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Jonathan Brendel kann es kaum fassen, als er von dem kleinen Vermögen erfährt, das seine Mutter ihm nach ihrem Tod hinterlassen hat. Die Sache hat allerdings einen Haken: Er kann dieses Erbe nur gemeinsam mit seinem Bruder antreten, der vor 15 Jahren spurlos verschwunden ist. Noch ahnt er nicht, was ihn erwartet, als er sich auf die Suche begibt. Ein Kommissar auf der Jagd nach einem der gefürchtetsten Unterweltbosse Berlins, eine junge Krankenschwester mit einer furchtbaren Narbe im Gesicht und ein Mann ohne Gedächtnis in einer verlassenen Festung mitten in der Wüste - sie alle sind durch ein schreckliches Ereignis mit Jonathan verbunden. Und schon bald muss jeder von ihnen eine tiefgreifende Entscheidung treffen ... Mit seinem Debüt-Roman Das Haus der Geschichten hat sich Thomas Franke vor Jahren schlagartig einen Namen gemacht. Seine Romane stehen für eine kreative und gleichzeitig tiefgründige Mischung von Glaubens- und Spannungselementen. Das stellt auch dieser Roman eindrucksvoll unter Beweis.
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Seitenzahl: 375
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Über den Autor
Thomas Franke ist Sozialpädagoge und bei einem Träger für Menschen mit Behinderung tätig. Als leidenschaftlicher Geschichtenschreiber ist er nebenberuflich Autor von Büchern. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
Mehr über den Autor: www.thomasfranke.net
Inhalt
Prolog
El Niño
Flucht
Die Brücke
Der Plan
Das Testament
Notaufnahme
Die Agentur
Erwachen
Die Akte El Niño
Das Elternhaus
Die Erkenntnis
Der Zwerg
Alte Fotos und ein Sicherungskasten
Der Gefangene
Die Visite
Schwester Maggy
Die Festung
Alte und neue Wunden
Die Schrift an der Wand
Der Flussmann
Die weiße Frau
Überholmanöver
Leere
Der Spiegel
Gefährliche Fragen
Hinweise
Verlaufen
Verspiegelte Erinnerungen
Vorbereitungen
Mango-Lassi und Geschwister
Die Bestie
Fragen, Einsamkeit und eine Flasche Rotwein
Dunkle Ahnungen
Aufgeflogen
Recherche
Wacht
Der Makel
Fragen und ein malträtiertes Lenkrad
Verschwunden
Das Licht scheint in die Finsternis
Auf der Jagd
In die Irre geführt
Zurück
Scham
Frei
Epilog
Dank
Du wirst so lange tot sein, als du dich weigerst zu sterben.
George MacDonald
Prolog
Sommer 1992
Helena ächzte leise, als sie den Korb anhob. Sie war einfach noch nicht dazu gekommen, diese Arbeit zu erledigen. Seit Wochen türmte sich die Bügelwäsche im Keller. Möglicherweise spielte ihre Abneigung gegen den Vorgang des Bügelns dabei eine kleine Rolle. Aber das war nicht der Hauptgrund für das Chaos: Seit Jürgen sich selbstständig gemacht hatte, kam er täglich nur für ein paar Stunden nach Hause. Meist ging er sofort in die Küche, fiel über alles Essbare her, das nicht erst lange zubereitet werden musste, und taumelte dann direkt ins Bett, um wenige Sekunden später in Tiefschlaf zu fallen.
Banale Aufgaben wie staubsaugen, Wäsche waschen, einkaufen und kochen nahm er gar nicht wahr. Er fühlte sich dafür genauso wenig zuständig wie für die Luft, die er zum Atmen benötigte.
Im Grunde lebte Helena wie eine Alleinerziehende. Sie stand nachts auf und kümmerte sich um Jonathan, wenn seine Pseudokrupp-Anfälle ihn nach Atem ringen ließen. Es war ihre Telefonnummer, die gewählt wurde, wenn Maik wieder Ärger in der Schule hatte. Schon seit Monaten brachte ihr Halbtagsjob mehr Geld in die Haushaltskasse als Jürgens Geschäft.
Schnaufend erklomm sie die Kellertreppe. Der gesamte Haushalt lastete auf ihren Schultern.
Eigentlich hatte sie gehofft, dass in ihrer zweiten Ehe alles besser werden würde. Aber meist fühlte sie sich genauso alleingelassen wie früher. Ächzend schleppte sie den Korb durch das Halbdunkel des Flurs. Immerhin, ging es ihr durch den Kopf, verprasst er sein Geld nicht bei illegalen Pokerturnieren und hat ständig Affären mit irgendwelchen Flittchen. Und außerdem gab es da noch ihre verspätete Hochzeitsreise. Schon seit Monaten freute sie sich auf das verlängerte Wochenende in London. Es war ihr Lichtstreifen am Horizont.
Plötzlich stieß sie mit dem Schienbein gegen irgendetwas, das hier im Flur nichts zu suchen hatte, und stolperte vorwärts. Die Jungs hatten dort wieder allen möglichen Krempel liegen lassen. In Gedanken sah sie sich schon auf dem Boden aufschlagen. Das fehlte noch, dass sie sich das Bein brach und ihren wohlverdienten Urlaub nicht antreten konnte. Irgendwie gelang es ihr, das Gleichgewicht zu halten. Sie machte sich mit einem Schwall Schimpfwörter Luft, für die sie ihren Jungs zwei Tage Stubenarrest verpasst hätte, und lehnte sich schwer atmend gegen die Wand. Mit dem Ellenbogen öffnete sie die Wohnzimmertür. Ein Schweißtropfen rann ihr über die Schläfe, als sie den schweren Korb auf dem Esstisch abstellte.
Stöhnend streckte sie ihren schmerzenden Rücken. Heute hatte sie Spätschicht. Wenn ihr Rücken jetzt schon schlappmachte, würde die Arbeit alles andere als ein Vergnügen werden.
Als sie das Bügelbrett holte, achtete sie sorgsam darauf, nicht auf die Legosteine zu treten, die Jonathan wieder einmal liegen gelassen hatte. Aus leidvoller Erfahrung wusste sie, wie schmerzhaft das sein konnte. Der Dielenboden knackte, und aus den Augenwinkeln glaubte sie, einen Schatten vorbeihuschen zu sehen.
Erschrocken wandte sie sich um. Niemand war zu sehen. Natürlich nicht!, schalt sie sich selbst. Die Kinder waren in der Schule und Jürgen war im Geschäft. Das Holz in diesem alten Bauernhaus arbeitete ständig. Allmählich sollte sie sich daran gewöhnt haben. Und der Schatten?
Sie schüttelte den Kopf über ihre eigene Albernheit, ging aber dennoch hinüber zur angelehnten Tür und lugte in den Flur. Niemand war zu sehen.
Achselzuckend kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, steckte das Bügeleisen in die Steckdose und schaltete den Fernseher ein. Im Vormittagsprogramm lief ein alter Film aus den Siebzigern. Sie zappte sich durch die Sender und blieb bei einer Wiederholung von Alf hängen. Sie mochte diesen vorlauten, zotteligen Außerirdischen.
Der Hemdenstapel war ungefähr zu einem Drittel abgearbeitet, als das Telefon klingelte. Hoffentlich nicht schon wieder die Schule, dachte Helena, während sie den Fernseher leise stellte und den Hörer abnahm.
