Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Deutschland im Jahr 2084: Nach vielen Jahrzehnten Krieg und politischer Unruhen ist endlich Frieden eingekehrt. In der neu geschaffenen Mitteleuropäischen Union scheint Wohlstand für alle keine Utopie mehr zu sein. Aufgrund der schrecklichen Erfahrungen der Vergangenheit hat der Schutz vor Extremisten und Fanatikern oberste Priorität. Gleichzeitig gibt es immer wieder gefährliche Gruppierungen, die gegen den Staat arbeiten. Die erfahrene Undercover-Agentin Sila Degenhardt erhält den Auftrag, sich in die verbotene Bewegung der "Follower" einzuschleichen, einer christlichen Untergrundkirche, die sich in alten Tunneln, Bunkern und U-Bahnhöfen Berlins trifft. Anfangs kommt Sila die seltsame Gemeinschaft wie ein Relikt aus archaischen Zeiten vor. Doch schon bald beginnt sie, ihre vermeintlich aufgeklärte Sicht der Dinge infrage zu stellen ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 394
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Über den Autor
Thomas Franke ist Sozialpädagoge und bei einem Träger für Menschen mit Behinderung tätig. Als leidenschaftlicher Geschichtenschreiber ist er nebenberuflich Autor von Büchern. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
Mehr über den Autor: www.thomasfranke.net
Kapitel 1
Berlin, Mai 2084
Der dicht bewölkte Abendhimmel spendete nur wenig Helligkeit. Sila blickte sich um. Die Gasse schien verlassen. Anfang des 21. Jahrhunderts war diese Gegend ein beliebter Szene-Kiez gewesen. Heute hausten in den baufälligen Ruinen fast nur noch Illegale und Junkies. Rasch trat sie in den schmalen Durchgang und legte sich den Hidschab an. Wie angekündigt war das Tor zum Hinterhof nicht abgeschlossen. Sie drückte die Klinke herunter und lehnte sich gegen den schweren Torflügel. Die rostigen Angeln quietschten unangenehm laut.
Sie schlüpfte durch den Spalt. Der beißende Geruch von Schimmel und Urin schlug ihr entgegen. Der verwahrloste Hinterhof lag in tiefen Schatten. Kein künstliches Licht erhellte den Weg. Es wirkte so, als stünde das Haus schon seit Ewigkeiten leer.
Und genau diesen Eindruck sollte es auch vermitteln. Sila blickte nach oben, sah die dunklen Löcher der Fenster, die kalt und leer wie die Augen eines Toten wirkten. Hier gibt es seit Jahren kein Leben mehr, schienen sie zu sagen.
Doch Sila wusste, dass dies eine Täuschung war. Für einen kurzen Moment war sie versucht, den Restlichtverstärker ihrer AR-Kontaktlinsen zu aktivieren, aber das wäre nicht klug. Wenn sie sich zu sicher fortbewegte, könnte dies Misstrauen erwecken. Also tastete sie sich unbeholfen in der Dunkelheit voran und stieß gegen irgendetwas, das daraufhin mit einem blechernen Scheppern zu Boden fiel. Lautlos fluchend tastete sie sich weiter.
Plötzlich vernahm sie ein leises Rascheln, und im nächsten Augenblick trat ihr eine dunkle Gestalt in den Weg. Sila hatte damit gerechnet, zuckte aber dennoch zusammen, als habe sie sich furchtbar erschreckt. „Farid, bist du das?“, flüsterte sie.
„Pst!“, zischte die Gestalt.
Es war Farid. Sie konnte sein Bartöl riechen. Er trug es stets ein wenig zu großzügig auf.
Sie spürte eine sanfte Berührung am Arm. „Komm!“, wisperte er dicht an ihrem Ohr.
Sila beugte sich vor. „Ist er hier?“, flüsterte sie so nah an seinem Gesicht, dass ihre Lippen sein Ohrläppchen berührten.
Er erschauerte. Seine Überzeugung hätte ihn eigentlich dazu bringen müssen, auf Abstand zu gehen. Stattdessen ertastete er ihre Hand und zog sie eine Kellertreppe hinab. Er öffnete eine Tür, die sich im Gegensatz zum Hoftor vollkommen lautlos in den gut geölten Angeln bewegte.
Sie traten in einen unbeleuchteten Gang. Farid machte eine Bewegung mit der Hand, und kurz darauf glommen schwache Lichter auf, die den Gang gerade so stark erhellten, dass sie nicht über den Schutt stolperten, der überall herumlag.
Obwohl Sila seine Führung nun nicht mehr benötigte, hielt Farid weiterhin ihre Hand. Sie ließ es geschehen.
Plötzlich hielt er inne und wandte sich langsam zu ihr um. Seine dunklen Augen suchten ihren Blick. „Bist du sicher, dass du das tun willst?“, flüsterte er. „Wenn du diesen Schritt gehst, gibt es kein Zurück mehr.“
Sila lächelte. „Ich bin mir sicher, Farid“, erwiderte sie sanft. „Heute bin ich genau dort, wo ich sein soll.“
Er erwiderte ihr Lächeln und nickte. „Also gut!“ Mit diesen Worten streckte er die linke Hand aus und drückte gegen einen der Ziegelsteine in der Mauer.
Sila hob überrascht die Brauen, denn seine Finger schienen durch den Stein hindurchzugleiten. Eine 3-D-Simulation, fuhr es ihr durch den Kopf. Nicht schlecht gemacht. Ein leises Piepen ertönte, dann ein Surren. Ein Teil des Mauerwerks glitt zur Seite, und eine Tür öffnete sich.
Sie betraten eine Art Vorraum, kaum größer als drei oder vier Quadratmeter. Sila war sich sicher, dass mehrere Kameras sie beobachteten. Sie hob den Blick. Farid nickte. Kurz darauf glitt eine weitere Tür auf.
Der Raum, der vor ihnen lag, gab Sila das Gefühl, einen anderen Ort in einer anderen Zeit zu betreten. Gewebte Teppiche bedeckten den Boden. Auf einem weichen Sitzpolster thronte ein graubärtiger Mann. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Er war es! Der Imam. Der Mann, nach dem sie so lange gesucht hatte. Sie blinzelte zweimal. Um ihn herum saßen mehrere bärtige Männer auf dem Boden, die nun zu den Neuankömmlingen aufblickten. Nur der Imam würdigte sie keines Blickes. Vor ihm auf einem kleinen Schemel lag ein altes, aufgeschlagenes Buch, das tatsächlich noch auf Papier gedruckt war. Er bewegte die Lippen und murmelte etwas vor sich hin.
Farid verharrte in ehrerbietiger Stellung, während Sila demütig den Kopf senkte. Ihr kam es durchaus entgegen, dass der Imam sich Zeit ließ.
Schließlich hob der Mann den Blick. Er sah erst Farid an, dann Sila. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, und er nickte.
Hastig kniete Farid nieder. Er zupfte an Silas Ärmel, und sie tat es ihm gleich.
„Farid, mein Sohn. Du bringst mir eine Suchende?“
„Ja, Imam.“
„Bürgst du für sie?“
„Das tue ich.“
Der Imam fixierte Sila mit den Augen. Sein Blick schien sich tief in sie hineinzubohren, als wolle er den Grund ihrer Seele ertasten.
Silas Miene blieb unverändert, doch innerlich lächelte sie.
„Tochter“, sagte der Imam. „War Farid ein guter Lehrmeister?“
„Ja.“
„Und er hat dich die Worte gelehrt?“
„Das hat er.“
„Dann sprich.“
Sila hob den Blick. Sie kannte die Worte, die man nun von ihr erwartete.
Es gibt keinen Gott außer Gott,
und Mohammed ist der Gesandte Gottes.
Farid sah sie erwartungsvoll an. Sag es, formte er lautlos mit den Lippen. Er hatte sie dieses Bekenntnis in der Muttersprache des Islam gelehrt.
