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Der verwitwete Romanschriftsteller Johann Weißborn versucht, sich und seine vier Kinder über Wasser zu halten. Der Trubel einer fünfköpfigen Familie fordert ihn jeden Tag aufs Neue heraus. Beruflich kann er nicht an den großen Erfolg seines Erstlingswerks anknüpfen, was ihn zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten bringt. Eine neue Beziehung erscheint ihm weder vorstellbar noch realistisch und sein Vertrauen in Gott ist schwer angeschlagen. Doch ausgerechnet ein in der Nacht ausgeräuberter Adventskalender bewirkt eine unerwartete Wendung, die sein Leben und das seiner Familie auf wundersame Weise verändert.
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Seitenzahl: 189
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Thomas Franke ist Sozialpädagoge und bei einem Träger für Menschen mit Behinderung tätig. Als leidenschaftlicher Geschichtenschreiber ist er nebenberuflich Autor von Büchern. Er lebt mit seiner Familie in Berlin. www.thomasfranke.net
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
© 2024 Gerth Medien
in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar
Erschienen im September 2024
ISBN 9783961226399
Umschlagmotiv: Hanni Plato
Umschlaggestaltung: Hanni Plato
Lektorat: Verena Keil
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
www.gerth.de
Dusch-Legenden und Salami-Salomo
Voll auf den Kopf gehauen
Tintenangriff
Überraschung
Schlaues Gehirn mit Folgen
Textaufgaben und der einäugige Troll
Einer für alle mit ohne Schokolade, aber heimlich
Weißborn statt Weisenborn
Es geht nicht um mich
Schwing sanft, lieber Süßigkeitenwagen
Mobbingverdacht
Streamen statt bluffen
Ketchupfleck und Anrufliste
Fußball und Gazpacho
Das Potenzial im Dunkeln
Der Traum
Mehr als Geldverdienen
Die Treppe
Pleite
Der Hintereingang
Rettende Bekenntnisse
Familienfahrt
Alle für einen
Ein Jahr später
Danksagung
Johann zog die Kapuze über den Kopf. Ein eisiger Wind schüttelte die nackten Äste der Bäume. Es war der vorletzte Tag im November; einige Schneeflocken trieben in der Luft. Kies knirschte unter seinen Sohlen, als er die wenigen Schritte den Pfad entlanglief. Schließlich blieb er stehen.
»Hallo, Schatz, da bin ich wieder.« Er lächelte und nickte Linda zu.
Sein Handy klingelte. Er nahm es aus der Tasche, warf einen kurzen Blick darauf und wies den Anrufer ab. »Die Bank«, sagte er entschuldigend. »Wahrscheinlich geht es um die ausstehende Kreditrate.« Er setzte ein Lächeln auf. »Aber das krieg ich schon hin. Bestimmt können wir die Rate abstottern.« Er grinste schief. »Hilfreich wäre natürlich, wenn auch etwas zum Stottern da wäre. Erfahrungsgemäß kommt die Jahresabrechnung erst Mitte Februar und einen zweiten Vorschuss werde ich dem Verlag nicht aus den Rippen leiern können. Nach allem, was ich bislang gehört habe, läuft der Einverkauf meines letzten Buches ziemlich schleppend. Aber das betrifft laut Juliane im Grunde alle Titel, nicht nur meinen. Die ganze Buchbranche leidet. Ich gehe davon aus, dass sie die Intention hatte, mich zu trösten, als sie mir diese Information weitergab. Allerdings habe ich die Vermutung, dass es die Bank nicht gnädiger stimmen wird, wenn ich ihnen erkläre, dass andere Autoren auch Probleme haben, ihre Kredite zu bedienen.«
Er lauschte. Manchmal sprach Linda sehr leise.