„Hi, Baby, ich bin’s, Frank.“
Helena verdrehte die Augen. „Nenne mich nicht ,Baby‘, Frank, das ist albern.“
Sie vernahm am anderen Ende der Leitung ein Lachen. Motorengeräusche dröhnten im Hintergrund und eine Polizeisirene erklang.
„Wo bist du? In einer Telefonzelle an der Autobahn?“
„Ich telefoniere vom Auto aus.“
Helena seufzte. Natürlich hatte sich ihr Exmann eines dieser sauteuren neuen Handys gekauft, mit denen all diese neureichen Yuppies durch die Gegend stolzierten. Nur mit dem Unterschied, dass Frank sich so ein Ding eigentlich nicht leisten konnte.
„Was willst du?“
„Hör zu, ich habe da etwas am Start …“ Der Rest seiner Worte ging im Quietschen von Reifen unter. Sie hörte ihn lautstark fluchen.
„Was ist passiert?“
„Alles unter Kontrolle, Baby. Also wie gesagt, für mich hat sich da eine ganz große Sache aufgetan.“
Ein ungutes Gefühl beschlich Helena. „Frank … Warum rufst du an?!“
„Es tut mir wirklich leid, das musst du mir glauben, aber … ich kann den Jungen nicht nehmen.“
Helena spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. „Was …?“, stammelte sie. Mit der Hand tastete sie nach der Sessellehne.
„Baby, das ist meine Chance!“, fuhr Frank aufgeregt fort. „Ich –“
„Deine verdammten Chancen interessieren mich nicht!“, fauchte Helena. „Du hast mir hoch und heilig versprochen, dass du Maik nächste Woche nimmst. Der Termin steht seit über einem halben Jahr fest!“
„Ich weiß, tut mir auch leid, aber wir müssen das Ganze verschieben!“
„Verschieben?!“, kreischte Helena. „Jürgen und ich haben eine Reise gebucht, schon vergessen?“
„Beruhige dich –“
„Nein, ich werde mich nicht beruhigen! Seit unserer ersten Begegnung lässt du mich immer wieder im Stich. Ich habe den Jungen die ganze Zeit am Hals und du kümmerst dich um gar nichts! Maik ist auch dein Sohn! Jetzt übernimm ein Mal in deinem Leben Verantwortung und halte dich an dein Versprechen!“
„Du kannst herumbrüllen, so viel du willst.“ Franks Stimme klang kalt. „Es ändert nichts. Ich bin an diesem Wochenende in Las Vegas. Ich kann den Jungen nicht nehmen.“
„Das ist nicht dein Ernst!“, keuchte Helena.
„Ich habe die Startgebühr für ein internationales Top-Turnier im legendären ,Binion’s Horseshoe‘-Casino zusammen. Das bedeutet –“
„Es interessiert mich einen Dreck, was das bedeutet!“, schrie Helena. „Ein Mal, ein einziges Mal in meinem Leben will ich etwas Zeit für mich haben. Ich will tun, was mir gefällt! Ich will mich nicht um das Chaos der Kinder kümmern müssen und mir nicht die Beschwerden der Lehrer anhören, die mir erzählen, was dein Sohn schon wieder ausgefressen hat.“
„Mein Gott, nun werde doch nicht gleich so theatralisch“, unterbrach Frank sie. Er klang genervt. „Du hast doch den Zwerg auch woanders untergebracht, da kann Maik doch garantiert –“
„Kennst du deinen Sohn überhaupt, Frank? Er lässt sich von niemandem etwas sagen. Maik steht kurz davor, auch von der dritten Schule zu fliegen. Ständig stellt er irgendetwas an –“
„Meine Güte, reg dich ab. Er kommt eben in die Pubertät, da sind Jungs ein bisschen rebellischer, das ist völlig normal.“
„Erzähl nicht so einen Schwachsinn!“, stieß Helena wütend hervor. „Maiks Verhalten ist überhaupt nicht normal. Weißt du, dass er versucht hat, Yvonnes Schuppen niederzubrennen?“
Sie hörte Frank am anderen Ende der Leitung verächtlich schnaufen. Er konnte ihre Schwester nicht leiden. Aber offenbar hatte selbst er kapiert, dass jetzt nicht der richtige Moment für flapsige Kommentare war.
„Yvonne kümmert sich um Jonathan, während wir weg sind. Aber Maik darf ihr Haus nicht mehr betreten. Verstehst du, Frank: Niemand nimmt deinen Sohn freiwillig bei sich auf!“
„Tut mir echt leid“, entgegnete Frank. Sie vernahm das Knallen einer Autotür, dann Schritte. „Ich werde mit ihm reden, wenn ich zurück bin.“
„Frank, das kannst du nicht machen! Du wirst dich an dein Versprechen halten –“
„Der Akku ist gleich leer.“
„– dieses eine Mal!“
„Ich muss Schluss machen –“
Helena spürte, wie ihr die Tränen kamen. „Tu mir das nicht an!“ Wütend fuhr sie sich mit dem Handrücken über das Gesicht.
„Ich melde mich, versprochen!“
„Frank?“
Ein Tuten erklang aus der Leitung. „Du Scheißkerl!“ Helena knallte den Hörer auf die Gabel. „Du blödes, egozentrisches –!“
Eine Bewegung an der Wohnzimmertür ließ sie herumfahren.
Ein blasses Gesicht starrte durch den Türspalt.
Helena spürte, wie ihr Herzschlag für einen Moment aussetzte. „Mein Gott, Maik!“, entfuhr es ihr. „Was … machst du schon hier? Warum bist du nicht in der Schule?“
Der Junge schwieg. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
„Hast du gelauscht?!“
Das blasse Gesicht blieb vollkommen reglos.
Sie unterdrückte ein Stöhnen „Maik, hör zu –“
Maik wandte sich ab und hastete davon. Sie konnte seine Schritte auf dem Dielenboden hören.
„Maik, jetzt warte doch –“
Etwas krachte laut scheppernd gegen die Wand.
„Maik!“ Helena eilte hinaus auf den Flur und sah gerade noch, wie die schlanke Gestalt ihres Sohnes durch die Haustür verschwand. „Bleib stehen!“ Sie eilte zur Tür und spürte einen stechenden Schmerz, als sie mit bloßen Füßen auf etwas Spitzes trat. Sie keuchte schmerzerfüllt auf und humpelte zur Tür.
Maik hatte jedoch bereits den Hof durchquert und verschwand einen Augenblick später im gegenüberliegenden Maisfeld. „Verdammt!“
Es hatte keinen Zweck, ihm hinterherzulaufen. Sie würde ihn niemals einholen. Humpelnd machte sie kehrt und schaltete das Licht im Flur ein, um die Verletzung zu untersuchen. Ein dicker Holzsplitter hatte sich tief in ihre Fußsohle gebohrt. Helena biss die Zähne zusammen und zog ihn vorsichtig heraus. Blut tropfte auf den Boden. Ihr Blick fiel auf das Hindernis, über das sie vorhin gestolpert war. Holzreste lagen zersplittert auf dem Boden. Maik musste etwas mit voller Wucht gegen die Wand geschleudert haben. Helena kniete nieder und betrachtete die zerbrochenen Reste. Es war ein Regal gewesen, laienhaft aus alten Palettenbrettern ausgesägt und zusammengenagelt. In den Trümmern lag ein Zettel. Helena hob ihn auf.
