Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Maximilian Wenger war einer der Großen, ein Bestsellerautor, ein Macher. Jetzt steht er vor einem Scherbenhaufen: Niemand will mehr seine Romane lesen, und seine Frau hat ihn gegen einen Fitnesstrainer eingetauscht. In einer kleinen Wohnung unweit von Salzburg verkriecht er sich vor der Welt. Wengers achtzehnjährige Tochter Zoey plant ihre Zukunft nach ganz eigenen Vorstellungen. Schnell merkt sie, dass sie dabei an ihre Grenzen stößt – und das Erwachsenwerden mit Schmerz verbunden ist. Dann bekommt Wenger diese Briefe. Obwohl sie an seinen Vormieter adressiert sind, öffnet er sie, und es trifft ihn wie ein Schlag: Sie sind brutal und zart, erschütternd und inspirierend. Wer ist die geheimnisvolle Fremde, die von flüchtigem Glück, Verletzungen und enttäuschter Hoffnung erzählt? Was Wenger nicht weiß: Auch Zoey liest heimlich in den Briefen. Sie hat etwas erlebt, das sich in diesen wütenden Worten spiegelt. Beide, Vater und Tochter, werden an einen Scheideweg geführt, an dem etwas Altes endet und etwas Neues beginnt. Intelligent, schlagfertig-humorvoll und mit großer Empathie schreibt Mareike Fallwickl über das Gelingen und Scheitern von Liebe, Freundschaft und Familie, digitale und analoge Scheinwelten, Machtmissbrauch, weibliche Selbstbestimmung – und entfacht einen Sog, der fesselt bis zum Schluss. "Ein Roman, wie er aktueller nicht sein könnte. Ein Roman, über den man sprechen wird und muss. Und der zutiefst berührt." Florian Valerius, @literarischernerd
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 506
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Maximilian Wenger war einer der Großen, ein Bestsellerautor, ein Macher. Jetzt steht er vor einem Scherbenhaufen: Niemand will mehr seine Romane lesen, und seine Frau hat ihn gegen einen Fitnesstrainer eingetauscht. In einer kleinen Wohnung unweit von Salzburg verkriecht er sich vor der Welt.
Wengers achtzehnjährige Tochter Zoey plant ihre Zukunft nach ganz eigenen Vorstellungen. Schnell merkt sie, dass sie dabei an ihre Grenzen stößt – und das Erwachsenwerden mit Schmerz verbunden ist.
Dann bekommt Wenger diese Briefe. Obwohl sie an seinen Vormieter adressiert sind, öffnet er sie, und es trifft ihn wie ein Schlag: Sie sind brutal und zart, erschütternd und inspirierend. Wer ist die geheimnisvolle Fremde, die von flüchtigem Glück, Verletzungen und enttäuschter Hoffnung erzählt? Was Wenger nicht weiß: Auch Zoey liest heimlich in den Briefen. Sie hat etwas erlebt, das sich in diesen wütenden Worten spiegelt. Beide, Vater und Tochter, werden an einen Scheideweg geführt, an dem etwas Altes endet und etwas Neues beginnt.
Intelligent, schlagfertig-humorvoll und mit großer Empathie schreibt Mareike Fallwickl über das Gelingen und Scheitern von Liebe, Freundschaft und Familie, digitale und analoge Scheinwelten, Machtmissbrauch, weibliche Selbstbestimmung – und entfacht einen Sog, der fesselt bis zum Schluss.
»Ein Roman, wie er aktueller nicht sein könnte. Ein Roman, über den man sprechen wird und muss. Und der zutiefst berührt.« Florian Valerius, @literarischernerd
Inhalt
10 | Es ist 11.23 Uhr, und Wenger versucht …
März 2017
#partyhard
9 | Wenger sitzt nackt auf dem Bett …
März 2017
#22UhrNonMention
8 | Wenger fährt nur zu Sebstian, damit …
April 2017
#nevermind
7 | Er könnte die Frauen anrufen …
April 2017
#silenced
6 | Es muss ein Restaurant sein, in dem die Frau …
Mai 2017
#fuckoff
5 | Ich hab hier nur Edge …
Juni 2017
#loveofmylife
4 | Es ist Mitternacht, Wenger schreibt …
Juli 2017
#fromwhereistand
3 | Wenger langweilt sich in der Oper …
August 2017
#fuckyouall
2 | Wenger hat die Autofenster geöffnet …
September 2017
#screamoutloud
1 | Am 5. Oktober 2017 decken zwei Journalistinnen …
Oktober 2017
#newhorizons
0 | Vom Salzburger Flughafen fährt er …
10
Es ist 11.23 Uhr, und Wenger versucht, sich zu Sturm der Liebe einen runterzuholen. Er schaut zu der blonden Schauspielerin, sein Schwanz rührt sich nicht. Er wartet, bis die dunkelhaarige Schauspielerin ins Bild kommt, sein Schwanz rührt sich nicht. Aus der Unterhose hängt er, unter dem T-Shirt lugt er hervor, zwischen Bauch und Gummibund, ein schlaffes, häutiges Ding. Kaum zu glauben, dass es ihm so viel Ärger eingebracht hat. Auf dem Bildschirm ist jetzt der Typ zu sehen, der dieses Siegerlächeln mit viel Zahn hat. Ein typischer Macher. Wenger fragt sich, ob er auch so ein Lächeln hatte, als er noch ein Macher war. Damals hat er keine Vorlage gebraucht, um zu wichsen, da stand er unter Strom und griff sich bei jeder Gelegenheit in die Hose. Oder die Frauen nahmen das in die Hand, und da fällt ihm Valerie ein. An sie hat er lange nicht gedacht. Valerie mit der Lücke zwischen den Schneidezähnen und dem großen Leberfleck auf dem linken Oberschenkel. Sie benutzte immer Babyöl, so viel davon, dass es glitschte und schlatzte, eine Wonne bis rauf ins Hirn.
Das Kopfkino, in das Wenger eingetaucht ist, beeindruckt seinen Penis nicht im Geringsten. Wenger knetet ihn und schnaubt. Er hat keine Kontrolle mehr. Da ist es nur konsequent, dass auch sein Körper ihm nicht gehorcht. Weil nichts, wirklich gar nichts so läuft, wie Wenger es will. Er packt seinen nutzlosen Schwanz ein, lässt den Gummibund der Hose schnalzen und schaltet den Fernseher aus. Im selben Moment klingelt sein Handy. Gedämpft hört sich das Klingeln an, trotzdem nah, er hebt hastig die Kissen hoch, die Jogginghose mit dem großen Saucenfleck, die Zeitungen.
»Ja?«
»Mäx! Alter Freund, was geht?«
»Sebastian«, seufzt Wenger und fragt sich, wieso er rangegangen ist.
Er hat doch gesehen, dass sein Agent anruft, das ist ja kein Festnetz wie damals, als das Abheben russischem Roulette glich und man nie wissen konnte, wessen Stimme einem ins Ohr schießen würde.
»Hast du den Umzug überstanden? Sorry noch mal, dass ich dir nicht helfen konnte, ich war –«
»Lass gut sein«, schneidet Wenger ihm das Wort ab, sagt dann nichts mehr.
»Na, jedenfalls«, setzt Sebastian neu an, »woran arbeitest du? Hast du schon die Short Story geschrieben für die Anthologie zum Thema Frauen und Flucht? Könnte ein vielbeachtetes Ding werden, ich hab auf der Messe in Leipzig einen Termin mit –«
»Ich bitte dich«, unterbricht Wenger ihn erneut, aber im selben Moment geht ihm die Energie verloren, er weiß nicht, wie er weitermachen soll mit diesem Satz. Mit dieser Freundschaft.
»Ich brauche deinen Text bis Ende März. Walser ist vielleicht dabei und eventuell Kehlmann.«
»Frauen und Flucht, hat dir jemand ins Hirn geschissen?«
»Mäx, das ist eine wichtige Sache.«
»Was könnte ich dazu denn schon liefern? Ich kenn mich damit so gut aus wie mit Gebärmutterhalskrebs. Außerdem, was soll der Schmarrn, Frauen und Flucht, und dann schreiben darüber nur Männer? Ich seh die Feministinnen bereits im Quadrat springen und ihre brennenden BHs schwenken.«
Sebastian lacht laut. Wenger stimmt nicht ein, weil er das nicht als Scherz gemeint hat.
»Apropos, hast du die Debatte mitbekommen um Emma Watson?«, fragt Sebastian. »Die macht doch einen auf Feministin, hat aber grad ihre Titten auf einem Magazincover gezeigt.«
»Nein.«
»Bist du am PC? Ich schick dir den Link.«
Wenger lässt den Blick durch sein Wohnzimmer schweifen. Türme aus Kartons, Wäschehaufen, leere Pizzaschachteln, Ginflaschen, eine vertrocknete Pflanze, einzelne Zeitungsblätter. In einer der Kisten muss sein Laptop sein.
