strömt zum Fenster herein, wärmt mich mehr als das Getränk. Ich halte die Tasse vorsichtig in meinem Schoß und recke das Gesicht in den Sonnenstrahl, damit ich seine Umarmung vollständig aufnehmen kann.
Draußen kann ich Martys Stimme hören. Ich weiß, dass er der Herzschlag dieses Ortes ist. Und, du lieber Himmel, er kennt sich mit Kunst aus, fast so gut wie ich. Bevor mein Augenlicht mich im Stich ließ, hat er mir Bücher mit Gemälden gebracht, und während wir unseren Tee schlürften, hat er die Seiten umgeblättert, und wir haben kommentiert oder kritisiert, je nach dem Künstler. Er war ein aufmerksamer Zuhörer, während ich Geschichten von meinen Reisen und interessante Wissenshäppchen mit ihm teilte, die ich mir im Laufe eines Lebens angeeignet hatte, das ich damit zubrachte, durch Kunstgalerien zu streifen und die Meister zu studieren. »Die Frau auf diesem Gemälde – sie war die Geliebte des Künstlers«, sagte ich, während wir das Werk von Renoir betrachteten. »Dieses Gemälde«, erklärte ich ihm, »wurde während des Holocausts den Juden gestohlen und Jahrzehnte später auf einem Dachboden in Italien wiedergefunden. Ein Amerikaner kaufte es und behauptete, es hätte vor dem Krieg seinem Urgroßvater in Holland gehört.« Marty und ich lieben die Impressionisten am meisten. »Dieser Künstler hat drei Leute eingestellt, die sich um seine Gärten kümmerten, große, weitläufige Gärten, Marty, voller Teiche und Wege und Blumen jeder nur erdenklichen Art. Sieh dir nur all die Farben an.« Das war einer meiner Lieblingsorte, die wir besuchten. Wir standen auf der Brücke, berührten die Glyzinien. Aber das Gedränge von Leuten war zu viel, dort und überall, daher verschwanden wir.
Ich hätte wissen müssen, dass er das Werk erkennen würde, die schlichten Linien, die Bewegung und Verwendung der Farbe. Seine Augen fragten, und meine antworteten. Er ist der Einzige hier, mit dem ich Geschichten meiner Vergangenheit geteilt habe. Er sagt wenig, hört aber zu. Das genügt.
Marty wusste es auch, als mein Augenlicht zu schwinden begann. Er sagte kein Wort. Ließ sich nicht anmerken, dass er meine tastenden Bewegungen, meine zögernden Schritte bemerkte. Er hörte einfach auf, Bücher zu präsentieren, und begann, Kassetten zu bringen. Chopin, Mozart, Beethoven. Und wir schlürften unseren Tee und hörten zu und ließen die Musik die Gemälde erschaffen, die ich nicht länger sehen konnte.
Ich glaube, er versteht es. Ich glaube, er weiß, wie sehr ich um Emily trauere, falls man es trauern nennen kann. Ich war Elizabeth und Emily, die Zwillinge, die Töchter des Leuchtturmwärters. Es ist schwer, irgendetwas anderes zu sein. Es ist schwer, nur Elizabeth zu sein.
Ich kann fühlen, wie sich eine Wolke über meinen Sonnenstrahl schiebt, kann, mit dem Rest meines schattenhaften Sehvermögens, spüren, wie die Helligkeit schwindet. Die Brise lässt die Jalousien rascheln, und ich beginne zu frösteln, als sie ihre kalten Finger durch die Löcher in der Afghandecke ausstreckt. Für mich ist der Herbst eine Zeit der Verzauberung, in der die Welt in den Farben der Meister gemalt ist. So vielen Leuten graut vor der Jahreszeit, ihrer ganzen Pracht und Romantik zum Trotz. Sie sehen sie als die Tür zu einem Ende, zu einem Winter des Todes. Aber mir gibt der Herbst das Gefühl, am Leben zu sein. Der Herbst ist der Anfang und das Ende zugleich.
Widerstrebend wende ich das Gesicht von dem schwächer werdenden Sonnenstrahl ab und stelle meine halb geleerte Teetasse vorsichtig zurück auf das Tablett. Ich lege die Afghandecke zusammen und hänge sie über die Lehne meines Sessels. Es ist an der Zeit. Mit geübter Achtsamkeit stehe ich auf und gehe durch mein Zimmer zur Tür, halte im Eingang einen Augenblick inne, eine Hand auf dem Türrahmen, zögernd. Es ist ein tägliches Ritual, eines, das mir das Gefühl gibt, ganz zu sein, wenn auch nur für kurze Zeit. Ich trete in den Flur und gehe fort von meinem Zimmer und auf den anderen Flügel zu.
Der Wolf wird warten müssen.
4
Morgan
»Das heißt, du warst das ganz allein?«
Als Marty mich fragt, scheint er nicht wirklich zu fragen. Es ist eine Frage, aber nur knapp.
Wir sind dabei, an dem Spülbecken in seinem Büro einen Eimer mit warmem Wasser zu füllen. Marty hat bereits einen anderen Eimer mit einer Reihe von Werkzeugen und Pinseln gefüllt.
»Ja, na klar«, antworte ich. Ich muss tun, was er mir sagt, aber ich muss ihm nicht mehr erzählen, als ich den Cops erzählt habe. Ich weiß, dass er nicht glaubt, dass ich an dem Abend als Einzige hier war.
»Sprühfarbe verwendet?«
»Mhm.«
Wir tragen den Eimer und das Werkzeug nach draußen in den Garten der Bewohner. Es ist gar nicht so übel hier, für ein Alte-Leute-Gefängnis. Es gibt viele Pflanzen und Wege und einen großen Patiobereich, der von einer hölzernen Pergola überdacht ist, mit ein paar Stühlen und Tischen darunter. Die meisten Blumen sehen aus, als ob sie verblüht sind und zurückgeschnitten wurden. Aber ein paar violette sind noch da. Sie sehen aus wie Gänseblümchen, aber nicht ganz. Der Zaun am hinteren Ende trennt den Garten von dem Fahrradweg, der am Fluss entlang verläuft.