Für Mama.
Damit du auf dem Klo Platz für deine Bücher hast.
Maik
Helenas Sicht verschwamm, als ihr Tränen in die Augen traten. „Oh nein!“ Sie presste die blutverschmierte Hand an die Lippen. „So eine Scheiße!“
El Niño
20 Jahre später
Die Zigarettenspitze glomm auf in der Nacht. Er sog den Rauch tief in seine Lunge und stieß ihn dann langsam wieder aus. Mit beiden Ellenbogen lehnte er sich auf die Brüstung der Dachterrasse und starrte der kleinen Rauchwolke hinterher, die in den Berliner Nachthimmel hinaufstieg.
Die Terrasse gehörte zu einem der exklusivsten Nachtclubs der Hauptstadt. Die Wucht der Beats ließ selbst hier draußen den Boden unter seinen Füßen vibrieren. Macht und Prominenz hatten sich versammelt: erfolgreiche Manager, Rechtsanwälte, gelangweilte Politikersprösslinge, mehr oder minder bekannte Schauspieler und auch eine ganze Reihe von Persönlichkeiten, die ihr Geld mit weniger legalen Mitteln verdienten. Wenn Martin Böhm zur Party lud, dann kamen sie alle.
Er sog an der Zigarette und verzog die Lippen zu einem Lächeln bar jeden Humors. Es war seine Party. Aber hier oben war er ganz allein.
Dieser Moment entbehrte nicht einer gewissen Symbolkraft.
Er wusste viel über seine Gäste, kannte ihre Potenziale und ihre dunklen Seiten. Und wenn es an der Zeit war, würde er sie nach seiner Musik tanzen lassen. Jeder dieser Männer hier hielt sich für wichtig, glaubte, freiwillig hier zu sein, um Spaß zu haben und die Gesellschaft all der attraktiven Frauen zu genießen, an denen es in seinem Club erstaunlicherweise niemals mangelte. In Wahrheit waren alle diese Leute nur Teil eines gigantischen Marionettenkabinetts. Und er war es, der die Fäden in der Hand hielt.
Er spie über die Brüstung und starrte in die Nacht. Es war eine seltsame Ironie, dass er beinahe alles über so viele Menschen wusste, aber selbst kaum mehr als ein Schatten blieb.
Natürlich kannte man seine verschiedenen Namen und all die Geschichten, die er für sie erfunden hatte. Für seine Gäste war er Martin Böhm, ein Investor, der mit Immobilienhandel Millionen gemacht hatte und nun seinen Reichtum großzügig unters Volk brachte. Auf den Cayman Islands war er Mr Schmidt – ein ausgezeichneter Kunde. Hin und wieder wohnte er unter dem Namen Pawlowski in einem teuren Apartment in München. Seine Nachbarn würden ihn als freundlichen und überaus höflichen Menschen bezeichnen. Das LKA Berlin würde allerdings andere Attribute verwenden. Für sie war er „El Niño“ – einer der gefürchtetsten Unterweltbosse der Stadt. Überall, so schien es, hatte er seine Hände im Spiel, und doch hatte niemand ihn jemals zu Gesicht bekommen.
Bislang hatte er es stets genossen, der Mann im Schatten zu sein. Es hatte ihn berauscht, Macht über die scheinbar Mächtigen zu haben. Doch in letzter Zeit verspürte er immer häufiger diese seltsame Leere in sich – eine Art von Taubheit, die sich langsam von innen nach außen fraß.
Wann hatte es angefangen? Er griff in die Brusttasche, zog eine der kleinen runden Pillen hervor und schluckte sie. War die Leere an dem Tag geboren worden, als seine Mutter gestorben war? Vielleicht, weil mit ihr jene Person gegangen war, die ihm seinen ersten Namen gegeben hatte?
„Maik …“, hatte sie geflüstert. „Bist du das?“
„Ja, Mama.“
Dann war sie eingedöst, umnebelt von schweren Schmerzmitteln. Und er hatte neben ihr am Bett gesessen und diese Leere gespürt. Hatte er sie dort zum ersten Mal wahrgenommen?
Langsam schüttelte er den Kopf. Nein, sie war schon länger da gewesen, viel länger. Aber noch nie war sie so deutlich in sein Bewusstsein getreten wie in diesem Moment, als er etwas fühlen wollte und es nicht konnte.
„Herr Böhm?“
Er fuhr herum.
Der breitschultrige Mitarbeiter der Security zuckte unter seinem Blick zusammen. „Entschuldigen Sie die Störung. Aber ich sollte Sie doch an das Gespräch mit dem Staatssekretär erinnern.“
Er holte tief Atem und nickte dann. „Ich komme.“
Der Mann hielt ihm die Tür auf. Als Maik eintrat, war er wieder Martin Böhm. Er spürte den Rhythmus der Musik in seinem Körper. Das Flirren der Lichter spiegelte sich in den Champagnergläsern und den teuren Uhren der Gäste.
Der Staatssekretär stand am Büfett und unterhielt sich sehr angeregt mit einer jungen Dame, die noch nicht einmal halb so alt war wie er.
Martin Böhm grüßte, schüttelte Hände und bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Das Dröhnen der Musik übertönte das Klingeln seines Handys, und es dauerte einige Sekunden, bis er den Vibrationsalarm registrierte. Er zog das Mobiltelefon aus der Hosentasche und warf einen Blick auf die leuchtende Anzeige. Es war Sercan. Er würde sich nicht melden, wenn es nicht wirklich dringend wäre. „Was gibt es?“
„… ist … Alex … musst … sofort!“
„Was?! Ich versteh kein Wort! Warte!“
Er warf einen Blick zum Staatssekretär, der konsequent das Dekolleté seiner Gesprächspartnerin im Blick behielt und ihn nicht zu vermissen schien. Kurzentschlossen wandte Maik sich ab und bahnte sich einen Weg über die Tanzfläche. Die flirrenden Lichtblitze ließen die schwitzenden Leiber um ihn herum ruckartig zucken. Sercans Stimme erklang erneut, doch er verstand weiterhin kein Wort. „Gleich!“, zischte er. Er beschleunigte seine Schritte und stieß unsanft mit einer der Tanzenden zusammen. Maik ignorierte die ärgerlichen Rufe und hastete weiter.
Endlich hatte er die Tanzfläche überquert. Rasch eilte er die Treppen hinab, öffnete die Notausgangstür und trat nach draußen.
Kalte Nachtluft umfing ihn. Er drückte das Handy ans Ohr. „Was ist los, verdammt noch mal?“ Das fahle Licht einer Straßenlaterne spiegelte sich in einer Pfütze.
„Du wurdest verraten!“
„Was?!“
„Bist du noch im Club?“ Sercan sprach hastig. Furcht schwang in seiner Stimme mit.
