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Ein großer feministischer Gesellschaftsroman über Widerspruchsgeist und Solidarität An einem Sonntag im Juni gerät die Welt aus dem Takt: Frauen liegen auf der Straße. Reglos, in stillem Protest. Hier kreuzen sich die Wege von Elin, Nuri und Ruth. Elin, Anfang zwanzig, eine erfolgreiche Influencerin, der etwas zugestoßen ist, von dem sie nicht weiß, ob es Gewalt war. Nuri, neunzehn Jahre, der die Schule abgebrochen hat und versucht, sich als Fahrradkurier, Bettenschubser und Barkeeper über Wasser zu halten. Ruth, Mitte fünfzig, die als Pflegefachkraft im Krankenhaus arbeitet und deren Pflichtgefühl unerschöpflich scheint. Es ist der Beginn einer Revolte, bei der Frauen nicht mehr das tun, was sie immer getan haben. Plötzlich steht alles infrage, worauf unser System fußt. Ergreifen Elin, Nuri und Ruth die Chance auf Veränderung?
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Seitenzahl: 443
Mareike Fallwickl
Roman
Ein großer feministischer Gesellschaftsroman über Widerspruchsgeist und Solidarität
An einem Sonntag im Juni gerät die Welt aus dem Takt: Frauen liegen auf der Straße. Reglos, in stillem Protest. Hier kreuzen sich die Wege von Elin, Nuri und Ruth. Elin, Anfang zwanzig, eine erfolgreiche Influencerin, der etwas zugestoßen ist, von dem sie nicht weiß, ob es Gewalt war. Nuri, neunzehn Jahre, der die Schule abgebrochen hat und versucht, sich als Fahrradkurier, Bettenschubser und Barkeeper über Wasser zu halten. Ruth, Mitte fünfzig, die als Pflegefachkraft im Krankenhaus arbeitet und deren Pflichtgefühl unerschöpflich scheint.
Es ist der Beginn einer Revolte, bei der Frauen nicht mehr das tun, was sie immer getan haben. Plötzlich steht alles infrage, worauf unser System fußt. Ergreifen Elin, Nuri und Ruth die Chance auf Veränderung?
Mareike Fallwickl, 1983 in Hallein bei Salzburg geboren, lebt mit ihrer Familie im Salzburger Land. 2018 erschien Dunkelgrün fast schwarz. 2019 folgte Das Licht ist hier viel heller. Ihr Bestseller Die Wut, die bleibt war ein großer Erfolg bei Presse und Publikum. Die Bühnenfassung wurde im Sommer 2023 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Mareike Fallwickl setzt sich für Literaturvermittlung ein, mit Fokus auf weiblichen Erzählstimmen.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Nurten Zeren, Berlin
ISBN 978-3-644-01338-4
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für meinen Sohn
Áfram stelpur (í augsýn er nú frelsi)
Onward Girls (Freedom is within reach)
Isländisches Protestlied, das die Frauen bei ihrem Streik im Oktober 1975 gesungen haben
Jin, Jiyan, Azadî
Woman, Life, Freedom
Kurdischer Kampfruf der feministischen Revolution im Iran 2022
Ich liege im Schlafzimmer in der Kommode. Zwischen den Socken. Ich bin glatt und mittelklein und kalt. Ist so bei Gegenständen, die töten. Und ich finde, es wird mal wieder Zeit. Manchmal höre ich sie streiten oder bumsen, beides kaum zu ertragen, ab und zu sagt er was, bei dem ich denke: Jetzt lass mich mal, dann ist das erledigt, aber sie holen doch wieder nur Socken raus, legen sie ein paar Tage später gewaschen zurück. Ich bin für so eine Scheiße nicht gemacht. Ich bin gemacht, um Menschen Angst einzujagen und eine Kugel in den Kopf. Ich will, dass sie um ihr Leben rennen. Und dieses Leben, das gehört dann allein mir.
Das Schwimmen öffnet den Tag. Im Wasser sein jeden Morgen. Nur dann geht es, und fließend. Wird die Schwere an den Beckenrand gesaugt, bleibt da kleben. Elin setzt einen Fuß auf die Fliesen, spürt sie glatt und warm. Sie schaut auf die weiß geschrubbten Kacheln, die vier Stufen, die silberne Stange zum Festhalten, berührt sie nicht, schaut auf die bodentiefen Fenster, die beigefarbenen Liegen, die trüb durchsichtigen Plastikstreifen über der schmalen Schwimmverbindung nach draußen. In einer der Fugen ist ein kleiner Fleck, ein runder Tropfen, sie hat ihn dort hinfallen lassen vor ein paar Tagen. Lila Nagellack. Es ist ein Trostfleck, eine Versicherung. Dass es etwas gibt, von dem nur Elin weiß.
Das Schauen ist Teil des Ganzen, das Atmen auch. Die Luft gehört ihr, das Becken, der gesamte Pavillon. Wie makellos kann eine Wasseroberfläche sein. Der Chlorgeruch ist ihr Pawlow, die Muskeln entspannen sich, sie ahnen, was kommt. Nach Mineralien riecht es, nach dem Blubbern der Wassergeister, trägen Küssen, aufgeweichten Fingerkuppen mit Rillen und Hubbeln. Sie quellen nicht, sie schrumpfen, wie alles Schwere, Dunkle. Die Sonne ist um fünf Uhr aufgegangen, eine halbe Stunde später hat Elin sich aus dem Schlaf gestemmt mit dem Wissen, dass einer jetzt leise für sie die Tür aufschließt. Das Deckenlicht einschaltet und die Musik. Die sie noch nicht hören kann. Erst unter Wasser. Dass einer alles vorbereitet, die Tür anlehnt. Geöffnet wird das Bad in drei Stunden. Sie streift den Bademantel ab, lässt ihn fallen. Alles ist über Nacht getrocknet, jeder Abdruck nasser Zehen verblasst, sie darf die Erste sein, die Einzige.
Sechsunddreißig Grad. Eine Umarmung aus Wasser. Kein Unterschied zwischen ihrem Körper und der Flüssigkeit, die ihn umgibt. Jetzt lässt Elin die Luft aus den Lungen, geht langsam bis zur Mitte des runden Pools, lehnt sich zurück. Atmet ein, hebt die Beine, streckt die Arme aus. Und dann der Moment. Wenn das Wasser sie trägt, umfängt, hebt. Den Naturgesetzen zufolge sollte da kein Widerstand sein, sie sollte absinken, stattdessen bekommt sie eine neue Masse, das Wasser ist Elin und Elin ist das Wasser. Sie liegt, flach gestreckt und gerade, alles, alles in der Wärme, bis zum Haaransatz und zum Kinn, nur das Gesicht im Freien, die Nase zum Atmen, die Augen geschlossen. Sie bewegt sich nicht, sie wird bewegt. Die winzigen Blasen prickeln auf ihren Oberschenkeln, als würde es unter Wasser nieseln. Losgelöstheit.
Und eine feine Melodie, die erklingt, sobald die Ohren untertauchen, die ein Geheimnis ist, denen verborgen, die an der Oberfläche bleiben. Elin lässt die Lungen leer, solange es geht, sie ist ein treibender Körper, der nichts enthält, nichts kann und verschwindet. Wie es wäre, sich aufzulösen in dieser Umarmung, es bliebe nur Wohlgefühl. Zersetzt zu werden, eine Schicht nach der anderen, bis zu den Knochen, flockige, weiße Fetzchen. Die Geborgenheit ihr Grab.
Sie weiß, dass das Schweben nur bei Frauen funktioniert, hat es oft genug beobachtet. Wie sie verblüfft den Mund zu einem O formen, wenn sie es merken. Sich blinzelnd umsehen, ihren Partner darauf aufmerksam machen, ein ungläubiges Lachen in der Kehle. Und dann bricht ihnen der Blick. Spiegelt zuerst ein Erschrecken, weil sie nicht, wie tausendfach gelernt und erlebt, im Wasser untergehen, ist dann erfüllt von Erleichterung. Wie die Männer es auch versuchen und Luftblasen spuckend untergehen, weil ihr Körperschwerpunkt ein anderer ist, sie in der Mitte zusammenklappen, versinken. Manche von ihnen grinsen, andere geben den Frauen einen Schubs, damit sie sich den Kopf anschlagen, wieder andere verlassen den Pool. Für die Männer genügt das. Dass alle gesehen haben, wie instabil sie sind. Es gibt Frauen, die ihrem Mann dann schweigend nachgehen. Aber die meisten nicht. Die bleiben bei sich und im Schweben. Machen es wie Elin. Die Arme zur Seite, die Füße gestreckt, als lägen sie auf einer Matte, einem Boden, einem Bett. Und hätten einen Körper, der nicht muss. Nicht gehen, nicht nicken, nicht gefallen und dagegenhalten auch nicht. Schwerefrei ist er, normfrei, schmerzfrei. Und Elin glaubt, sie werden nicht mehr vergessen, dass dieser Zustand existiert. Auch sie würden zurückkehren jeden Morgen, wäre es möglich.