»Wie es den Kindern geht? Sie machen das toll. Wirklich! Die Zwillinge sind richtig groß geworden. Luisa hat gestern für uns gekocht. In solchen Momenten kommt sie mir fast wie eine Erwachsene vor. Ich weiß noch nicht, wie gut ich das finde. Manchmal ist sie mir etwas zu still und ernst für eine 13-jährige. Aber ich glaube, die Schule fordert sie gerade sehr. Jakob hat gestern einen Job angenommen. Er trägt jetzt neben der Schule Werbeblättchen aus. Bevor du allerdings vorschnell stolz auf ihn bist: Er macht das nur, damit er sich den mittlerweile dritten Streamingdienst leisten kann – was übrigens, laut seinen eigenen Worten, absolut alternativlos sei, da er nur durch die Kombination aller drei Dienste in der Lage wäre, alle Spiele der Bundesliga, Champions League und Premier League zu sehen. Schade, dass er selber nicht mehr spielt. Aber was soll ich dazu sagen?« Johann seufzte. »Solange Fußballgucken sein einziges Laster ist, können wir dankbar sein, denke ich. Jungen in seinem Alter stellen weit Schlimmeres an. Till hat in der Schule ziemlich zu kämpfen, aber das wussten wir ja, als wir uns für die Inklusionsklasse entschieden haben. Ich finde, seine Aussprache ist wirklich super geworden und mit dem Lesen klappt es auch recht gut. Nur Mathe ist bedauerlicherweise eine absolute Vollkatastrophe. Sobald er ein Rechenzeichen sieht, tut er so, als müsse er altägyptische Hieroglyphen in Mandarin übersetzen. Möglicherweise muss er seinen Berufswunsch Berühmtester-Astronaut-der-Welt-der-als-Erster-zum-Mars-fliegt-aber-auch-wieder-zurück noch mal überdenken.«
Johann konnte vor sich sehen, wie Linda schmunzelte, und auch seine Mundwinkel zuckten etwas. Till hatte sie vom ersten Tag an zum Lächeln gebracht. Letztlich hatten sie gar keine andere Wahl gehabt, als ihn zu adoptieren.
Und Carlotta?
Die Jüngste der vier war von Anfang an ein Überraschungspaket gewesen. Nach den Zwillingen wurde Linda wieder schwanger, erlitt jedoch eine komplizierte Fehlgeburt. Ein Arzt informierte sie kurz darauf – mit dem Einfühlungsvermögen einer Kettensäge –, dass Linda nie wieder schwanger werden könne. Das war einer der Gründe, warum sie überhaupt mit dem Gedanken gespielt hatten, ein Kind zu adoptieren. Nach Till war die Familienplanung abgeschlossen gewesen – eigentlich. Doch dann war ein Wunder passiert. Ein Wunder namens Carlotta. Sie hatte ihr Leben ziemlich durcheinandergewirbelt und seit ihrer Geburt im Grunde genommen nicht mehr damit aufgehört. »Carlotta hat wieder irgendein Projekt. Was genau, kann ich dir nicht sagen, sie geht dann in ihr Zimmer und hängt das BETRÄTENVABOTEN-Schild an die Türklinke. Ich respektiere das und hoffe, dass ich damit nicht einen Punkt auf meiner Liste pädagogischer Fehltritte hinzufüge. Carlottas Trainer meint übrigens, sie gehöre in die erste F-Jugend, und zwar bei den Jungs. Heute hat sie ihr erstes Training.« Johann sah auf die Uhr. »Ich muss sie gleich abholen.«
Er verharrte einen Augenblick. Er kannte Linda gut genug, um zu wissen, was ihre nächste Frage wäre. »Ich komme zurecht. Oma Sofa und Opa Holger sind Gold wert. Sie helfen, wo sie können, und lieben die Kinder über alles. … Meine Eltern? Na ja, du weißt ja, wie sie sind. Es hat sich nichts geändert. Ihnen geht es gut in den USA. Wir telefonieren alle ein bis zwei Monate.« Seine Augen glitten hinauf in den grauen Himmel. »Du fehlst mir«, flüsterte er.