„Ja, aber was soll –“
„Du musst weg da, sofort! Er ist gleich da!“
„Wer denn, zum Teufel! Rede endlich klar!“
„Alex! Er ist ein Spitzel!“
„Was sagst du da?“
„Er arbeitet für das LKA!“
„Das ist nicht dein Ernst!“
„Du weißt, dass ich dich niemals belügen würde!“
„Verdammt!“ Maik hatte das Gefühl, als würde sich sein Magen zu einem harten Klumpen zusammenballen. Eine Mischung aus Zorn und Furcht vertrieb das Gefühl der Leere in ihm. „Ich hab diesem Schwein vertraut …“
„Du musst verschwinden, Chef. Er ist schon auf dem Weg zu dir!“
„Ich bring den Kerl um!“
„Alex ist ein Bulle! Der kommt garantiert nicht allein!“ Sercan schrie nun fast. „Mit Sicherheit hat der das SEK im Schlepptau –“
Sercan redete weiter auf ihn ein, aber Maik hörte nicht länger zu. Er starrte auf das schmutzige Pflaster und lauschte seinen eigenen Atemzügen. Verraten! Von einer schmierigen Kanalratte verraten! Eben noch hatte er geglaubt, alle Fäden in der Hand zu halten, und nun das … Er schleuderte das Handy mit aller Wucht gegen die Betonwand des Nachtklubs, wo es zersplitterte. „Scheiße!“ Erregt trat er gegen eine der überfüllten Mülltonnen. „Verfluchte Scheiße!“
Eine plötzliche Bewegung ließ ihn herumfahren. „Alles in Ordnung, Herr Böhm?“ Ein breitschultriger Mann tauchte im Türspalt des Hintereingangs auf.
Maik warf ihm einen wortlosen Blick zu.
Obwohl der Mann einen Kopf größer und doppelt so breit war wie Maik, verzog er sich so hastig wie ein ängstliches Schulmädchen.
Über den gedämpften Lärm des Nachtclubs hinweg konnte man das Quietschen von Autoreifen hören. Maik eilte über den dunklen Hinterhof auf die Straße. War das dort der BMW von Alex? Er biss die Zähne zusammen und wandte sich in die entgegengesetzte Richtung. Rasch bog er in eine Seitengasse. Er ging schnell, ohne jedoch in Laufschritte zu verfallen. Ein Mann, der in einem eleganten Anzug durch die Straßen hetzte, wäre viel zu auffällig. Maik warf einen Blick über die Schulter – niemand war zu sehen. Einen Augenblick lang erwog er umzukehren, um den Speicherchip seines Handys zu holen. Aber er hatte sich angewöhnt, keine Daten zu speichern und alle Nachrichten sofort wieder zu löschen. Die Nummern seiner Leute kannte er auswendig.
Aufmerksam sah er sich um, während er durch die Straßen ging. Ein paar Häuserecken entfernt demolierten ein paar Jugendliche grölend eine Bushaltestelle – unverdächtig. Nach einem längeren Umweg bog er in die Straße ein, in der er geparkt hatte. Von Alex war nichts zu sehen. Maik konnte auch keine Polizeiwagen entdecken. Vielleicht hatte er Glück. Rasch stieg er ein und startete den Motor seines Porsche Cayenne.
Polizeihauptkommissar Thorsten Boddien tigerte in seinem Büro auf und ab. Mit einer rüden Handbewegung verscheuchte er jeden, der sich in seine Nähe wagte. Er presste einen Finger auf den Knopf in seinem Ohr.
Aus dem Kopfhörer drang laute Musik und gedämpftes Keuchen. Der Idiot hatte einfach die Anweisungen seines Vorgesetzten ignoriert und war allein in den Club gestürmt. Im Stillen verfluchte Thorsten Boddien den Tag, an dem er den jungen Alexander Wolkow auf den Fall El Niño angesetzt hatte. Dabei hatte er sich erst zu seiner klugen Entscheidung beglückwünscht. Alex konnte hervorragende Zeugnisse vorweisen, dazu hatte er schauspielerisches Talent, keine festen Bindungen und jede Menge Ehrgeiz. Als Sohn russlanddeutscher Einwanderer sprach er akzentfrei Russisch. Es fehlten nur noch einige fingierte Gewaltverbrechen samt abgesessener Gefängnisstrafe und schon war er ein Exmitglied der ostdeutschen Russenmafia, auf der Suche nach neuen Herausforderungen – und damit der perfekte Undercoveragent. Und es war auch wirklich gelungen, Alex in das Netzwerk von El Niño einzuschleusen.
El Niño war ein Phantom. Der große Unbekannte unter den führenden Köpfen der organisierten Kriminalität. Niemand hatte ihn jemals zu Gesicht bekommen. El Niño war vollkommen unberechenbar und sehr, sehr gefährlich, genauso wie das Wetterphänomen, dem er seinen Namen verdankte.
Eines der unzähligen Gerüchte über ihn besagte, dass er seine besonderen Fähigkeiten in den blutigen Drogenkriegen Mexikos erworben hatte. Ein anderes besagte, er sei Araber – ein Exterrorist, der sein Handwerk bei Al Kaida erlernt hatte. Wieder andere glaubten, er entstamme der russischen Mafia.
Hauptkommissar Thorsten Boddien vermutete, dass keines dieser Gerüchte der Wahrheit entsprach. Wahrscheinlich hatte El Niño sie selbst in die Welt gesetzt.
Alexander Wolkow hatte sich an dem Fall festgebissen. Zwei Jahre lang war er unter dem Namen Alex Smirnow immer tiefer in das kriminelle Netzwerk vorgedrungen. Er hatte Grenzen überschritten und Verbrechen begangen, um das Vertrauen El Niños zu gewinnen. Mehrmals hatte Thorsten Boddien darüber nachgedacht, ihn von diesem Fall abzuziehen, aber jedes Mal hatte Alex einen neuen Erfolg vorzuweisen gehabt und seinen Vorgesetzten dazu bewogen, immer mehr Kompromisse einzugehen. Viel zu spät hatte der Hauptkommissar bemerkt, dass es Alex längst nicht mehr um Recht und Unrecht ging. Es war eine andere Art von Hunger, die den jungen Undercoveragenten antrieb. Es ging darum, derjenige zu sein, der den großen Unbekannten El Niño enttarnte. Es ging nur noch um den Sieg! Erfolg war das Einzige, was noch eine Rolle spielte.
Vor einer Stunde hatte sich Alex gemeldet. Seine Stimme hatte vor Aufregung gezittert. „Ich weiß, wer El Niño ist!“ Dann hatten sich die Ereignisse überschlagen.
Das Schnaufen in seinem Headset wurde lauter. Wütende Rufe waren über den Lärm der Musik hinweg zu vernehmen.
„Alex, rede endlich mit mir! Was ist los?!“
„Martin Böhm!“
„Das ist nicht dein Ernst?!“
„Doch, er war an ihrem Grab. Und jetzt schnappe ich ihn mir! … Verflucht …“, keuchte es in seinem Kopfhörer, „er ist weg!“
„Wie: weg?“
„Er … muss einen Tipp bekommen haben“, erwiderte die Stimme schnaufend. Es rumste, als würde eine Tür zugeschlagen. Abrupt wurde die Musik leiser. „Hier liegt ein kaputtes Smartphone“, murmelte die Stimme. „Ich sage dir, der ist gerade erst weg.“
„Vielleicht ist das Zufall?“
Alex schnaufte spöttisch. „Das glaubst du doch selbst nicht! Der hat einen Tipp bekommen.“
Thorsten Boddien kniff die Lippen zusammen. Alex hatte recht. Wenn Martin Böhm tatsächlich El Niño war – und daran hatte er nun keinen Zweifel mehr –, dann hatte er nicht ohne Grund fluchtartig die Party des Jahres verlassen.