Lā ilāha illā ’llāh(u)
wa Muhammadun rasūlu ’llāh(i)
Doch keines dieser Worte kam über Silas Lippen. Stattdessen sagte sie: „Zugriff!“
Auf der schweren Tür glühte ein zwei mal ein Meter großer Umriss auf. Ein beißender Geruch erfüllte den Raum. Die Tür erzitterte und das herausgelöste Teil krachte zu Boden. Dunkle Gestalten strömten herein. „Polizei! Auf den Boden! Auf den Boden!“
Das Ganze dauerte kaum mehr als zwei Sekunden.
Farid starrte Sila an. In seinem Blick spiegelte sich zuerst Schock, dann Entsetzen und schließlich grenzenloser Hass. „Verräterin!“
Blitzschnell sprang er auf sie zu. In seiner Hand blitzte ein Messer auf.
Sila reagierte, wie sie es gelernt hatte. Sie wich der Waffe aus, nutzte den Schwung ihres Angreifers und brachte ihn mit einem einfachen Beinhebel zu Fall.
Farid stürzte. Ehe er sich aufrappeln konnte, rammte sie ihm das Knie in den Rücken, packte seinen rechten Arm und verdrehte ihn, sodass er schmerzerfüllt aufschrie und das Messer fallen ließ. „Farid Augustin Scholz, ich verhafte Sie wegen des Verstoßes gegen § 442 in Verbindung mit § 129 des Strafgesetzbuches …“
Der Mann versuchte, sich zu befreien. Sila verdrehte ihm das Handgelenk, und er schrie abermals vor Schmerz auf. „Ich bring dich um!“, stieß er voller Zorn hervor.
„Stell dich hinten an“, erwiderte Sila kühl. „Du bist nicht der Erste, der mir das androht.“
Inzwischen waren alle Männer im Raum ohne Blutvergießen überwältigt worden. Einer der Polizisten legte dem Imam Handschellen an. Die Takke1 des Geistlichen war diesem vom Kopf gerutscht. Mit seiner Halbglatze, dem wirren grauen Haar und dem verblüfften Gesichtsausdruck wirkte der wie ein Heiliger verehrte Anführer der islamischen Untergrundbewegung nur noch wie ein alter, verängstigter Mann.
Sila gönnte sich ein zufriedenes Lächeln. Ihr Cochlearis-Interface2, kurz CI, meldete sich mit einem sanften Gongton. Sie nickte einem der SEK-Beamten zu. Der breitschultrige Mann übernahm und zerrte Farid unsanft auf die Füße.
Sila ignorierte die glühenden Blicke des jungen Mannes, zu dem sie vor über sechs Monaten Kontakt aufgenommen hatte und der, wie sie vermutete, mehr als nur ein wenig in sie verliebt gewesen war. Während sie über den schmalen Gang ins Freie hinausging, zog sie den Hidschab ab und aktivierte die Kommunikationsfunktion.
„Snyder hier“, meldete sich die markante Stimme des stellvertretenden Leiters der Abteilung „Religion und Weltanschauung“ des Amts für innere Sicherheit, kurz AIS.
„Wir haben ihn!“, vermeldete Sila. „Die Operation war ein voller Erfolg.“
„Glückwunsch“, erwiderte Snyder. „Nichts anderes habe ich von Ihnen erwartet. Aber der Imam ist nicht der Grund meines Anrufs.“
Sila verzog das Gesicht. Ein wenig mehr Anerkennung von ihrem Vorgesetzten wäre sicherlich nicht zu viel verlangt. „Was gibt’s?“, fragte sie.
„Wir haben ein Problem“, sagte Snyder.
Sein emotionsloser Tonfall jagte Sila einen Schauer über den Rücken. „Ein ernsthaftes Problem?“, hakte sie nach.
„Nehmen Sie ein Einsatzfahrzeug und kommen Sie in die Zentrale. So schnell wie möglich.“
Bevor Sila eine weitere Frage stellen konnte, unterbrach er die Verbindung. Sie wandte sich um und rannte zu den Einsatzfahrzeugen. „Aussteigen!“ Sie hielt dem verdutzten Beamten ihr AIS-Hologramm unter die Nase. „Ich brauche Ihren Wagen.“
Kapitel 2
Der Gebäudekomplex am Treptower Park war ein Sammelsurium unterschiedlichster Baustile. Der denkmalgeschützte rote Backsteinbau der 1908 erbauten Kavallerie-Telegraphenschule war das mit Abstand älteste Gebäude auf dem Gelände. Anfang der Zweitausender war zudem ein schlichter fünfgeschossiger Neubau errichtet worden, der seitdem bereits zweimal grundsaniert worden war und mittlerweile überwiegend als Lager und Archiv Verwendung fand. Beide Bauten wirkten jedoch winzig neben dem gigantischen Koloss aus Carbonbeton und beschichtetem Spezialglas. „Der Turm“ schraubte sich über 128 Stockwerke in die Höhe, und sein Fundament reichte, was die wenigsten wussten, 45 Stockwerke in die Tiefe. Er war im Zuge der Neustrukturierung des Amts vor zwanzig Jahren erbaut worden. Nur drei Jahre nach der Großen Krise, wie die chaotischen Jahre Mitte des 21. Jahrhunderts rückblickend genannt wurden.
Sila passierte die Sicherheitsschleuse im Foyer. Wenn Snyder von einem Problem sprach, dann konnte das nur bedeuten, dass sie einen neuen Auftrag erhalten sollte. Sie verspürte einen Anflug von Enttäuschung. Die üblichen vier Wochen Erholungsurlaub hätte sie gut gebrauchen können. Eigentlich waren sie sogar nach jedem Einsatz vorgeschrieben. Undercovermissionen waren extrem aufwendig. Es war nicht damit getan, den Agenten neue Namen und neue Biografien zu verpassen. Sie mussten in gewisser Weise andere Menschen werden. So etwas war weder schnell umzusetzen noch ohne Weiteres wieder abzuschütteln.
Sie erreichte die Aufzüge. Der in die Wandvertäfelung integrierte Körperscanner erfasste ihre biometrischen Daten. Ein Licht leuchtete auf und zeigte an, dass ein Aufzug aus den oberen Geschossen unterwegs zu ihr war.
Auch wenn es während eines Einsatzes dazu kommen konnte, dass sie auf sich allein gestellt war, gab es doch ein ganzes Team, das sie vorbereitete und während ihrer Mission immer wieder unterstützte, sinnierte Sila weiter. Ein Profiler erarbeitete ein detailliertes psychologisches Profil. In therapieähnlichen Sitzungen und aufwendig inszenierten AR3-Trainingseinheiten lernte sie, wie ihr neues Alter Ego zu sprechen, zu denken und zu fühlen. Wenn sie gezwungen war, spontan zu reagieren, musste ihr Verhalten authentisch sein. Auch wenn sie sich allein wähnte, musste sie ihre Rolle weiterspielen. Denn niemand konnte sagen, wann und wo sie beobachtet wurde. Obwohl die den Undercoveragenten zugewiesenen Wohnungen regelmäßig von der IT gescannt wurden, gab es keine einhundertprozentige Sicherheit. Es war immer möglich, dass der Feind eine ausgeklügelte Spionagetechnik verwendete, die in der Lage war, die Firewall des AIS zu durchbrechen.
Ein leiser Gong ertönte, und eine der Aufzugstüren öffnete sich. Sila trat ein und sagte: „Fünftes Untergeschoss.“
Acht Monate lang war sie Leila Warschke gewesen, eine traumatisierte, systemkritische junge Frau auf der Suche nach Halt. Das konnte sie nicht so leicht ablegen wie den Hidschab. Sie brauchte diese vier Wochen Pause, in denen sie wieder Zeit hatte, einfach nur Sila Degenhardt zu sein.
Als sie das fünfte Untergeschoss erreichte, meldete sich ihr CI. „Frau Degenhardt, bitte begeben Sie sich in Raum 17.“
Sila hob die Brauen. Das war ungewöhnlich. Ein Briefing in einem Verhörraum? Noch dazu in dem einzigen, dessen Wände komplett frei von jeglicher Abhörtechnik waren? Als sie eintrat, erwartete sie eine weitere Überraschung. Neben Snyder war noch ein zweiter Mann im Raum: Severus Braun, der Innenminister.