Er nahm den kleinen runden Kieselstein aus der Tasche und legte ihn behutsam auf den Stapel, der sich auf dem marmornen Grabstein türmte. »Bis bald.«
Der alte T4 gab ungute Geräusche von sich, und die Anzeigen der Armatur flackerten, als Johann den Motor startete. Es sah so aus, als würde die Batterie bald schlappmachen. Johann seufzte und hoffte, dass die alte Karre noch mal durch den TÜV kommen würde.
Er verließ den Parkplatz und fuhr den ungeteerten Zugang entlang zur Straße. Als er sich in den Verkehr einfädelte, wurde der Schneefall stärker. Dennoch drehte er die Heizung runter, um die Batterie zu schonen. Sein Handy klingelte. Es war die Grundschule. Mit der linken Hand fingerte er das Smartphone aus der Jackentasche und stellte auf Lautsprecher. »Ja?«
»Hallo, Herr Weißborn?«
»Ja.«
»Hier ist Frau Schmidt.«
Johann stöhnte innerlich auf. Wenn sich die Klassenlehrerin seines jüngeren Sohns meldete, bedeutete das selten etwas Gutes. »Gerade eben hat sich Tills Inklusionsbegleiterin Frau Weber krankgemeldet. Es tut mir sehr leid, Till hat morgen Homeschooling.«
»Was? Nicht schon wieder. Das kann doch nicht sein!«
»Herr Weißborn, ich habe Frau Weber nicht infiziert«, bemerkte sie spitz.
»Aber es muss doch eine andere Lösung geben …«
»Ich habe mit 28 Kindern ohnehin schon eine übervolle vierte Klasse. Da bleibt keine Kapazität, mich auch noch um Till zu kümmern.«
»Kann nicht die FSJ-lerin …?«
»Sie hat eine Seminarwoche«, unterbrach ihn Frau Schmidt.
»Aber Sie sind doch eine Inklusionsschule. Wie soll das funktionieren, wenn Till ständig zu Hause bleiben muss?«
»Leider hilft der Begriff Inklusionsschule weder gegen Viren noch Bakterien. Ich habe niemanden, der sich um Till kümmern kann. So einfach ist das. Und ehrlich gesagt verstehe ich auch gar nicht, wo das Problem ist. Sie sind doch den ganzen Tag zu Hause.«
»Ich muss arbeiten!«
»Es tut mir leid. Ich schicke Ihnen die Übungen für Till wie üblich per Mail zu.«
»Frau Schmidt, so geht das nicht …«
»Herr Weißborn, ich muss jetzt zurück in den Unterricht. Auf Wiederhören.« Sie legte auf.
Johann seufzte. Es hatte keinen Zweck, sich aufzuregen. Es gab nur eine Inklusionsbegleiterin in der Klasse. Ein Ersatz war nicht vorgesehen. Ungünstigerweise war Frau Webers Immunsystem sehr empfindsam, insbesondere montags, nach den Ferien und bei schönem Wetter. Nach Johannes’ Eindruck teilte sich Frau Weber das Jahr sorgfältig je zur Hälfte in Arbeitstage und Krankheitstage ein. Manchmal sprang die FSJ-lerin ein. Sie war sehr nett, Till mochte sie. Aber das war natürlich keine Dauerlösung.
Er parkte den Wagen beim Sportplatz und gesellte sich zu den anderen Eltern. Offenbar machte die Mannschaft gerade ein Abschlussspiel, wie er den lautstarken Anfeuerungsrufen einiger Väter entnehmen konnte.
Ein rothaariger Junge dribbelte über das Spielfeld und ließ zwei verdutzte Gegner hinter sich. Carlotta stellte sich ihm entgegen, doch auch an ihr zog er vorbei. Der Torwart stand unsicher zwischen den Pfosten und kaute an seinen übergroßen Handschuhen.