„Schon mal daran gedacht, dass wir einen Maulwurf haben könnten?“, fragte Alex.
„Langsam wirst du paranoid!“, sagte Boddien. Vielleicht hast du ja auch einen Fehler gemacht, Alex, dachte er. Aber er sprach es nicht laut aus. Ein Streitgespräch würde ihnen jetzt nicht weiterhelfen.
„Es wussten einfach zu viele Leute von der geplanten Aktion. Da ist garantiert etwas durchgesickert. Deshalb wollte ich die Sache ja auch allein durchziehen“, schnaufte Alex.
Nein, dachte Thorsten Boddien. Das ist nicht der wahre Grund, und das wissen wir beide sehr genau.
Schnelle Schritte waren zu vernehmen. Es hörte sich an, als würde der junge Mann eine enge Gasse entlangjoggen. „Was machst du da?“
„Böhm nutzt niemals die Tiefgarage“, erwiderte Alex. „Er parkt seinen Wagen immer an einer anderen Stelle. Vielleicht ist er hier noch irgendwo in der Nähe.“
„Warte auf die Kollegen, dann könnt ihr eine koordinierte Suchaktion starten.“
Alex antwortete nicht und Thorsten Boddien schüttelte den Kopf. Er war schon über 20 Jahre bei der Polizei, aber eine solche Verbissenheit war ihm noch nie untergekommen.
„Da!“
„Was?“
„Ich hab ihn! Er steigt gerade in seinen Wagen.“ Die Schritte wurden schneller. Alex begann zu rennen.
„Wo ist er?“, rief Thorsten Boddien.
Keine Antwort, nur keuchender Atem und hallende Schritte.
„Verdammt noch mal, rede endlich mit mir!“
Das charakteristische Piepen einer funkgesteuerten Zentralverriegelung erklang. Die Schritte verstummten abrupt, gleich darauf wurde eine Autotür zugeschlagen und ein Motor gestartet.
„Alex!“, brüllte Boddien.
„Schon gut“, keuchte der junge Mann. „Bin im Auto und nehme die Verfolgung auf.“ Er gab Gas.
„Das SEK muss jeden Moment da sein. Dann könnt ihr ihn in die Zange nehmen!“
„Keine Zeit. Der ist glatt wie ein Aal. Wenn er uns jetzt durch die Lappen geht, war alles umsonst!“ Der Wagen beschleunigte.
„Wohin fahrt ihr?“
„Nach Norden, Richtung Stadtautobahn!“
„Okay. Ich schicke dir Verstärkung! Geh keine unnötigen Risiken ein!“
Das Dröhnen des Motors war die einzige Antwort.
Flucht
Maik zügelte seine Wut und hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Wenn er raste, würde das nur unnötig Aufmerksamkeit erregen. Und das Letzte, was er gebrauchen konnte, waren Blitzerfotos, die den Bullen den Weg wiesen.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog sich während der Fahrt das Jackett aus. Achtlos warf er es nach hinten und löste den Schlips. Wie hatte dieses kleine Arschloch seine wahre Identität herausgefunden? Niemand außer Sercan wusste Bescheid!
Ein silberfarbener BMW kam aus der Seitenstraße und schlug die gleiche Richtung ein. Alex! Maik stieß einen Fluch aus und behielt den Rückspiegel im Auge. Wie ein Jagdhund hatte sich der Verräter an seine Fersen geheftet. Es würde nicht mehr lange dauern, bis das SEK hinzukam.
Maik knirschte mit den Zähnen, während er den Wagen beschleunigte. Es hatte Jahre gedauert, seine wichtigste Identität aufzubauen. Martin Böhm, der erfolgreiche Geschäftsmann, und El Niño, der Schatten der Unterwelt, hatten sich perfekt ergänzt. Er würde noch mal ganz von vorne anfangen müssen.
Maik kramte erneut eine kleine weiße Pille aus seiner Hemdtasche. Der Motor des Cayenne röhrte, als er Gas gab und von der Autobahnauffahrt gleich auf die linke Spur wechselte. Kurz darauf fuhr ein silberfarbener BMW auf die Autobahn und setzte den linken Blinker.
Hauptkommissar Thorsten Boddien presste die Hand an sein Ohr. „Was hast du gesagt?“
„Ich bin noch dran! Er fährt auf der A1 Richtung Norden!“
Thorsten Boddien seufzte erleichtert. „Gut, bleib dran und sei vorsichtig. Ich schicke dir jemanden, der dich ablöst.“
„Mist, er gibt mächtig Gas.“ Alex klang wütend. „Er weiß, dass ich hinter ihm bin!“
„Halt Abstand!“, mahnte Thorsten Boddien. „Versau es nicht!“
Alex schnaubte.
„Wir observieren ihn und schlagen zu, wenn sich die Gelegenheit bietet. Wenn wir die Sache jetzt überstürzen, sind die Folgen nicht absehbar.“
„Schon klar!“, brummte Alex.
„Junge, ich kann dir keinen Hubschrauber hinterherschicken, der den Burschen von der Straße pustet – wir sind hier nicht in einem blöden Actionfilm.“
Alex erwiderte nichts.
Thorsten Boddien verdrehte die Augen und gab eine neue Order an seine Mitarbeiter heraus. Zwei Zivilfahrzeuge würden die Verfolgung aufnehmen und Alex bei passender Gelegenheit ablösen. Der Mannschaftsbus des SEK würde im Abstand von einem Kilometer folgen.
Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten. Alex schwieg. Thorsten Boddien nahm sein unruhiges Hin- und Herlaufen wieder auf. Dieser Junge machte ihn noch wahnsinnig. Er war wie ein Terrier, der sich in den Fall verbissen hatte und nicht loslassen würde, bis El Niño in Haft saß. Aber er war auch ein kluger Kopf und hatte das Netzwerk des Unterweltbosses so sorgfältig analysiert wie niemand sonst. Jedes Mal, wenn man das Gefühl hatte, in das Zentrum des Netzwerkes vorgedrungen zu sein, stellte man fest, dass man auf ein Nebengleis geraten war. Scheinbar führende Köpfe der Organisation entpuppten sich als unwissende Handlanger, und kleine Dealer, die völlig unwichtig schienen, hatten mit einem Mal die teuersten Anwälte an ihrer Seite. Es war einfach nicht zu durchschauen, wer in dieser Organisation das Sagen hatte. Ständig schien jemand anderer die Fäden zu ziehen. Es gab nur eine Konstante, und die trug den Namen Sercan. Alex hatte rasch herausgefunden, dass der Mann keine Befehlsgewalt hatte. Er war kein Boss. Aber er tauchte überall auf, und niemand stellte das infrage. Er durchschwamm die trüben Wasser der Unterwelt, und weder die großen noch die kleinen Fische wagten es, ihn zu behelligen. Er war der „Unberührbare“.
Das hatte Alex neugierig gemacht. Zuerst hatte er gedacht, Sercan selbst wäre die Spinne in diesem undurchdringlichen Netzwerk, doch das passte nicht so recht zusammen. Schließlich war er zu dem Schluss gelangt, dass Sercan so etwas wie der persönliche Assistent von El Niño war. Und dann war diese alte Frau ins Spiel gekommen. Sie war definitiv nicht mit Sercan verwandt und es gab auch keinerlei Bezug zu dessen kriminellem Umfeld. Und dennoch beobachtete er die alte Dame heimlich. Als dann auch noch ominöse Kreuzworträtselgewinne und eine private Zusatzversicherung auftauchten, an die sich die alte Frau gar nicht erinnern konnte, war klar, dass jemand sie finanziell unterstützte.