»Nein.«
»Es sind aber sehr schöne Titten.«
»Nein, ich werde dafür nichts schreiben.«
»Mäx«, Sebastian schlägt jetzt einen wattigen Ton an, weich, verständnisvoll, »hör zu. So eine kleine Kreativpause wirft doch einen wie dich nicht aus der Bahn. Jeder hat das von Zeit zu Zeit, ist völlig in Ordnung. Keine Sorge, okay? Mit der Short Story kannst du wieder durchstarten, ein bisschen die Muskeln lockern, neuen Schwung finden.«
»Hast du dir das Exposé angesehen, das ich dir gemailt hab vor meinem Umzug? Vor über zwei Monaten, Seb. Und die Figurenskizzen?«
»Ja, natürlich! Das könnte was werden. Ist gut, dass du am Ball bleibst. Und es ist ja ein Entstehungsprozess, nicht wahr?«
»Du findest es also scheiße.«
»Das hab ich doch gar nicht gesagt.«
»Ich kenn dich seit fünfundzwanzig Jahren, denkst du, ich könnte nicht jeden Furz von dir deuten?«
Wenger knallt den Frust in seine Stimme. Ihm wird heiß, und vielleicht zittert die Hand, mit der er das Handy hält, ein wenig. Der Zorn legt einen Rahmen um sein Blickfeld, trübt ihm die Sicht. Er ist nicht irgendwer. Er hat es nicht verdient, dass Sebastian ihn monatelang auf eine Rückmeldung warten lässt, die dann nicht einmal eine richtige Rückmeldung ist. Dass er ihn abspeist mit Floskeln und diesem Lachen, das klingt wie Spott.
»Eine Witzfigur bin ich für dich«, zischt er. »Verdammt, Seb, ich schreibe keine Kurzgeschichten! Diesen intellektuellen Meta-Scheiß über flüchtende Frauen kaufen vielleicht dreihundert Leute, und die Hälfte davon sind traurige, ungefickte Sozialarbeitsstudentinnen mit Ökosandalen! Wenn das alles ist, wozu mein Name noch taugt, dann schneid ich mir jetzt gleich die Pulsadern auf, und du kannst live dabei sein.«
»Nun mach doch nicht gleich so ein Drama.«
»Du hast mich hofiert, als ich noch dein Goldesel war, den du melken konntest, und kaum lief es nicht mehr so gut, hast du mich fallengelassen wie ein angeschnäuztes Taschentuch.«
»Das ist doch nicht wahr, ich vertrete dich immer noch. Und streng genommen melkt man einen Goldesel nicht, das Gold kommt aus dem A–«
»Es kommt von da, wo du mich lecken kannst«, sagt Wenger und legt auf.
Er würde das Handy gern an die Wand werfen, es krachen hören, es zersplittern sehen. Er unterdrückt den Impuls, das Scheißding hat siebenhundert Euro gekostet. Als man noch den Hörer auf den Apparat knallen konnte, war der Effekt definitiv befriedigender. Er lässt das Smartphone auf die Umzugskiste plumpsen, die ihm als Couchtisch dient, zwischen Apfelbutzen und Werbeprospekte. Es klingelt erneut, Wenger schaut auf das Foto von sich und Sebastian auf dem Display. Sie haben gerötete Gesichter, von der Sonne oder vom Champagner. Im Hintergrund ein halbes Segelboot und ein Stück vom Meer. Es muss Jahre her sein. Er hat die Jacht verkauft, damit Patrizia sie nicht bekommt nach der Scheidung, und er vermisst sie.
Er drückt den Anruf weg, starrt weiterhin auf das Handy. Ein paar Minuten später denkt er, dass Sebastian es wenigstens einmal noch hätte versuchen können.
Er gibt den Tastencode ein, öffnet die Facebook-App und sucht nach Valerie. Es dauert eine Weile, bis er sie findet, weil sie ihn erstens entfreundet hat und zweitens anders heißt, ihr alter Name steht in Klammern. Auf den drei Fotos, die für ihn zugänglich sind, sieht er auch, warum. Sie hat geheiratet. Einen Glatzkopf mit Brille, der auf den Bildern dreinschaut, als hätte man ihm einen Ferrari geschenkt. Bestimmt, weil Valerie auch ihm den Schaltknüppel einölt. Wenger betrachtet ihre Brüste, die aus dem weißen Kleid quellen, wie zwei verlorene Freunde.
Er weiß ja selbst, dass das nichts taugt, was er Sebastian geschickt hat. Sonst hätte er seinen Laptop längst ausgepackt. Sonst würde er weiterschreiben, diesen pulsierenden Rausch erzeugen, die Wörter fliegen lassen und die Finger. Stattdessen denkt er an das Schreiben wie an eine Party, die ohne ihn stattfindet, die Musik hört er schwach und das Gelächter, aber eingeladen ist er nicht, und aus lauter Trotz tut er so, als hätte er eh keine Lust, hinzugehen.
Mit knackenden Knien steht er auf, um sich einen Drink zu mixen. Er sucht nach einer Lobsters-Flasche Tonic Water, er ist ja ein Genießer, ein Kenner, er weiß um die Wichtigkeit eines guten Fillers, gießt aber mehr Gin ein, als er sollte, Aeijst Styrian Pale Gin aus der Südsteiermark, benannt nach dem Dialektwort für Äste, auf denen die Botanicals wachsen. Nach dem ersten Schluck muss er husten. Er wischt sich die Flüssigkeit vom Kinn und spürt die Bartstoppeln. Es amüsiert ihn, ungepflegt zu sein. Er hat beschlossen, dass das dazugehört, dass er das jetzt darf. Keine Selbstbeherrschung mehr, keine Selbstoptimierung, sondern gutes altes Sich-Aufgeben, wie es kaum noch gemacht wird. Man darf sich ja nicht bemitleiden heutzutage. Weil man eh alles erreichen kann, wenn man nur will. Erreicht man es nicht, dann nur, weil man halt nicht genug will. Was Wenger will, ist seine Ruhe. Von den ganzen depperten Ratschlägen, von den Fragen nach seinen Plänen und von den Menschen sowieso.
Für den Cocktail mit den Schlaftabletten würde er nicht Gin nehmen, sondern Whiskey. Ein Klassiker, und auf jeden Fall ohne Blut. Ein leiser Rücktritt, eine stumme Anklage, die in ihrer Stummheit umso lauter wäre. Es besteht die Gefahr, dass man sich von diesem speziellen Mix nur übergibt und gar nicht stirbt, der ist ja nicht blöd, der Körper, aber Wenger würde einfach nach dem Speiben noch mehr trinken, bis er zu schwach wäre zum Kotzen. Das müsste doch funktionieren. Ausgefeilt war der Plan nicht, nur vorhanden, irgendwo in ihm. Er dachte daran, wie man an das vage Vorhaben denkt, nach Schweden zu fahren, »da will ich unbedingt mal hin, irgendwann werd ich das machen«, sagt man zu sich und zu anderen, bei Dinnerpartys zum Beispiel, wenn einer erzählt, dass er dort war. Und dann macht man es nie, oder vielleicht auf einmal doch.
Finden würde ihn Elisabeth, wenn sie mit den Einkäufen käme, und bis dahin hätte noch nicht einmal jemand bemerkt, dass er gestorben ist. Das würde die Leute recht schockieren.
»Als die Schwester gekommen ist, hat er schon gestunken«, würden sie raunen, »so lang hat ihn keiner vermisst. Dabei war er mal berühmt, weißt du, richtig berühmt war der. Und dann so ein Ende.«
Elisabeth würde die Polizei anrufen und weinen dabei. Die Einkaufstaschen wären ihr aus den Händen gerutscht im ersten Schreck, und zum Leichengeruch würde sich etwas Saures mischen, vom geborstenen Glas mit Essiggurkerln. Die Vorstellung gefällt ihm. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass einer sich umbringt nur aus Trotz.
Und das Begräbnis! Leidtun würde es ihnen, dass sie ihn fallengelassen haben, mit Scham würden sie zu Boden schauen, den Blicken der anderen ausweichen, jeder für sich geplagt von Gewissensbissen. Die Frauen bleich und mit wasserfester Wimperntusche, einander aus den Augenwinkeln begutachtend, mit der Frage im Kopf: Hat er die auch? Und die da drüben, hat er mit der? Die Männer verschämt wegen der Gefühlsduseleien, überfordert von der Situation, heimlich auf der Suche nach einer besonders Trostbedürftigen, mit der nach dem Leichenschmaus noch was geht. Wenger sieht sie vor sich, die Trauergemeinde, die Reporter und Kameras. Die früheren Freunde und die Möchtegerns, die ihn nicht persönlich gekannt haben, die sich bloß im Glanz seines Namens sonnen wollen. Die Menschen lieben es, wenn einer stirbt, auf den sie neidisch waren.
Wenger denkt über die Musik nach, die gespielt werden soll, während sein Sarg in die Erde rumpelt, das würde nicht leise gehen, nein, mit einem ratschenden, vorwurfsvollen Geräusch würde er ins Grab fallen. Vielleicht Hateful von The Clash. Oder Electric Funeral von Black Sabbath. Patrizia würde sich ärgern über derart Pietätloses, aber sie könnte es ihm nicht mehr reinwürgen. Das letzte Wort hätte er.
Mit besonderem Genuss stellt er sich die Schlagzeilen vor. Einsam und vergessen: Starautor schreibt sein eigenes Ende! Fette schwarze Lettern, daneben das Foto, auf dem er Mitte dreißig war, diesen Wahnsinnserfolg hatte und noch alle Haare. In seiner Fantasie schafft er es auf die Titelseiten der großen Zeitungen, im Internet wird sein Name in jede Timeline gespült, und die Verkaufszahlen seiner Bücher schießen noch mal in die Höhe. Ein kleiner zusätzlicher Nachlass für seine Kinder.