»Komm raus!«, brüllte einer der Väter.
»Schieß!«, brüllte ein anderer.
Der Torwart machte einen zögerlichen Schritt nach vorne und der Rothaarige setzte zum Schuss an. In diesem Moment kam Carlotta wie aus dem Nichts angeschossen, sie schlitterte über den Rasen, und grätschte den Ball weg. Der Junge stürzte.
»Foul!«, empörte sich jemand. Doch der Trainer schüttelte den Kopf. »Ball gespielt!«
Carlotta war wieder auf den Beinen und trieb das Leder vorwärts. Sie ließ einen heranstürmenden Gegner aussteigen und spielte den Ball quer über den Platz zu einem Mitspieler. Der schoss, und mit gnädiger Hilfe des abgelenkten generischen Torwarts, der gerade verträumt ein paar Krähen beobachtet hatte, die auf dem Schutzzaun hockten, landete der Ball im Netz. »TOOOR!«
Die Mannschaft beglückwünschte den Torschützen. Auch Carlotta klatschte ihn ab.
»Das war ein glattes Foul«, beschwerte sich ein Vater, den Johann anhand seines spärlichen roten Haarkranzes als den Vater des gegnerischen Stürmers identifizierte. »Typisch Mädchen, treffen den Ball nicht und metzeln alles nieder, was ihnen in die Quere kommt.«
Ehe Johann ein passender Kommentar einfiel, hatte Carlotta ihn entdeckt und stürmte auf ihn zu. »Papa!«
Sie warf sich in seine Arme und teilte großzügig den Schmutz auf ihrer Trainingsjacke mit seinem Mantel. »Toll gespielt, Lotti!«
»Du hast überhaupt nicht gesehen, wie ich gespielt habe.«
»Ja, aber ich bin sicher, dass es toll war!«, erwiderte Johann.
»Herr … äh … Papa von Carlotta.«
»Ja?«
Der Trainer kam auf ihn zu und drückte ihm die Hand. »Ich freue mich, dass Carlotta in unsere Mannschaft kommt. Um ehrlich zu sein, habe ich in dieser Altersklasse noch nie so eine gute Sechs gesehen.«
»Ach, tatsächlich?«, erwiderte Johann, der keinen Schimmer hatte, wovon der Mann eigentlich sprach.
»Wenn sie so weitermacht, wird sie noch mal ein zweiter Fernandez.«
»Das … äh … ist erfreulich, nehme ich an.«
»Um es kurz zu machen. Ich will sie gerne bei unserem nächsten Spiel dabeihaben. Kommenden Sonntag, 7.30 Uhr, beim TSV Rudow. Klappt das?«
»Au ja!« Carlotta strahlte ihn an.
»Sonntags … 7.30 Uhr … in Rudow?« Johann lächelte gequält.
»Super!«, erwiderte der Trainer, der Johanns Entsetzen fälschlicherweise als Zustimmung interpretierte. »Geben Sie mir Ihre Nummer. Dann nehme ich Sie in unsere WhatsApp-Gruppe auf.«
Carlotta schaute mit ihrem süßesten Lächeln zu ihrem Papa auf. Der Trainer hatte sein Handy gezückt und blickte erwartungsvoll. Und Johann sagte »Klar«, obwohl er eigentlich sagen wollte: Vielleicht sollten wir erst einmal in Ruhe darüber nachdenken.
Auf dem Heimweg saß Carlotta vergnügt auf ihrem Kindersitz und baumelte mit den Beinen.
»Anders als in der Schule ist eine gute Sechs beim Fußball etwas Erstrebenswertes, nehme ich an?«, fragte er.