Marty trägt eine rot karierte Flanelljacke, und ich trage seinen blauen Overall. Wir gehen herum auf die andere Seite des Zauns, zu dem Teil, der von dem Gebäude abgewandt ist. Er stellt den Eimer auf dem Rasen ab, steht dann mit verschränkten Armen da und sieht den Zaun an.
»Wird durch Abwaschen nicht verschwinden«, sagt er.
»Was du nicht sagst«, murmele ich, nur so laut, dass er es hören kann.
Marty steht noch immer da und sieht auf den Zaun.
»Was für Farbe hast du verwendet?«
Meint dieser Typ das ernst? »Sprühfarbe.«
»Keine sehr gute Qualität.«
Jetzt weiß ich das. Es war ein billiger Scheiß, der tropfte und nicht abdeckte, so wie ich es wollte. Ich setze mich an den Picknicktisch, ohne zu antworten. Ich habe alle Zeit der Welt für seine Fragen.
»Nicht fertig geworden?«
»Was?«
»Du weißt schon … bist nicht fertig geworden?«
Ich sehe mein Werk an. Marty hat recht, es ist nicht ganz fertig. »Nein. Irgendjemand muss die Cops gerufen haben, daher sind wir … bin ich abgehauen.«
Es war das erste Mal, dass ich ein so großes Teil gemacht hatte. Ich wollte ihnen beweisen, dass ich gut genug war, um zu ihrer Truppe zu gehören, und das war die einzige Möglichkeit. Ich habe es allein gemacht, aber Derrick ist mitgekommen. Er sollte auf mich aufpassen, sicherstellen, dass ich nicht erwischt werde.
Ich hatte sie auf einer Party kennengelernt, zu der Derrick mich mitnahm. Wir saßen um den Küchentisch, und ich skizzierte auf eine leere Pizzaschachtel, und einer von ihnen fing an, mich zu beobachten. Ich hatte genau dasselbe Ding schon so oft gezeichnet, immer und immer wieder, dass es mir einfach aus der Hand floss, und ich dachte kaum darüber nach, was ich tat. Ich weiß nicht, warum ausgerechnet dieses eine, dieses Bild, aber es war schon immer eines meiner Lieblingsbilder. Ich spielte gern damit herum, machte es mir zu eigen, veränderte es, während ich es gleichzeitig irgendwie so beließ, wie es war. Als ich sah, wie er das Bild betrachtete, deckte ich es mit einer Hand ab und versuchte, die Schachtel beiseitezuschieben. Aber er hielt mich auf. Er schnappte sich die Pizzaschachtel und studierte das Bild. Er sagte, es sei gut, richtig gut, und fragte mich, ob ich mir je überlegt hätte, es groß herauszubringen, es oben an einer Wand zu sehen. Ich wusste eigentlich nicht, wovon er redete. Derrick erzählte mir später, wer er war, dass er einer Graffititruppe angehörte. Er zeigte mir ein paar ihrer Sachen in der Stadt, und sie waren verdammt umwerfend.
Ein paar Wochen später liefen wir ihnen wieder über den Weg, und nachdem wir alle ein paar Bier getrunken hatten, luden sie Derrick und mich ein, mit ihnen zum Bahngelände zu fahren. Ich denke gern, dass sie es taten, weil sie meine Zeichnung mochten, aber ich weiß, dass sie uns nie gefragt hätten, wenn Derrick nicht gewesen wäre. So oder so, es war mir scheißegal. Ich war einfach froh, mit dabei sein zu dürfen. Ich sah zu, schlich mit ihnen an dem Zug in der Nähe der verlassenen Getreidesilos entlang, mit rasendem Herzen und schwitzenden Handflächen. Gott, es war ein solcher Nervenkitzel. Deine Seele auf eine Wand oder einen Zugwaggon fließen zu lassen und dann zurücktreten und deine Ängste und deine Hoffnungen und deine Träume und deine Schwächen sehen zu können. Und durch die Stadt gehen zu können, andere Leute durch die Stadt gehen zu sehen, und da ist ein Beweis, dass man da war, dass man am Leben war. Ich wollte ein Teil davon sein. Ich klaute etwas Farbe bei Canadian Tire, begann, mein eigenes Tag zu entwickeln, dachte über mein Werk nach, machte kleine Dinger hier und da. Ich fühlte mich wie der verdammte Banksy.
Marty starrt den Zaun an, als wäre er in irgendeiner Kunstgalerie. Ich warte.
»Hm«, ist alles, was er sagt.
Abgesehen von der Stelle, an der ich gearbeitet habe, beginnt die Farbe abzublättern. Es war idiotisch, hier etwas schreiben zu wollen, das weiß ich jetzt. Marty tritt vor an den Zaun, kratzt mit einem Fingernagel an einer Stelle und lässt die Farbsplitter auf den Boden rieseln. Es sieht aus, als ob der Zaun einen neuen Anstrich brauchte, lange bevor ich mit meinen Sprühdosen auch nur in seine Nähe kam.
»Wirst du zuerst abspachteln müssen.« Er reicht mir einen Spachtel. »Beide Seiten. Und dann mit einer Drahtbürste abwaschen.«
Er wendet sich ab und geht pfeifend zurück zum Eingang.
Derrick hat mir einen iPod und Ohrhörer gekauft. Er kauft mir ständig Sachen. Na ja, vielleicht nicht ständig. Aber manchmal taucht er aus heiterem Himmel einfach auf und sagt ganz beiläufig: »Hey, ich habe dir etwas besorgt.« Und alles ist toll. Wir sind toll. Zu anderen Zeiten höre ich tagelang nichts von ihm, und ich frage mich, was zum Teufel ich getan habe. Die Sachen bedeuten mir nichts. Sie sind nett, aber eigentlich sind sie mir scheißegal.