Der groß gewachsene Mann mit dem schütteren Haar und der sonoren Stimme reichte ihr die Hand. „Gratuliere, Frau Degenhardt! Das war hervorragende Arbeit.“
„Danke.“ Sila brachte ein irritiertes Lächeln zustande und blickte dann fragend zu Snyder.
Ihr Vorgesetzter hob leicht eine Augenbraue, ehe er sich umwandte und die Tür schloss. Sila kannte ihn gut genug, um zu wissen, was er ihr damit sagen wollte. Offenbar war er von der Anwesenheit des Innenministers kaum weniger überrascht als sie. Doch seiner Stimme war davon nichts anzumerken. „Nehmen Sie Platz.“ Er wies auf einen der Stühle.
Sila setzte sich und warf einen kurzen Blick auf Braun. Der Minister war leicht übergewichtig. Ein paar übrig gebliebene Bartstoppeln auf seinen runden Wangen zeugten davon, dass er sich zu wenig Zeit für die Rasur genommen hatte. Ansonsten war ihm keine Anspannung anzumerken. Doch der Mann war schwer zu durchschauen. Meist nahm er die Vermittlerrolle ein, sowohl zwischen dem moderaten und dem radikalen Flügel seiner eigenen Partei, der Humanistisch liberalen Partei HLP, als auch zwischen dieser und dem Koalitionspartner, der Paneuropäischen Wohlfahrtspartei PEW. Dabei war er stets für eine Überraschung gut. Mal gab er sich sehr kompromissbereit, dann wieder konnte man erleben, dass er äußerst radikale Positionen unterstützte. Die meisten hielten ihn für einen typischen Karrierepolitiker, der sein Fähnchen immer nach dem Wind hängte. Sila war sich da nicht so sicher.
Snyder legte sein Smartpad auf den Tisch und aktivierte mit einer knappen Handbewegung die Holoprojektion. Ein detailgenaues dreidimensionales Bild erschien. Es zeigte einen jungen Mann mit vertrauten Gesichtszügen, der in eine der alten U-Bahnen einstieg, die man in den Innenbezirken der Stadt erhalten hatte und die überwiegend von Touristen genutzt wurden.
„Paul Lübke?“, stieß Sila überrascht hervor.
„Ganz richtig.“
Sie hatte damit gerechnet, dass man sie über eine neue Zielperson informieren würde. Doch Paul Lübke gehörte mit Sicherheit nicht in diese Kategorie. Lange Jahre war er Vorsitzender der Junghumanisten gewesen, der Jugendorganisation der regierenden HLP. Seit zwei Jahren war er nun Staatssekretär – und nach Braun der zweitmächtigste Mann des Innenministeriums. „Was –“, setzte Sila an.
Doch Snyder unterbrach sie. „Sehen Sie selbst.“
Lübke stieg ein. Die Perspektive wechselte und zeigte ihn nun im Inneren des Waggons. Die alten Bahnen hatten zwar keine Überwachungskameras neuerer Generation, aber sie lieferten dennoch solide 3-D-Bilder.
Der Staatssekretär war fast allein in der Bahn. Ein Blick auf das Display verriet Sila, dass die Aufnahme um kurz nach vier Uhr morgens entstanden war. Eine ältere Frau saß mit geschlossenen Augen da. Ein Jugendlicher starrte mit glasigem Blick ins Leere. Seinen bizarren Fingerbewegungen nach zu urteilen hatte er ein Game auf seinen AR-Linsen laufen.
Ein bärtiger junger Mann mit Kappe stieg hinzu und setzte sich gegenüber von Lübke auf eine Bank. Sein Gesicht war nur kurz zu sehen, dann drehte er den Kopf so, dass der Schirm seiner Kappe es verdeckte. Es war nicht zu erkennen, ob er mit seinem Gegenüber sprach. Doch der Staatssekretär blickte ihn unverwandt an, was diese Interpretation nahelegte.
Plötzlich bewegte sich Lübke. Er beugte den Oberkörper leicht vor, als wolle er aufstehen. Im nächsten Moment flackerte das Bild, und er war verschwunden.
Sila riss die Augen auf. Der bärtige junge Mann war ebenfalls fort, doch die alte Dame schlief immer noch und auch der Jugendliche schien nichts bemerkt zu haben. Die U-Bahn lief in den Bahnhof Pankstraße ein. Laut Anzeige war es 4:07 Uhr.
Snyder stoppte die Aufnahme.
„Was zum Henker ist denn da passiert?“, entfuhr es Sila.
„Ihr Vorgesetzter ist der Ansicht, dass Sie die geeignete Person sind, um genau das herauszufinden“, sagte Braun. Eine gewisse Skepsis schien in seinen Worten mitzuschwingen.
„Ich?“, erwiderte Sila. Sie war so perplex, dass sie vergaß, mit wem sie da gerade sprach. Ihr Blick wanderte zu Snyder.
„Paul Lübke gilt seit siebzehn Tagen als vermisst“, sagte ihr Vorgesetzter. „Er ist wie vom Erdboden verschluckt.“
„Das tut mir leid, aber was hat das mit mir zu tun? Für Vermisstenfälle bin ich nicht zuständig.“
Snyder rieb sich das Gesicht. Er sah müde aus. Mit einer knappen Handbewegung aktivierte er ein Dokument auf dem Smartpad. „Hier, unterzeichnen Sie das!“
Silas Augen weiteten sich, als sie den Text las. Eine solche Geheimhaltungsklausel hatte sie noch nie gesehen.
Verletzt die unterzeichnende Person die sich aus dieser Vereinbarung ergebenden Pflichten, gilt § 94 Abs. 3 des Strafgesetzbuchs (StGB) als erfüllt und die innere Sicherheit als gefährdet. Das Interesse der inneren Sicherheit der Mitteleuropäischen Union hat unmittelbar Vorrang vor den Interessen und Persönlichkeitsrechten des Unterzeichners und berechtigt die zuständigen staatlichen Sicherheitsorgane, jegliche zur Gefahrenabwehr notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.
Faktisch hieß das: Die Nichteinhaltung der Schweigepflicht würde als Landesverrat gedeutet und könnte sie ihre Gesundheit, Freiheit und im Zweifel auch ihr Leben kosten.
Sila zögerte. Sie spürte, dass Brauns angespannter Blick auf ihr ruhte.
„Nun machen Sie schon, Degenhardt“, knurrte Snyder.
Sila wusste, dass sie im Grunde keine Wahl hatte. Je höher man aufstieg, desto tiefer war der Fall. Wenn sie jetzt kneifen würde, wäre nicht nur ihre Karriere im Eimer. Das AIS würde dafür sorgen, dass sie nie wieder einen vernünftigen Job bekäme.
Sie unterzeichnete mit ihrer biometrischen Signatur.
Braun nickte knapp, und Snyder öffnete eine Art Mindmap. „Hier sehen Sie, woran Paul Lübke laut seines digitalen Sekretariats in den vergangenen Monaten gearbeitet hat.“
Sila schürzte die Lippen. Offenbar tat Lübke so einiges für die Steuergelder, die er kostete. Hunderte von Meetings, Rechercheaufträgen, Analysen und Telefonaten waren dort erfasst und farblich codiert.
Snyder gab einen Befehl ein, und die Daten wurden neu sortiert. Sila trat näher an das Hologramm heran. Da war etwas, was ihr sogleich ins Auge fiel. „Er hat mit Q-LOPA kommuniziert?“
Snyder nickte, und Braun ergänzte: „Er hat die entsprechende Freigabe.“
Soweit Sila wusste, war Q-LOPA derzeit kaum mehr als ein Forschungsprojekt. Das Wort stand für „Quantum Reinforcement Learning for Operational Applications“. Es handelte sich dabei um eine auf Quantentechnologie basierende künstliche Intelligenz, die durch bestärkendes Lernen in die Lage versetzt werden sollte, auf differenzierten Analyseverfahren beruhende strategische Entscheidungen zu treffen. Beim AIS wurde schon länger darüber gescherzt, dass es endlich an der Zeit wäre, den beständig wachsenden Wasserkopf der Führungsebene durch eine schlankere KI zu ersetzen. Aber noch war offensichtlich niemand bereit, die Befehlsgewalt an einen Computer abzugeben, auch wenn es sich dabei um einen Quantencomputer handelte, der eine Milliarde mal effektiver war als die besten Hochleistungscomputer der letzten Dekade.