»Mann, Papa! Die Sechs spielt im intensiven Mittelfeld, das weiß doch jeder.«
»Natürlich. Sagt ja schon der Name. Und was macht sie da so, die Sechs?«
»Die Bälle verteilen, ist doch klar.«
»Ach, und ich dachte immer, es gibt im Spiel nur einen Ball.«
»Mann, Papa!«, Carlotta verdrehte die Augen. »Nicht lustig.«
»Um 7.30 Uhr in Rudow sein ist auch nicht lustig.«
»Na gut, dann gucken wir eben ernst!«, beschloss Carlotta und setzte eine grimmige Miene auf.
»Einverstanden.«
Carlotta hielt durch bis zur nächsten Ampel, dann kicherte sie und sagte: »Du siehst aus wie Hulk mit Brille.«
»Danke.«
Carlottas wiederhergestellte gute Laune bekam noch mal einen Dämpfer, als Johann zu Hause darauf bestand, dass sie sich duschen müsse. Erst als Jakob hilfreich zur Seite sprang und behauptete, sogar Legenden wie Luka Modrić würden sich nach dem Training duschen, ließ sie sich widerwillig darauf ein.
Das Abendbrot verlief vergleichsweise entspannt – zumindest so, wie man das bei einer fünfköpfigen Familie realistischerweise erwarten durfte. Jakob verdrückte fünf Brote, dick mit Butter bestrichen und mit Camembert belegt. Seit seinem 13. Geburtstag vor einem Vierteljahr hatte sein Stoffwechsel gewissermaßen von Segelflieger auf Jumbojet umgestellt. Luisa hingegen knabberte an einem halben Knäckebrot mit Magerquark. Johann zog kurz in Erwägung, sie zu fragen, ob sie schon wieder eine Diät machen würde, verkniff es sich aber, da er die Stimmung nicht verderben wollte. Luisa hatte keine Diät nötig, sie war weder zu dick noch zu dünn. Johann hatte jedoch festgestellt, dass rationale Argumente in diesem Zusammenhang nicht nur wirkungslos blieben, sondern sich sogar destruktiv auswirkten. Er hatte das mehrmals verifiziert und beschlossen, diese Gesetzmäßigkeit zu akzeptieren, auch wenn er sie nicht verstand.
Till und Carlotta stritten sich um die letzte Scheibe Salami, einigten sich schließlich darauf, sie zu teilen, um sich dann wieder darum zu streiten, wer welche Hälfte bekam. Es war Jakob, der den Konflikt auf salomonische Weise beendete, indem er androhte, er würde gleich beide Hälften essen, wenn sie nicht sofort aufhören würden, ihm auf den Keks zu gehen.
Als die Kleinen im Bett waren, kehrte Ruhe ein, nur kurz unterbrochen von einem Streit zwischen Luisa und Jakob, bei dem es um eklige Zahncremespritzer auf dem Spiegel ging.
Jakob zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und kämpfte sich durch seine ungelesenen E-Mails.
Gegen 23 Uhr gab er auf. Morgen war auch noch ein Tag.
Libes Tagebuch,
seit gestern spile ich Fußball in der 1. F bei den Jungs. Hat voll Spas gemacht und der Trener will, das ich beim Spil gegen Rudo dabei bin. Leider hat Papa null Anung von Fußball. Das is manschmal ein bischen peinlich. Aba er gibt sich mühe. Das is auch was wert.
Manschmal muss ich ganz doll an Mama denken. Obwol ich mich nich mehr an so fiel erinnern kann. Komisch. Papa denkt auch oft an Mama. Dann kuckt er imma so melangkomisch. Villeicht muss er doch noch mal heiraten damit er nicht so unglüglich is. Für ihn würde ich in den sauren Apfel beisen. Aber wie soll das funktionian, wenn er nie eine kenenlernt, weil er immer nur da sitzt und schreiben tut. Haubtsache es wird nich Juliane, seine Agentin. Die ist nämlich gar keine echte Agentin und auserdem ist die nich so nett wie die immer tut.