Ihre Mutter geht nicht schwimmen, nicht einmal spätabends, wenn niemand mehr da ist. Wahrscheinlich suggeriert das Im-Wasser-Sein Leichtigkeit und ein Bedürfnis nach Ruhe, und mit beidem will Alma nicht in Verbindung gebracht werden.
Elin stößt sich mit dem Fuß ab, sodass sie unter dem Plastikvorhang hindurch nach draußen gleitet. Es ist nachtfrisch, frühsommerklar, sie spürt die Sonne durch die geschlossenen Lider. Und außerdem Dankbarkeit. Allein zu sein. Unbesehen, unberührt. Thermalwasser ist ein Wunderwerk. Sie weiß, die Menschen im Ort haben es früher in Milchkannen von der Quelle nach Hause getragen. Von pH-Werten, Cortisolsenkung, Medizinpsychologie hatten sie keine Ahnung, aber dass es Gutes bewirkte, war ihnen aufgefallen, und sie badeten darin. Schwefel, Kohlensäure, Radon. Magnesium, Kalzium, Sulfat. Stärke, Schutz, Freiheit.
Elin stellt sich auf den Beckenboden, beide Füße gegen den Grund gedrückt, macht die Augen auf, streicht die nassen Haare zurück. Silbern sind sie gefärbt, weißblond, ohrenlang, die Stirnfransen sehr kurz, ein Rahmen, zackig gerade. Sie sieht das Bild vor sich, das sie abgibt, die Arme oben, die Hände an die Haare gelegt, den Blick in die Ferne gerichtet, Sonnenflecken auf ihren Schultern. Niemand fotografiert. Niemand klickt, likt, kommentiert. Das Smartphone hat sie noch nicht aktiviert. Aus der Leere, Wärme, Schwebe kommend, wird sie danach greifen, jede Daumenbewegung wird sie wieder anfüllen, schwerer machen, ihr wehtun, sie wird nicht alles lesen, aber genug.
Später.
Auch draußen auf den Freiflächen stehen Ruheliegen, dazwischen große Pflanzen, weiter drüben befinden sich die anderen Becken. Zwölf sind es insgesamt, es gibt Whirlpools, Sportbahnen und einen Kinderbereich, die Riesenrutsche, seichtes Babywasser. Hunderte Menschen schwimmen hier jeden Tag und tun dabei so, als würden sie die anderen nicht sehen, wollen sich im Gewusel die Illusion von Privatsphäre erhalten, manchmal lässt es sich nicht vermeiden, dass sie einander berühren, ein Bein streift ein anderes im Wasser, schnell schauen sie weg. Und unten, im SPA, kneten die Masseurinnen fremde Haut, tupfen die Kosmetikerinnen Cremes auf gerötete Nasen, umschlingen dellige Oberschenkel mit Folie. Die ganze Therme ein Fest der Körperlichkeit, ein Servierbrett, ein Wimmelbild, Menschen, Menschen. Die Haare haben und kleine Schnitte zwischen den Fingern, verhornte Stellen an den Fersen und schuppige an den Ellbogen. An denen gezupft und gezwickt und geschmiert wird, damit sie ansehnlicher werden, weil sie sich genieren im Schwimmbad, nicht einmal weglächeln lässt sich die Scham.
Elin hat sich hingestellt, um einmal noch zurückfallen zu können. Lose, im Sprudel, im fließenden Zustand. Dann muss sie hinaus. Zwanzig Minuten, heißt es, länger nicht. Weil die Haut aufnimmt, was unsichtbar durch die Moleküle wirbelt. Weil der Kreislauf sonst kracht. Oft hat Elin gedacht, sie widersetzt sich. Bleibt siebenunddreißig Minuten, eine Stunde. Immer aber sagt der Körper, genug. Sagt es sanft und bestimmt. Mit einem minimalen Schwindel, einem leichten Ziehen in den Kniekehlen, trag mich hinaus. Sie schwimmt zurück zur Treppe, zum Bademantel und zum Land, an dem jeder Schritt ein Gewicht hat und jedes Wort auch. Ein stummes Seufzen in ihren Muskeln, die sich nicht bewegen mögen, sie schüttelt die Finger, die an den Spitzen schrumpfen, sammelt die Gefühle ein, die Gedanken, die eigenen, die der anderen, greift nach dem Handlauf, kommt nicht hinaus ohne Stütze. Der Körper taucht auf, wird kalt am Hals und ist wieder
[christian557] Nichts dran an dir, eine mit so kleinen Titten wür-
abgetrennt, hat eine Grenze, ist lang und
[väterchenost] Wer will schon eine Giraffe fick-
schmal, hat manchmal keinen Halt, eine Birke im Sturm, biegt sich zu sehr nach links, nach rechts, immer ist etwas zu wenig und etwas zu viel, alle
[liebernicht] und was ist das für eine scheiß Frisur, dich kann man nur mit einer Tüte auf dem –
haben eine Meinung, 1,2 Millionen Follower, sie wirft den Bademantel über den Körper wie einen Rettungsring, schlüpft in die Schuhe, zieht die Kapuze über den Kopf, bis zu den Augen. Eine Höhle, eine kleine. Das Schwimmen hat den Tag geöffnet, und jetzt.
Jetzt ist er offen.
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer presst sie die Backenzähne so fest zusammen, dass es knackt und blitzt, ihre Ohren noch verschlossen vom Untertauchen, das ergibt diese Innerlichkeit, jeder Schritt wummst. Sie ist eine Riesin, streift mit dem Kopf die Decke, die Arme so lang, sie könnte durch die Fenster hinaus das gesamte Gebäude umschlingen, sie ist endlos, laut, sie ist eine Erschütterung, ihre Beine hören nirgendwo auf. Das Wasser in der Dusche nieselt nicht und trägt nicht und heilt nicht, es ist funktionelles, braves Wasser, es wäscht und pritschelt, während Elin ihre Haare shampooniert und sich mit dem Rasieren beeilt. «Lass wachsen», sagt ihre Mutter gern, «body hair has no gender.» Elin streicht sich sanft über die Augen, obwohl da keine Tränen sind. Dann kommt die Gier, haut ihr mit kleinen Klauen ins Gesicht. Das Handtuch um die Hüften, entsperrt Elin das Handy. Ein Tropfen fällt von ihren Haaren auf das Display, mittig auf den Instagram-Schriftzug. Die Menge der Benachrichtigungen ist beängstigend. Und zugleich die ultimative Bestätigung. Sie sind noch da. Sie hängen am anderen Ende der schwarzen Schnur, die von Elins Handy hinausgeht in die Welt, sie herzen, klicken, kaufen, sie lassen nicht los. Elin steht da, nackt und nass, in diesem großen, ordentlichen Zimmer, in dem sie so vorsichtig wohnt, weil alles, was sie verdreckt, eine andere putzen muss, die Zeit frisst sich mit fetten Bissen an ihren Fingern entlang, gnark, gnark. Bilder, Videos, Kommentare, Reels und TikToks, Werbung und Mails, eine halbe Stunde ist vergangen.
«Vereinbare mit dir selbst feste Zeiten», hat die Therapeutin ihr geraten, und Elin hat genickt wie eine, die vorhat, dem Rat zu folgen. Zumindest legt sie seit einer Weile in der Nacht das Smartphone neben ihre Schuhe, auf den Boden, an die am weitesten von ihrem Bett entfernte Stelle. Trotzdem kriecht das, was tagsüber mit ihr im Netz passiert ist, zu ihr unter die Decke.