Mit meiner Musik in den Ohren vergeht die Zeit schnell. Nach ein paar Stunden Spachteln sieht der Zaun katastrophal aus. Die Stellen, die mit meinen grellen Farben nicht in Berührung gekommen sind, lösen sich leicht, und das Gelände und der Garten sind mit weißen, violetten und blauen Flocken übersät.
Schließlich kommt Marty wieder. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er mich mit dem Spachtel hier allein gelassen hat, aber ich lasse mir nichts vormachen. Ich weiß, dass er mich die ganze Zeit beobachtet hat. Und ich bin sicher, Anne Campbell, examinierte Krankenschwester, Geschäftsführerin, hat durch eines der Fenster auch zu mir hinausgeschielt.
»Ein Anfang«, ist alles, was Marty sagt.
Er nimmt den Eimer, kippt das Wasser unter einen Strauch und geht wieder ins Haus. Ich folge ihm, die anderen Werkzeuge in der Hand. Ich schäle mich aus dem Overall und hänge ihn auf. Meine Stiefel sind mit Farbresten übersät.
»Nächstes Mal ziehst du besser andere Schuhe an.« Marty hat mir den Rücken zugewandt, hängt seine karierte Jacke an den Haken neben dem Overall. Ohne sich umzuwenden, fügt er hinzu: »Bis Donnerstag.«
Verdammte Zeitverschwendung.
5
Elizabeth
Ich habe eine der Pflegerinnen gebeten, mich in einem Rollstuhl ins Freie zu schieben. Der Tag ist viel zu schön, um ihn hinter Betonwänden gefangen zu verbringen, das Sonnenlicht durch Glas gefiltert. Ich brauche die frische Luft und den Sonnenschein, um meinen gebrechlichen Körper damit zu füllen, damit sie mich in den langen Wintermonaten, die vor mir liegen, am Leben erhalten.
Ich nehme an, ich hätte mit meiner Gehhilfe auch allein hier herauskommen können, aber es wird allmählich immer schwieriger mit den schattenhaften Bildern meines Sehvermögens, die wie Geister vor mir tänzeln und sich weigern, zur Ruhe zu kommen und Gestalten und Formen mit festen Rändern anzunehmen. Ich bin gegen die Kälte angezogen, mit einer warmen Fleecejacke, und eine Wolldecke ist bequem um meine Beine festgesteckt. Ich trage die Sonnenbrille, die Marty mir im Sommer geschenkt hat. Meine Augen sind empfindlich jetzt, gegenüber dem Wind und gegenüber dem Licht. Es ist paradox.
»Wie ist es hier, Miss Livingstone?«, fragt die Pflegerin, nachdem sie mich unter die Pergola geschoben hat. Sie ist jung. Ich erkenne ihre Stimme, aber sie ist neu, und ich kann die Stimme nicht mit dem Bild eines Gesichts verbinden, das in meinem Gedächtnis abgespeichert ist. Ich brauche nicht viel Hilfe, aber wenn, dann ist es schön zu wissen, dass ich nur darum bitten muss.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, antworte ich, »nur noch ein Stückchen weiter hinaus, wo mich die Sonne erreichen kann.« Sie kommt meiner Bitte nach.
Letzte Nacht war ich unruhig. Ich driftete immer wieder zwischen Schlafen und Wachsein hin und her, schritt durch die Welt der Träume, wo der bewusste Verstand in illusionäre Geschichten hinübergleitet. Diesmal konnte ich den Wolf nicht laufen sehen, aber ich spürte seinen heißen Atem feucht an meiner kalten, trockenen Haut. Ich sah mich verzweifelt nach Emily um, rief ihren Namen, der vom Geräusch der Wellen, die gegen die Klippen von Porphyry schlugen, prompt übertönt wurde. Meine Hände, glitschig von Schweiß, zerrten an den Zweigen, die wie dunkle Vorhänge herunterhingen und den Wald einhüllten. Als ich erschrocken aus dem Schlaf hochfuhr, raste mein Herz.
Noch nicht.
Eine Zeit lang lag ich da und atmete einfach nur. Es gab keinen Grund, ein Licht anzuknipsen, als ich aus dem Bett stieg. Ich kenne jeden Zentimeter meines Zimmers mit erbärmlicher Vertrautheit. Das Einzelbett mit der Quiltdecke, die Emily und ich vor so vielen Jahren aus Stoffresten genäht haben, die wir aus dem Flickenkorb gerettet oder aus alten Kleidern geschnitten hatten. Eine kleine Kommode an der hinteren Wand, die ein Leben voller Erinnerungen enthält, auf ein paar Schubladen reduziert. Der Sessel, in dem Pa immer saß, wenn er Zeitung las; der einzige Sessel, der überlebt und die Reise vom Haus des Leuchtturmwärters angetreten hat, als wir die Insel verließen. Er wartete auf uns, fast sechzig Jahre auf Maijlis’ Dachboden verstaut, während Emily und ich durch die Welt zogen. Es gibt Tage, an denen ich glaube, den Rauch noch immer riechen zu können, der dem zerschlissenen Stoff anhaftet.
Nur mit einem Baumwollnachthemd bekleidet, mit nackten Füßen, durchquerte ich das Zimmer und öffnete das Fenster. Die Brise, kühl und feucht, antwortete rasch. Mein Haar, jetzt die Farbe einer Schneeeule, klebte mir verfilzt an der Stirn, angedrückt vom Umherstreifen meines schlafenden Verstandes. Während ich mich langsam in Pas Sessel niederließ, strich die Luft durch mich hindurch, reinigte mich von den letzten Resten des Traums. Ich konnte die klaren Geräusche hören, die von der Nacht herübergetragen wurden. Das Scheppern einer Bahnschranke und rangierender Züge, die Dieselmotoren schnaubend vor Anstrengung. Eine Sirene. Ein Rettungswagen. Irgendjemand wurde von einer Tragödie getroffen. Autos. Nicht viele. Es muss spät gewesen sein. Oder sehr früh. Es ging kein Wind, um die Bäume ins Gespräch zu ziehen. Das war der Moment, als ich es hörte. Ja. Ganz schwach, aber da.