Jetzt muss ich aber aufstehn. Du weist ja bestimmt, was morgen is …
Ich weiß es auf jeden Fall und ich froie mich schon.
Carlotta
Johann war positiv überrascht. Alle Kinder kamen pünktlich aus den Federn, ohne dass er regelmäßig dazu auffordern oder drastischere Maßnahmen, wie Federbetten wegziehen oder an den Füßen kitzeln, ergreifen musste.
Er bemerkte erst, dass etwas nicht stimmte, als sie alle gemeinsam am Frühstückstisch saßen.
Till hatte beide Arme vor der Brust verschränkt. Johann kannte niemanden, der so demonstrativ schmollen konnte wie sein Sohn. Das war seine Superkraft. Der Kinderarzt behauptete zwar, die meisten Menschen mit Trisomie 21 hätten einen starken Willen, aber Johann war sich sicher, dass sein Sohn diesbezüglich hochbegabt war. Carlotta gab alles, um es ihrem älteren Bruder nachzumachen. Ihre kleine Stirn lag in Falten und ihre Augen blitzten vorwurfsvoll. Jakob schüttelte den Kopf und seufzte. Er musste sich diese Geste bei irgendeinem Lehrer abgeschaut haben, der sich gerade daranmachte, eine miserabel ausgefallene Klassenarbeit zurückzugeben. Luisa wickelte eine blonde Haarsträhne fest um ihren Finger, wie sie es immer tat, wenn sie verärgert oder frustriert war. Ihr Gesichtsausdruck sagte so viel wie: Hätte ich nicht von vorneherein gewusst, dass du ein Versagervater bist, wäre ich vielleicht sogar enttäuscht.
»Okay, raus mit der Sprache: Was ist los?«
»Nichts.« Luisa zuckte mit den Achseln. »Was soll schon los sein? Wir frühstücken – wie immer.«
Ihr schnippischer Tonfall ließ Johanns Blutdruck steigen. »Leute, ich habe keine Zeit für solche Spielchen …«
»Dass du keine Zeit hast, merkt man«, unterbrach ihn Jakob.
Ehe Johann etwas erwidern konnte, fragte Carlotta: »Papa, hast du vergessen, was du uns versprochen hast?«
»Äh …?«, erwiderte Johann. Er hatte etwas versprochen? Was zum Henker hatte er denn versprochen?
Luisa verdrehte die Augen.
Ehe Johann sie zurechtweisen konnte, sprach Till es empört aus: »Kein Gute-Laune-Frühstück!« Er schüttelte empört den Kopf.
»Verflixt!« Johann schlug sich gegen die Stirn. »Das Frühstück!«
Alle vier Kinder nickten.
Nun fiel es ihm wieder ein. Er hatte seinen Kindern ein Gute-Laune-Frühstück versprochen. Es war eine Erfindung von Linda gewesen. Irgendwann hatte sie beschlossen, dass auch der Alltag Wertschätzung verdiene. Ab und zu hatte sie daher ohne irgendeinen besonderen Anlass ein opulentes Frühstück für ihre Familie vorbereitet: mit frisch gepresstem Orangensaft, noch warmen Brötchen vom Bäcker, Schokoladenschnitten fürs Brot, Bananenshake und Obstsalatmüsli. Johanns Blick fiel auf den hastig gedeckten Tisch. Stattdessen gibt es nur traurigen Toast mit Marmelade oder Honig.
»Seid ihr nicht schon ein bisschen zu alt dafür?«
Carlotta und Till starrten ihn an, als wäre gerade ein Ufo auf seinem Kopf gelandet. Luisa schnaufte verächtlich und Jakob schüttelte den Kopf: »Und mir sagst du immer, ich würde ständig eine Ausrede parat haben.«
»Ich hab dich vor zwei Tagen noch daran erinnert«, sagte Luisa. »Und du hast gesagt, du hättest das auf dem Schirm.«
Johann, der sich an dieses Gespräch nicht erinnern konnte, aber argwöhnte, dass ein Hinweis darauf nicht zur Entspannung der Situation beitragen würde, hob in einer Geste der Kapitulation beide Hände. »Okay, ich habe verstanden. Ich habe als Vater abgrundtief versagt.«
Carlotta nickte. »Du hast den Hammer voll auf den Kopf gehauen!«
»Das heißt, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen«, korrigierte Luisa.