Aus den Fluren zwischen den Hotelzimmern wurde der Teppich entfernt vor zwei oder drei Jahren, dunkelblau war er, cremefarbene Streifen. Elin erinnert sich an die darin festgetretenen Gerüche. Gleichzeitig hat die Mutter die Wände streichen lassen. Da hängen jetzt Bilder von Künstlerinnen. Romaine Brooks, Gertrud Kauders, Njideka Akunyili Crosby, Delita Martin, exakt gleich viele von weißen und Schwarzen Frauen, unter jedem Rahmen ein Schild mit Daten und Fakten. Was die Welt nicht über diese Malerinnen weiß, steht also hier im Wellnesshotel, das Alma seit sieben Jahren leitet. Wenn Elin Gäste sieht, die innehalten und lesen, stirnrunzelnd schauen, in weißem Frottee, an den Füßen die gratis Schlapfen mit dem dunkelgrünen Logo, kickt der Stolz ihre Kehle. Arbeitet euch daran ab, möchte sie ihnen zuflüstern.
Jetzt schlafen die meisten noch, im Urlaub, da dürfen sie das, drehen sich um und legen die andere Wange auf das platt gedrückte Kissen. Das Geräusch geplatzter Träume im Ohr. In den Mundwinkeln getrockneter Nachtschreck.
Auf dem Weg zu Almas Wohnung im vierten Stock begegnet Elin niemandem, die anderen Mitarbeitenden sind längst ausgeschwärmt, holen die Semmeln aus dem Ofen und platzieren die Obstkisten neben der Saftpresse, bereiten die Sauna-Aufgüsse vor, Eukalyptus und Waldfrische, überprüfen die Wasserpumpen, den Chlorgehalt, die Klopapierrollen in den Toiletten im Familienbereich. Nichts ist zu hören, doch hinter den Wänden summt der Betrieb. Elins Körper hat die reale Größe jetzt. Während sie im Aufzug steht, wandert ihr Blick im Spiegel schichtweise von unten nach oben, wie eine Sandburg gebaut wird, das Fundament bilden die zartgelben Mokassins, der Jumpsuit ist knallblau, hat lange Hosenbeine und dünne Träger, fällt locker über Elins Brust. Ihre Nippel zeichnen sich durch den Stoff ab. Der Blazer hat ein Muster aus Weiß und demselben Gelbton wie die Schuhe. Elin streicht über ihre Haare, den silbernen Helm, legt die Stirnfransen in Form. Dunkelgrüner Eyeliner, mit Präzision hochgezogen. Auf dem Mund ein Hauch Gloss, er riecht nach Erdbeere. «Sie wollen, dass wir kleine Mädchen bleiben», hört sie die Stimme ihrer Mutter. Mit einem Knurren wischt Elin den Gloss ab, schaut auf die durchsichtige Schmiere auf ihrem Handrücken. Leckt sie ab. Schmeckt erstaunlich bitter.
Und noch ein wenig nach Chlor.
An Land ist nichts im Fluss, alles zerstückelt.
Sie hört ihre Mutter ungewöhnlich laut reden, Elin hält inne. Sie lauscht, versteht nichts, öffnet, ohne anzuklopfen, die Tür, ist zu neugierig, um zu warten. Alma hebt den Kopf, da ist ein Unwille in ihrem Blick, den sie sofort verjagt, Elin hat ihn trotzdem gesehen. Ohne ein weiteres Wort beendet die Mutter das Gespräch, legt das Handy auf den Tisch, wirft hastig etwas in eine Schublade. Sie sehen sich an, die Musik ist leise, aber wegen der raffinierten Soundtechnik im Zimmer sehr präsent. In dem Schweigen liegen alle Wünsche, die Elin nicht haben darf.
«Das ist Sarah Nemtsov», sagt Alma schnell.
Elin nickt.
Früher hat Elin hier gewohnt, im Zimmer nebenan, da war die Musik, die durch die Wand gedrungen ist, das Zeichen, aufzustehen. Als sie achtzehn geworden ist vor drei Jahren, hat sie darauf bestanden, umzuziehen ins Erdgeschoss, Alma hat sofort eingewilligt.
«Elins kleine Emanzipation», hat sie die Aktion genannt und jedem erzählt, wie wichtig das für ihre Tochter ist.
«Hat Preise für zeitgenössische Musik bekommen und am Mozarteum unterrichtet», fügt Alma hinzu, als wäre nichts.
Elin findet die Tonfolgen ungefällig, eine Mischung aus gezupften Lauten und undefinierbaren Klängen, sie äußert sich nicht dazu. In diesen Räumlichkeiten wird nicht gewertet, safe space für Kunst. Für Bücher. Für Körper.
Die Fragen: Mit wem hast du geredet, wer hat dich angerufen, was hast du da vor mir versteckt, tanzen vor Elins Mund und sind doch nicht zu fassen. Unvermittelt steht Alma auf, streicht sich über die kurzen Haare.
«Mir ist heute nicht nach frühstücken», sagt sie, «ich geh kurz ins Bad, danach können wir runter ins Büro.»
Elin ist wach, ausgeruht und bereit, gleichzeitig müde. Es ist eine enge, alte Müdigkeit aus tausend Splittern. Auf die Frage, was hat deine Mutter jemals falsch gemacht, würde Elin sagen: nichts, und sie würde es auch so meinen.
Kaum hat Alma die Tür zum Badezimmer geschlossen, huscht Elin zur Schreibtischschublade, zieht sie langsam auf, um jedes Geräusch zu vermeiden. Da ist ein Foto. Sie nimmt es nicht heraus, berührt es vorsichtig mit dem Zeigefinger. Alma als Mädchen, unverkennbar, kleine Zehen in Kindersandalen. Elin hat zwei, drei Kinderfotos von ihr gesehen, aber auf denen war ihre Mutter allein. Alma lächelt nicht, hat die Augen leicht zusammengekniffen, die Hand geöffnet, als wolle sie nach etwas greifen, an ihr ist etwas Stures. Das Mädchen neben ihr sieht Alma nicht sehr ähnlich, trotzdem ist für Elin klar, dass sie Schwestern sind. Elin kann kaum atmen gegen den Druck auf ihrer Brust, schaut genauer hin. Die andere ist größer, älter, hat den Arm um die Kleinere gelegt, den Kopf zu Alma geneigt, das Gesicht ruhig, seltsam erwachsen schon. Direkt hinter den beiden eine Frau, ganz sicher die Mutter. Die Frisur altmodisch, die Jacke auch, sie lacht mit einer Offenheit, wie sie nur bei Schnappschüssen eingefangen wird, je eine Hand auf den Schultern der Mädchen. Das muss Elins Großmutter sein. Die drei stehen eng beieinander.
Wie würde sich das anfühlen? Umgeben zu sein von Frauen, die vor Elin da waren und mit ihr hier sind. Umgeben zu sein von Frauen.
Sie schließt die Schublade, keucht. Nur nicht ins Körperlose fallen jetzt.
Alma kommt aus dem Bad, lehnt sich an den Türrahmen und hebt die Hände, Elin muss lachen, als sie die Achselhaare sieht. Die gleichmäßig getrimmt sind, ein gerader Streifen, leuchtend pink.
«Gestern Abend gefärbt», sagt die Mutter, und es wäre schön gewesen, wenn sie gefragt hätte, ob Elin die Farbe aufträgt. Elin hätte das pinkfarbene Gelee vorsichtig auf die Mutterhaut gepinselt, bisschen was geredet dabei, sich nach einer Weile an die Musik gewöhnt.
«Hast du nicht gemeint, der dunkle Ansatz kam so entnervend schnell nach, als sie türkis waren?», fragt Elin und hofft, ihr Lachen hat nur in ihr selbst so schief gedröhnt.
«Dann rasier ich sie halt wieder ab», entgegnet die Mutter, senkt die Arme, sieht Elin in die Augen.
Der Moment, in dem sie «My body, my choice» sagen könnte, verstreicht. Elin hört es trotzdem.
Eine Freundin, zum Ausgleich, eine einzige wenigstens. Der Elin auf einer Ebene begegnen könnte, die ihre Mutter nicht betritt, mit der Elin etwas gemeinsam hätte, und sei es nur das Alter. Die hört, was Elin verschweigt, die mit ihr ein Seil aus Erlebnissen knüpft, an dem sie sich dann festhalten, jahrelang. Das würde schon genügen.