Ein Nebelsignal.
Ich döste eine Weile dort, wo ich saß, bis die Kühle zu viel für mein dünnes Nachthemd wurde. Dann kehrte ich zurück unter die Quiltdecke, um darauf zu warten, dass sich die Flure mit den Geräuschen des Morgens regten.
Aber jetzt ist es mitten am Nachmittag. Die Sonne hat die ganze Feuchtigkeit aus der Luft weggebrannt und die Erde genug gewärmt, damit ich das reiche Aroma des Bodens riechen kann. Martys Werk. Er kennt sich aus mit Kompost und Mulch. Und genau wie die Maler in seinen kostbaren Büchern ist er ein Fachmann für Farbe. Die Bergaster muss inzwischen blühen; lavendelviolett mit einer leuchtend gelben Mitte. Vielleicht hat die Herbstanemone bis jetzt überdauert. Die Chrysanthemen behaupten sich so spät bestimmt noch immer.
Ich kann Spatzen hören, die unter dem Picknicktisch nach Futter suchen. Und noch ein anderes Geräusch. Ein Spachteln. Und das schwache, summende Tempo ferner Musik, das seltsam an Mozart erinnert. Ach ja. Marty hat es mir gegenüber erwähnt. Ein Mädchen, hat er gesagt, Morgan. Hat vor ein paar Wochen den Zaun mutwillig beschädigt und für so manches Kopfschütteln über die Trägheit und Respektlosigkeit der heutigen Jugend gesorgt. Aber nicht Marty. Er hat mir, auf seine beiläufige Art, erzählt, dass ihr Gemälde seine Neugier geweckt hat. Aber es ist der Mozart, der meine Neugier weckt.
Mir wird bewusst, dass ich geschlafen habe, als ich von dem Geräusch von Schritten aufwache, die sich über den Gehsteig mir nähern. Ich nehme an, es ist die Pflegerin, die gekommen ist, um mich zurück zu meiner Unterkunft zu bringen. Was für eine alte Frau ich doch geworden bin. Schlafe im Rollstuhl ein, nichts Geringeres, in Wolle und Fleece gewickelt wie ein Baby. Hat sich mein Kreis geschlossen?
Es sind drei Paar Schritte. Seltsam. Die Spatzen zwitschern noch immer, aber das gleichmäßige, rhythmische Spachteln hinter dem Zaun verstummt auf einmal.
»Miss Livingstone.« Die Stimme gehört Miss Campbell. »Diese beiden Polizisten hier würden gern ein paar Worte mit Ihnen wechseln. Möchten Sie, dass ich Sie ins Haus bringe?«
Ich hätte das Geräusch ihrer Schuhe erkennen müssen. Sie dürften schwarz und steif und auf Hochglanz poliert sein. »Nein. Nein, vielen Dank, Anne. Ich bin sicher, alles, was die Herren zu sagen haben, kann gleich hier gesagt werden. Bitte setzen Sie sich.« Ich nicke in Richtung der Picknicktische.
»Na schön. Ich bin in meinem Büro, falls Sie mich brauchen.« Miss Campbells vernünftiges Schuhwerk entfernt sich.
»Miss Livingstone, ich bin Constable Ken Barry. Das hier ist mein Partner, Constable Cheryl Coombs.«
Ich strecke die Hand nicht aus. Ich will nicht unhöflich sein, aber nach meiner Erfahrung haben Gesetzeshüter selten frohe Botschaften zu überbringen.
»Wir kommen soeben von einer Besprechung mit der Küstenwache, und …« Constable Barry klingt, als ob er nach Worten sucht. »Ein Segelboot wurde an Land gespült gefunden, beschädigt und verlassen, in der Middlebrun Bay, nahe Silver Islet. Der Name des Bootes ist Windtänzer. Es war auf Charles Livingstone zugelassen. Ihren Bruder.«
Ich kann die Spatzen hören. Für mich klingt es, als ob sie sich streiten.
»Miss Livingstone, es besteht eine geringe Chance, dass er es geschafft hat, das Ufer zu erreichen. Dem Mann, der das Boot entdeckt hat – ein älterer Herr namens Arnie Richardson, der sagt, dass er Sie kennt –, ist es gelungen, hinauszuwaten und an Bord zu klettern. Es ist möglich, dass Mr. Livingstone das Boot sicher verlassen konnte.« Er hält einen Augenblick inne. »Es ist möglich, aber bedauerlicherweise nicht sehr wahrscheinlich. Es würde uns helfen, wenn wir wüssten, warum er dort draußen war, um diese Jahreszeit draußen auf dem See, und wohin er vielleicht wollte. Dann könnten wir unsere Suche konzentrieren. Fällt Ihnen irgendetwas ein, was uns weiterhelfen könnte?«
Es müssen mehr als zehn Spatzen sein. Sie klingen, als ob sie in der Hortensie auf der anderen Seite des Zauns sind, wo sie darauf warten, zum Patio zurückzukehren.
Einer der Polizisten legt etwas auf den Tisch. »Diese hier wurden an Bord gefunden. Es scheinen alte Logbücher von Porphyry zu sein; wir denken, dass sie vielleicht Ihrem Vater gehört haben. Arnie Richardson war der Ansicht, Sie sollten sie haben. Er hat gesagt, er hätte gehört, Sie seien zurück nach Thunder Bay gezogen, und dass wir Sie hier finden könnten.«
Die Spatzen sind wieder in Bewegung. Ihre flatternden Flügel haben sie zu den Zweigen des Fliederbuschs getragen. Sie ruhen sich einen Moment aus und gestatten es einem Raben, den Raum mit seiner krächzenden Anwesenheit auszufüllen. Ich bin müde. Es ist Zeit für meinen Nachmittagstee. Und Marty hat mir diese Dose mit Shortbreadkeksen gebracht. Sie steht neben der Öllampe. Der, die so aussieht wie die Lampe, die beim Leuchtturm von Porphyry immer im Haus des Leuchtturmwärter-Assistenten stand. Die Spatzen würden sich über ein paar Kekskrümel freuen. Ich darf nicht vergessen, morgen ein oder zwei Kekse mitzubringen, falls das Wetter mitspielt und ich wieder draußen sitzen kann.