Nachdem die alte Frau verstorben war, stellte sich heraus, dass sie einen Notar mit der Vollstreckung ihres Testaments beauftragt hatte.
Und endlich hatten sie einmal Glück. Der Notar war ein alter Klassenkamerad von Thorsten Boddien.
Der Hauptkommissar frischte den Kontakt zu seinem alten Kameraden unauffällig über Facebook wieder auf und sorgte dafür, dass Alex dessen Büro ungestört einen Besuch abstatten konnte, während der Notar bei einem angesagten Italiener mit Thorsten Boddien über alte Zeiten plauderte. So fanden sie heraus, dass die angeblich von einer Versicherung stammenden Gelder der alten Dame in Wahrheit von einem Konto überwiesen worden waren, das mit El Niño in Verbindung gebracht werden konnte. Damit war klar, es musste eine Beziehung zwischen dieser Frau und Sercans Auftraggeber geben.
Alex persönlich hatte die Beerdigung observiert, aber El Niño war nicht aufgetaucht. Thorsten Boddien hielt das Ganze für eine Sackgasse, aber Alex hatte darauf bestanden, das Grab per Video überwachen zu lassen. Offenbar hatte er die Bilder vor wenigen Stunden überprüft und recht behalten: Martin Böhm war El Niño.
Er war wie aufgeputscht. Denn wenn die DNA von Martin Böhm mit der sichergestellten DNA von einem acht Jahre alten Mordfall übereinstimmte, hatten sie genug Beweismaterial, um El Niño ans Messer zu liefern. Vorausgesetzt natürlich, es gelang ihnen, den Mann festzusetzen.
Den Blick auf die Straße gerichtet, warf Maik die Pille ein und schluckte sie hinunter.
Noch mal ganz von vorne anfangen – zu einem Nichts werden, um sich neu erfinden zu können. Er hatte es schon einmal getan, aber damals war er jünger gewesen, und er hatte noch nicht den Erfolg geschmeckt. Damals hatte er nichts zu verlieren gehabt – heute hingegen hatte er ein ganzes Imperium verloren. Was für ein Drecksleben!
Der BMW folgte ihm. Während Maik weiterhin den Rückspiegel im Auge behielt, wanderten seine Gedanken unwillkürlich immer weiter in die Vergangenheit zurück. Zurück in jene Zeit, als er noch nichts von Martin Böhm wusste und El Niño noch nicht geboren worden war. Es war schon seltsam mit der Erinnerung. Von vielen Jahren seines Lebens waren kaum mehr als ein paar verschwommene Bilder geblieben, aber einige wenige Details hafteten noch sehr genau in seinem Gedächtnis. Er konnte noch immer die Wut in sich spüren, die ihn damals erfasst hatte, das vertraute Brennen in seinem Inneren. Aber er wusste nicht mehr, was genau sie eigentlich ausgelöst hatte. Als seine Finger über die blank polierte Holzarmatur gestrichen hatten, hatte er grimmige Befriedigung gespürt. Der Geruch der Ledersitze klebte an seiner Erinnerung, genau wie das prickelnde Gefühl von Macht, das ihn durchströmt hatte, als es ihm gelungen war, den Motor zu starten. Die Nacht war schwülwarm gewesen, das T-Shirt hatte an seiner Haut geklebt. Selbst hier auf dem Parkplatz hatte er die ungeheure Hitze des in Flammen stehenden Gebäudes spüren können …
Sein Blick flackerte, die Jahre verschwanden, und er saß wieder in diesem Wagen. Hinter ihm tauchten die Flammen den Asphalt in purpurnes Licht. Der hämmernde Rhythmus der Musik und der Lärm des aufheulenden Motors pumpten Adrenalin durch seine Adern. Er trat das Gaspedal durch, die Reifen quietschten, und die Beschleunigung drückte ihn in den Sitz zurück.
Dann dieses Bild – erstarrte Zeit, für immer in sein Gedächtnis gemeißelt: bleiche Gesichter und weit aufgerissene Augen … so schreckliche Augen … Er hatte eine Entscheidung getroffen, bevor er sich dessen bewusst gewesen war …
Maik schüttelte den Kopf und ließ das Fenster herunter. Tief sog er die kühle Nachtluft in seine Lungen und drängte die Erinnerung unter die vernarbte Oberfläche seines Bewusstseins zurück.
Mittlerweile hatte er auf 200 beschleunigt. Der Fahrtwind peitschte in sein Gesicht und zerrte an seinem Hemd. Maik warf einen Blick in den Rückspiegel. Zwei Scheinwerfer hinter ihm kamen langsam näher.
Ohne zu blinken, wechselte er auf die mittlere Spur und überholte rechts einen Mercedes. Er drückte das Gaspedal durch und die Tachoanzeige stieg auf 250 km/h. Blaue Hinweisschilder flogen an ihm vorbei wie nächtliche Schemen. Aber die Scheinwerfer im Rückspiegel wurden nicht kleiner. Was für ein elendes Leben!
Er verringerte das Tempo ein wenig und ließ den BMW näher kommen. Dann, im letzten Moment, riss er abrupt das Lenkrad herum und nahm mit quietschenden Reifen die Ausfahrt. Beinahe hätte er es nicht geschafft. Das Kreischen der Reifen war ohrenbetäubend, er hörte ein lautes Krachen, Funken sprühten auf, als er die Leitplanke streifte. Der Wagen geriet ins Schleudern. Maik zwang sich, den Fuß von der Bremse zu nehmen, und bekam den Wagen wieder unter Kontrolle.
Die Brücke
Ruhelos wanderte Thorsten Boddien auf und ab. Über die Verhaftung von El Niño war innerhalb von wenigen Minuten entschieden worden und dennoch hatte dieser irgendwie Wind davon bekommen.
„Verdammt …!“ Der Aufschrei riss Thorsten Boddien aus seinen Gedanken.
„Alex, was ist los?“
Reifen quietschten …
„Alex!“
Es gab ein lautes Krachen und ein ohrenbetäubendes metallisches Kreischen. Die Verbindung brach abrupt ab.
„ALEX?“
Einige Atemzüge stand Hauptkommissar Thorsten Boddien einfach nur da und lauschte in die Stille. Dann wählte er die Nummer des leitenden Einsatzbeamten.
Beinahe wär ich draufgegangen!, schoss es Maik durch den Kopf, als er mit ungefähr 180 km/h die Landstraße entlangraste.
Und wäre das so schlimm gewesen?, bohrte eine Stimme in ihm nach. Um ihn herum lagen Felder und kleine Wäldchen, aus denen Nebel aufstieg. Erst jetzt blickte er in den Rückspiegel. Zwei Scheinwerfer kamen langsam näher. Verdammt! Vor Wut schlug er aufs Lenkrad. Hatte er diese Ratte immer noch nicht abgeschüttelt?
Zeig es den Typen, meldete sich erneut die Stimme in seinem Inneren, häng sie ab!