Alma lässt die Stille satt werden, schlüpft dann in ihre hellgraue Jeansjacke mit perlenverzierten Knöpfen, schaut in den Spiegel über der dunkelgrün lackierten Kommode, streicht mit der flachen Hand über ihr Haar, legt mit routinierten Bewegungen Lippenstift auf. Elin denkt daran, wie die Mutter in der Badewanne gesessen ist, die Arme hochgereckt, damit die Farbe einwirken kann, ein Glas Weißwein am Rand, und was hat Elin währenddessen gemacht, im selben Gebäude? Die Mutter ist so gut in allem, sie ist sogar gut im Loslassen. Und im Unabhängigsein ist sie die Beste. Für die Zeugung ihrer Tochter hat sie keinen Mann gebraucht, auch später nie. Manchmal fährt sie über Nacht weg, aber sie erzählt Elin nicht, bei wem sie war, Männer sind für Alma nicht der Rede wert. Frauen auch nicht.
«Vielleicht färbe ich mir die Haarspitzen genauso», sagt die Mutter, schaut Elin, die schräg hinter ihr steht, über den Spiegel an.
Die Umarmung kommt überraschend, und eigentlich nicht. Sie sind zwei, sie sind eins, waren sie immer, Muttertochterkörper, Herz, Gehirn. Elin atmet den Duft ein, vielleicht ist es ihr eigener, größer ist sie geworden, ist der Mutter über den Kopf gewachsen, hat jedes Limit ignoriert, ist darüber hinausgegangen. Wie die Mutter es ihr beigebracht hat.
Das ist die Liebe, die Elin kennt. Die Liebe, in der sie zu Hause ist. Angenommen werden, im vollen Umfang. Bekommen, was sie will. Aber formulieren können, was das ist. Eine gewisse Härte, und klare Forderungen. Sie weiß, wie das geht, Frausein. Wie es Almas Meinung nach geht.
Es ist nicht das erste Mal, dass Elin in der Mutterumarmung die Leerstellen spürt. Aber es ist das erste Mal, dass diese Leerstellen konkrete Formen haben, geneigte Köpfe, Hände, die auf Schultern liegen.
Sie reißt an ihrem Blick, damit er beim Hinausgehen nicht zur Schreibtischschublade fliegt. Sie weiß, dass die Mutter Geheimnisse vor ihr hat, überrascht ist sie trotzdem jedes Mal. Und auf eine Art verletzt, die sie wütend macht und trotzig.
Den Ersten fickt sie gegen dreizehn Uhr. Er wartet in der Umkleide neben der Alpensauna, dritte Tür rechts. Elin geht ohne Schuhe hinunter und ohne Jacke, streift die Träger des Jumpsuits ab, da hat er schon die Hände auf ihr, greift ihr zwischen die Beine. Sie ist nass, er grinst, als wäre es sein Verdienst. Braun sind seine Haare, ein wenig feucht vom Wasser oder von der Sauna, Eukalyptus-Duft, er küsst langsam und lieb, Elin hat eine heiße Ungeduld in der Brust. Sie geht in die Hocke, fährt mit der Zunge über seinen Schwanz, ganz leicht nur, er stöhnt, und wie einfach es ist. Körper, Körper, ein Festmahl, Elin muss sich bloß bedienen. Sie zieht ihm das Kondom über, dreht sich um, die Bank, auf der er sitzt, ist schmal, Elin stützt sich an der gegenüberliegenden Kabinenwand ab. Vollholz, Fichte. Auf ihrem Profilbild ist nicht einmal ihr Gesicht zu sehen. Nur das Bikini-Dreieck zwischen ihren Beinen, auf einer der Liegen, dann wissen sie gleich: Die ist hier. Die ist nah, die ist zu haben. Er stößt mit, gegen ihren Rhythmus, Elin verdreht die Augen. Energisch drückt sie, bis er aufhört, und so ist es am besten, sie kann sein Gesicht nicht sehen, er hat keins. Er ist ein williger Schwanz, Finger an ihrem Bauch, ihren Schultern, er ist ein Geräusch, er ist verfügbar. Sie konzentriert sich auf das Schlagen in ihren Ohren, wie es ansteigt, wie es hochwirbelt, die linke Hand legt sie an ihre Klitoris, reibt und murmelt: «Sag etwas … über mich. Wie findest du … meinen Körper?»
«Scharf», kommt es von hinten.
Das genügt nicht.
«Mehr», verlangt Elin.
«Du bist hot», stöhnt er, «deine Haut ist so weich.»
Er streicht über ihren Rücken.
«Schön», sagt Elin gehetzt, «findest du mich schön?»
«Ja», erwidert er, «ja, sehr. Ich habe nicht erwartet, dass du so gut aussiehst. Wie eine Elfe.»
Lahm, denkt Elin.
Sie presst ihren Hintern gegen seinen Schoß, dirigiert seinen Körper mit ihrem Willen.
«Wie würdest du mich bewerten?», fragt sie mit rauer Stimme. «Im Vergleich zu anderen Frauen, die du geil findest.»
Er zieht die Luft durch die Zähne, atmet laut aus. Elin lehnt die Stirn gegen die Holzwand, macht die Augen nicht auf. Ein bisschen schneller. Gleich, gleich.
«Du bist scharf», sagt er. «Machst du viel Sport?» Er packt sie an beiden Oberschenkeln. «Straff», murmelt er, «so mag ich das.»
Elin hat ein Zittern in den Beinen, das hinaufhuscht, sie hält die Luft an, er lässt sie machen, lässt es geschehen.
«Du bist dünn», sagt er.
Elin kommt. Atmet lautlos ein, blinzelt, spürt den Schwall aus Energie bis in die Schläfen und die Fingerspitzen.
«Oh», raunt er, «warte.»
Sie hält still, während er sich an ihre Hüften klammert und in das Kondom spritzt. Es macht ihn an, dass sie ihn benutzt hat, und ist das nicht praktisch. Die hat mich gefickt, wird er lachend erzählen, gleichermaßen überrascht und stolz, wird es als seine Leistung ansehen, sie hat ihn gewollt. Routiniert hält Elin das Kondom am Schaft fest, steht auf. Wenige Handgriffe, schon hat sie den Jumpsuit wieder an. Sie mag das Pulsieren, die Wärme in ihr. Ein Gleichgewicht. Ein Sattsein.
«Wow», sagt er.
Sie streckt die Hand nach der Tür aus, er hält sie zurück.
«Bist du auch bis morgen hier?» Er setzt sich auf, angelt nach seiner Hose. «Wie ist deine Zimmernummer?»
«Sch», erwidert Elin, dann ist sie draußen. Weiter vorn zwei ältere Frauen, die sich an der Teebar unterhalten. Gut möglich, dass sie alles gehört haben, sie schauen nicht in Elins Richtung.
Mit leichten Schritten geht sie hinüber zum Aufzug, sie hat jetzt eine flache Form, glatt gedrückt, ausgebreitet, wie ein Tuch, das dem Luftzug folgt, eine gewichtslose Decke, sie reicht weit nach allen Seiten. Elin ist ein Wabern, ein Huschen, sie könnte durch die Flure gleiten in zwei Metern Höhe, ganz sanft.
Es hat mit den Handtaschen angefangen. Das Wellnesshotel war geschlossen, fast alle Mitarbeitenden zu Hause, nur der Hausmeister war da, ein paar Frauen vom Reinigungsservice und aus der Küche, nicht alle hatten ein alternatives Zuhause, in das sie gehen konnten, Elin und die Mutter auch nicht. Wobei das eine halbe Wahrheit ist, vielmehr hat die Mutter sie beide von diesem alternativen Zuhause abgeschnitten. Im Lockdown lebten sie zwischen leeren Pools, Ruheliegen, Restauranttischen. Unbemenschte Räumlichkeiten und diese gespenstische Sinnlosigkeit einer Infrastruktur, die niemand nutzt. Musik, Bücher, Homeschooling. Chips, Kekse, Filme. Und das Internet. Sie ist im Hotel herumgestromert, stundenlang. Hat in einem Lagerraum die Handtaschen entdeckt. Einen ganzen Berg, in allen Farben, originalverpackt, von einer PR-Aktion aus früheren Jahren. Inzwischen waren die Dinger Vintage. Elin hat angefangen, sie in der stillen Therme zu platzieren. Fotos zu machen und Videos. Hat sich die Taschen umgehängt und Figuren erfunden, die sie gespielt hat, mit Sonnenbrille, Schminke, Perücke. Es war ein Zeitvertreib, und irgendwas hat gezündet. Die verlassene Pool-Landschaft als Nichtort. Elins Was-hab-ich-schon-zu-verlieren-Komödie. Oder ihr normschöner Körper. Plötzlich kam der Erfolg. Kosmetik. Mode. Ein gratis Lockenstab, ein Ringlicht, ein Social-Media-Marketing-Kurs. Und eine Followerzahl, die ihr an den guten Tagen Herzrasen beschert und an den schlechten auch. Sie würde gern glauben können, dass das alles ein Spiel ist. Dass es sie nicht ernsthaft verletzen kann. Dass es trotzdem wichtig ist, irgendwie. Bikinis, Sport-BHs, Sonnencreme, Likes, Geld. Aber die Frage ist: Wie viel Hass passt in ein Frauenleben?
