Soko mit Handicap: Der Tote und der Taucher - Thomas Franke - E-Book + Hörbuch

Soko mit Handicap: Der Tote und der Taucher E-Book und Hörbuch

Thomas Franke

5,0

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  • Herausgeber: Gerth Medien
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Theo Marquardt ist Anfang 20 und lebt in einer Berliner Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung. Ohne seinen Rollstuhl kommt er nicht weit, denn er leidet an Kongenitaler Muskeldystrophie. Als er eines Morgens erfährt, dass ein Mitbewohner die Nacht nicht überlebt hat, sitzt der Schock tief. Doch offenbar sind zur nächtlichen Stunde seltsame Dinge geschehen. Warum ist der Autist Keno wie aufgelöst und spricht immer wieder von einem Taucher? Was hat die kleine Wunde am Arm des Verstorbenen zu bedeuten, und warum hat es dessen Familie so eilig, ihn unter die Erde zu bringen? Die Fragen lassen Theo nicht los, und er beschließt, der Wahrheit auf den Grund zu gehen ... Ein spannender, tiefgründiger und nicht zuletzt dank des liebenswerten "Sondereinsatzkommandos mit Handicap" ganz besonderer Kriminalroman.

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Seitenzahl: 394

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Zeit:8 Std. 50 min

Sprecher:Thomas Franke
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Über den Autor

Thomas Franke ist Sozialpädagoge und bei einem Träger für Menschen mit Behinderung tätig. Als leidenschaftlicher Geschichtenschreiber ist er nebenberuflich Autor von Büchern. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

Mehr über den Autor: www.thomasfranke.net

Inhalt

Prolog

Nacht

Am Morgen

Vandalismus und ein Todesfall

Geschwister

Vergangenheit

Der Stich

Zeugenvernehmung

Theory of Mind

Recherche

Verhör im Skatepark

Überraschungsbesuch

Der Kosmonautensprung

Der Verstecker

Recht haben genügt nicht

Operation Gerechtigkeit

Friedbert und der feine Ronny

Arztbesuch

Gewollt?

Viele Fragen und heißer Kaffee

Herr Schmidt-Wachtel und das verlorene Handy

„One Billion“ und die Heimaufsicht

Die WG

Verwirrung

Gestalten im Nebel

Klar wie Kloßbrühe

Geheimnisse

Eine Hypothese

Fleischermeister

Soli Deo gloria

Gestorben, bevor der Tod kam

Lageanalyse und Keksgeschosse

Überraschung aus Hohenwutzen

Match Point Birdie

Kommando Messe

Verhörraum mit Haltegriffen

Auszug aus Aktion Licht, dem zweiten Band der Soko mit Handicap-Dilogie

Danksagung und Nachwort

Prolog

Obwohl die Zweige an den Bäumen wieder grünten, trugen die Nächte noch den frostigen Atem des Winters in sich. Der Mann ohne Namen schlang den Mantel fester um sich und stemmte sich gegen den Wind, der ihm entgegenblies.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie ein Pärchen aus dem Nobelrestaurant trat. Der Mann war groß und breitschultrig, die Frau schlank und viel zu dünn angezogen.

Der Namenlose bemerkte, dass der Mann ihn beobachtete. Das war nicht ungewöhnlich. Schon gar nicht um diese Uhrzeit. Die Leute versuchten einzuschätzen, ob er eine Gefahr darstellte. Bewusst ließ er die Schultern hängen und schlurfte weiter. Er war nur ein Obdachloser, harmlos und unbedeutend, niemand, den man eines zweiten Blickes würdigte. Das war sein Schutz und sein Schicksal.

Er spürte den Blick des Mannes in seinem Nacken, dann bog er ab. Nach zwei Dutzend Schritten erreichte er das vergitterte Eisentor, das die Einfahrt zu einem aufwendig restaurierten Hinterhof versperrte. Er blickte sich vorsichtig um. Niemand war zu sehen. Rasch überkletterte er das Tor und verschwand im Dunkel des unbeleuchteten Durchgangs. Obwohl er sich bemühte, leise zu sein, hallten die Schritte seiner abgewetzten Ledersohlen unangenehm laut von den gemauerten Wänden wider.

Im Hinterhof angelangt, kletterte er auf eine Altpapiertonne und schwang sich über die schmale Mauer in den nächsten Hof. Geduckt schlich er unter einem Fenster im Parterre entlang und kauerte sich auf das Gitter eines Lichtschachts.

Dort wartete er. Durch eine Lüftungsklappe drangen Geräusche zu ihm heraus, ein Klirren und Klappern und müde Stimmen. Wie von selbst glitten seine Finger unter den alten Wollmantel und ertasteten die dickbauchige Flasche. Und noch ehe es ihm bewusst war, hatte er sie an die Lippen gesetzt. Er trank schnell und in großen Schlucken. Die Flüssigkeit brannte in seiner Kehle, und für einen kurzen Moment fühlte er sich behaglich warm. Dann war die Flasche leer. Er bemühte sich, sie leise abzustellen. Aber seine Hände zitterten zu stark, es klirrte, als die Flasche gegen einen stählernen Container stieß. Bevor er reagieren konnte, fiel sie um und rollte über das Pflaster gegen eine Mülltonne. Dort lag sie still und dumpf glänzend im Licht des Mondes.

Wütend starrte der Mann ohne Namen auf seine Hände. Die Finger zitterten leicht, und die blassblau verfärbte Haut war rissig. Irgendwann musste er etwas anderes mit diesen Händen getan haben, als Mülleimer zu durchwühlen und gleichgültige Passanten anzubetteln. Vielleicht waren diese steifen Finger geschickt gewesen, und er war einem Handwerk nachgegangen? Vielleicht hatte er auch, einen teuren Kugelschreiber haltend, das Schicksal vieler Menschen mitbestimmt? Er wusste es nicht. Er wusste nur, wie man überlebt.