»Ist doch das Gleiche.«
»Ist es nicht.«
»Wohl!«, fauchte Carlotta.
»Keine Gute-Laune!«, jammerte Till, der offensichtlich nicht bereit war, sich von seiner Enttäuschung ablenken zu lassen.
»Können wir jetzt essen? Ich habe Hunger!«, beschwerte sich Jakob.
»Du kannst nicht einfach irgendwelche Sprichwörter erfinden!«, belehrte Luisa ihre jüngere Schwester.
»Leute, es reicht!«, sagte Johann.
»Klar kann ich das!«, fauchte Carlotta, die Anweisungen ihres Vaters souverän ignorierend. »Außerdem ist das nicht erfunden. Einen Nagel haut man mit einem Hammer, ist doch klar. Oder womit machst du das? Du blöde …«
»Schluss jetzt!«, rief Johann. Einen Moment lang starrten ihn alle erschrocken an. »Ich verstehe, dass ihr enttäuscht seid, und es tut mir auch leid. Aber Streit macht die Sache nicht besser. Wer …«, er stockte, weil das in diesem Kontext so gar nicht passen wollte, und fuhr dann schließlich doch fort: »Wer spricht das Tischgebet?« In solchen Momenten vermisste er Linda ganz besonders. Seine Frau hätte in diesem Chaos irgendwie die passenden Worte gefunden. Ihr Glaube war so viel tiefer und unmittelbarer und praktischer gewesen als seiner. Obwohl Worte sein Metier waren, blieb er so oft sprachlos, wenn es darum ging, gemeinsam mit seinen Kindern eine Gottesbeziehung zu leben.
»Na gut, ich mach’s«, erklärte sich Till seufzend bereit, als habe ihn die ganze Familie minutenlang darum angefleht. Luisa lächelte etwas gequält und Jakob schielte ängstlich auf den Brotkorb. Till hatte die Eigenart, in seinen Gesprächen mit Gott etwas abzuschweifen.
»Danke, Till«, sagte Johann.
»Aber mach schnell«, fügte Carlotta wenig diplomatisch hinzu.
Till faltete umständlich die Hände und schloss die Augen: »Lieber Gott, wir haben uns hier versammelt, weil wir Hunger haben. Aber nicht so schlimm wie die Leute in Afrika und in Asien und in Amerika … also nicht überall in Amerika, sondern nur da, wo die Leute nicht so dick sind. Bitte mach uns alle satt, aber die andern noch satter. Außerdem haben wir uns hier versammelt, weil wir sauer sind, weil Papa das Gute-Laune-Frühstück vergessen hat. Bitte mach die Löcher in Papas Gehirn wieder zu, damit nicht immer alles Wichtige rausfällt, aber lass noch ein paar übrig, damit die doofen Sachen rausfallen können. Bitte tu ein Wunder, dass Papa daran denkt, dass warme Brötchen und Bananenshake und leckeres Obst mit Annaisnass dazugehört … und vor allem die Schokolade zum aufs Brötchen rauflegen …«
»Amen?«, warf Jakob versuchsweise ein.