„Worum ging es bei diesen Abfragen?“
„Unsere Kryptoanalytiker konnten noch nicht alle Daten entschlüsseln“, gab Snyder nach kurzem Zögern zu.
„Erkennbar ist allerdings, dass eine umfassende Gefahrenanalyse erstellt wurde“, ergänzte Braun. „Paul war offenbar an einer großen Sache dran.“
„Und worum ging es konkret?“, fragte Sila.
„Um das Fortbestehen unseres Staates“, erwiderte Braun.
„Oh …“ Sila blickte von einem Mann zum anderen, suchte aber vergeblich nach Anzeichen dafür, dass es sich um einen schlechten Scherz handeln könnte. „Um die Existenz der Mitteleuropäischen Union?“, hakte sie deshalb nach.
„Korrekt.“ Braun nickte ernst. „Die Nachforschungen Lübkes konzentrierten sich auf einige religiöse Terrororganisationen –“
„Ohne es mit dem AIS abzustimmen?“, fragte Sila.
Der Innenminister nickte, eine leichte Verengung seiner Augen deutete Verärgerung an. Er war es wohl nicht gewohnt, unterbrochen zu werden. „Offenbar traute er niemandem in Ihrer Behörde.“
Sila fuhr ein Schauer über den Rücken. Religiöse Verschwörer innerhalb des AIS? Unvorstellbar.
„Schließlich nahm er Kontakt auf“, sagte Snyder.
„Zu wem?“
„Wir wissen es nicht. Zumindest nicht genau.“ Ihr Vorgesetzter gab einen weiteren Befehl ein, und in den Aufzeichnungen erschienen ein paar Daten. „An diesen Tagen begab sich Paul Lübke ohne Fahrer und ohne Security in die Innenstadt. Er fuhr mit der U-Bahn. An verschiedenen Bahnhöfen, darunter Gesundbrunnen und Museumsinsel, verschwand er plötzlich aus dem Netz.“
Sila hob die Brauen. „Er war offline?“
„Komplett.“
„Das ist eigentlich unmöglich. Underground-Connect ist lückenlos.“
„Was Sie nicht sagen“, schnaufte Braun ironisch.
„Haben Sie eine Ahnung, was er dort gewollt haben könnte?“, fragte Sila.
„Wir können davon ausgehen, dass er sich mit jemandem getroffen hat, möglicherweise mit einem Informanten“, antwortete Snyder anstelle des Innenministers.
„Und fragen Sie bitte nicht, wer dieser Jemand ist“, warf Braun ein. „Wir kennen weder seinen Namen, noch wissen wir, für welche Organisation er arbeitet. Seine Termine hatte Lübke lediglich mit dem Kürzel ‚F.‘ gekennzeichnet.“
„F. – das kann alles Mögliche heißen. Können Sie diesen Kontakt nicht irgendwie eingrenzen?“
„Wir haben einen Verdacht.“
„Der bärtige Mann in der U-Bahn?“, mutmaßte Sila.
Snyder nickte. „Dass er gemeinsam mit Paul Lübke verschwand, macht ihn höchst verdächtig. Natürlich haben wir versucht, ihn zu identifizieren, aber offensichtlich war er die ganze Zeit offline. Laut Underground-Connect waren nur drei Personen im Waggon anwesend. Auch sein optisches Profil ist in keiner Datenbank erfasst.“
„Wie kann das sein?“, fragte Sila überrascht. „Wovon lebt der Kerl? Wie ein Obdachloser sieht er jedenfalls nicht aus.“
Snyder nickte. „Der Mann scheint ein Ghost zu sein. Aber wir haben Glück, denn er ist nicht zum ersten Mal auffällig geworden. Hier, sehen Sie sich das an …“ Er aktivierte eine weitere Aufzeichnung.
Das Hologramm zeigte den U-Bahnhof Pankstraße. Es war während der Rushhour, die Bahnsteige waren voll und es herrschte dichtes Gedränge. Die Überwachungs-KI hatte die einzelnen Personen identifiziert und markiert. Personaldaten und IP der Fahrgäste leuchteten blau, wenn diese sich in erwartbaren Mustern bewegten. Orange markiert waren Personen, die in irgendeiner Weise von den Mustern abwichen. Sie konnten eine mögliche Gefahr für sich selbst oder andere darstellen und wurden von der KI gesondert überwacht. Sobald das Verhaltensmuster auf eine akute Gefahr hindeutete, färbten sich die Daten rot.
Auf dem Bahnsteig waren nur drei Personen orange markiert: ein obdachloser Mann, der in Mülleimern wühlte, ein zweiter Mann in feinem Anzug, der auf einer Bank lag und offenbar seinen Rausch ausschlief, und eine hagere junge Frau, die langsam an der Bahnsteigkante auf und ab ging. Sie hatte den Kopf gesenkt. Ihre Haare verdeckten einen Teil ihres Gesichts. Es waren bereits zwei Züge angekommen und wieder abgefahren, ohne dass sie eingestiegen wäre. Natürlich war es möglich, dass sie auf jemanden wartete. Aber sie hatte nicht einmal aufgeblickt und sich umgesehen, als der dritte Zug angehalten hatte und die Leute aus den Waggons ausgestiegen waren. Das war verdächtig, aber sie bewegte sich nicht dicht genug an der Bahnsteigkante und verharrte auch nicht direkt an der Zugeinfahrt, sodass der Algorithmus noch nicht den nächsten Schritt einleitete.
Instinktiv konzentrierte sich Sila auf die junge Frau.
Der dritte Zug fuhr ab. Für einen Moment hob die hagere Gestalt den Kopf. Sie war blass, ihr Blick leer. Keinerlei Gefühlsregung war ihr anzusehen.
Sila schluckte. Sie wird sich umbringen, fuhr es ihr durch den Kopf.
Langsam schlenderte die junge Frau den Bahnsteig entlang. Das Anzeigehologramm verkündete die Ankunft des nächsten Zuges, und die Gestalt schlurfte weiter, während der Orangeton der Überwachungssoftware sich langsam dunkler färbte. Schließlich blieb sie ganz vorn bei der Zugeinfahrt stehen, wich aber ein paar Schritte zurück. Das Warnsignal blieb auf Orange. Noch zehn Sekunden bis zur Zugeinfahrt. Neun, acht … Zu spät für eine rechtzeitige Bremsung. Sieben, sechs … Die Frau machte einen Schritt nach vorn. Die Überwachungs-KI schaltete auf Rot. Fünf, vier … Nun initiierte die KI den Bremsvorgang, doch es war zu spät. Personal, das kurzfristig eingreifen könnte, gab es schon lange nicht mehr auf den Bahnhöfen. Drei … Sie beschleunigte ihre Schritte. Zwei … Der Zug raste trotz Vollbremsung näher, Funken sprühten, es qualmte.
Sila musste sich zwingen hinzusehen.
Die junge Frau hatte die Bahnsteigkante erreicht und … wurde aufgehalten. Wie aus dem Nichts tauchte ein Mann auf. Er packte sie an der Schulter und riss sie zurück. Sie ruderte mit den Armen, doch bevor sie stürzen konnte, hielt er sie fest. Für einen kurzen Moment fing die Kamera ihren verwirrten Gesichtsausdruck ein. Dann beugte sich der Mann vor und schien ihr etwas ins Ohr zu flüstern.
Irgendjemand aktivierte die manuelle Notöffnung der Waggontüren. Die Leute strömten aufgeregt aus dem Zug und eilten auf die Ausgänge zu. Offenbar hatte die Notbremsung einige Fahrgäste in Panik versetzt. Ein dichtes Gedränge entstand. Als es sich auflöste, waren der Mann und die junge Frau verschwunden.