Aber sie warten. Sie warten darauf, dass ich etwas sage. Sie haben mit Arnie Richardson gesprochen. Sie wollen etwas über Charlie erfahren. Sie wollen wissen, warum er mit dem Windtänzer draußen war. Sie wollen wissen, wohin er wollte. Ihnen ist nicht bewusst, dass er für mich ein Fremder geworden ist. Aber ich weiß es trotzdem. Es gibt nur einen Ort.
»Porphyry Island. Er hätte nach Porphyry Island gewollt.«
6
Morgan
Ich nehme den Spachtel wieder in die Hand, beginne an einem anderen Teil des Zauns. Diesmal trage ich Calebs Arbeitsstiefel, die mir zwei Nummern zu groß sind. Er ist schon länger bei Laurie und Bill als ich, aber er ist ein nichtsnutziger, fauler Sack und wird die Stiefel vermutlich nicht einmal vermissen. Mit den Botten und Martys blauem Overall sehe ich aus wie eine Comicfigur. Ich bin ein Witz.
Die Cops sind gegangen, aber die alte Frau sitzt noch immer in ihrem Rollstuhl da. Gott, sie sieht lächerlich aus mit dieser Fliegersonnenbrille, die Haare lang und glatt und weißer als Schnee, die ihr über die Schultern fallen. Sie muss mindestens hundert Jahre alt sein. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein muss, so alt zu sein, kein Leben mehr zu haben, auf das man sich freuen kann. Und dein Gedächtnis ist vermutlich hinüber, das heißt, du hast auch deine Vergangenheit verloren. Nichts mehr da bis auf den nächsten Atemzug, den man tut.
Ich tue einen Atemzug. Lang und tief. Die Ironie entgeht mir fast.
»Morgan, richtig?«
Sie spricht mich an. Sie kennt meinen Namen.
»Es sieht so aus, als ob sie dort drinnen ein bisschen viel zu tun bekommen haben. Ich bin sicher, dieser Zaun kann ein paar Augenblicke ohne dich auskommen, während du mich zurück zu meinem Zimmer schiebst. Weiß Gott, wenn du so weitermachst, wirst du bald bis auf die andere Seite durchgespachtelt haben. Da ist nur eine begrenzte Menge Farbe drauf.«
Sie sieht mich nicht an, aber ich kann sie nicht wirklich ignorieren. »Ich glaube nicht, dass ich mit den … ähm … Bewohnern … interagieren soll.«
»Und du tust immer, was du tun sollst?« Es klingt nicht nach einer Frage. Sie sitzt aufrecht in dem Rollstuhl, mit erhobenem Kinn, die behandschuhten Hände im Schoß gefaltet. Ich wünschte, ich könnte ihre Augen hinter dieser albernen Brille sehen.
»Na schön.« Ich werfe den Spachtel zu den anderen Werkzeugen in den Eimer. »Aber auf Ihre Verantwortung, nicht meine.«
»Das Päckchen«, sagt sie, wobei sie eine Hand in Richtung des Tisches hebt. »Das, das sie dagelassen haben. Bring es mir.«
Ich tue, worum sie mich bittet. Das Paket ist in irgendeine Art verblichenes weißes Leinen gewickelt und riecht nach Erde und Schimmel. Es ist mit Bindfaden zusammengeschnürt, aber die Knoten wurden gelöst, und der Stoff klafft offen, sodass ich sehen kann, was darin ist. Es sieht aus wie ein Stapel Bücher, Lederbände mit gewellten gelben Seiten. Ich lege das Paket der alten Frau in den Schoß.
Ich habe noch nie einen Rollstuhl geschoben, daher muss ich ein bisschen manövrieren, um ihn durch die Tür zu bekommen.
»Drittes Zimmer links.«
Als wir an Martys Büro vorbeikommen, kann ich ihn pfeifen hören. Ich sehe ihn nicht an. Ich gehe einfach weiter, den Blick fest nach vorn gerichtet, während meine geborgten Stiefel über den Fliesenboden schlurfen.
Die Zimmer der Bewohner sind alles andere als das, was ich erwartet habe. Sie sind wie Einzimmerapartments. Ich sehe mich rasch um, während ich den Rollstuhl zur Tür hereinschiebe. Es gibt einen kleinen Esstisch und ein Bett, eine Kommode mit ein paar gerahmten Bildern darauf und einen bequem aussehenden Sessel. Auf dem Bett liegt eine Quiltdecke. Die einzelnen Teile sind alle verblasst, und ich kann sehen, dass sie vermutlich handgemacht ist, vielleicht antik. Auch die Möbel sind alt. Wie die Frau. Aber es ist die Lampe, die mir ins Auge springt. Wir hatten genauso eine. Sie war rot, und das Glas beschlug mit Rauch, wenn wir sie anzündeten. Ich habe sie immer mit einem alten Lappen poliert.
Die Frau seufzt. »So ist es gut, Morgan. Danke.«
»Mhm.« Ich wende mich zum Gehen.
Die Hände der Frau gleiten über das Paket. Sie hebt es hoch und legt es auf den Tisch, und dann beginnt sie die Decke zusammenzufalten, die über ihrem Schoß festgesteckt war. »Glaubst du, die Polizei war deinetwegen hier?«
Ich bleibe im Türrahmen stehen. »Was?«
»Warum hast du dich versteckt?«
Ich wende mich zu ihr um und sehe sie an. »Ich habe mich nicht versteckt. Die Cops wissen, dass ich hier bin.«
Die Frau lässt den Rollstuhl einrasten, steht vorsichtig auf und legt die Decke ans Fußende des Betts. Sie gleitet mit einer Hand an der Kommode entlang, während sie langsam zu dem alten Sessel geht und sich dann umdreht, um sich zu setzen. Sie nimmt die Sonnenbrille ab, legt sie neben dem Paket auf den Tisch und lässt ihre Hand einen Moment auf dem Stapel Bücher ruhen.