Das wäre ein Abgang mit Verve, ein selbstgewähltes Schlussmachen, kein langsames Abgleiten in die Bedeutungslosigkeit. In der er sonst sitzen würde, später, mit weißem Haar und verknöcherten Fingern, von seinen Romanen brabbelnd, verlacht von seinen Enkeln, die ihm erklären: »Opa, Bücher! Haben wir im Museum gesehen. Krass sinnlos, diese schweren Klumpen aus toten Bäumen.«
Woher weiß man im Leben, wann es Zeit ist zu gehen, wann man aufhören kann zu warten, weil nichts mehr kommen wird außer ein ewiges Zurückschauen?
Wenger nimmt einen großen Schluck, starrt die Umzugskartons an. Er hat keine Ahnung, in welchem davon seine Bücher sind.
Die Wohnung ist zu klein, eigentlich, trotzdem fühlt er sich verloren darin, er findet kein angenehmes Verhältnis zu den Räumen, aber das ist jetzt überall so, ganz egal, wo er ist. Das hat damit zu tun, dass keiner mehr da ist, der den Platz mit ihm teilt, seine Kinder nicht und Patrizia erst recht nicht. Eine Couch hat er und ein Bett, in der Küche einen Tisch und einen einzelnen Stuhl. Der Fernseher steht auf dem Boden, Wenger muss hinunterschauen, wenn er auf dem Sofa sitzt, er bekommt davon Nackenschmerzen, aber allein der Gedanke an Schrauben und eine Bohrmaschine ermüdet ihn derart, dass er den Kopf sowieso nicht mehr heben kann.
Er steht da und fühlt nichts.
Da hört er den Schlüssel in der Tür, schon kommt Elisabeth herein. Eine Wolke aus rot gefärbtem Haar, Tropfen aus Schnee darin, konzentrierte Fröhlichkeit.
»Naaa«, ruft sie munter, »geht’s dir gut?«
Sie bringt kalte Luft, zwei Einkaufstaschen und ein Lächeln mit, das Wenger ihr aus dem Gesicht boxen möchte.
»Du schon wieder«, raunzt er sie an.
Ihrem Grinsen kann sein Grant nichts anhaben, er weiß, sie hat damit gerechnet. Sie ist gewillt, seine üble Laune zu ertragen, und das ärgert ihn noch mehr. Wenger sehnt sich jetzt sehr nach seiner Hose. Aber sie vor seiner Schwester anzuziehen, wäre ein falsches Statement. Sie würde lachen und »Ist doch nix, was ich nicht schon mal gesehen hätt« sagen, und dann stünde so vieles im Raum. Dass sie nackt gemeinsam gebadet haben, als sie noch Kinder waren, dass eine derartige Intimität bei erwachsenen Geschwistern nicht angebracht ist, aber auch, dass Elisabeth keinen Mann hat, bei dem sie hinschauen könnte. Und Wenger erträgt all das Ungesagte nicht, da kann man ja kaum noch atmen, wenn einem die Luft so abgeschnürt wird von dem, was man nicht fühlen will.
Sie wedelt mit einem Packen Post in der Luft herum, sieht sich nach einem Platz um, wo sie ihn hinlegen könnte.
»Hab ich aus deinem Briefkasten geholt«, sagt sie und schält sich aus dem Wintermantel. »Steht aber noch der alte Name drauf.«
Die Post legt sie auf den wachsenden Haufen aus Werbeprospekten und Zuschriften, den Wenger sich noch kein einziges Mal angeschaut hat. Wozu auch, nichts davon kann an ihn adressiert sein, er hat das Namensschild auf dem Briefkasten nicht ausgetauscht. Denn was taugt ein Versteck, wenn man außen hinschreibt: Hier bin ich?
»Weiß ich«, entgegnet er, »lass das so.«
Seine Schwester zuckt mit den Achseln und fragt nicht nach.
»Das ist nur für den Übergang«, hat er am Anfang gesagt, und geglaubt hat er es auch.
Nur ist es inzwischen so wie fast immer im Leben, dass der Übergang länger dauert als geplant und irgendwie nicht mehr aufhört.
Wenger trinkt seinen Gin Tonic mit einem Schluck aus.
»Um die Uhrzeit?«, fragt Elisabeth und runzelt die Stirn.
Wenger seufzt. Es ist nicht leicht, ein unverfängliches Gespräch zu führen, wenn man soeben noch drüber nachgedacht hat, sich umzubringen.
»Du solltest auch was trinken, dann wärst du entspannter«, sagt er.
Elisabeth reagiert nicht, nur die Runzeln auf ihrer Stirn werden tiefer. Ein einziges Stirnrunzeln, die Frau. Und dazu dieser pseudooffene Ich-verurteile-dich-nicht-Blick. Drei Jahre älter ist seine Schwester, und vielleicht erklärt dieser Altersunterschied das Mütterliche, das sie ihm gegenüber hat. Oder vielleicht liegt die Erklärung darin, dass ihre Mutter ihnen keine Mutter war. Es stimmt, Wenger hat Elisabeth gebraucht. Als er klein war, hat er sie gebraucht. Sie hat ihn umsorgt, ihm bei den Hausaufgaben geholfen und sich Geschichten ausgedacht für ihn, wenn er zu ihr ins Bett gekrochen ist. Sie hat geflüstert, ganz nah an seinem Ohr, um das Geschrei der Eltern im Wohnzimmer zu übertönen. Eigentlich hätte sie Schriftstellerin werden sollen, nicht er. Und Kinder hätte auch sie kriegen sollen.
Aber das ist bald fünfzig Jahre her. Jetzt hat er das Bemuttern satt. Sich zugrunde richten kann er allein. Es stört, wenn man mitten im Zugrunderichten steckt und dauernd jemand kommt, der einen aus dem Sumpf ziehen will.
Elisabeth schleppt die Einkaufstaschen in die Küche, er hilft ihr nicht. Er gibt ihr auch kein Geld, obwohl er davon wesentlich mehr hat als sie, schließlich arbeitet sie als Integrationslehrerin, und er kann sich nicht vorstellen, dass sie viel verdient. Nebenbei engagiert sie sich bei der Diakonie, ehrenamtlich. Sie muss sich halt irgendwie beschäftigen, die Tage sind lang und die Winter erst recht. Das Mütterliche ist ihr geblieben, ist zu ihrem vordersten Wesenszug geworden. Irgendwann entwickelt man keine neuen Fähigkeiten mehr, da muss man mit denen arbeiten, die man hat. Trotzdem hofft Wenger, dass Elisabeth bald das Geld ausgeht und der Wille, ihm zu helfen, auch. Er kann schlecht umgehen mit dieser Art der Zuwendung, hinter der so viel eigene Bedürftigkeit steckt.
»Ich hab die Schokolade gekauft, die du so gernhast«, ruft sie aus der Küche, und sie bräuchte gar nicht zu schreien, die Wohnung ist ja nicht groß. Sie taucht im Türrahmen auf und wedelt mit zwei großen Nougattafeln. Immerzu wedelt sie mit irgendwas. Wenger gießt sich einen neuen Gin Tonic ein. Er sollte jetzt Danke sagen, sie wartet auf ein Danke, er sieht es an ihrem Gesicht. Sie schaut ihn so direkt an. Er nickt. Elisabeth legt ein Lächeln über ihre Enttäuschung. Das kann sie, das ist sie gewohnt. Das macht sie schon ihr ganzes Leben lang. Sie dreht sich um, packt weiter die Einkäufe aus.
»Ich hab dir Gulasch gekocht«, ruft sie, »und Reisfleisch und Sellerieschaumsuppe. Ist wieder alles beschriftet.«
Er hört, wie sie die Plastikbehälter in den Kühlschrank schiebt. Auf jedem klebt ein kleiner Zettel mit ihrer sorgfältigen, runden Schrift, manchmal malt sie kleine Herzen oder Smileys dazu, und dann schafft er es kaum, das Essen runterzuschlucken, weil so viel in ihm aufsteigt. Sie hat aufgehört, ihm frische Zutaten zu kaufen, nachdem er alles vergammeln hat lassen. In den ersten zwei Wochen hat sie die verschimmelten Tomaten und Karotten entsorgt und die Nase über den McDonald’s-Schachteln gerümpft, dann ist sie dazu übergegangen, ihm fertige Mahlzeiten zu bringen.
Und es ist unmöglich, die Gerichte nicht zu essen. Zum einen, weil Elisabeth eine fantastische Köchin ist, da kann kein labbriger Burger mithalten, zum anderen, weil der Hunger stärker ist als der Stolz. Spätestens in der Nacht übernimmt sein knurrender Magen die Kontrolle. Auch einer, der sich aufgegeben hat und um den sich keiner mehr schert, hat noch Hunger.
»Ich mag keinen Sellerie«, sagt Wenger.