„Er hat sie gerettet!“, stieß Sila überrascht hervor.
„Hm“, brummte Braun. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und war einen Schritt zurückgetreten. „Oder er hat sie rekrutiert“, ergänzte er düster.
„Jemand, der bereit ist, sich umzubringen, kann ausgesprochen hilfreich sein, wenn man das erklärte Ziel hat, einen Staat zu zerstören“, gab Snyder zu bedenken.
Sila presste die Lippen zusammen. Das wäre in der Tat besorgniserregend. „Wann war das?“, fragte sie.
„Vor einem Dreivierteljahr. Und bevor Sie fragen: Natürlich haben wir den Fall bereits verfolgt. Die KI meldete den Vorfall beim Sozialpsychiatrischen Dienst. Wir haben Zugriff auf die Akte. Die junge Frau tauchte zwei Stunden nach den Ereignissen zu Hause auf. Sie heißt Priscilla Vogt. Die vom Amt eingeleitete psychologische Beratung wurde nach drei Terminen wieder eingestellt. Es gebe keine Anzeichen für eine weiterhin bestehende Suizidgefahr. Für die Behörden ist der Fall damit abgeschlossen.“ Snyder atmete tief durch. „Natürlich haben wir, unmittelbar nachdem die Software den bärtigen Mann beim Verschwinden von Paul Lübke wiedererkannt hatte, versucht, Priscilla Vogt zu kontaktieren.“
„Und?“
„Sie ist vor einem Monat verschwunden. Am Morgen verabschiedete sie sich. Ihre Mutter ging davon aus, dass sie wie üblich zur Uni gehen würde, doch dort tauchte sie nicht auf.“
„Was ist passiert?“, fragte Sila.
„Ich denke, genau das ist die Frage, an der Sie ansetzen sollten“, erwiderte Snyder. Er warf einen Seitenblick auf Braun, der dies jedoch ignorierte und düster vor sich hin starrte. Wie es schien, waren sich die beiden Männer nicht ganz einig über die richtige Vorgehensweise. Aber offenbar hatte der Innenminister beschlossen, sich vorerst nicht weiter in die Ermittlungen einzumischen.
Snyder drückte ihr eine dünne Mappe in die Hand. „Lesen Sie das Dossier. In zwei Tagen erwarte ich Ihren ersten Bericht.“
Sila nickte.
„Wir verlassen uns auf Sie“, fügte der Innenminister hinzu.
Sein bohrender Blick ließ Sila eine Gänsehaut über den Rücken laufen.
Kapitel 3
Als Sila aus dem Turm trat, hatte sie das Gefühl, sein langer Schatten würde ihr folgen. Sie unterdrückte ein Frösteln und verließ das Gelände. Statt jedoch Richtung Bahnhof zu gehen, bog sie in den Treptower Park ab. Nachdenklich spazierte sie am Anti-Kriegsdenkmal vorbei, wandte sich dann Richtung Spree und fand schließlich eine einsame Stelle an der Uferböschung. Sie setzte sich ins weiche Gras und zog das Dossier hervor. Bevor sie es öffnete, deaktivierte sie die Netzverbindung ihrer AR-Linsen. Man konnte nicht längere Zeit für das AIS arbeiten, ohne zumindest einen Hauch von Paranoia zu entwickeln.
Die Mappe enthielt einen einzigen Papierbogen, der in seiner Farbe und Konsistenz an Pergament erinnerte. Man sah ihm die integrierten Hightech-Komponenten nicht an, die sicherstellten, dass nur Sila die abgespeicherten Daten abrufen konnte. Sie nahm das Dokument in beide Hände. Fingerabdrücke und Linsen wurden gescannt, und die Datei wurde freigegeben. Sie enthielt Informationen, Stellungnahmen und Analysen zu allen möglichen Gefährdern und unter Beobachtung stehenden Gruppierungen. Mit leichten Wischbewegungen scrollte Sila weiter. Unzählige Daten huschten über das Blatt.
Mit all diesen Informationen war Q-LOPA gefüttert worden. Auf die Ergebnisse hatte das AIS keinen Zugriff, möglicherweise hatte Lübke sie aus dem System gelöscht. Klar war aber, dass die Quanten-KI einen Code Red ausgegeben hatte – eine substanzielle Gefährdung des Staats in seiner bestehenden Form.
Das war alles andere als eine Kleinigkeit. Warum hatte Paul Lübke diese Informationen mit niemandem geteilt? Er hatte zwar hier und da Personen aus dem Ministerium befragt, darunter auch einige IT-Spezialisten und Profiler, aber offenbar hatte er niemanden über die Tragweite des Projekts in Kenntnis gesetzt. Zumindest nach der offiziellen Faktenlage.
Was jenseits der Protokolle besprochen worden war, musste die interne Ermittlung herausfinden, denn das war nicht Silas Job. Ihre Aufgabe bestand darin, irgendwie an diesen bärtigen Typen heranzukommen, der immer dann in Erscheinung trat, wenn Menschen verschwanden.
Sie suchte im Dossier nach weiteren Informationen über Paul Lübke, aber ganz offensichtlich hatte der Staatssekretär so gut wie kein Privatleben. Wie es schien, war seine Karriere sein Leben.
Sila konnte das nachvollziehen. Manche Dinge waren einfach unvereinbar. Man konnte nicht als verdeckte Ermittlerin für das AIS arbeiten und gleichzeitig ein funktionierendes Privatleben haben. Offenbar erging es Staatssekretären diesbezüglich nicht anders.
Sie senkte das Papier und ließ den Blick nachdenklich über das Wasser schweifen. Wenn sie eine reelle Chance haben wollte, an den Bärtigen heranzukommen, musste sie bei Priscilla Vogt ansetzen. Aber auch das konnte sie unmöglich allein schaffen. Braun war das vermutlich nicht klar, aber Snyder wusste es. Niemand konnte eine solch komplexe Aufgabe als Einzelkämpfer lösen. Schon bei der Erstellung der Geheimhaltungsklausel musste ihr Vorgesetzter davon ausgegangen sein, dass Sila sie würde brechen müssen, um ihren Auftrag zu erfüllen. Ganz bewusst hatte er sie in eine Zwickmühle gebracht, aus der sie nur entkommen konnte, indem sie erfolgreich war. Snyder war ein knallharter, manipulativer Erfolgsmensch, der sich niemals von seinen Emotionen leiten ließ. Und genau das schätzte Sila an ihm; schließlich wusste sie immer, woran sie bei ihm war.
Sie verstaute das Dossier in ihrer Tasche und machte sich auf den Weg zur Tube-Rail. Inklusive Umsteigen benötigte sie nur wenige Minuten bis zur Haltestelle Kottbusser Tor. In den vergangenen dreißig Jahren waren sämtliche Strecken der alten Berliner S-Bahn auf das wesentlich effektivere und energiesparende Tube-Rail-System umgestellt worden. Offenbar hatte der Berliner Senat eingesehen, dass ein über 150 Jahre altes Beförderungssystem, das im Laufe der Jahre eher störungsanfälliger als zuverlässiger geworden war, allenfalls noch ins Technikmuseum gehörte, aber nicht mehr geeignet war, in der Hauptstadt Millionen von Menschen sicher von einem Ort zum anderen zu bringen. Spätestens mit der Eingemeindung des sogenannten Speckgürtels, wie das Berliner Umland auch genannt wurde, war ein schnelleres und zuverlässigeres Transportsystem unabdingbar geworden.
Die unansehnlichen Wohnblocks aus den 1970er-Jahren waren längst modernen Bürogebäuden gewichen. Aber etwas abseits am Paul-Lincke-Ufer gab es noch die alten Gebäude aus dem 19. Jahrhundert mit ihren Gewerbehöfen. Dort lag Silas Ziel.