Elin sieht auf ihrem Handydisplay die Benachrichtigungen aufleuchten, wird hineingesaugt, schneller, als sie sich abwenden kann, und da sind sie wieder, die
[veronikka] Du bist so hässlich, mein Mann würde dich nicht mal mit der Kneif-
Kommentare, die auch, und wieso ist das noch viel schmerzhafter,
[simonesüüd] Frauen müssen Rundungen haben und die Klappe hal-
von Frauen kommen, und das hat Elin nicht erwartet, anfangs, nichts davon hat sie erwartet, sie hat Handtaschen gefunden und Hatespeech bekommen, ein einziger langer Strom aus
[marthamartha] Wenn sie deinen Körper sehen, laufen sogar die Lesben zum nächsten Schw–
wundenschlagenden Bemerkungen, die wie knackende Rissgeräusche eingedrungen sind in ihre bewertungsfreie Mutterwelt. Es ist ein Kraftakt, die Augen vom Bildschirm zu lösen. Die Finger tun ihr weh, so fest hat sie sie um das Smartphone gekrallt.
Auch die neue Kampagne, die Alma und sie für das Hotel kreiert haben, wird eine Welle an Hass lostreten, und es wird schwer sein, das zu moderieren, die giftigen und galligen Kommentare schnell genug zu löschen. Elin ist vorbereitet, sie ist inzwischen daran gewöhnt. Frauen, die ins Internet schreiben, die sich im Internet zeigen, Frauen, die in der Welt sind, die einfach existieren, müssen mit Beschimpfungen rechnen. Sie weiß, dass die Quote bei Politikerinnen, die von Hass im Netz betroffen sind, bei hundert Prozent liegt. Irgendwann sind sie zermürbt und treten zurück. Dann fehlen ihre Stimmen im Parlament. Die Frauen fehlen überall, wo Entscheidungen getroffen werden.
Sie klopft an die Zimmertür, hört ein Lachen dahinter. Der eine öffnet die Tür, der andere sitzt auf dem Bett. Sie tragen beide Badeshorts. Elin hat wieder keine Schuhe an, hat wieder keine Jacke an, zwei Bewegungen, dann sind ihre Brüste frei.
Der eine ist größer, der andere hat helle Haare, sie sind vielleicht Arbeitskollegen oder Freunde, es ist Elin egal. Mit dem Großen hat sie gematcht, wie der andere aussieht, wusste sie nicht. Jetzt findet sie ihn sogar attraktiver und küsst ihn zuerst. Sie schiebt den Jumpsuit über ihre Hüften und lässt ihn fallen, steigt aus dem Stoff, legt dem anderen die Hand auf die Brustmuskeln, spürt seine Finger an ihrem Hintern. Die hellgrünen Vorhänge sind zugezogen, gefiltert dringt das Sonnenlicht herein, macht die winzigen Staubflocken in der Luft sichtbar.
Elin ist klein und abgerundet, kompakt und passend, alles rutscht an ihr entlang und in sie hinein, sie ist ein Gebilde aus Bällchen, ploppig und gut anzufassen. Vertiefungen und Substanzen, die exakt zusammenpassen. Elin ist Plastilin, Schaumstoff, Fensterkitt.
Sie schmeckt Aftershave und Schweiß, sie riecht Haarwachs und das leicht Metallische, wenn Speichel auf Haut trocknet, sie hört das Schnaufen und Stöhnen. Die Männer lassen sich auf ihren Rhythmus ein und grinsen sie an, ein Knäuel aus Bestätigung. Nimm, nimm, nimm.
«Du siehst aus wie von einem anderen Stern», flüstert der eine.
«Wie aus einem Film», sagt der andere, und Elin bewegt sich schneller.
«So ein Silberwesen, vor dem man sich fürchtet, und zu Recht.»
«Ein schönes?», fragt sie.
«Wie viele waren es heute?», fragt die Therapeutin.
«Nur einer», lügt Elin und erkennt am Bildschirmgesicht, dass die Therapeutin ihr nicht glaubt. Sie streicht sich über die Stirn, unterdrückt ein Seufzen.
«Du wolltest doch versuchen, dem Impuls nicht immer nachzugeben. Lieber mal reinzugehen in die Frage, was es ist, das du brauchst, wonach es dich in Wahrheit verlangt.»
Die Therapeutin spricht mit fein modulierter Stimme. Wie sie wohl redet, wenn sie nicht arbeitet, fragt Elin sich seit über einem Jahr.
Die erste Panikattacke hat der Arzt auf den Lockdown geschoben, sie solle sich entspannen. Nach der zweiten meinte ein anderer Arzt, das seien Pubertätserscheinungen, hormonell bedingt und psychosomatisch. Da war Elin neunzehn. Die Mutter hat mit Zahlen und Statistiken um sich geworfen, um zu belegen, dass Frauen von der Medizin benachteiligt werden, sie hat nicht das Geringste erreicht. Dissoziativ. Körperdysmorphe Störung. Depression. Einen Haufen Fachbegriffe hat Elin in diesen zwei Jahren zu hören bekommen und ebenso viele Ratschläge, gesund essen, Sport machen, positiv denken, jeden Abend aufschreiben, was gut war an dem Tag.
«Du wolltest, dass ich das versuche», erwidert Elin. Sie hat gegessen und geduscht, sitzt im Bademantel in ihrem Zimmer auf dem Bett, den Laptop vor sich. «Ich weiß, was ich will. Und wo ich es bekomme. Also hole ich es mir.»
«Aber in diesem Ausmaß ha-»
«Das ist klassisches misogynes Abstrafen», wirft Elin ein.
«Es spielt keine Rolle, dass du eine Frau bist», entgegnet die Therapeutin. Sie trägt eine Brille mit Goldrand, die Fensterglas enthalten könnte.
«Natürlich tut es das!», ruft Elin.
Einen Moment lang ist es still. Sie hätte gern ein Stück Schokolade oder zwei. Und das Handy. Sie will das Smartphone halten, das vertraute Gewicht, um diese abendliche Uhrzeit sind die virtuellen Rattenlöcher, in denen sie versinken kann, besonders tief.
«Ich glaube, meine Mutter hat heute mit ihrem Vater telefoniert», sagt Elin dann, «sie hat aufgelegt, als ich ins Zimmer gekommen bin. Und sie hat dieses Bild rausgeholt … sie hat offenbar eine Schwester. Oder hatte? Ich weiß es nicht. Sie erzählt mir nichts.»
«Hast du sie darauf angesprochen?»
Elin will nicht erklären, dass sie sich weniger vor der Frage als vor der Antwort fürchtet.
«Du wolltest doch nur ein Kind, damit du deine Ansichten weitergeben kannst», hat sie der Mutter vorgeworfen in einem Streit vor ein paar Jahren, «damit du eine kleine Version deiner selbst züchten kannst.»
Was die Mutter geantwortet hat, weiß sie nicht mehr. Aber sie hat es nicht abgestritten. Und vielleicht ist das nicht der schlechteste Grund, sich ein Kind in den Bauch schießen zu lassen mit einer Spritze, zur Samenbank zu gehen ganz allein, aus der Motivation heraus: Was ich weiß und woran ich glaube, muss zementiert werden in dieser Welt.
Die Schwangerschaft war ein Geschäft von Elins Mutter mit sich selbst.
Aber das Foto.