Elisabeth packt die leeren Tupperdosen ein, die in der Küche rumstehen, er hat sie nicht mal abgewaschen. Sie kommt ihm entgegen, schnauft erschöpft. Er sollte ihr einen Kaffee anbieten, sie fragen, ob sie sich setzen will. Er sollte mit ihr reden. Bevor Patrizia ihn rausgeworfen hat, hat er einmal in der Woche mit seiner Schwester telefoniert, und das sogar gern. Am Telefon funktionierte ihre Beziehung, meistens rief er sie aus dem Auto an, erzählte, wohin er gerade fuhr, was er dort tun würde, hörte sich die Geschichten über die Jugendlichen in ihren Klassen an, die ständig was beschädigen, weil sie selber so kaputt sind. Aber wenn sie ihm gegenübersteht, kommen nur Bosheiten heraus aus ihm, weil er permanent Angst hat, dass sie herkommt und ihn in die Arme nimmt, und dann.
»Nächstes Mal back ich dir Palatschinken, die kannst du als Frittaten essen«, sagt sie und lächelt wieder, »dazu mach ich dir eine gute Rindssuppe.«
Wenger schaut auf ihren üppigen Busen in dem hellblauen Strickkleid. Dick ist Elisabeth nicht, aber dünn auch nicht. Eine hübsche Frau Ende fünfzig, er versteht nicht, warum sie keinen Mann gefunden hat. Sie ist gebildet und kann kochen, eine von den Guten, die einem nicht von einem Konkurrenten ausgespannt wird, weil es gar keine Konkurrenz gibt, die einem treu bleibt bis zum Tod. An ihren Zähnen ist ein bisschen Lippenstift. Als Wenger das sieht, rührt es ihn, und diese Rührung macht ihn aggressiv.
»Bin ich dein neues Betreuungsobjekt?«, giftet er. »Oder dein Ersatzkind, weil du keins kriegen hast können?«
Für einen Augenblick zuckt ein alter Schmerz durch ihre Augen, und ihm ist klar, dass er sie dort getroffen hat, wo er sie treffen wollte. Gut fühlt es sich trotzdem nicht an.
»Du bist mein Bruder«, sagt sie.
»Du tust, als wär ich ein halbverrecktes Tier, das du aufpäppeln musst, weil es sich was gebrochen hat.«
»Dein Herz ist gebrochen«, entgegnet sie ohne Ironie.
Wenger macht ein ächzendes Geräusch. Er hat nicht gefrühstückt, und jetzt ist er betrunken. Er möchte sich hinsetzen und das Gesicht in die Hände legen, doch es besteht die Gefahr, dass er dann anfängt zu weinen.
»Das freut dich doch«, zischt er. »Endlich bin ich wieder der Schwächere, der dich braucht.«
Elisabeth zieht die Schultern hoch und lässt sie wieder fallen, als könnte sie seine Worte abschütteln. Sie greift nach ihrem Mantel und schlüpft hinein.
»Jetzt stehst du nicht länger in meinem Schatten«, setzt er hinzu, in der Hoffnung, dass sie mit ihm zu streiten anfängt. Er würde sehr gern streiten, herumschreien, die Tür hinter ihr zuknallen, Dampf ablassen, diese hitzige Leere spüren, in die sich sofort ein bisschen Reue mischt, nachher.
»Weil ich nicht mehr auf der Sonnenseite des Lebens bin«, macht er weiter und findet das Wortspiel recht gelungen, aber er merkt, dass Elisabeth seine Provokationen abprallen lässt an ihrer Fettschicht, an ihrer Gutmütigkeit, ihrer Nachsicht.
»Ich hab’s eilig«, sagt sie, »beim alten Steiner schaut’s nicht gut aus. Ich fahr zu ihm, damit wer da ist, wenn er stirbt.«
Wenger bleibt der Mund offen stehen, die Gehässigkeiten fallen ihm ungesagt von der Zunge. Jetzt hat sie den Streit gewonnen, ohne überhaupt gestritten zu haben. Im Vorbeigehen tätschelt sie seinen nackten Oberarm, die Berührung fühlt sich rau an. Er würde gern wissen, ob sie noch so riecht wie früher.
Die Tür fällt ins Schloss.
Wenger zieht seine Hose an, kratzt an dem eingetrockneten Fleck. Es ist sehr still. Er setzt sich aufs Sofa, der Stapel mit der Post fängt an zu rutschen, die Prospekte gleiten auf den Boden. Wenger sieht zu, versucht nicht, sie aufzuhalten. Obenauf liegt ein kleiner weißer Umschlag mit Handschrift. Wer schreibt denn heutzutage noch Briefe? Wenger nimmt ihn, dreht ihn um. Es steht kein Absender darauf, adressiert ist er an Albert Trattner. Das ist der Kerl, der vor ihm hier gewohnt hat. Wenger sieht sich um, als würde er beobachtet, reißt den Brief dann auf. Das Ratschen ist laut wie ein Vorwurf, und Wenger weiß, dass er nicht tun sollte, was er da tut. Die Post eines anderen zu lesen sollte man sich zweimal überlegen, man weiß ja nie, was einen da erwartet. Wenger ist so alt, dass ein Brief noch Bedeutung hat für ihn, weil es ein echtes Schriftstück ist, in das jemand Worte eingewebt hat und das Tage gebraucht hat statt Sekunden, um anzukommen. Aber die Neugier siegt über den Respekt. Zwei einzelne Blätter. Die Schrift ist gleichmäßig, leicht nach rechts geneigt, an manchen Stellen seltsam verschoben, als hätte die Hand gezittert. Er sieht ans Ende, es gibt keine Unterschrift. Dann liest er die Zeilen, und ein Gewicht legt sich auf seine Brust, drückt ihm auf die Haut und auf die Rippen, bis er kaum noch Luft bekommt. Er ist zu überrascht, um sich zu schützen. Es zerrt in ihm, genau dort, wo die Menschen ungern hinschauen, weil sie da nicht sehr schön sind. Als er den Brief sinken lässt, kann er vor Erregung nur langsam und flach atmen. Es ist absurd und merkwürdig, vielleicht sogar bedenklich, aber jetzt steht er, sein Schwanz. Jetzt steht er.
März 2017
Erinnerst du dich, dass Worte scharf sein können wie Messer? Weißt du noch um ihre Macht, um diese Schlingen, die sich auf dich legen, mit Eisenspitzen, die dir die Haut aufbrechen und die Knochen? Ich will eine Schlinge sein, ich will ein Messer sein, in Eisen gegossene Unbarmherzigkeit. Ich will dich aufbrechen, ich habe zu lange geschwiegen. Öffne deine Augen. Schau her. Schau nicht mehr weg. Jetzt ist die Stunde für meine Worte. Jetzt ist die Stunde für meine Rache.
Inzwischen bist du alt. Du hast mehr als die Hälfte der Zeit verlebt, die dir gegeben ist. Du hast manche Chancen genutzt, andere übersehen. Du hast Kinder bekommen, ein Haus gebaut, gearbeitet, geschlafen, gegessen, selten getanzt, ins Leere gestarrt mit dem Zweifel im Kopf, ob das alles war. Bin ich dir jemals nah genug gekommen, um einen Abdruck zu hinterlassen? Denkst du noch an mich, plagt dich das Gewissen, fragst du dich, was mit mir geschehen ist?
Ich hab dich geliebt, lass mich das einmal aufschreiben. Lass mich alles einmal aufschreiben. Ich schreibe es weg von mir, raus aus mir, runter von mir. Vielleicht fühle ich mich dann endlich wieder sauber. Vielleicht fühle ich mich dann endlich wieder.
Ich habe Angst vor dem Moment, in dem ich abends den Kopf niederlege. Ich fürchte mich nicht vor dem Aufwachen, auch nicht vor dem Tag mit all den Stunden, die sich vor mir auftürmen. Sie lassen sich füllen, und solange ich mich bewege, mich mit Menschen umgebe und ihnen zuschaue, gelangt keine Empfindung zu mir. Ich kann durch die Gassen schlendern, ich kann in einem Café sitzen und leise lächeln, ich kann aufs Meer schauen und mir vorstellen, wie salziges Wasser in meine Lunge dringt. Aber nachts bin ich verloren, mein Segel zerreißt. Sobald mein Kopf das Kissen berührt, fließt alles aus ihm heraus. Wie silbernes, mit einer Flüssigkeit verrührtes Pulver, Blut ist es nicht, oder vielleicht doch. Es rinnt an mir herunter, es ist kalt, und wo es mit meiner Haut in Kontakt kommt, hinterlässt es Wunden, wie Gefrierbrand. Jeden Abend atme ich voller Furcht in dieser Stadt, in der ich nicht zuhause bin, und wage nicht, mich zu rühren, denn dann würde ich das Silberne verteilen, immer weiter verteilen. Ich habe keinen Einfluss auf die Bilder, die mein Kopf hineinprojiziert in die Dunkelheit.
Ich sehe, was sie getan haben.
Ich warte auf den Schlaf. Er ist nicht mein Gegner, aber auch nicht mein Freund, und mit den Menschen ist es nicht anders. Ich habe nie zu den Frauen gehört, die sich Sprachlernkalender in die Küche hängen und glauben, eines Tages müssten sie nicht mehr dort stehen und Rindfleisch schneiden, eines Tages würde das wahre Leben kommen und sie abholen. Jetzt ist es eine ganz andere Art von Frauen, zu denen ich gehöre.
Was bleibt von einem Menschen, wenn man ihm alles nimmt, seine Sprache, seine Umgebung, seine Gewohnheiten, sein Selbstverständnis, wer ist er dann, zurückgeworfen auf sich selbst? Das Licht ist hier viel heller, obwohl das Meer es gierig verschluckt.