Sie betrat den zweiten Hinterhof der Hausnummer 42. Vor vielen Jahren hatte es hier einmal eine Arbeitsstätte für Menschen mit Behinderung gegeben. Doch dann hatte man ein umfangreiches Gesetzespaket verabschiedet, das die berufliche Teilhabe aller Menschen mit Behinderung am ersten Arbeitsmarkt zum Ziel hatte. Aufgrund des Kostenneutralitätsvorbehalts war es allerdings wenig erfolgreich. Also beschloss man, das Problem anders anzugehen. Mit Einführung der sogenannten Pre Procreation Diagnosis wurde die Präventionsgesetzgebung möglich, die zur Folge hatte, dass Menschen mit Behinderung einfach nicht mehr geboren wurden.
Sila hatte die Diskussion, die damals entstanden war, nicht nachvollziehen können. Die PPD ersparte den mühsamen und kostenintensiven Inklusionsprozess und verhinderte jede Menge persönliches Leid. Sie hatte nur Vorteile. Wo also lag das Problem?
Im zweiten Hinterhof betätigte sie einen unbeschrifteten Klingelknopf – eine geradezu vorsintflutliche Technik, seit die Einführung der Networked Home Security für alle Vermieter verpflichtend geworden war.
Eine gefühlte Ewigkeit später meldete sich eine schnarrende Stimme über die ebenfalls uralte Gegensprechanlage. „Ja?“
„Ich bin’s. Mach auf.“
„Passwort?“
Sila verdrehte die Augen. „Skull, ich weiß, dass du mich sehen kannst.“ Mit einhundertprozentiger Sicherheit überwachte er den Hof mit mehr als nur einer gut versteckten Kamera.
„Passwort!“
„Skull, das ist einfach nur peinlich.“
Schweigen.
„Also schön“, seufzte Sila. „Auf den sieben Robbenklippen sitzen sieben Robbensippen, die sich in die Rippen stippen, bis sie von den Klippen kippen.“
„Zutritt gestattet.“
Ein Summen ertönte, und die Tür öffnete sich. Sila mied den vorsintflutlichen Aufzug und stieg die Treppen hinauf bis ins Dachgeschoss. Dort klopfte sie an eine schwere Metalltür und sah, wie sich kurz darauf das gläserne Guckloch verdunkelte. Jemand beobachtete sie. Dennoch wurde die Tür nicht geöffnet.
„Nicht dein Ernst“, schnaufte Sila.
Schweigen.
Sie verdrehte erneut die Augen und brummte: „Wenn irre Irrlichter irrtümlich irische Irre verwirren, irren irische Irre irren Irrlichtern nach.“
Ein Schlüssel wurde umgedreht und ein Riegel zurückgeschoben, dann öffnete sich die Tür. Vorsichtig lugte ein bleicher junger Mann mit kahl rasiertem Schädel durch den Türspalt. „Komm rein.“
Sila schlüpfte in die Wohnung. Sogleich wurde die Tür hinter ihr verschlossen und verriegelt.
„Hast du unterwegs Spinnweben berührt?“
„Dir auch einen guten Tag, Skull“, erwiderte Sila.
Der hagere, über einen Meter neunzig große Mann hielt sorgfältig einen Sicherheitsabstand ein, als er an Sila vorbeiging und in das riesige Loft trat, das ihm als Wohnung diente. „Das Problem wird nicht kleiner, indem du es ignorierst“, sagte er ernst. „Ich brauche ja wohl nicht extra zu erwähnen, dass durch die Klimaerwärmung bereits seit mehr als fünfzig Jahren Spinnen aus dem subtropischen Raum in Deutschland heimisch sind. Die Population der australischen Trichternetzspinne hat in den vergangenen zehn Jahren signifikant zugenommen. Es gab bereits zwei Todesfälle. Und wo halten sich die Killerbestien mit Vorliebe auf? In den Häusern von Menschen!“
„Ich kann dir versichern, mein Tag war bislang komplett spinnenfrei.“ Sila ignorierte seinen skeptischen Blick und steuerte auf die gemütliche Sofaecke zu.
„Da nicht!“, sagte Skull hastig und bemühte sich um ein Lächeln. „Du willst doch sicher etwas trinken?“ Er deutete in Richtung Kochinsel, wo er sich auch eine Art Bar eingerichtet hatte.
Sila folgte seiner Aufforderung und setzte sich auf einen der hohen Metallhocker, die sich im Gegensatz zum Sofa problemlos desinfizieren ließen, was mit Sicherheit der wahre Grund für Skulls spontane Großzügigkeit war.
„Was darf ich dir anbieten? Mineralwasser? Ingwertee?“
„Ein Cappuccino wäre nicht schlecht.“
„Dir ist schon klar, wo die Milch herkommt, die du in deinen Kaffee schüttest?“
„Aus dem Euter?“
„Sehr witzig! Du weißt genau, dass es in ganz Europa keine einzige Milchkuh mehr gibt.“
„Insektenmilch ist nun mal viel kostengünstiger und verursacht zudem kein Methan.“
„Insektenmilch.“ Skull sprach das Wort so angewidert aus, als würde jede einzelne Silbe auf haarigen Tarantelbeinen über seine Zunge krabbeln. „Das ist ein Euphemismus, und das weißt du genau.“
Sila lächelte. „Immerhin sind Maden keine Spinnen.“
„Und du glaubst, die Vorstellung, dass du dir gehäckselte Soldatenfliegenlarven in den Kaffee schüttest, ist irgendwie appetitlicher?“
„Nur wenn sie aufgeschäumt sind“, erwiderte Sila mit einem Zwinkern. „Außerdem ist ‚gehäckselte Made‘ grob vereinfacht. Nur weil die Proteine in der Milch von Insektenlarven stammen, heißt das noch lange nicht –“
„Bitte hör auf!“ Skulls ohnehin schon gräuliche Gesichtsfarbe wurde noch eine Spur blasser.
„Gut, dann bitte eine Cola“, sagte Sila versöhnlich.
„Das Giftzeug kommt mir nicht ins Haus. Ich kann dir einen Grüntee kochen, der hat auch belebende Wirkung.“
„Schon gut, ich nehme ein Wasser.“
Skull nickte zufrieden und stellte kurz darauf ein Glas Mineralwasser vor ihr auf den Tresen.
Sila betrachtete ihn lächelnd, während sie an ihrem Wasser nippte. Skull war der beste Hacker, den sie kannte, aber mindestens genauso ausgeprägt wie sein Wissen über Firewalls, Trojaner und Back-Doors waren seine Ängste und Ticks. Er rasierte sich jeden Morgen den Schädel, weil er Haare eklig fand. Diesem Umstand und seinen hageren Gesichtszügen hatte er seinen Spitznamen zu verdanken. Vermutlich war er der einzige Hacker weltweit, der jeden Tag Staub wischte. Sein Bedarf an Desinfektionsmittel bewegte sich nach Silas grober Schätzung bei einem Fünf-Liter-Kanister pro Tag. Skull war eine geballte Ladung von Zwängen und Phobien – und er war ein Genie. Ihm verdankte Sila jenes spezielle Hintergrundwissen, das in ihrem Job oftmals den Unterschied machte. Sie war immer noch dankbar, dass sie ihn per Zufall bei einem gewagten Hack des AIS-Computersystems erwischt hatte. Schnell hatte sich herausgestellt, dass es der Reiz an dieser Herausforderung gewesen war, der Skull dazu getrieben hatte. Statt ihn anzuzeigen, hatte Sila ihn kurzerhand rekrutiert.
Skull nippte an seinem Ingwertee. „Mach es nicht so spannend. Welche Gesetze soll ich heute für dich brechen?“
„Nun übertreib nicht so schamlos! Das klingt ja, als würde ich dich als Auftragskiller missbrauchen.“
„Nach § 220a StGB in der novellierten Fassung von 2056 droht jedem, der sich Zugang zu Daten verschafft, die nicht für ihn bestimmt und gegen unberechtigten Zugriff besonders gesichert sind, eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren. Man muss also niemanden umbringen, um im Knast zu landen.“
„Als ob dich das jemals gestört hätte“, erwiderte Sila.
„Ich wollte es nur mal erwähnt haben“, bemerkte Skull.