Maik beschleunigte, sein Blickfeld verengte sich. Sein Herz pochte und das Blut in seinen Adern rauschte. Seine Muskeln arbeiteten konzentriert – aber hinter alldem lauerte eine große Müdigkeit. Ohne darüber nachzudenken, schluckte er eine weitere Pille.
Er schaltete und lenkte, raste durch die Dunkelheit, und gleichzeitig nahm sein Bewusstsein immer mehr Abstand zu dem, was sein Körper tat. Ungerufen drangen Bilder in seinen Kopf. Er sah eine Festung in der Wüste, flirrend in der unbarmherzigen Sonne … Das Bild veränderte sich, er bewegte sich auf die von rotem Sand umtosten Mauern zu. Mit einem Mal wölbte sich die Wirklichkeit, binnen eines Herzschlages strömten fremdartige Sinneseindrücke auf ihn ein. Der Geruch von abgestandener Luft drang in seine Nase. Rauer Stein schien sich an ihn zu pressen und samtige Schwärze legte sich um ihn.
Die Leitplanke streifte den Kotflügel des Wagens. Helle Funken stoben auf. „Shit!“ Mühsam brachte Maik den schlingernden Wagen wieder unter Kontrolle. Der Fahrtwind peitschte ihm ins Gesicht. Was für ein Trip! Was für ein absurder Horrortrip!
Ein Schild warnte vor Brückenarbeiten in zwei Kilometern Entfernung – es war nur ein Schemen in der Nacht. Maik blickte erneut in den Spiegel. Die Scheinwerfer schienen wieder näher gekommen zu sein. Häng sie ab!, wisperte die Stimme erneut in ihm. Für immer!
Maik verzog die Lippen, doch es war nur die Karikatur eines Lächelns. „Warum nicht?“, flüsterte er. „Sei ehrlich – was würdest du schon verlieren?“
Das Pfeifen des Windes sank herab zu einem leisen Murmeln. Er sah den Nebel wie eine stetig wachsende Mauer die steile Böschung heraufkommen. Linker Hand stand ein kleines Wäldchen. Die Straße beschrieb eine Kurve. Dann kam die Brücke. Das Geländer war abgebaut worden, Absperrbänder bewegten sich träge in der lauen Nacht. Für einen winzigen Moment wurde alles still.
Er gab Gas und löste die verkrampften Finger vom Lenkrad. Er schloss die Augen und wartete auf den Frieden.
Doch der Friede kam nicht.
Als hätte etwas oder jemand den betäubenden Schleier der Leere aufgerissen, drängte sich der brausende Wind zurück in sein Bewusstsein. Er zerrte an seiner Kleidung, peitschte ihm ins Gesicht und setzte die Angst frei. Maik riss die Augen auf. Panik fegte wie eine Feuersbrunst durch seinen Körper. Die Absperrung raste auf ihn zu. Etwas in ihm, das er längst tot geglaubt hatte, regte sich mit einem Mal, kämpfte sich an die Oberfläche seines Bewusstseins. „Nein!“ Panisch riss er das Steuer herum – zu spät! Ein Schrei entrang sich seiner Kehle und wurde übertönt von einem lauten Knall. Etwas traf ihn mit ungeheurer Wucht. Er sah Festungsmauern im Wüstensand. Dann schlugen Wellen aus Dunkelheit über ihm zusammen und rissen ihn mit sich fort.
Laute Hip-Hop-Klänge hallten durch die Nacht. Ein silberfarbener Audi brauste über die Landstraße.
„Hey!“ Die junge Frau auf der Rückbank klopfte dem Fahrer auf die Schulter. „Da war doch eben noch –“
„Was?!“, rief der junge Mann über den Lärm hinweg.
„Mach doch mal die Musik leiser!“
„Hey, chill mal“, meldete der Beifahrer.
„Halt die Klappe. Da war eben noch ein Auto!“
„Was sagst du?“, versuchte der junge Fahrer den Lärm zu übertönen.
„Da war eben noch ein Auto vor uns und jetzt ist es einfach verschwunden.“
„Ist mir nicht aufgefallen.“
„Hey, ist er das da vorne?“, mischte sich der Beifahrer ein.
Er deutete auf zwei Rücklichter, die weit entfernt zu sehen waren.
„Ich weiß nicht … Könnte sein …“
„Siehst du, alles easy. Der Typ hatte etwas Gas gegeben, aber nun haben wir ihn wieder eingeholt.“
Die junge Frau nickte, aber sie fühlte sich plötzlich äußerst unwohl. „Halt mal an!“, stieß sie hervor.
„Warum?“
„Mir ist schlecht.“
„Hey, kotz mir nicht das Auto voll …“
Polternd brauste das Auto über die Brücke. Niemand achtete auf die zerfetzten Absperrbänder.
Der Plan
Thorsten Boddien presste die Lippen zusammen und blickte in die blassen Gesichter der Kollegen. Das kleine Team hatte sich am Besprechungstisch versammelt. Es sah nicht gut aus für Alex. Vor einer halben Stunde war er mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht worden. Man hatte sofort mit der Not-OP begonnen.
„Wie ernst ist es?“, fragte Judith Meyer, eine junge Kommissarin.
„Sehr ernst“, erwiderte Thorsten Boddien. „Die Chance, dass er das übersteht, liegt bei vielleicht fünfzehn Prozent.“
„Scheiße“, murmelte Markus Bergfeld, ein bärtiger Mittvierziger, der von der Sitte in sein Team gewechselt war. „Wie ist es passiert?“
„Die genauen Einzelheiten untersucht gerade die Verkehrspolizei. Irgendwie geriet Alex’ Wagen ins Schlingern und krachte dann mit solcher Wucht gegen die Leitplanke, dass er sich überschlug und auf die Gegenfahrbahn geriet. Ein Lastwagenfahrer konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen … Der Wagen war so stark zerknautscht, dass Alex mit einem Trennschleifer aus dem Wrack befreit werden musste.“
„Oh, mein Gott“, wisperte Judith.
Eine halbe Minute lang herrschte Schweigen.
„Was ist mit El Niño?“, meldete sich Markus zu Wort.
Thorsten Boddien zuckte die Achseln. „Offensichtlich ist er entkommen. Ich habe die Kollegen in Hamburg informiert. Sie überprüfen die wichtigsten Zugangsstraßen. Aber El Niño wird nicht so dumm sein und das Fluchtfahrzeug weiter verwenden. Vermutlich hat er den Wagen längst entsorgt. Er kann wer weiß wo sein.“
„Also das war’s dann? Alles noch mal von vorn?“
Thorsten Boddien antwortete nicht gleich. Er presste die Lippen zusammen und starrte ins Nichts. Schließlich sagte er: „Wir haben einen schweren Rückschlag erlitten. Ein Kollege schwebt in akuter Lebensgefahr. Heute können wir nichts mehr tun. Geht nach Hause … ruht euch aus.“
Leise verließen die Kollegen den Raum. Markus Bergfeld warf ihm einen prüfenden Blick zu, doch dann nickte er und schloss die Tür hinter sich.