Bis zu meinen Zähnen ist mein Mund angefüllt mit Wut.
#partyhard
»Ziehst du das Kleid an, das ich dir gekauft hab?«
»Nein.«
Mama dreht sich um und sieht mich erstaunt an. Das hat sie nicht erwartet. Ihre Party, ihre Wünsche. So ist das in ihrem Kopf.
»Ich seh darin aus, als wäre ich nackt.«
»Ach, Blödsinn. Nude-Töne sind total angesagt. Wir hatten auf Moutou gerade einen Beitrag über Pastellfarben.«
»Das ist mir egal, ich zieh es nicht an.«
»Es ist von Ralph Lauren, es war teuer.«
»Und wenn ich mit Edding einen Strich in den Schritt male, sieht es aus, als hätte ich einen Landingstrip. Willst du, dass alle deine siebzehnjährige Tochter anstarren und sich Gedanken über ihre Intimrasur machen?«
»Ist das deine Art, mit deiner Mutter zu reden?«
Sie macht die Schnute, drückt das Kleid an sich.
»Dann behalt ich es eben selbst«, sagt sie.
»Kannst es ja als Nachthemd anziehen.«
Jetzt wird sie gleich sauer, ich sehe es in ihrem Gesicht. Die Falte zwischen ihren Augen verfügt über verschiedene Tiefengrade, ich kenne das Spiel ihrer Brauen und Mundwinkel. Nicht nur lesen kann ich ihre Launen, steuern kann ich sie auch. Ich weiß, welche Knöpfe ich drücken muss, damit es bei ihr raufknallt wie bei Hau den Lukas am Kirtag. Sie wieder runterzuholen ist ein bisschen schwieriger, aber auch dafür gibt es Triggerwörter. Und Entschuldigungen. Und Geschenke.
»Nur heute, Chloé, okay? Das wirst du doch wohl hinkriegen. Heute ist mein Geburtstag, da will ich nicht streiten.«
Ich könnte alles noch schlimmer machen, sagen, dass sie das Kleid sicher bloß von einem Shooting hat, dass es wohl niemand sonst mitnehmen wollte, aber ich schweige. Dann zwinge ich mich zu einem Lächeln. Die Leute sagen, ein Lächeln tue niemandem weh, doch das stimmt nicht.
»Ach«, sie zupft an den kurzen Haaren hinter meinem linken Ohr, »schade um deine schönen Locken. Du warst so hübsch!«
Sie legt die Hand auf meinen ausrasierten Nacken, der bis vor zwei Tagen noch bedeckt war von einer üppigen blonden Rapunzelwelle.
»Du siehst fremd aus«, sagt sie.
»Ich sehe nicht mehr aus wie du«, entgegne ich.
Ihre eigenen Locken hat sie auf spezielle Wickler gedreht, damit sie voluminöser werden, die Party beginnt in zwei Stunden. Ihre Nägel sind schon lackiert, geschminkt hat sie sich noch nicht. Sie wird besonders viel Make-up nehmen heute, da bin ich mir sicher, das gute, teure Zeug, damit niemand merkt, dass sie jetzt vierzig ist. Alle werden ihr sagen, dass sie keinen Tag älter aussieht als neunundzwanzig, sie wird abwinken und lachen dabei, die Komplimente aber aufsaugen wie Atemluft. Ihr Kleid wird eng sein und zu kurz, nur einen Tick zu kurz, sodass es noch als schick durchgeht. »Man könnte euch für Schwestern halten« wird der Satz sein, den ich am häufigsten zu hören bekomme. Sie wird lachen, jedes Mal, und mich festhalten, direkt neben ihr, sodass man uns gut vergleichen kann, gegen meinen leichten Widerstand drücken, ohne ein Wort zu sagen. Ich werde die Zähne sehr fest aufeinanderbeißen, damit mein Mund nicht aufgeht.
Sie seufzt und macht einen Schritt zurück. Wir haben uns zwei Stunden lang angeschrien, als ich vom Friseur zurückgekommen bin. Seither herrscht eine Art erschöpfte Waffenruhe, die wir aufrechterhalten, weil sie Geburtstag hat. Und über hundert Gäste erwartet, die sich nicht fragen sollen, warum ihre Tochter aussieht, als hätte sie geweint.
»Soll ich dir die Nägel machen?«, fragt sie und beäugt kritisch meine Hände.
»Die bleiben so«, antworte ich.
»Du könntest so viel aus dir –«
»Mama«, falle ich ihr ins Wort, »du wolltest doch nicht mehr streiten.«
»Schon gut«, sagt sie eingeschnappt und wendet sich zum Gehen. »Komm in einer halben Stunde runter in den Garten, du musst mir mit den Lampions helfen.«
»Es ist März«, murmle ich.
Als sie halb aus der Tür ist und ich das Gefühl habe, wieder Luft zu bekommen, schaut sie über die Schulter zu mir: »Und zieh dich um, du sollst doch schön aussehen heute Abend.«
Das ist es, was sie will. Noch mehr aber will sie schöner sein als ich.
Als ich sieben Jahre alt war, habe ich gebrannt. Das war in der Volksschule, ich ging in die zweite Klasse. Im Religionsunterricht haben wir einen Sesselkreis gebildet. Hinter mir stand eine Osterkerze, und ich weiß noch, dass ich mich plötzlich wunderte über den Geruch. Er war angesengt, aschig. Ich spürte nichts, noch nicht. Meine langen Locken waren zu einem Zopf geflochten, das Kleid hatte hinten eine Schleife. Als die Kinder anfingen zu schreien und mit dem Finger auf mich zeigten, drehte ich mich um. Ich sah das Flackern. Ich wusste, dass ich es war, die brannte. Aber ich war starr, wie in einem Vakuum, ich konnte nicht reagieren. Das Kleid brannte gut, am oberen Rücken habe ich eine walnussgroße Narbe. Trotz der Schmerzen fühlte es sich an, als würde ich nur zusehen, als wäre ich nicht Teil der Situation, nicht Teil meines Lebens. Und manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich diesen Zustand seitdem nicht mehr verlassen.
Spin kifft im Keller.
»Hast du keine Angst, dass sie was riecht?«
»Sie kommt doch nie hier runter. In den Keller schickt sie nur Barbara. Oder uns.«
»Auch wieder wahr.«
Ich atme den würzigen Duft ein. Ich höre die Stimme von Mama, die oben mit jemandem schimpft. Die Marmeladengläser von Barbara sind ordentlich nebeneinander aufgereiht. Rhabarber. Marille. Erdbeer.
Spin gibt mir den Ofen, ich nehme einen Zug, behalte den Rauch eine Weile im Mund.
»Wie hat sie dich dazu gebracht?«, frage ich und deute auf die Fliege, die um seinen Hemdkragen gebunden ist.
»Das geringere Übel«, sagt er, »sonst hätte sie es mir wieder eine Woche lang vorgeworfen, und so hab ich stattdessen einen Pluspunkt.«
Er nimmt den Joint aus meinen Fingern und setzt ihn an seine Lippen. Die Glut leuchtet im Halbdunkel. Im Keller ist es muffig, ein wenig feucht, ich habe Gänsehaut an den Armen. Vielleicht kriechen Spinnen über die Kellerdecke. Ich sehe nicht nach oben.
»Und sobald ich alle begrüßt hab, zieh ich mich sowieso um.«
Dann mustert er mein Outfit.
»Das ist sicher nicht das, was du heute anziehen solltest.«
Er hustet kurz, fängt dann an zu lachen.
Ich streiche grinsend über mein schwarzes Shirt mit der Aufschrift Bevor du fragst: Nein.
Das Gras macht die Umrisse weicher, als wäre die Welt gar nicht so scharfkantig, dass man sich verletzen kann an ihr. Ich spüre heitere Gelassenheit in mir aufsteigen. Bekifft kann ich die Party vielleicht überstehen. Spin reicht mir den Spliff für einen letzten Zug. Als ich danach greife, stoße ich mit dem Ellbogen gegen die Marmeladengläser. Das Regal wackelt, die Gläser klimpern leise, aber keines fällt um. Ich lache, vor Schreck und aus Erleichterung. Es überrascht mich, dass Dinge auch mal heil bleiben.
»Ich mag deine neue Frise«, sagt Spin.
»Danke«, sage ich und fahre mit den Fingern durch die Strähnen, die über dem Undercut liegen. Es fühlt sich ungewohnt an und luftig. Als würde etwas fehlen, aber auf eine gute Art.
»Am coolsten find ich, dass es dir egal ist, dass du dafür Ärger bekommen hast. Dass du es trotzdem getan hast.«
»Sind ja meine Haare«, sage ich.
Spin versteckt den Rest des Joints unter einem losen Ziegelstein in der Ecke. Als er ihn hochhebt, krabbelt ein winziges Tier heraus, eine Assel vermutlich. Das ist ein richtiger Keller, kein aufgemotzter Raum mit Fliesen und Fußbodenheizung und Sauna und Dusche wie in unserem Haus in der Stadt, sondern einer mit Schimmel in den Ecken, staubigen Spinnweben und unheimlicher Atmosphäre. Einer, in dem man nicht gefunden wird.
Mein Handy in der Hosentasche vibriert. Nachricht von Stefan.
On my way, schreibt er, 20 mins. Und drei Kuss-Smileys.