„Also“, Sila nahm das Dossier zur Hand, „alles, was ich dir jetzt sage und zeige, musst du für dich behalten. Du darfst mit niemandem darüber sprechen, und niemand darf diese Daten in die Finger bekommen.“
Skull nickte gelangweilt. „Wie immer.“
Sie ergriff seine Hand, und er hob überrascht die Brauen. „Skull, ich meine es ernst. Ich muss mich auf dich verlassen können.“
Er erwiderte ihren Blick. „Du weißt, dass du das kannst.“
Sila nickte. Ja, das wusste sie. Sie aktivierte das Dossier und schickte ihm ein Foto des Bärtigen. „Finde alles über diesen Typen heraus, wirklich alles!“
Skull stand auf, um sich an die Arbeit zu machen, hielt dann aber inne. „Bist du dir sicher? Ich finde, dieser Waldschrat passt überhaupt nicht zu dir.“
„Sehr witzig.“ Sila verdrehte die Augen. „Es geht um die Staatssicherheit.“
„Natürlich.“ Skull setzte sich an seinen riesigen, penibel aufgeräumten Schreibtisch. „Das wird ein Kinderspiel.“
„Sag das nicht. Der Mann ist ein Ghost.“
„Wenn er im Netz unterwegs ist, finde ich ihn. Selbst wenn er unter dem Radar fliegt.“
„Ich lasse mich gern positiv überraschen. Aber da ist noch etwas.“
Sila folgte ihm an den Schreibtisch und spielte ihm die Aufnahmen der Überwachungskameras aus der U-Bahn vor.
Als Skull sah, wie Paul Lübke und der Bärtige einfach verschwanden, hob er die Brauen. „Das ist interessant.“
Sila lächelte, als sie das Funkeln in seinen Augen sah. „Wie du dir sicher denken kannst, wüssten wir zu gern, wie die Typen das angestellt haben.“
Skull grinste. Seine Neugier war geweckt. Das Beste, was ihr passieren konnte.
„Bevor du dich in diese Sache vertiefst, hätte ich noch einen kleinen Rechercheauftrag.“ Sila schickte ihm Foto, Name und Anschrift von Priscilla Vogt. „Sie verschwand vor einem Monat. Ich will wissen, was sie vorher gemacht hat, mit wem sie sich getroffen hat, wer ihre Freunde sind und vor allem, ob sie seitdem wieder irgendwo aufgetaucht ist.“
Er runzelte die Stirn. „Das ist doch reine Fleißarbeit, so was können auch deine Jungs vom Amt erledigen.“
„In diesem Fall will ich aber, dass es der Beste der Besten erledigt.“
„Schleimerin“, erwiderte Skull, aber es war nicht zu übersehen, dass ein zufriedenes Lächeln seine Lippen umspielte. Er startete weitere Programme. „Willst du nicht doch einen Tee? Das kann eine Weile dauern.“
„Schon okay.“ Sila setzte sich wieder an die Bar und nippte an ihrem Mineralwasser, das, wie sie fand, ein wenig seltsam schmeckte. Wahrscheinlich lag es daran, dass es so gesund war.
Während sie Skull bei seinem virtuosen Spiel mit Bits und Bytes beobachtete, fing sie in Gedanken an, ihr neues Ich zu konstruieren. Da sie in diesem Fall auf jegliche Hilfe von Profilern, Maskenbildnern und IT-Spezialisten verzichten musste, erschien es ihr sinnvoll, so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. Sie wusste, dass sie für Ende zwanzig noch sehr jung aussah – woran das vom AIS finanzierte Cell-Renewal-Programm nicht ganz unschuldig war. Das Beste wäre, wenn sie einfach eine kleine Zeitreise machen würde. Dann wäre sie wieder Sila, die junge Psychologiestudentin aus der Provinz. Ihren Nachnamen müsste sie natürlich ändern. Sie entschied sich für „Wenzel“, den Mädchennamen ihrer Großmutter mütterlicherseits. Der Name war auch heutzutage noch so geläufig, dass er nicht auffallen würde. Zudem hatte Sila eine emotionale Bindung dazu, was ihr helfen würde, auch in unvorhergesehen Situationen intuitiv zu reagieren. Schon so mancher Undercoveragent war in Schwierigkeiten geraten, weil jemand seinen Alias-Namen gerufen und er in einem unkonzentrierten Moment nicht darauf reagiert hatte.
„Oh“, machte Skull überrascht, „wir haben einen Treffer.“
Sila sprang auf. „Der Bärtige?“
„Nein, das Mädchen. Sieh mal dort, im Hintergrund.“
In einer Grünanlage hatten drei etwas reifere Damen ein Selfie geschossen. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, den Hintergrund zu bereinigen, und so konnte man in einigen Metern Entfernung zwei junge Frauen erkennen, die an einem Teich standen und in ein Gespräch vertieft zu sein schienen. Die eine hatte asiatische Gesichtszüge. Die andere war ohne jeden Zweifel Priscilla Vogt.
Sila spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. „Wann war das?“
„Vor zwei Tagen.“
„Wo?“
„Im Triestpark. Das ist –“
„Direkt um die Ecke der FU, ich weiß.“ Sila lächelte. „Wie heißt die Dunkelhaarige?“
„Heidi Mai. Sie studiert Psychologie, drittes Semester.“
„Wunderbar. Wie du dir sicher denken kannst, studiere ich ebenfalls Psychologie im dritten Semester, musste aber aus persönlichen Gründen von der Uni Heidelberg an die FU Berlin wechseln. Und wie es der Zufall will, sitze ich morgen im selben Seminar wie Heidi.“ Sie klimperte mit den Wimpern. „Das kriegst du doch hin, oder?“
„Ist so gut wie erledigt“, erwiderte Skull, während er ein neues Fenster öffnete und einige seltsam anmutende Zahlencodes eingab. „Vergiss nicht, dir ein Lunchpaket mitzunehmen. Das Essen in der Mensa soll noch immer gruselig sein.“
Kapitel 4
Es war kurz vor zehn Uhr morgens, als Sila mit den anderen Studierenden den U-Bahnhof Tsinghua verließ. Offiziell war der ehemalige Bahnhof Thielplatz infolge der Partnerschaft mit der Pekinger Eliteuniversität Tsinghua umbenannt worden. Genau genommen war diese Partnerschaft allerdings erst einige Monate später entstanden. Es war wohl vor allem das großzügige Sponsoring der China Construction Bank gewesen, das den Berliner Senat dazu bewogen hatte, dieses Zeichen der Freundschaft zu setzen.
Sila folgte der Menge Richtung Unigelände. Es war sommerlich warm. Sie trug kurze Shorts und ein enges Top. Äußerlich passte sie perfekt zu ihren deutlich jüngeren Kommilitoninnen.
Es war eine strategische Entscheidung des AIS gewesen, Sila ein möglichst jugendliches Aussehen zu geben. Junge Menschen ließen sich leichter in fanatische Gruppierungen einschleusen. Man misstraute ihnen weniger und hielt sie für leichter beeinflussbar. Diesen Vorteil hatte sich das Amt einiges kosten lassen. Mit entsprechendem Auftreten und passender Kleidung würde Sila nun auch als Siebzehnjährige durchgehen. In diesem Fall war sie allerdings die zwanzigjährige Sila Wenzel aus Heidelberg.
Der Weg war nicht weit, und sie nutzte die wenigen Minuten, um die in kleinen Grüppchen laufenden Studierenden zu scannen. Ihre AR-Linsen waren mit dem Zentralrechner des AIS verbunden, und die Nanoimplantate in ihren Fingerkuppen ermöglichten es ihr, sich mit kleinsten Bewegungen durch das Menü zu scrollen.
Die biometrischen Daten wurden in Echtzeit abgerufen und mit der Datenbank der Behörde verknüpft. All die Menschen um sie herum, mit ihren ganz individuellen Geschichten, ihren Erfahrungen, Meinungen und Träumen, wurden gläsern.