»Und bitte sei auch in der Schule dabei«, fuhr Till mit erhöhter Lautstärke fort. »Dass alle nett sind und voll gut lernen können. Und mach, dass Frau Schmidt mir keine Matheaufgaben schickt.« Nun verfiel er in den Sprachduktus der mittlerweile pensionierten Diakonieschwester Helga Grabowski aus dem Gemeindekirchenrat: »Wir preisen dich für deine wunderbare Schöpfung, außer für Mathe. Ich weiß nicht, warum du Mathe erfunden hast. Du hast so viele gute Ideen. Zum Beispiel Schmetterlinge und Dinos … aber Mathe? Dafür preise ich dich nicht … oder nur ein bisschen. Amen.«
»Amen!«, fiel der Rest der Familie erleichtert ein.
Jakob schaffte es, sechs Toastbrote in sich hineinzustopfen, ehe er loszog. Luisa löffelte einen Naturjoghurt mit Süßstoff. Carlotta verspeiste ein Toast mit Käse, Mortadella und Marmeladentopping und Till teilte den Honig auf seinem Brot gleichmäßig zwischen Fingern, Gesicht und Magen auf.
Nachdem alle Kinder – bis auf Till – gegangen waren, fuhr Johann seinen Rechner hoch. Frau Schmidt hatte, wie versprochen, Tills Schulaufgaben geschickt: ein Arbeitsblatt zum Thema Eichhörnchen, eine Leseübung und – Johann seufzte – ein Übungsblatt zum schriftlichen Dividieren.
Er druckte die Blätter aus und ging in Tills Zimmer. Es war leer. »Till?«
Keine Antwort.
Er suchte die Zimmer der Geschwister, das Wohnzimmer, die Küche und sogar den Keller ab. »Till, wo steckst du?«
Nichts.
»Till, das ist NICHTLUSTIG!«
Ein leises Klappern war zu vernehmen. Johann eilte dem Geräusch nach zurück in Tills Zimmer und sah gerade noch eine Hand, die an der Schranktür zog, um sie von innen zu schließen.
»Till, was machst du im Schrank?«
»Ich sitze.«
»Und warum sitzt du im Schrank?«
»Ich bin sauer!«
»Und dafür musst du extra in den Schrank gehen?«
»Nein.«
»Dann komm raus.«
»Nein.«
»Du kannst auch an deinem Schreibtisch sauer sein.«
»Ich warte.«
»Du bist in den Schrank gegangen, um zu warten?«
»Ja.«
»Darf ich fragen, worauf?«
»Ja.«
Johann seufzte. »Also worauf wartest du?«
»Auf Gott.«
»Im Schrank?«
»Hab ich doch gesagt.«
»Okay, okay. Frau Schmidt hat deine Schularbeiten geschickt. Ich lege sie dir hierhin, okay?«
»Na gut.«
»Die Aufgaben müssen heute erledigt werden.«
Ein unverständliches Grummeln war die Antwort.
Während Johann seine pädagogischen Optionen durchging, vernahm er das Klingeln seines Handys aus seinem Arbeitszimmer. Er klopfte an die Schranktür. »Wenn du Fragen hast, melde dich.«
Er interpretierte das leise Brummen durch die Tür hindurch als Zustimmung, hastete zurück ins Büro. Auf dem Display leuchtete »Schulz-Bonefeld« auf. Der Name seines Bankberaters. Nach kurzem Zögern nahm er ab.
»Guten Tag, Herr Schulz-Bonefeld. Wie geht es Ihnen?«
»Sie sind wirklich schwer zu erreichen, Herr Weißborn.«
»Tja, ich habe wirklich viel zu tun …«
»Natürlich. Es geht noch mal um Ihre Anfrage bezüglich der Tilgung der ausstehenden Raten.«
»Raten?«
»Ja, Sie sind mit zwei Raten in Verzug. Wir konnten den turnusgemäßen Betrag zum 30.11. nicht einziehen.«
»Oh. Das tut mir leid. Ich werde das klären.«
»Herr Weißborn, ich muss Ihnen sicherlich nicht erklären, dass wir als seriöses Unternehmen bestimmte Vorschriften einhalten müssen …«
»Papa!«, rief es aus Tills Zimmer.