Ich antworte nicht, schiebe das Handy zurück. Ich habe gehofft, dass sein Vater sich weigert, ihn hier rauszubringen an den See. Ich habe ihm mehrmals gesagt, dass er nicht herzufahren braucht.
»Lass uns raufgehen«, murmle ich.
»Kommt der Alte auch?«, fragt Spin.
Ich zucke mit den Schultern.
Seit der Scheidung nennt Spin Papa den Alten. Reto nennt er den Schweizer und Mama die Schöne. Es wirkt, als wollte er emotionale Distanz herstellen, wo keine ist. Aber andere Scheidungskinder gehen Komasaufen oder lassen sich life sucks tätowieren, soll er sie nennen, wie er will.
»Bestimmt taucht er auf«, sagt Spin, »er steht doch so gern im Rampenlicht.«
»Aber wenn er kommt, werden alle über ihn reden. Ihn beobachten, hinter seinem Rücken über ihn lästern. Ihn mit Reto vergleichen.«
»Wir können ja wetten. Um hundert Euro.«
»Ach, das ist langweilig.«
»Dieser ganze Abend wird langweilig.«
»Lass uns was anderes machen. Irgendwas … Krasses.«
»Und was?«, fragt er mit amüsiertem Blick.
Er sieht älter aus als sechzehn. Mein Bruder ist ein Magnet, blond wie Mama und ich, groß, und er hat dieses Lächeln. Manchmal bin ich weit weg, dann holt sein Lächeln mich zurück, er muss gar nichts sagen. Diese Art von Lächeln ist das. Spin ist mein Co-Pilot. Wir steuern dieses Flugzeug, das nur noch trudelt, aus dem Rauch quillt, Spin sitzt neben mir, gleich werden wir springen müssen. So ist das mit uns beiden, und seit der Scheidung noch mehr. Wir haben nur einen Fallschirm, wir müssen uns aneinander festhalten.
»Ich denk mir was aus«, sage ich, »ich denk mir was aus, um diese Scheißparty aufzumischen.«
Ich bin in Jonathan verliebt. Sein Name hat den schönsten Klang. Da schwingt etwas in mir, wenn ich ihn höre, schwingt sehr tief und leise. Ich bin in Jonathan verliebt. Ich sage das nie, ich denke es nicht einmal konkret, man rennt ja nicht rum und hat so einen Satz im Kopf. Trotzdem ist er immer da. Mein Körper atmet im Takt dieses Satzes, pocht in seinem Rhythmus, ist durchströmt von dem Gefühl. Das zieht von unten nach oben, kommt aus dem Bauch, und in meiner Brust ist es dann heiß. Genau an der Stelle, an der sich bei Traurigkeit die Tränen sammeln. Wenn Liv mir einen Zettel zuwirft, wenn Stefan das Kondom aus der Packung zieht, wenn die Gmeiner mir die Französischschularbeit mit einem enttäuschten Blick auf den Tisch wirft, ist ein Teil von mir unkonzentriert. Hört ein Teil von mir einen anderen Ton. Immer ist das so, egal, was ich mache und mit wem. Ich bin in Jonathan verliebt. So stark ist das, dass die anderen es merken müssten. Wie ein Duft, der von mir ausgeht, wie eine Vibration. Als stünde es sichtbar auf meiner Haut, als schlüpfte es aus meinem Mund, zusammen mit den harmlosen Wörtern. Aber niemand sieht etwas, niemand hört etwas. Jonathan am allerwenigsten.
Im Garten liegt Schnee. Mama stakst auf High Heels herum, schwankt und krallt die Finger in die Schultern der Leute, die an den Tischen unter den Lampions stehen und Champagner schlürfen. Sie wird mit Gelächter und Komplimenten empfangen.
»Die Aussicht auf den See ist ein Traum.«
»Das vegane Buffet, einfach toll, wir sollten ja alle viel gesünder essen, gell.«
»Du schaust keinen Tag älter aus als neunundzwanzig, ein Mann wie der hält jung, nicht wahr?«
Überall das gleiche Blabla. So mancher Kerl nutzt die Gelegenheit, Mama festzuhalten, damit sie nicht ausrutscht. Sie macht sich dann los, aber sanft, fast entschuldigend. Überhaupt, das mit dem Körperkontakt, das hab ich noch nicht verstanden. Menschen sind in dieser Hinsicht schwer zu lesen. Manche meiden ihn, andere erzwingen ihn, und oft fassen sich zwei, die mal zusammen waren und die Finger nicht voneinander lassen konnten, gar nicht mehr an, als würde der Kontakt ihnen wehtun. Manchmal mag ich es auch nicht, wenn Stefan mir zu nah kommt, aber das liegt daran, dass er der Falsche ist. Wenn Mama meinen Körper berührt, dann nur, um ihn zu kritisieren. Ein Stupser zwischen die Schulterblätter, damit ich gerade sitze. Ein Zwicken in meinen Oberarm, wenn ich noch ein Stück Kuchen nehmen will. Umarmungen gab es eher von Papa, weil er fast nie da war und sich, wenn er nachhause kam, versichern wollte, dass wir das auch wirklich mitbekamen. Er mochte es, wenn wir ihm entgegenflogen und um den Hals fielen. Doch seit er ausgezogen ist und beschlossen hat, zu verkümmern, umarmt er mich nicht mehr. Vermutlich ist ihm inzwischen egal, was ich von ihm mitbekomme.
Einer der Catering-Typen hält mir ein Tablett mit kleinen Tomaten-Bruschette unter die Nase. Mama würde nicht wollen, dass ich abends Brot esse, deswegen nehme ich gleich zwei. Es ist dunkel geworden, der Wolfgangsee ein schwaches Schimmern. Es hat null Grad, und die Leute finden es exzentrisch, eine Gartenparty im März zu feiern. »Im Sommer kann ja jeder«, sagen sie und: »Trixie ist eben immer für was Besonderes gut.« Morgen, beim Frühstück zuhause, werden sie jammern, wie kalt es gewesen sei und wie verrückt, zu seinem Vierzigsten in die Sommerresidenz einzuladen, wenn Winter ist. Man darf den Menschen nicht trauen, und was sie einem ins Gesicht sagen, das darf man nicht glauben. Alles an ihnen ist fake, ihre Worte, ihr Lächeln, ihre Gefühle.
Zwei Pressefotografen habe ich gesehen und einen Kerl mit einer Filmkamera. Ich frage mich, ob Mama diese Leute extra eingeladen hat, damit sie in den Klatschspalten auftaucht, strahlend im roten Kleid, Arm in Arm mit Reto, oder ob jemand die geschickt hat. Die Magazine und Gossip-Websites sind geil auf sie, und das liegt nicht an ihrem Alter, sondern an dem von Reto. In der Hinsicht hat sie alles richtig gemacht, als Onlinemedienprofi weiß sie, wie man im Gespräch bleibt. Zuerst die hässliche Scheidung, das viele Geld, die Häuser, die Sorgerechtsfrage. Und dann der neue Mann an ihrer Seite. Sie hat ihn auf einer Gala präsentiert, auf irgendeinem roten Teppich in Berlin, wo ein Blitzlichtgewitter über sie niederging. Wenn ich im Mai achtzehn werde, bin ich von Reto genauso weit entfernt wie sie, elf Jahre. Sie ist vierzig, er neunundzwanzig.
»Es ist Liebe«, hat sie in die Kameras auf dem roten Teppich gesagt.
Da hab ich ihn zum ersten Mal gesehen, im Fernsehen.
Eine Woche später wohnte er bei uns.
Ich friere und gehe wieder rein. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Mama winkt und fuchtelt, bestimmt will sie die Schwesternnummer abziehen. Ich ignoriere sie und schließe die große Glasschiebetür. Drinnen ist die Musik der Liveband, die über Boxen in den Garten übertragen wird, viel lauter. Ein paar Gäste tanzen im Wohnzimmer der Villa, sie tanzen wie alte Leute, paarweise, mit Männerhänden an Frauensteißbeinen und aufeinander abgestimmten Schritten. Ich kann nicht so tanzen, und es fasziniert mich, dabei zuzusehen. Die Männerhände sind bestimmt schwitzig.
Papa steht mit einem Bier in der Hand an der Bar und redet mit niemandem. Er beobachtet Reto, der an der Wand lehnt und sich mit einer Schwarzhaarigen unterhält, tut dabei aber so, als würde er ihn nicht beobachten. Für Papa muss das sein wie für mich, wenn ich Maja sehe. Ich versuche dann auch immer, sie nicht zu sehen. Maja ist ein Jahr älter als Jonathan, geht aber in unsere Klasse, weil sie sitzengeblieben ist, und hat ein Auto. Sie trägt ständig eine Sonnenbrille, sogar wenn es regnet. Jeden Tag nach der Schule steigt er zu ihr ein, und dann schiebt sie die Sonnenbrille rauf in ihre Haare, um ihn zu küssen. Das ist so eine unbewusste, coole Bewegung, an der ich erkenne, dass sie eine von denen ist, die sich sicher sind.
Papa hat mich entdeckt und rührt sich nicht, doch er hat diesen flehentlichen Ausdruck im Gesicht. Ich mache eine Geste, die ausdrücken soll, dass ich aufs Klo muss, und gehe raus ins Vorzimmer. Ich muss gar nicht, aber ich kann jetzt nicht mit ihm reden.