Der junge Mann mit den muskulösen Oberarmen und der coolen Sonnenbrille hieß Antonius Hüttenmacher, war 21 Jahre alt und studierte Wirtschafts-Engineering. Er hatte eine Mitralklappeninsuffizienz und war gegen Erdnüsse allergisch. Mit zwölf Jahren hatte er in einem Bahnhofskiosk ein Herrenmagazin und Cannabinol-Kaugummis gestohlen. Seine sportliche Statur verdankte er im Wesentlichen dem gezielten Einsatz von minimalinvasiven Elektrostimulatoren und der Einnahme halblegaler Hormonpräparate. Partnerschaftliche Treue war nicht so sein Ding, und seine studentischen Leistungen waren knapp unter dem Durchschnitt.
Die junge Frau rechts vor ihm, der er mit beeindruckender Konsequenz auf den Hintern starrte, hieß Aurelia Müller. Sie studierte Deutsch auf Lehramt im dritten Semester und schluckte in gesundheitsgefährdendem Ausmaß Abnehmkapseln, um die Folgen ihrer Essstörung im Rahmen zu halten. Mit dreizehn Jahren war sie vom damaligen Partner ihrer Mutter sexuell missbraucht worden. Neben ihr ging ihre beste Freundin Lucretia. Die Pädagogikstudentin war von ihren Eltern so genannt worden, weil die Lieblingspuppe ihrer Mutter diesen Namen getragen hatte. Lucretias Gene sprachen eine deutliche Sprache. Sie war nicht die Tochter des Mannes, den sie Vater nannte. Zudem hatte sie gegenüber der Durchschnittsbevölkerung ein siebenfach erhöhtes Risiko, an Schizophrenie zu erkranken. Wären die Präventionsgesetze schon vor 22 Jahren gültig gewesen, hätte Lucretia nie das Licht der Welt erblickt.
Sila hätte endlos so weitermachen können. Ihre Freigabestufe ermöglichte ihr den Zugriff auf alle verfügbaren persönlichen Daten. Das Faszinierendste an der Geschichte war allerdings, dass die meisten dieser Daten vollkommen freiwillig und eigeninitiativ zur Verfügung gestellt wurden. Denn persönliche Daten waren eine international gültige Währung. Der chinesische Staatskonzern Worldconn war der erste gewesen, der dieses Prinzip nicht nur auf Apps und andere Softwaretypen, sondern auch auf Hardwarekomponenten angewandt hatte. Wer die neuesten AR-Linsen des Konzerns haben wollte, konnte entweder 10 000 Coins berappen oder zulassen, dass die Algorithmen der Software Zugriff auf die persönlichen Daten erhielten und das Onlineverhalten des Nutzers analysierten. Da diese Maßnahmen nicht mit aufdringlicher Werbung verbunden waren, ließen sich die Leute schnell überzeugen. „Ich habe schließlich nichts zu verbergen“, war der meistgenannte Satz, mit dem der Deal besiegelt wurde.
Sila war mit dieser Haltung absolut einverstanden. Nur ein hohes Maß an Transparenz ermöglichte Sicherheit, und nur die lückenlose Überwachung verhinderte, dass es erneut zu solch schrecklichen Terrorakten kommen konnte, die vor über 30 Jahren die Große Krise ausgelöst und das Gesicht der Welt für immer verändert hatten.
Mittlerweile hatte Sila das Unigelände erreicht und betrat nun die Rostlaube, wie der stark sanierungsbedürftige Zweckbau aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts genannt wurde. Irgendjemand hatte entschieden, dieses Gebäude unter Denkmalschutz zu stellen, was jährlich enorme Kosten in einem hohen fünfstelligen Bereich verursachte. Nach Silas Ansicht war der wahre Grund für diese Steuerverschwendung, dass ein paar abgedrehten Professoren das Anschauungsmaterial für ihre Architekturvorlesungen erhalten bleiben sollte.
Sie betrat den Hörsaal 1b. Ein kurzer Scan des Raums, und die Algorithmen zeigten ihr an, dass Heidi Mai in der vorletzten Reihe hinten links saß.
Sich direkt neben ihr zu platzieren, wäre zu auffällig. Also setzte sich Sila etwas abseits in die letzte Reihe, sodass sie Heidi gut im Blick hatte, wenn sie das Gesicht dem Rednerpult zuwandte.
Die Studierenden wurden automatisch registriert, sobald sie den Hörsaal betraten. Präsenz war wichtig, um am Ende des Semesters die notwendigen Zertifikate zu bekommen. Die Tools der Unisoftware checkten allerdings lediglich die Anwesenheit, nicht die Aufmerksamkeit der einzelnen Personen.
Anders als Sila. Als die Vorlesung begann, loggte sie sich in die AR-Linsen von Heidi ein und konnte auf diese Art genau das sehen, was die junge Frau wahrnahm. Heidi widmete dem Professor nur wenig Aufmerksamkeit. Das mochte zum Teil an seinem Tonfall liegen – schließlich trug der Mann seine Einführung in den kognitionspsychologischen Ansatz mit der Leidenschaft eines Parkscheinautomaten vor.
Nach etwa zehn Minuten begann gut die Hälfte der Studenten, sich anderweitig zu beschäftigen. Sila schätzte, dass sie Onlinegames zockten, den Speiseplan der Kantine checkten oder Videotutorials zu einer sie brennend interessierenden Fragestellung anschauten. Heidi allerdings tat nichts dergleichen. Sie starrte auf ihr leeres Notepad. Ihr Bodycare-Link zeigte einen leicht erhöhten Puls an. Die Stresshormonwerte lagen über dem Durchschnitt. Ihre Haltung wirkte angespannt. Sie war online, rief aber keine Daten ab. Irgendetwas beschäftigte sie.
Mit einem Neuroscan hätte Sila herausfinden können, welche Hirnregionen bei Heidi besonders aktiv waren. Kombiniert mit den ausgefeilten Analysemethoden des AIS hätte sie diesen Scans nach einiger Zeit konkretere Gedankengänge zuordnen können. Doch leider standen ihr diese Möglichkeiten zurzeit nicht zur Verfügung, sie musste auf andere Mittel zurückgreifen.
Sie checkte Heidis Messenger-Apps auf Nachrichten von Priscilla Vogt. Keine einzige war verschickt worden, nachdem die junge Frau untergetaucht war. Sila nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe.
Die meisten Leute gingen davon aus, dass die Datenschutzgesetze relativ streng waren und dass sie es ihnen erlaubten, Onlinedaten zu löschen, wann immer ihnen danach war. Das war oberflächlich betrachtet auch korrekt. Aber die wenigsten User beschäftigten sich mit den hochkomplexen Sicherheitsparagrafen, die im Falle der Gefahrenabwehr eine Wiederherstellung dieser Daten ermöglichten. Da die meisten Menschen sich selbst nicht als gefährlich erachteten, kamen sie nicht auf die Idee, dass sie davon betroffen sein könnten. Aber der Staat scherte sich nicht um persönliche Einschätzungen. Für ihn war jeder Bürger ein potenzieller Gefährder, und dies bedeutete, dass die gelöschten Daten aller Bürger der Mitteleuropäischen Union rückwirkend für die vergangenen sieben Jahre problemlos wiederhergestellt werden konnten.
Sila gab die Kriterien für den Suchalgorithmus ein und durchstöberte Heidis virtuellen Abfalleimer. Sie fand einige nicht besonders gelungene Fotos, eine missglückte Hausarbeit, haufenweise To-do-Listen und einen schwärmerischen Kommentar unter dem Post eines Kommilitonen. All das war unwichtig für sie.
Die nächsten Daten waren da schon deutlich interessanter. Heidi hatte eine Liste verschiedener Webseiten erstellt, die sich mit der Abwehr von Spyware beschäftigten, und mehrere Foren besucht, in denen sich Stalkingopfer darüber austauschten, wie man am besten unerwünschte Verfolger loswurde. Zudem hatte sie sich mehrere Tutorials zum Thema Selbstverteidigung angesehen. Natürlich wäre es möglich, dass sie sich tatsächlich eines Stalkers erwehren musste. Auffällig war allerdings, dass ihr Interesse an diesen Themen sehr jung war. Es hatte genau drei Tage vor Priscillas Verschwinden begonnen.