Auf dem Foto hat Alma sehr wohl jemanden, eine Schwester und auch eine Mutter. Auf dem Foto hat Alma eine Herkunft. Und das bedeutet doch, dass Elin ebenfalls eine hat. Dass sie nicht einfach ins Leben gewollt worden ist von einer, die sich selbst und der Welt etwas beweisen musste. Dass da noch mehr waren, von denen sie kommt. Dass da noch mehr sind.
«Jetzt habe ich Sehnsucht», sagt Elin leise genug, dass es für die Therapeutin vielleicht ungehört bleibt.
Wenn eine alles allein schaffen kann, alles, alles, wie viel Fokus liegt dann auf dem Wort allein? Wenn Mutter und Tochter sich fühlen wie eins, ist das schön, aber hätten sie nicht auch mehr sein können als zwei? Als Alma sich in eine Geschichte gebettet hat, um zu erklären, warum sie keinen Kontakt hat zu ihren Eltern, hat sie da eigentlich die Wahrheit gesagt? Und warum hat sie die eigene Schwester unerwähnt gelassen? Elin linst auf die Uhr rechts oben auf dem Bildschirm. Die Sitzung soll noch fünfzehn Minuten dauern. Sie fühlt die Anspannung in ihrem Oberkörper, verschränkt die Arme noch fester.
«Dann ist es vielleicht das, was du kompen-»
«Ich muss weg», sagt Elin und klappt den Laptop zu.
Sie geht ins Bad und schaut in den Spiegel. Sie sucht denselben Lipgloss heraus, trägt ihn auf, schnuppert. Erdbeere. Süße, kleine Mädchen.
Dieser Moment, wenn sie vor einer Zimmertür steht und nicht weiß, was sie dahinter erwartet. Der ist schon aufregend. Sie könnte eine sein, die dann doch nicht klopft. Die sich nicht traut oder an das Brave-Mädchen-Märchen glaubt. Geh heim, sonst wirst du vom Wolf gefressen. Neben Zimmer 470 hängt ein Bild von Elisabeth Chaplin, 1890 in Frankreich geboren. Es zeigt eine junge Frau mit dunklem Haar, die den Blick gesenkt und ein Buch an die Brust gedrückt hält. Sie sieht gedankenverloren aus, zurückhaltend, schüchtern.
Elin klopft sehr fest.
Er sieht sie ernst an, taxiert sie, ehe er einen Schritt zurückmacht, um sie hereinzulassen. Elin hat sofort ein heißes Kribbeln tief unten im Bauch.
Sie hat sich nicht umgezogen, ist nackt unter dem Bademantel, den sie öffnet und auseinandergleiten lässt. Er heftet den Blick auf ihren Körper und lächelt nicht, steht nicht nah genug, aber auch nicht zu weit entfernt, eine seltsame Distanz. Elin braucht ihre gesamte Willenskraft, um nicht zum Ausgleich selbst zu lächeln, einladend, ein bisschen hoffnungsvoll, es wäre dämlich und anerzogen und weiblich sozialisiert. Sie greift nach seinem Shirt, er zieht es über den Kopf. Ein schwarzer Haarschopf, dunkle Augen, im Zimmer brennt nur die kleine Lampe an der Bettseite. Es ist still. Elin will über seine Distanziertheit hüpfen wie über ein Hindernis, sucht in seinen Gesten nach dem Hunger, den sie kennt. Sie drückt sich an ihn, er riecht nach Zigaretten und dem Hotel-Shampoo. Er schubst sie aufs Bett, legt sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie, leckt ihr seitlich über den Hals. Elin kämpft sich unter ihm hervor, dreht ihn um, sodass sie oben ist, befreit den Schwanz. Nimmt ihn in den Mund, spielt mit der Zunge, den Fingern, den Lippen, sieht zweimal auf, weil kein Geräusch von ihm kommt. Er beobachtet sie. Auf dem Nachtkästchen liegen mehrere Kondome. Sie greift nach einem, reißt es auf. Er nimmt es ihr aus der Hand, streift es selbst über. Immer noch haben sie kein Wort gesprochen, und während er beschäftigt ist und sie nicht, fühlt Elin sich entblößt. Schnell schiebt sie ihn zurück in eine liegende Position, um sich auf ihn zu setzen, er fügt sich nicht. Fügt sich dem Schieben nicht und dem Dirigieren auch nicht. Es beginnt ein Gerangel, das ihr die Luft nimmt, obwohl es nicht anstrengend ist, eher als würde Elin gegen einen Schalter tippen, der sich nicht umlegen lässt. Sie lacht leise, als er sie erneut in die Matratze presst und in sie eindringt. Es ist okay, sie hat kein Problem damit. Sie kann nur die Hitze nicht ansteigen lassen und auch das Rauschen nicht, immer noch gibt er keinen Ton von sich. Er ist über ihr und sieht ihr ins Gesicht, als wolle er sie studieren. Elin bewegt ihr Becken, hält dagegen, sie finden keinen Rhythmus. Zweimal versucht sie noch, nach oben zu gelangen, und die meisten Männer genießen es, sich zurücklehnen zu dürfen, nicht bestimmen und geben und führen zu müssen, sie haben auch, davon ist Elin überzeugt, eine geheime Fantasie von der gierigen Frau, von der Furcht einflößenden Vagina, dem Schlund, oft genug dargestellt mit Zähnen. Er hält ihre Handgelenke fest und knurrt einmal kurz, dann zieht er sich zurück. Elin will etwas sagen, doch da hat er sie schon umgewuchtet, auf den Bauch gedreht, packt sie von hinten am Hals, ihr Gesicht ist im Kopfkissen vergraben. Der Geruch des Hotel-Bleichmittels. Es macht nichts, es ist nicht schlimm. Es kann nicht jedes Mal gut sein. Und sie gehört zu den wenigen Frauen, die nicht betroffen sind vom Orgasm Gap, sie hat fast immer Spaß, sie darf sich nicht beschweren. Es wird gleich vorbei sein, dann kann sie schlafen gehen. Nur ein bisschen stillhalten, mehr muss sie nicht tun. Er kommt genauso lautlos, wie er sie gefickt hat, und das Entsetzen lässt Elin mit einer Kraft hochfahren, die ihren Körper regelrecht wegschleudert. Da ist etwas Heißes, Klebriges an ihr, in ihr, sie greift mit den Fingern hin, sieht die weißen Schlieren, hat eine Panikexplosion im Bauch und starrt auf das Kondom auf dem Holzboden.
«Wie hast du …», flüstert sie, und immer noch sagt er nichts, richtet sich auf und wischt sich kommentarlos ab, hat einen schwarzen Hohn in den Augen und diese Distanz, die war nie weg. Elin hat keine Stimme. Sie will fort, so schnell wie möglich, sie schnappt den Bademantel und hat die Türklinke in der Hand, lässt Sperma daran zurück, die Tür schwingt zu langsam auf, im Flur springt der Bewegungsmelder an, es ist wahnsinnig hell, und da hängt das Mädchen mit dem Buch, unbefleckt und brav, da sind der lange Gang und der Aufzug am anderen Ende, keine Musik, kein Wasser. Elin hört ihren Herzschlag und ein Wimmern, ganz komisch klingt das, und sie weiß nicht, wie sie alle Körperteile in ihr Zimmer bringen soll, sie sind nicht bei ihr. Aus Splittern besteht sie, ein Menschenmosaik, überall verliert sie kleine Stücke, kann nicht stehen bleiben, nicht innehalten, muss den Rest mitnehmen und einfach schneller laufen, damit wenigstens irgendwas am Ziel ankommt, und das, was wegrieselt, wächst hoffentlich wieder nach. Sie spürt das Rinnsal an ihren Beinen, warm ist es und fremd, sie kennt das Wort für das, was er getan hat, sie kennt alle Begriffe, wirklich alle, Heterofatalismus und Androzentrismus und Stealthing und Weaponized Incompetence, aber was nützt das, es nützt einen Scheiß. Du lebst in einer völlig abgeschotteten Welt, hat die Therapeutin gesagt, und wieso weiß sie nicht, dass es keine Sicherheit gibt, dass die Welt überall ist und überall hinkann. Das Zittern der Beine gehört nicht zu Elin, das leise Aufschluchzen auch nicht, nicht einmal der Frotteestoff, der so viele andere Körper berührt hat, nichts ist Elin und Elin ist nichts, sie nimmt immer zwei Stufen auf einmal und ist gleich unten, dabei wäre oben, im vierten Stock, die Wohnung gewesen und die Mutter, die bestimmt gerade der Musik einer vergessenen Komponistin lauscht, und was tut sie wohl dabei, vielleicht rasiert sie sich die Achselhaare.