»Elizabeth. Elizabeth Livingstone.«
Ich sehe in ihre tiefbraunen Augen, scharf und herausfordernd, aber zugleich unangenehm leer.
Die alte Frau ist blind.
Irgendetwas an diesen ausdruckslosen Augen macht mich beklommen, aber nur für einen Moment. Und dann ist es vorbei. Es ist albern. Es ist mir scheißegal, wer sie ist, und ich habe kein Interesse, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Daher tue ich es nicht.
»Mhm.« Ich wende mich um und gehe hinaus, laufe mit polternden Stiefeln den Flur hinunter.
7
Elizabeth
Ich wundere mich nicht, und ich bin nicht gekränkt, aber es lässt mich doch aufseufzen. Angst kann so rasch in Wut umschlagen; sie fürchtet sich davor, was das Leben mit sich bringen kann, und sie ist sauer auf die Welt deswegen.
Ich knete geistesabwesend das Öltuch zwischen meinen Fingern. Der Rand ist ausgefranst, wo sich der Stoff der Umklammerung des locker geknoteten Bindfadens entzogen hat. Ein sanftes Ziehen ist alles, was erforderlich ist, damit das Band seinen Griff löst und es der moderigen Hülle gestattet, sich zu öffnen, um die Ledereinbände der Tagebücher freizulegen. Ich streiche mit den Fingern sanft darüber, erkunde die Oberfläche des obersten Bandes, halte auf der Prägung in der Mitte des Buchdeckels einen Moment inne und gleite über das erhöhte »A. L.«.
Andrew Livingstone. Mein Vater.
Das letzte Mal, dass ich diese Bücher in Händen hielt, war nach Charlies Rückkehr auf die Insel, vor dem Feuer. Es war der Moment, in dem mir bewusst wurde, dass der Bruder, den ich kannte, der Bruder, den ich als ebenbürtigen Verteidiger, als Emilys Beschützer ansah, von einer wütenden, harten Welt verändert worden war. Einer Welt, die in Krieg und Vorurteil verhaftet war. Ich hätte es damals sehen sollen, hätte wissen sollen, dass er imstande war, sich gegen sie zu wenden. Hat er es je bereut? Ich habe mir immer vorgestellt, dass er es getan hat. Doch nun ist es sehr wahrscheinlich, dass ich es nie erfahren werde.
Sie haben gesagt, es sei Arnie Richardson gewesen, der das Boot gefunden hat. Der der Ansicht war, ich sollte die Tagebücher haben. Das ist ein Name, den ich ein Leben lang nicht mehr gehört habe. Einmal hat er einen Brief geschickt. Wir erhielten ihn Jahre, nachdem er aufgegeben wurde, nachdem er uns um die ganze Welt nachgejagt war und schließlich eintraf – in einem Päckchen unseres Agenten, zusammen mit Korrespondenz über Bücher und Tantiemen und Einladungen zu Veranstaltungen, die wir nie besuchten. Darin war von seiner Rückkehr auf die Insel in den Wochen nach dem Feuer die Rede, zurück zur Leuchtturmstation von Porphyry, um aus den verkohlten Resten der rußgeschwärzten Gebäude einzusammeln, was er konnte. Sollten wir eines Tages nach Hause kommen, schrieb er, könnten wir das wenige, das gerettet wurde, auf dem Dachboden von Maijlis’ Haus finden. Ich schrieb ihm nicht zurück. Was hätte das nach so langer Zeit geändert? Es lag alles hinter uns. Leben wurden gelebt. Aber es wundert mich nicht, dass er wusste, dass ich nach Hause gekommen war. Trotz unserer Abschottung hatte er vermutlich gehört, dass die wenigen Habseligkeiten, die er für uns eingelagert hatte, angefordert worden waren. Maijlis ist vor ein paar Jahren gestorben, aber ihre Tochter hat die Lieferung zum Altersheim Boreal gern arrangiert.
Ich habe viele, viele Jahre nicht mehr an diese Tagebücher gedacht, aber ich habe den Augenblick nicht vergessen, in dem ich sie zum letzten Mal sah. Es war Anfang Frühling, und Emily sollte Anmachspäne aus dem Holzschuppen holen. Sie war schon zu lange fort, und damals fühlte ich mich nicht wohl dabei, sie fern von meiner Seite zu wissen, nicht nach dem, was passiert war. Ich fand sie im Haus des Leuchtturmwärter-Assistenten. Dorthin ging sie manchmal, vielleicht so wie ich, um sich zu erinnern. Sie saß in Pas Sessel, die Hülle aus Öltuch lose, die Bücher aufgeschlagen in ihrem Schoß. Ich erinnerte mich an die Tagebücher. Erinnerte mich, wie Pa an seinem Schreibtisch saß und schrieb, während im Radio Musik lief und der Holzofen knisterte und knackte. Sie waren verschwunden, als er starb, und ich war nicht einmal auf die Idee gekommen, sie könnten nicht mehr da sein. Emily konnte die Worte nicht lesen, aber ich sah zu, wie ihre Hand über die Seiten glitt, wie sie die Buchstaben fühlte und seine Stimme hörte, und ich wurde von Sehnsucht übermannt, dasselbe zu tun. Ich nahm eines der Bücher, strich mit der Hand über die Oberfläche, genau wie ich es jetzt tue, und glitt mit den Fingern über das eingeprägte »A. L.« auf dem dunklen Ledereinband.
Das quietschende Rad des Küchenwagens im Flur verkündet, dass es Zeit für den Nachmittagstee ist, und ich werde aus meiner Betrachtung geholt. Es klopft an meiner Tür.