Die Villa ist groß, ein protziger Kasten am See, mit einem eigenen Steg und einem Zaun, auf einer kleinen Anhöhe, mit Garten und zwei Balkonen, ein Haus, das man nur bekommen kann, indem man es erbt. Niemand, der bei Verstand ist, würde eine Residenz am Wolfgangsee verkaufen. Papa hat es einer Wiener Großtante zu verdanken, die noch vor meiner Geburt gestorben ist, doch das hat er nie jemandem erzählt. Er tut gern so, als wäre die Villa allein auf seinen Erfolg zurückzuführen, als hätte er das ganze Geld mit seinen Büchern verdient. Man hüllt sich über derartige Dinge in Schweigen. Man besitzt einfach.
Im Wohnzimmer ist alles weiß. Als ich ein Kind war, war das Haus gemütlich, mit viel altem Holz und wuchtigen Schränken, so groß, dass man sich verstecken konnte darin. Oft haben Spin und ich uns gemeinsam hineingezwängt, die Hände auf den Mündern, um nicht zu kichern, aneinandergedrängt in der Enge, die Muffigkeit hat sich mit dem Sonnenmilchgeruch unserer Haut vermischt, während Barbara nach uns gesucht hat. Später hat Mama auf Instagram gesehen, dass die Trendsetter dieser Welt es clean haben. Und da Spin und ich groß genug waren, um nicht mehr mit Schokoladenfingern alles zu beschmieren, hat sie unser geliebtes durchgesessenes Riesensofa gegen eine cremefarbene eckige Rauledergarnitur getauscht, in einem so merkwürdigen Format, dass man darauf weder bequem sitzen noch liegen kann, hat die Schränke rausreißen und weiß gestrichene Regale aufstellen lassen, in denen keine Bücher stehen, sondern silberne Schalen, die leer sind, und Figuren, bei denen man nicht erahnen kann, wo oben und wo unten ist. Die einzige Farbe in diesem Raum ist helles Türkis, als feines Muster auf den Dekokissen. Dann hat sie das restliche Haus umgestaltet, weil es nicht mehr zum Wohnzimmer passte, und niemand von uns wurde gefragt. Ich hatte die Sommer meiner Kindheit hier verbracht, mit Spin und Barbara, in einer endlosen Abfolge aus flirrendem Sonnenlicht, Wassermelone und träger Stille, das alles ist fort.
Ich habe gelesen, dass man in Finnland in einem Iglu aus Glas liegen kann, um die Polarlichter zu sehen. Im Kakslauttanen Arctic Resort in irgendeinem kleinen finnischen Ort oder vielleicht mitten im Wald stehen halbkugelförmige Glashäubchen, in denen man zweihundert Tage im Jahr den besten Blick in den von Farben durchschossenen Himmel hat. Angeblich ist das Glas frostsicher, und man schläft in Thermokleidung. Seit ich das weiß, starre ich manchmal nachts auf die Zimmerdecke, an der es kein einziges buntes Licht gibt, und frage mich, warum ich hier bin und nicht dort. Ich stelle mir vor, dass ich allein wäre, umgeben von Dunkelheit und Schnee und Ereignislosigkeit. Ich könnte mir die Polarlichter anschauen, sonst nichts, ich müsste mit niemandem sprechen.
»Stefan sucht dich«, sagt Spin und legt mir die Hand auf die Schulter.
Der Körperkontakt mit Spin ist in Ordnung. Das sind Berührungen, die an der richtigen Stelle ankommen und nicht zu lange dauern.
»Ach«, mache ich.
»Der arme Kerl irrt seit einer Stunde herum und findet dich nicht.«
»Ach«, mache ich wieder.
Spin schmunzelt.
»Jetzt ist niemand oben«, sagt er, »wir könnten die Bücher verstecken.«
Wir gehen die Treppe hinauf. Mein Zimmer, Spins Zimmer, Schlafzimmer, Gästezimmer, ein drittes Bad, noch ein Gästezimmer und Papas Bibliothek. Während Mamas Umgestaltung haben sie darüber am meisten gestritten. Mama wollte die alten Bücher loswerden, »etwas Kreatives« mit dem Raum machen, und Papa wehrte sich.
»Dass hier die großartigsten Geschichten der Weltliteratur versammelt sind, ist ja wohl kreativ genug!«, tobte er.
Um die anderen Räume scherte er sich nicht, er hielt sich ohnehin fast nie am Wolfgangsee auf, auch nicht, als wir noch Kinder waren. Er erwähnte die Villa nur beiläufig in seinen Gesprächen, und ebenso beiläufig besuchte er sie auch. Aber seine Sammlung war ihm heilig.
»Da sind wertvolle Stücke dabei!«, hat er geschrien. »Du bist so eine Ignorantin, man sollte dir den Studienabschluss aberkennen!«
Nach der Scheidung haben sie vereinbart, dass er die Bücher abholen und einlagern lässt, weil er in der neuen Wohnung keinen Platz dafür hat. Das ist noch nicht geschehen, sie stehen alle da in der Dunkelheit. Von unten dringt die Musik herauf, der Bass ein dumpfes Wummern. Ich streiche über die geprägten Lederbuchrücken. Schöne Ausgaben der Klassiker, Moby Dick, Ulysses, weiter drüben Hundert Jahre Einsamkeit und Faust. Eine Ordnung kann ich nicht erkennen, das konnte ich noch nie, er hat sie weder nach Alphabet noch nach Erscheinungsjahr oder Herkunftsland des Autors sortiert. Vielleicht nach Wert? In einem separaten kleineren Regal stehen seine eigenen Bücher, in der obersten Reihe die Erstausgaben aller vierzehn Romane. Zwei davon, Blut und Siebenstadt, sind signiert für Mama, die hat er ihr geschenkt, als sie sich kennengelernt haben. Für meine schöne Helena, steht in dem einen, ich würde jedes Pferd besteigen für dich, und ich weiß nicht, ob er auf den Trojanischen Krieg anspielte, um ihr zu schmeicheln, oder ob etwas Sexuelles dahintersteckt, und igitt. Liebe war’s, als ich dich sah, Liebe ist’s geblieben, steht im anderen. Jetzt ist die Liebe halt weg. Ich kenne die Widmungen auswendig, habe sie wieder und wieder angeschaut in jenen Sommern, mich vergraben im halbdunklen Zimmer. Auf der Suche nach Schatten, vielleicht auch auf der Suche nach einer Möglichkeit, mich Papa zu nähern, ihn zu finden, hier, zwischen dem Zauberberg und Im Westen nichts Neues.
Spin und ich stapeln wahllos Titel aufeinander und tragen sie in mein Zimmer, wo wir sie unter das Bett schieben. Es ist das dümmste Versteck, aber ich bin mir sicher, dass niemand dort nachsehen wird. Ich nehme die Bücher, von denen ich weiß, dass sie signiert sind, und die, von denen ich denke, dass sie am meisten Geld bringen würden. Zum Schluss die zwei Romane, die Papa Mama geschenkt hat. Als wir fertig sind, grinsen wir uns an.
An meinem ersten Schultag am Gymnasium hat Papa mich bis zur Tür gebracht.
»Hineingehen kannst du ja ohne mich, oder?«, hat er gefragt, und ich habe genickt, elf Jahre alt und verstummt angesichts des großen Gebäudes, in das so viele Kinder strömten, von denen ich keines kannte. Wie sollte ich überhaupt meine Klasse finden?
»Gut«, hat Papa gesagt und in seine Jackentasche gegriffen auf der Suche nach seinen Zigaretten, er hatte gerade aufgehört zu rauchen, mal wieder, bloß waren seine Hände schneller als sein Gehirn.
Ich musste ohne Spin auf diese neue Schule gehen, erst ein Jahr später würde er mir folgen, ich musste allein mit dem Bus fahren jeden Morgen und mittags auch, und beim Gedanken daran, nicht mehr mit ihm gemeinsam zu Fuß zu gehen wie bisher zur Volksschule, stiegen mir Tränen in die Augen. Ich hatte das gemocht, besonders im Winter, wenn es morgens noch finster war und unsere Schritte im frischen Schnee den Eindruck erweckten, es gäbe nur uns beide.
»Heul doch nicht«, brummte Papa, und es hätte wohl gutmütig klingen sollen, aber er sah sich dabei mit diesem entschuldigenden Lächeln um, als wäre es ihm peinlich.
Ich hoffte, dass ich den richtigen Rucksack ausgesucht hatte und die richtigen Schuhe, das waren in den ersten Tagen die wichtigsten Dinge. Man konnte nie genau wissen, was gerade in oder wieder out war, besonders direkt nach den Ferien war das schwierig. Weil man da die Outfits der anderen ja noch nicht gesehen hatte, die Marken, die sie trugen, weil man nicht ahnte, ob sie neue Ausdrücke verwendeten, die man selbst erst einmal würde googeln müssen, um mitreden zu können. Ein Minenfeld, und ich hatte nur ein kleines Zeitfenster, dann wäre meine Rolle in der Klasse festgelegt für immer.
»Setz dich neben ein Mädel, das nett aussieht«, sagte Papa, »konzentrier dich auf die Lehrer, lass dich nicht ablenken und mach deine Aufgaben. Dann klappt das schon.«
Ich sagte nichts, er hatte halt einfach keine Ahnung.