Sie sind von mir besessen, und das liegt daran, dass ihre Schwänze zu kurz sind. Let me explain. Sie können mich damit fast erreichen, können an mich ranbumsen und freuen sich, dass sie die Vagina ausfüllen, bis an meinen Mund. Das tut weh, und werden sie darauf hingewiesen, hören sie vielleicht auf, murmeln eine Entschuldigung und haben diese Unbefriedigung. Weil es etwas gibt im Körper, der einen Uterus hat, etwas, das verborgen ist und ein Geheimnis und der Ursprung. Sie wollen es besitzen, es beherrschen, und weil ihre Schwänze zu kurz sind, kommen sie mit Papier und Stift, mit Gesetzen und Regeln. Oder mit Religion. Ich bin die Gebärmutter, mich verbinden sie mit Weiblichkeit. Über alles, was mit mir geschieht, entscheiden Männer.
Wenn er ein paar Zentimeter größer wäre, zwölf vielleicht oder sieben, stünde er anders in der Welt. Nicht nur wegen seiner Körperform, die erhabener wäre und ausgeglichener, auch wegen der Frauen. Sie würden ihn dann mit Angelhakenblicken anschauen, wie sie es bei Valentin tun, den ganzen Abend schon. Der Himmel wäre gerader über seinem Kopf, er könnte mehr greifen und höher hinaus.
Zwei von ihnen kommen an die Bar, lehnen sich an den Tresen, es quetscht ihnen die Brüste zu einem kugeligen Dekolleté, sie lächeln. Nuri erwidert das Lächeln und weiß, Valentin bleibt ernst. Freundlich, ja, er nickt mit schräg gelegtem Kopf, aber Nuri, der grinst. Kann den Automatismus nicht abstellen. Er spürt das ins Gesicht gehängte Lächeln wie eine metallene Spange der Höflichkeit, während Valentin interessanter wirkt, rätselhaft, nicht so zugänglich. Ein stabil ins Bild gestellter Mann. Und die fünfzehn Zentimeter, die machen auch einen Unterschied.
«Was darf’s sein?», ruft er.
Die eine hat blauen Glitzer auf den Augen, die andere eine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Die Energie, die von ihnen ausgeht, ist zackig bunt wie ein Gummiball an einer Schnur.
Nuri mixt die zwei Mojitos, konzentriert sich darauf, die richtige Menge der Zutaten zu verwenden. Er hat Angst, dass es den Leuten nicht schmeckt und sie seine Drinks zurückbringen. Er kann keinen Ärger gebrauchen, und mit Alkohol kennt er sich weniger gut aus, als er vorgegeben hat. Cocktails mixen ist was für Leute mit Geld, er hat sich Youtube-Videos angeschaut. Dass die mit den Glitzeraugen Valentin etwas zuruft, das ihre Freundin zum Lachen bringt, ignoriert Nuri. Genau wie die Tatsache, dass Valentin mehr Trinkgeld bekommt jeden Abend.
Nuri hat sich geschworen, dass er nicht einer von denen sein wird, die auf Titten glotzen und mit dem Schwanz denken, richtig geschworen hat er sich das. Aber dann ist er hier, in der Flexbar an drei Abenden hintereinander, und ihm platzt diese See aus tanzenden Frauen entgegen. Wellen aus schimmernden Kleidern, schwingenden Haaren, roten Wangen, eine schwitzige Ansammlung von Schultern, Busen, Beinen. Das uralte Spiel aus Anbahnung und Abweisung, bei dem du nicht sagen kannst: ach, das erfinde ich mal eben neu.
«Ich geh aufs Klo!», brüllt er.
«Allein?», fragt Valentin und grinst jetzt doch.
Nuri gibt keine Antwort.
Die Toilette ist versifft und stinkt, er denkt mit Grauen an morgen. Wie schön wäre es, könnte es über Nacht ins Gebäude schneien, auf die gelb angefleckten Fliesen, auf den schwarz angedreckten Tanzboden, er würde eine pudrig weiße Fläche vorfinden, kristalline Sauberkeit. Während er am Pissoir steht, wird er von einem Betrunkenen angerempelt, der sich nicht entschuldigt. Nuri hält den Blick gesenkt, weicht ans Waschbecken aus. Er drückt zu viel Seife aus dem Spender, seine Finger werden schmierig. Im Spiegel sieht er, dass er einen bräunlichen Fleck im Mundwinkel hat, als hätte er Schokolade gegessen oder an der Lippe geblutet. Kaum jemand vermutet, dass sich ein Migrationshintergrund versteckt in Nuris Wurzeln, und das macht sein Leben einfacher. Worüber er nicht sprechen kann, denn wie sagst du: Meine Mama ist von woanders hierhergekommen, ich bin erleichtert, dass ich als weiß durchgehe, wie sagst du: Ich schäme mich für diese Erleichterung. Immerhin blondiert er sich nicht mehr die Haare. Als er zum Militärdienst musste, wurden sie ihm abgeschoren, seither sind sie dunkel nachgewachsen, nicht lockig, aber glatt auch nicht. Er kratzt mit dem Fingernagel den Fleck aus seinem Mundwinkel, wäscht sich die Hände noch mal. Hinter sich hört er den Betrunkenen kotzen und hofft, dass er die Schüssel trifft.
Dass seine Mama hierhergekommen ist, stimmt halt auch nicht so ganz. Eine komplizierte Sache, die Wahrheit.
Die Luft ist dampfig. Eine große, kollektive Atemwolke, in die Nuri hineingeht wie in einen Angstnebel. Er wünscht sich, er hätte auch seine Achseln mit Seife eingerieben. Aber der Wo-bleibst-du-Blick, den er von Valentin auffängt, hindert ihn daran, noch mal umzukehren. An der Bar hat sich eine Schlange gebildet. Sie sind zu viert hinterm Tresen, der als runde Insel am Rand der Tanzfläche steht, Julia und Jonas auf der anderen Seite. Die meisten wollen zum Glück Shots, das geht schnell, Flasche über die Schnapsgläser, einmal entlang. Er schenkt zwölf davon aus, kassiert ab, trinkt selbst einen. Grünlicher Pfefferminzlikör, wie hochprozentige Zahnpasta. Valentin sieht es und prostet ihm zu. Manchmal steht Nuri im Drogeriemarkt und schnuppert an den Haarprodukten, um das eine zu finden, nach dem Valentin riecht.
Die Nacht ist endlos, die Nacht ist kurz. Nuri wippt zum Techno, wagt ab und zu eine kleine Drehung mit einer Flasche in der Hand, räumt die Spülmaschine mit fliegenden Händen aus und wieder ein. Mixt und schüttelt und rechnet und trinkt und tanzt und lächelt. Eigentlich ein guter Job. Der beste von allen, die er hat. Aber das denkt er immer, wenn der DJ aufdreht und er genug Alkohol im Blut hat. Dann taucht er ein in den allgemeinen Rausch, dümpelt in der See wie einer, der dazugehört, und für kurze Zeit kann er sich einbilden, alles wäre gut. Einfach so. Leicht und klar, die zarte Melodie der Erlösung.
Die Müdigkeit kommt mit Holzhammerplötzlichkeit, jedes Mal kurz nach drei. Nuri schaut auf die Uhr an seinem Handgelenk und weiß, dass die Meute weit davon entfernt ist, nach Hause zu gehen. Sie haben bis fünf geöffnet, Donnerstag, Freitag, Samstag, und es gibt immer welche, die bis zum Schluss bleiben. Die auch nicht gehen wollen, wenn die Musik längst aufgehört hat und Valentin das Licht einschaltet. Nuri fragt sich, wie ihr Leben draußen in der Welt aussieht, dass sie es vorziehen, in diesem ranzigen Club zu bleiben, in dem es dann so hell ist, dass sie blinzeln wie Käfigmäuse. Ab jetzt findet Nuri jede Bewegung mühsam, der Beat tut ihm in den Ohren weh oder eher in der Brust. Außerdem hat er heftigen Hunger. Sie dürfen ein wenig mittrinken, das ist okay, nur zu essen gibt es in der ganzen verdammten Bar nichts. Wie geil es wäre, nach Hause zu gehen, und ein Eintopf von Nuris Mama stünde auf dem Tisch. Noch warm, mit Tomaten und Bohnen. Seine Mama würde sich zu ihm setzen und ihm irgendwas über die Nachbarin erzählen, sie hätte diesen freundlich-sinnlosen Plauderton, und Nuri würde «mhm» brummen und essen. Ein anderes Geräusch gäbe es nicht, und wie friedlich wäre das.