»Möchten Sie Tee, Miss Livingstone?«, fragt die Pflegerin. Das will ich immer. Sie stellt ein Tablett auf den Tisch. »Möchten Sie, dass ich Ihnen einschenke?«
»Nein. Nein, vielen Dank.« Ich blättere die Bücher mit dem Daumen durch. »Ich komme sehr gut allein zurecht. Aber wenn Sie mir vielleicht die Dose mit Keksen neben der Lampe reichen könnten.«
Die Pflegerin legt sie in meine ausgestreckte Hand. »Kann ich Ihnen sonst noch irgendetwas bringen?«
Das Metall fühlt sich kalt an. Ich bin wieder im Haus des Leuchtturmwärter-Assistenten, das Tagebuch meines Vaters in einer Hand. Emily hatte die anderen Bücher auf dem Tisch neben sich aufgestapelt und eine metallene Keksdose in die Hand genommen. Sie hielt sie so ausgestreckt, dass sie zwischen uns in der Luft schwebte. In dem Moment, in dem meine Finger sich darum schlossen, verdunkelte Charlies Schatten den Eingang. Er hielt nur einen Augenblick inne, nur einen kurzen Atemzug, in dem er alles registrierte – mich, die Tagebücher, Emily, die Dose. »Was zum Teufel glaubst du eigentlich, was du da tust?« Es war keine Frage. Seine Stimme war wütend, und er stapfte über den Boden, schnappte sich Emily und zerrte sie aus Pas Sessel, schubste sie an mir vorbei zu der offenen Tür. Die Dose fiel mir aus der Hand. Sie fiel, prallte von der Sessellehne ab, der Deckel sprang auf, und der Inhalt ergoss sich über den Holzboden wie ein aufgeschlagenes Ei. Die Zeit stand still. Ich konnte mich nicht rühren. Es war, als hätte die Welt aufgehört, sich zu drehen. Charlie hatte Emily noch nie angeschrien. Charlie war noch nie wütend auf Emily gewesen. Nie.
Ich hielt noch immer eines von Pas Tagebüchern in der Hand. Er entriss es mir, und ich zuckte vor einem Mann zurück, den ich nicht kannte.
»Verschwinde! Du hast hier verdammt noch mal nichts zu suchen!«
Emily hatte nicht gesehen, wie die Dose zu Boden fiel; sie hatte das Gesicht an den Türrahmen gepresst, von Charlie abgewandt, von mir abgewandt. Ich wusste, sie versuchte zu verstehen, was passiert war, was sie getan hatte. Sie sah das Silber nicht aufblitzen, das aus einem alten weißen Stück Stoff entschlüpfte. Sie achtete nicht auf das leise Klimpern. Aber ich tat es, für einen kurzen Moment nur, bevor Charlie es zurück in die Dose stopfte.
Ein paar Tage später ging ich allein noch einmal hin und suchte überall, aber ich fand die Keksdose nie. Ich hielt die Tagebücher nie wieder in meinen Händen.
Bis jetzt.
»Miss Livingstone? Geht es Ihnen gut?«
Meine Hand zittert leicht, daher stelle ich die Dose mit Shortbread oben auf die Tagebücher. »Ja, es geht mir gut.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Danke.«
Oh, Charlie, was für Geheimnisse hast du mir so viele, viele Jahre vorenthalten? Geheimnisse, in Worten festgehalten, die unser Vater, Andrew Livingstone, verfasst hat, Leuchtturmwärter auf Porphyry Island. Geheimnisse, die so mächtig waren, dass sie deine Liebe zu Emily verzehrt haben.
8
Morgan
Es ist nach Mitternacht. Ich ziehe den Geigenkasten unter meinem Bett hervor. Er sieht aus, als ob er durch die Hölle gegangen ist, und der Griff wird von einem schwarzen Klebeband zusammengehalten. Ich habe ihn seit Monaten nicht mehr geöffnet, aber ich kenne jedes Detail, jede Wölbung des Korpus, die Position jedes Wirbels, die Anzahl der Haare auf dem Bogen.
Ich lege das Instrument neben mich und ziehe die Papiere heraus, die ich vor Jahren gefunden habe, versteckt unter dem Futter des Kastens. Es sind Bleistiftzeichnungen von Vögeln und Insekten, und sie sehen so echt aus, als ob sie von der Seite fliegen könnten. Und doch sind sie zugleich anders als alles, was ich je zuvor gesehen habe. Ich habe sie studiert, sie gezeichnet, von ihnen geträumt und sie wieder gezeichnet, aber ich habe sie niemandem gezeigt. Sie gehören mir. Ich sehe sie gern an, wenn ich einsam bin.
Ich breite sie um mich herum auf dem Bett aus, und die mit dem Raben springt mir ins Auge. Er hockt auf einem verwesenden Tier, einem Reh, vielleicht getötet von einem Rudel Wölfe.
Ich zupfe an den Saiten der Geige und nehme mir vor, Harz auf die trockenen, vergessenen Haare auf dem Bogen aufzutragen. Heute Abend ist anders. Heute Abend ruft mich das Instrument, und ich antworte mit einem Seufzer und klemme es mir unters Kinn, halte es dort, während ich es stimme. Ich hebe den Bogen, und dann lasse ich ihn auf die Saiten sinken. Er beginnt zu tänzeln.
Die Töne kommen zunächst langsam, erinnern sich, doch allmählich bauen sie sich auf, und die Musik kommt eher aus meinem Inneren als aus der Bewegung meiner Finger und des Bogens auf den Saiten. Für dieses Stück benötige ich keine Noten. Es ist eines, das ich auswendig gelernt habe und das wir oft zusammen gespielt haben: Ich stand mit meiner kleinen Geige neben seinem Sessel im Wohnzimmer und betrachtete mit weit aufgerissenen Augen die Art, wie er seinen Bogen hielt, die Art, wie er sich zu dem Rhythmus wiegte. Er spielte das wunderschöne Instrument, das jetzt meine Musik trägt.