Eine Zeitlang stand Thorsten Boddien einfach nur da und starrte auf die verschlossene Tür. Du hast verloren!, schoss es ihm durch den Kopf. Zwei Jahre lang hat sich dein Leben nur um den Fall El Niño gedreht und nun hast du alles verloren. Er stöhnte auf und ließ sich langsam auf den Schreibtischstuhl sinken. Alex lag im Sterben, er war es ihm schuldig, nicht einfach aufzugeben. Doch wie sollte er jetzt noch an El Niño herankommen? Der Kerl wusste nun, wie dicht das LKA an ihm dran war. Er war vorher schon paranoid gewesen, was seine Mitarbeiter anging … Einen zweiten Mann in das Netzwerk einzuschleusen würde nahezu unmöglich sein. Sie hatten es verbockt, regelrecht verbockt! El Niño war ein Chamäleon. Er konnte in die unterschiedlichsten Rollen schlüpfen. Mit Sicherheit war er längst untergetaucht, verbarg sich in der Schattenwelt und erschuf sich eine neue Identität. Es würde nicht allzu lange dauern, bis ein neues Monster sein hässliches Haupt aus den Schatten erhob. Es sein denn … Thorsten Boddien nagte an der Unterlippe. Es sei denn, es war noch immer etwas von dem ursprünglichen Menschen in diesem vielgesichtigen Ungeheuer übrig geblieben. Ein Funken Hoffnung glomm in ihm auf. Es gab eine winzige Chance. Aber wenn er sie nutzen wollte, musste er schnell sein!
Rasch griff er zum Telefon und wählte eine Nummer.
Es dauerte eine Weile, bis jemand abnahm. Thorsten Boddien räusperte sich. „Hallo, Micha, ich bin’s, Thorsten. Tut mir leid, dass ich so spät störe … Das beruhigt mich … Danke, gut, und wie geht es den Kindern? … Hör zu, ich habe eine Bitte. Es geht um einen aktuellen Fall von dir … Ja, deine anwaltliche Schweigepflicht ist mir wohlvertraut, wir haben zusammen studiert, schon vergessen? … Oh ja, an Professor Valium erinnere ich mich noch sehr genau. Deine Erinnerungen dürften deutlich verschwommener sein, schließlich warst du es, der regelmäßig bei den Vorlesungen eingepennt ist …“ Er lachte. „Hör zu, die Sache ist wichtig. Konkret geht es um den Fall HB.N.127.19 … Woher ich das weiß? Nun, jeder hat so seine Berufsgeheimnisse … Nein, nein, mach dir keine Gedanken, ich verlange nichts Illegales von dir. Nur eine Frage: Was machst du üblicherweise, wenn der Angeschriebene sich nicht meldet? … Aha, verstehe. Dann tu mir bitte den Gefallen und warte dieses Mal drei Wochen länger … Tut mir leid, das kann ich dir nicht sagen. Aber vertrau mir. Ich würde dich nicht um diesen Gefallen bitten, wenn es nicht wirklich wichtig wäre! … Du weißt ja, in welcher Abteilung ich arbeite. Natürlich geht es um Leben und Tod … Ja, exakt drei Wochen … ich danke dir, Micha. Du hast was gut bei mir … Sehr witzig, du weißt, dass ich für Strafzettel nicht zuständig bin … Ja, schon gut, ich sehe zu, was ich machen kann.“
Er legte auf und seufzte tief. Es war dünnes Eis, auf dem er sich bewegte. Aber welche Wahl hatte er schon?
Das Testament
Sehr geehrter Herr Brendel,
bitte gestatten Sie, dass ich Ihnen mein Beileid zum Tod Ihrer Mutter ausspreche. Es ist nicht leicht, einen geliebten Menschen zu verlieren, und ich wünsche Ihnen viel Kraft für die kommende Zeit.
Ihre Mutter hat mich als Nachlassverwalter benannt und in dieser Funktion sende ich Ihnen anbei das von ihr unterzeichnete und bei mir hinterlegte rechtsgültige Testament zu.
Bitte teilen Sie mir innerhalb von sechs Wochen mit, ob Sie das Erbe annehmen wollen. Für Fragen stehe ich Ihnen unter unten angegebener Rufnummer zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Handstätten
RA/Notar
Heute Abend war dieser Brief per Einschreiben gekommen.
Es war nun drei Wochen her, dass Mama gestorben war. Ihr Tod war nicht überraschend gekommen, und Jonathan hatte Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten. Dennoch war es ein merkwürdiges Gefühl, das beigefügte Schreiben mit ihrer markanten Handschrift in den Fingern zu halten. Es kam ihm fast so vor, als würde seine Mutter noch einmal zu ihm sprechen.
Meine beiden Söhne …
Jonathan stutzte: „Meine beiden Söhne?“ Der gepolsterte Stuhl knarrte, als er sich aufrichtete. Er blickte kurz aus dem Fenster. Es war spät, und die Straßen waren düster und leer. Er senkte den Blick und las weiter:
Meine beiden Söhne, den verloren gegangenen und den, der stets zu Hause blieb, bitte ich um Vergebung.
Jonathan hielt inne. Der verlorene Sohn! Ein Hauch schlechten Gewissens flackerte in ihm auf. Maik! Natürlich hatte er ihn nicht vergessen. In seiner Kindheit war sein älterer Halbbruder sehr präsent gewesen. Aber das war Jahre her, mehr als sein halbes Leben. Maik gehört der Vergangenheit an, mit seinem jetzigen Leben hatte er nichts zu tun. Er war einfach verschwunden – bis zum heutigen Tag.
Jonathan wandte sich wieder dem Schreiben zu:
Ich war euch beiden nicht die Mutter, die ich hätte sein sollen. Obwohl das ganz offensichtlich ist, fällt es mir schwer, dies zuzugeben. Erstaunlich, nicht wahr?
Aber die Wahrheit ist eine scharfe Klinge, die auch denjenigen schneidet, der sie führt.
Ich werde zu meinen vielen Fehlern nicht den einen hinzufügen, nach meinem Tod einen dem anderen vorzuziehen. Die deutschen Gesetze regeln das zur Genüge.
Ich weiß, dass ich euch zu nichts zwingen kann. Aber ich bitte euch von Herzen: Redet miteinander. Macht nicht denselben Fehler wie ich!
Und wenn ihr nicht wisst, worüber ihr reden sollt: Vor Kurzem las ich die Geschichte von zwei anderen Söhnen, der eine ging fort, der andere blieb, und beide hatten eine wichtige Lektion zu lernen. Diese Geschichte steht auf Seite 1173 in dem dicken schwarzen Buch in meiner Nachttischschublade. Vielleicht kann sie euch helfen, etwas Gutes mit eurem Erbe anzustellen …
Jonathan verzog die Lippen zu einem grimmigen Lächeln. Das dicke schwarze Buch war wahrscheinlich die Bibel. Mama hatte sich zum Ende hin der Religion zugewandt. Vermutlich war das nicht ungewöhnlich. Wenn dieses Leben erkennbar zu Ende ging, konnte es recht tröstlich sein, auf ein nächstes zu hoffen. Sie war allerdings schon immer ein eher nüchterner, bisweilen zynischer Typ gewesen. Nicht selten hatte sie sich über den Papst und allerlei religiöses Gehabe lustig gemacht. Insofern war diese Entwicklung doch etwas überraschend gekommen.
Noch ein paar Kleinigkeiten:
Die Küchenmaschine vermache ich Ayse. Ihr könntet damit sowieso nicht umgehen, und Ayse hat immer ordentlich geputzt, selbst als es mit mir bergab ging und sie dachte, ich könnte es nicht mehr überprüfen.