Valentin gibt ihm ein Zeichen, dass er auf die Toilette geht. Nicht allein. Eine Schwarzhaarige in einem grünen Kleid hängt sich an ihn, sobald er hinterm Tresen hervorkommt, und wann hat Valentin mit ihr geredet? Hat er das überhaupt? Oder haben sie sich mit Blicken verständigt, und wie sieht ein Willst-du-mit-mir-am-Klo-bumsen-Blick aus? Nuri stellt sich vor, wie sie sich in der Kabine küssen und die Schwarzhaarige ihr Kleid hochschiebt, während Valentin sich bemüht, nicht mit seinen Nike-Sneakern in die Kotze zu treten.
Für einen Moment macht er die Augen zu und atmet tief ein, aber da ist überhaupt keine Luft mehr.
Beim Verabschieden tut Nuri wie immer so, als würde er nach Hause fahren. Sein Leben hat andere Schichten als Valentins, Blätterteigwahrheiten.
«Ja», sagt er, nachdem Valentin vorfreudig gestöhnt hat: «Und jetzt bis zum Nachmittag schlafen», und was ist schon gelogen an diesem Ja.
Alles.
Sie schließen ihre Räder auf, Valentin hat keine Ahnung, dass Nuri weit draußen wohnt, richtig weit. Da, wo die graugelben Siedlungen sind und die verrosteten Spielplätze und die alten Leute, die zum Supermarkt schlurfen mit einem Lasst-mich-sterben-Gesicht.
«Du kannst bei mir pennen», bietet Valentin an.
Wahrscheinlich liegt er nie lange wach, fällt in silberne Träume und hat diese Ruhe am ganzen Körper. Das Wissen, dass er in Sicherheit ist. In seinem Innenstadt-WG-Zimmer. Mit dem Studienplatz für Herbst. Und dem Konto, von dem die Studiengebühren bezahlt werden.
«Danke», erwidert Nuri bloß und schaut dabei in die andere Richtung, wo es nichts Interessantes gibt, nicht einmal eine herumscheißende Taube.
«Oder du kommst am Abend?», schlägt Valentin vor und schwingt ein Bein über sein Rennrad, das glänzend blau ist und neu. «Wir könnten was essen, bevor es wieder losgeht.»
Er macht eine Kopfbewegung zum Eingang der Bar, die sie gerade abgeschlossen haben. Nuri denkt an das Kondom, das Valentin auf dem Klo in den Mülleimer geworfen hat oder vielleicht einfach auf den Boden.
«Mal sehen», antwortet er und steht neben seinem Rad, ohne es zu berühren. Es hat seinen vier großen Geschwistern gehört, na ja, Geschwister. Irgendwer hat es mal schwarz lackiert, die Farbe ist stellenweise abgeblättert, das sieht aus wie Fäulnis. Ein Friedhofsfahrrad, das ihm unterm Arsch zerbröselt, während er sich abstrampelt.
Valentin radelt davon, die Hand zum Gruß erhoben, seine Finger tanzen in der Luft. Er hat morgens um halb sechs eine Leichtigkeit in den Gesten, als wären seine Knochen nie schwer.
Nuri bleibt eine Stunde, dann muss er im Krankenhaus sein.
Er wartet, bis Valentin um die Ecke gebogen ist. Er setzt seinen Rucksack ab, holt die zwei Energydrinks heraus und das Sandwich. Er trinkt die erste Dose aus, ohne abzusetzen, Billigmarke, künstlicher Orangengeschmack. Der Käse und die Gurke sind matschig geworden, er isst das Sandwich mit Tigerbissen. In seinen Ohren ein Fiepen als Echo der Lautstärke, die durch ihn geschwappt ist die ganze Nacht. Er bräuchte ein Bett. Ein Bett mit einer Schneedecke und einen süßen Kakao. Stattdessen fliegt das Taurin in seinen Magen und sagt zum Körper: nicht schlafen jetzt. Nuri streicht sich mit beiden Handflächen übers Gesicht und spürt, wie die Stadt aufwacht. Die Tanzenden sind heimgegangen in ihre blinden Mäuseleben, die meisten Menschen haben den Wecker ausgestellt für einen gemütlichen Samstagvormittag. Aber da sind auch solche wie er. Die kein Wochenende haben und keinen Tag-und-Nacht-Rhythmus. Sondern eine Fläche voller Stunden, die gefüllt werden können, genutzt werden müssen, am Fließband, in einem Schiffsbauch, an einer dröhnenden Maschine, Stunden, die gegen Geld eingetauscht werden, und andere, die nichts wert sind, wie der Weg zum Krankenhaus, dreißig Minuten mit dem Rad.
Nuri trinkt die zweite Dose aus, hält sich den Mund zu wegen der aufwallenden Übelkeit. Er hebt das rechte Bein, stampft auf die Dosen, es kracht hinauf zu den stillen Fenstern der eleganten Wohnungen mit Echtholztüren und Stuck an den Decken, ein wilder Knall, eine Gemeinheit von einem Geräusch. Er steigt aufs Rad, das beim Treten leise quietscht, lässt die platt getretenen Dosen liegen. Was macht das noch für einen Unterschied in dieser dreckigen Welt.
Valentin hat er beim Militärdienst kennengelernt, gleich am ersten Tag. Sie wurden demselben Schlafsaal zugeteilt in der Kaserne am Stadtrand. «Willst du oben oder unten?», hat Valentin gefragt, und Nuri hat in Sekundenschnelle zu erraten versucht, welcher Teil des Stockbetts Valentin wohl lieber wäre.
«Unten», hat er geantwortet und damit offenbar richtiggelegen. Valentin hat sich gefreut, und seine Zähne waren so weiß.
«Es wundert mich, dass wir uns vorher nie begegnet sind», hat Valentin gesagt, als sie Wache gehalten haben am Unterstand neben dem Zeltlager, was lächerlich war, denn es gab ja nichts zu bewachen und vor wem überhaupt, aber es war schön, in der Nacht zu sein, zu zweit allein in dieser Nacht, «wir sind beide neunzehn und aus derselben Gegend.»
Haha, hat Nuri gedacht.
«Bestimmt sind wir uns mal irgendwo über den Weg gelaufen», hat er in die Dunkelheit gesagt wie etwas, das wahr sein könnte.
Pflegen muss er niemanden. Nicht beim Essen helfen, nicht waschen und lagern auch nicht. Nur schieben, stützen, begleiten. Als Holer-und-Bringer ist Nuri dafür zuständig, dass die Betten zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind. Und die Menschen, die darin liegen. Stundenweise vermietet die Leiharbeitsfirma ihn an das Krankenhaus, ihn und seine Arbeitskraft, konkret: Seine Augen, die das korrekte Stockwerk erkennen. Seine Hände, die das Bettgestell umfassen. Seine Füße, die Schritte setzen, hin zum Aufzug, weg vom OP. Und umgekehrt. In den Aufwachraum, zur Intensivstation. Zur Kinderonkologie, zur Gynäkologie.
Er hat noch ein paar Minuten und hockt sich auf die Stufen zum Hintereingang. Der beginnende Tag ist frühsommerlich warm, das wäre eine Gelegenheit, um zu rauchen. Aber Zigaretten sind teuer, Essen ist wichtiger. Er gähnt so, dass es ihm die Tränen in die Augen treibt, hat nichts zwischen den Fingern. Das Licht ist grausig und grell, der hohe Ton in seinen Ohren nicht leiser geworden. Da sagst du dann zum Körper: du bist jung, komm. Da sagst du dann: bitte.
Nuri kann hervorragend rechnen. Mit vollen und leeren Stunden, die der Zeitschal sind an seinem Hals, mit kleinen Centbeträgen und wie schnell oder harmlos Schritte sind, die näher kommen. Er hat etwas Bitteres im Mund, er wünscht sich ein Kissen aus duftenden Blumen. Der Tag, der anfängt, ist erschreckend hohl, wenn einer nicht geschlafen hat.