»Du hast Talent, Morgan«, sagte er lächelnd zu mir, sichtlich erfreut. »Die Musik hat dich erwählt.«
Gott, ich vermisse ihn! Es ist sechs Jahre her. Fühlt sich länger an.
Ich wechsele zu einem Reel über. Das ist fröhlicher. Er hat mich Bach und Mozart lernen lassen, aber er mochte Folkmelodien am liebsten, und ich auch. Sobald ich mit meinen Tonleitern fertig war und Fingersätze und Dynamik geübt hatte, fiedelten wir. Sein Fuß klopfte auf den Boden, und das Tempo nahm immer mehr zu, bis ich schließlich aufhören musste und ihm nur noch beim Spielen zusehen konnte. Ich kann seine Augen sehen, von Lachfältchen umrahmt, wenn ich versuchte, ihn nachzuahmen.
Er war genug. Wir beide brauchten niemanden sonst. Wir aßen Kartoffeln und Dosensuppe und Fische, die er im Nipigon River selbst fing. An dunklen Winterabenden saßen wir nah beim Feuer, und er erzählte mir Geschichten von Schiffbrüchen auf dem Lake Superior und von den Jahren, die er damit zubrachte, mit seinem Kumpel Jim in der Black Bay zu fischen. Und manchmal, wenn der Wind durch die Ritzen in den Wänden kroch und eisigen Schnee gegen die Fenster trieb, trank er Whiskey aus einem alten, verbeulten Becher und redete von meiner Mutter. »Sie hat dich geliebt, Morgan«, sagte er zu mir, sein Akzent schwerer, je mehr er trank. »In gewisser Weise hat sie mich an deine Großmutter erinnert. Sie war wie der Wind. Unberechenbar. Frei. Wusste nie, was ich von ihr erwarten sollte. Den Wind kann man nicht festbinden, Morgan. Er tanzt, wo es ihm gefällt.« Und dann nahm er einen großen Schluck und erzählte mir, dass meine Mutter gekämpft hatte. Sie hatte so hart gekämpft, aber sie war nicht stark genug gewesen, und der Wind hatte sie fortgetragen. Ich war noch ein Baby, als sie starb.
Ich erinnere mich nicht an sie, und ich habe sie nicht vermisst. Nicht damals. Er war genug.
Bis zu dem Tag, an dem ich von der Schule nach Hause kam und ihn in seinem Sessel sitzend fand. Er saß einfach nur da und starrte mit offenen Augen auf Jeopardy! im Fernsehen, während der Teekessel auf dem Herd trocken kochte, sodass das ganze Haus nach heißem Metall roch und ein beißender Dunst in der Luft lag.
Anfangs tat ich nichts, außer Geige zu spielen. Redete nicht. Aß nicht.
Die Kinder in dem ersten Haus, in dem ich lebte, machten sich über mich lustig, rissen mir meinen Bogen weg, tanzten herum und riefen im Sprechgesang: »Morgan kann nicht reden! Morgan kann nicht reden!«, bis meine Pflegemom dafür sorgte, dass sie aufhörten. Sollen sie doch sagen, was zum Teufel sie wollen, dachte ich. Ich hörte ihn durch die Musik zu mir sprechen. Das war alles, was mir etwas bedeutete.
Ich war drei Jahre dort. Meine Sozialarbeiterin fand eine Möglichkeit für mich, Musikstunden zu nehmen, und jede Woche ging ich zur Musikschule, um bei einer dicken Nonne zu lernen, die immer dasselbe schweißbefleckte schwarze Kleid trug und nach Lakritze roch. Sie ließ mich Mozart spielen, während ich immer nur seine Songs spielen wollte. »Du hast Talent«, sagte sie, und die Schweißflecken wurden größer und dunkler, je frustrierter sie von mir wurde. »Du hast die Verantwortung, zu lernen! Du musst üben und dich konzentrieren!«
Aber die Geige scheint seine Lieder am liebsten zu mögen. Sie leben in dem Holz und in den Hohlräumen und hallen in meinem Herzen wider. Als das Erinnern allzu schmerzlich wurde, hörte ich einfach auf zu spielen. Irgendwann fand ich meine eigene Stimme wieder. Offenbar hat sie mir im Allgemeinen Ärger eingebracht. Sobald ich auf die Highschool kam, wurde ich in ein anderes Haus verlegt, zu Eltern, die ältere Kinder aufnahmen. Nur vorübergehend, sagten sie, bis sie eine Familie für mich finden könnten. Ich wusste es besser. Ich wusste, wie das System funktionierte. Dort draußen war keine Familie für mich. Ein paar Jahre später landete ich hier, bei Laurie und Bill. Nur vorübergehend. Ich verstehe schon.
Ich denke an die alte Frau im Altersheim Boreal. Die Art, wie sie in diesem Rollstuhl saß. Ihr weißes Haar und ihre wettergegerbte Haut. Und diese Augen. Diese Augen, die nicht sehen können und mir doch irgendwie das Gefühl gaben, als würde sie genau durch mich hindurchsehen. Irgendetwas in diesen Augen sorgt dafür, dass ich mich erinnern will.
Die Tür schwingt auf, und das Licht geht an.
»Was zum Teufel tust du hier eigentlich, Arschgesicht? Ein paar von uns müssen in ein paar Stunden aufstehen. Das klingt ja, als ob du hier drinnen Katzen umbringst! Herrgott noch mal, GIB VERDAMMT NOCH MAL RUHE, sonst zerbreche ich das Scheißteil!«
Das ist Caleb. Er würde gute Musik nicht einmal erkennen, wenn sie ihn ins Gesicht schlägt.
»Verpiss dich!« Ich schnappe mir meine Haarbürste und schleudere sie nach ihm, verfehle ihn und stoße stattdessen die Lampe auf meiner Kommode um. Er zeigt mir den Mittelfinger, bevor er die Tür zuknallt.
»Arschloch.«
Der Bann ist gebrochen. Ich lege die Geige zurück in ihren Kasten und lasse die Schnallen des Deckels zuschnappen. Meine Augen brennen.