»Du musst dir Mühe geben, es fliegt einem im Leben nichts zu«, er fuhr noch mal mit nervösen Fingern in seine Taschen, fluchte dabei leise, »besonders dir als Mädchen nicht. Du musst dich doppelt anstrengen, hast du gehört? Die Welt ist nicht gemacht für euch.«
Ich hatte gehört, verstand aber nicht, was er meinte.
»Hübsch bist du ja«, sagte er, »nur wird das nicht genügen, wenn was werden soll aus dir.«
Er wuschelte mir durchs Haar, schaute erschrocken und versuchte dann, meine Locken wieder in Form zu bringen. Für einen Moment ließ er die Hand auf meiner Wange, sie war trocken und warm. Er zog mich in eine Umarmung, die eigentlich keine war, weil er mich gleichzeitig auf Abstand hielt. Er roch nach Aftershave und Ungeduld.
»Ich hol dich nachher wieder ab, okay«, sagte er, »wir gehen Eis essen. Zur Feier des Tages.«
Als die Schule aus war, war Papa nicht da. Er hatte mich vergessen, aber das überraschte mich nicht. Ich hatte mir schon in der ersten Pause aus dem Ordner im Klassenzimmer die passende Busverbindung herausgesucht.
Später hält Mama eine Rede, die an Peinlichkeit nicht zu überbieten ist. Sie ist beschwipst und rührselig, bedankt sich bei allen, die sie kennt, für die Unterstützung. Als ob irgendwer für sie da gewesen wäre. Ich meine, wirklich da gewesen. Abseits von den Kameras und den Likes. An den Abenden, an denen sie allein zuhause war, ungeschminkt, ungekämmt, mit Weinglas in der Hand und Einsamkeit im Blick.
Plötzlich spüre ich eine Hand, die sich um meine schließt.
»Da bist du ja«, raunt Stefan in mein Ohr.
Er drückt seine Lippen auf meinen Hals, ich lächle ihn an.
»Sorry«, flüstere ich, »so viele Leute.«
Er schiebt sich halb hinter mich, umarmt mich halb. Es ist wie immer, alles mit Stefan ist halb. Mama, die im Zentrum der Aufmerksamkeit und neben der Band steht, zieht Reto an sich und küsst ihn vor allen Leuten. Bestimmt hat sie gerade gesagt, wie gut er ihr tut und wie glücklich sie ist.
»Deine Mom ist so cool«, sagt Stefan.
Er lässt meine Hand nicht los. Ich gebe keine Antwort und betrachte die Geburtstagstorte. Sie ist ein dreistöckiges Gebilde mit viel Obst. Reto ist Fitnesstrainer und Veganer, und Mama ist hinter allem her, was im Trend ist. Früher hat sie manchmal Schokolade genascht, je süßer, desto besser, und wenn ich sie dabei erwischt habe, hat sie mir lachend auch ein Stück in den Mund geschoben.
»Kann ich dann hier bei dir schlafen?«, fragt Stefan, und ich tue so, als hätte ich ihn nicht gehört.
Während die Gäste klatschen und die Band Happy Birthday spielt, bitte ich ihn, mir was zu trinken zu holen, und verspreche ihm, derweil hier zu warten. Kaum ist er im Gedränge verschwunden, bahne ich mir einen Weg zur Verandatür. Papa steht allein draußen im Garten, wo ich ihn vermutet habe. Er lehnt am Zaun und sieht in die Dunkelheit. Er hat eine dicke Daunenjacke an, in der er fast verschwindet. So eine bräuchte ich auch.
»Hi«, sage ich.
»Hi«, sagt er.
An seinen Pupillen sehe ich, dass er was genommen hat, und da erfasst mich eine unerwartete Welle der Zuneigung. Er hätte sich wohl sonst nicht hergetraut.
»Auch auf der Flucht?«, fragt er, und ich könnte ihn fast sympathisch finden in diesem Moment.
Doch dann wendet er sich im selben Augenblick ab und trinkt sein Bier aus, als wäre er an meiner Antwort nicht interessiert. So ist das mit ihm. Er ist eine Tür, und ich probiere einen Schlüssel nach dem anderen, einen ganzen verfickten Schlüsselbund hab ich, und keiner passt. Nicht ein einziger.
Die Glasfront, die den Blick freigibt auf das rauschende Fest, haben wir im Rücken. Papa sieht nicht hin.
»Reto hat deine Bücher verkauft«, sage ich unvermittelt.
Papa fährt herum.
»Was hat er?«
»Ein paar, nicht alle. Ich glaube, er wusste nicht, welche wertvoll sind, er hat einfach mal angefangen und auf gut Glück einige versteigert. Aber für die, die du Mama geschenkt hast, hat er nicht viel bekommen, da war er enttäuscht.«
Papa starrt mich entgeistert an.
»Ich dachte nur, das solltest du wissen«, sage ich, und für einen Augenblick bin ich überzeugt, dass er einfach gehen wird. Dass er sich verkriechen, noch mehr trinken und traurig aus dem Fenster seiner versifften Wohnung schauen wird.
Er schmeißt seine Bierflasche in den Schnee, lässt mich ohne ein Wort stehen, stapft zur Glastür, schiebt sie auf die Seite, stürmt hinein in die Gästemeute, in deren überraschtes Rufen, er schnappt Reto, der neben Mama steht und Torte isst, und schlägt ihm ins Gesicht. Das geht so schnell, dass keiner reagieren kann, am allerwenigsten der Schweizer. Sein Teller zerbricht, als Reto zu Boden geht. Mama fängt an zu schreien.
Das war einfacher als gedacht, er hat nicht einmal nachgeschaut, ob es wahr ist, was ich da behaupte. Wahrscheinlich wollte er ihn sowieso schon längst schlagen. Die ganze Zeit war Papa das aufgedrehte Gas, und ich war der Funken.
Reto springt auf und stürzt sich auf Papa, der rückwärts in den Kuchen fällt wie in einem Slapstick-Movie. Es sieht lustig aus, aber ich kann nicht lachen. Ein bisschen tun sie mir leid, alle da drin, wie sie von ihrer Gefallsucht dirigiert werden und von ihrem Hierarchiedenken, das mit Geld zu tun hat und mit Titeln und Besitz. Es ist einer dieser Augenblicke, in denen ich genügend inneren Abstand habe, um klar zu sehen, um das gesamte Gefüge zu erkennen, in das wir verstrickt sind. Ich wollte nicht, dass Papa und Reto sich prügeln, dass Mama einen Schreikrampf bekommt. Aber ich wollte, dass alle, wirklich alle, sehen können, was wir sehen. Was für Arschlöcher sie sind.
»Die Party«, sagt Spin, »war gar nicht so langweilig wie gedacht.«
Er hat das Haus durch die Vordertür verlassen und steht auf der anderen Seite des Zauns. Ich klettere darüber. Er reicht mir meine Jacke und meinen Helm. Wir sehen uns kurz an, wir lächeln nicht. Er startet das Moped, ich steige hinter ihm auf, halte mich an ihm fest und schiebe die Hände in seine Jacke.
Er gibt Gas, die Luft ist kalt.
9
Wenger sitzt nackt auf dem Bett und googelt sich selbst. Das Kokain hat sich verwaschen, fadet aus, er ist im Zwischenstadium. Noch beflügelt, berauscht, aber nicht mehr aufgestachelt und heiß wie vor wenigen Stunden, nicht mehr überzeugt von sich und mutig, nicht mehr high. Das Runterkommen hat eingesetzt, das Ächzen der Knochen, das Kratzen im Hirn, die nicht länger unterdrückte Müdigkeit. Neben ihm auf dem Nachtkästchen liegen die Downer, er wird zwei oder drei schlucken, damit er schlafen kann, später. Als er jung war, hat er gekifft, um den Übergang vom Koks sanft zu machen, aber jetzt ist er alt, jetzt weiß er, dass das Kiffen ihn nur hinhält, dass er achtundvierzig Stunden später die Nachwirkungen trotzdem fühlt, heftiger sogar. Sein Körper verzeiht ihm nichts mehr. Tagelang ist er dann träge und unwillig, mit Schmerzen an Stellen, an denen einst Leichtigkeit war.
Wenn Wenger seinen Namen eingibt und auf News klickt, sieht er sich selbst, wie er in die Geburtstagstorte fällt. Er sieht sich Reto schlagen, ein ungeschickter, unpräziser Schlag war das, dessen Wirkung nur von der Wucht ausging und vom Überraschungseffekt. Es gibt Bilder von Reto, der am Boden liegt und sich die Nase hält, aus der Blut läuft, es gibt Bilder von Wenger, der die Augen aufgerissen hat und den Mund. Sein Blick ist grimmig, ein bisschen irr, die Zähne sieht man so deutlich, als hätte er jemanden beißen wollen, und wenn Wenger die Fotos vergrößert, glaubt er sogar Speichel zu erkennen, der in Tropfen um sein Kinn fliegt. Er weiß nicht mehr, was er geschrien hat. In dem Video auf YouTube kann er es nicht verstehen, zu laut ist das Gekreisch der Leute.
Patrizia ist die Mimik entglitten, entsetzt ist sie, schief und verzogen, nicht grad attraktiv. Das hat sie nicht geplant, mit Sicherheit nicht, sie hat auf jedem Foto schön aussehen wollen an diesem Abend, und wahrscheinlich ist sie aus diesem Grund noch wütender auf ihn.