Schritte waren zu hören, und er duckte sich tiefer in sein Versteck. Sie waren zu zweit, schwer atmend unter der Last, die sie trugen. Ein Deckel wurde geöffnet und prallte mit einem dumpfen Laut gegen eine halb gefüllte Plastiktonne. „Na lecker!“, knurrte einer der beiden.

Der andere kicherte. „Warte ab, bis es Sommer ist, dann tummeln sich da drin so viele Maden, dass du glaubst, die Tonne robbt gleich über den Hof.“

„Hör auf, Mann, mir wird schlecht.“

Der andere lachte.

Ein plätscherndes Geräusch war zu vernehmen. Dann wurde der Deckel zugeklappt.

„Endlich Feierabend.“

Die Schritte entfernten sich wieder. „Wie oft wird das Ding eigentlich geleert?“

„Zweimal die Woche.“

„Ist das nicht ein bisschen wenig?“

„Alles eine Frage des Geldes.“

Der Mann im Schatten wartete, bis er die Tür ins Schloss fallen hörte. Dann kroch er aus seiner Deckung und schlich über den Hof. Er musste schnell sein. Sehr rasch nahmen die Reste den Geschmack der Tonne an – und nicht nur das … Einmal war er zu spät gewesen. Trotz des säuerlichen Geschmacks hatte er das Fleisch gegessen. Zwei Tage lang hatte er keinen Bissen Brot und keinen Schluck Wasser bei sich behalten, und anschließend war er über eine Woche lang so geschwächt gewesen, dass er sich kaum auf den Beinen hatte halten können.

Er klappte den Deckel auf. Es dampfte, das Geschnetzelte war noch warm. Er ignorierte die dunklen Verkrustungen an den Wänden und griff in die Mitte der Tonne. Hungrig stopfte er die Fleischbrocken in sich hinein. Es störte ihn nicht, dass die braune Soße seinen Ärmel beschmutzte und in seinen Bart rann. Es war warm und sättigte ihn.

„Hey!“

Er fuhr herum. Eine hohe, breitschultrige Gestalt trat in den Hof. Wo kam der Typ auf einmal her?

Der Unbekannte machte einen Schritt vorwärts – es war der Mann, der aus dem Nobelrestaurant herausgekommen war. „Was wollen Sie hier?“

Der Fremde kam näher. Er trug einen teuren Kaschmirmantel, an seinem Finger schimmerte ein goldener Ehering. „Peter, bist du das?“ Die Augen des Mannes weiteten sich.

Der Namenlose starrte ihn an. Kannte der Typ ihn wirklich? Oder verwechselte er ihn? In ihm jedenfalls regte sich keine Erinnerung. Seine Vergangenheit blieb hinter grauen Nebeln verborgen. „Hören Sie, ich kenne Sie nicht …“, setzte er an. Erst da bemerkte er den Schlagstock in der Hand seines Gegenübers. Seine Muskeln zuckten, wollten eine Abwehrhaltung einnehmen, doch es war zu spät.

Helle Lichter flammten auf, dann wurde es schwarze Nacht.

Nacht

Theo schlug die Augen auf. Unwillkürlich lauschte er. Etwas hatte ihn geweckt – etwas Beunruhigendes. Ein leises Brummen lag in der Luft, doch sonst war alles still. Mit der Benommenheit des gerade Erwachten versuchte er zu begreifen, was ihn aufgeschreckt hatte. Doch die Erinnerung verblasste so rasch wie ein Traumbild in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne.

Wo bin ich hier überhaupt? Theo blinzelte ein paarmal und starrte in das verschwommene Zwielicht des Raums. Ohne Brille war er aufgeschmissen. Gedämpftes orangerotes Licht zeichnete bizarre Muster an die weiße Decke. Ein Schweißtropfen rann ihm über die Stirn. Es war warm, und er hatte seine Atemmaske nicht auf. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Theo tastete nach seiner Brille. Zu dumm, dass sein Bewegungsradius mittlerweile auf einen knappen halben Meter eingeschränkt war. Anstelle seines Nachttisches ertastete er nur weiche Kissen. Mühsam drehte er den Kopf. Die Matratze unter ihm bewegte sich und blubberte leise. Neben ihm lag etwas, das verdächtig nach einem Plüschherz aussah.

Das ist nicht mein Bett, ging es ihm durch den Kopf. Ich muss auf dem Wasserbett im Snoezelenraum eingeschlafen sein.

Er versuchte, seine trägen Synapsen in Bewegung zu bringen. Gestern Abend hatten die Mitglieder seiner WG ihren monatlichen Karaoke-Abend zelebriert. Theo mochte seine Mitbewohner, er mochte sie sogar sehr. Aber Singen, im Sinne der korrekten Wiedergabe einer vorgegebenen Melodie, zählte nicht zu ihren Begabungen. Im Snoezelenraum war man vor den akustischen Konsequenzen dieses Events einigermaßen sicher. Deshalb hatte er sich aufs Wasserbett legen lassen. Wie spät es wohl war? Er linste in Richtung Uhr. Es war drei Uhr – mitten in der Nacht. Die haben mich hier vergessen.

Ungünstigerweise hatte das Blubbern des Wasserbetts eine inspirierende Wirkung. Er spürte seine volle Blase.

„Hallo?“, rief er. Seine Kehle fühlte sich trocken an. Wahrscheinlich hatte er geschnarcht wie ein komatöser Seeelefant. „Hallo!“

Waren da Schritte im Flur zu hören? Er war sich nicht sicher.

Angestrengt lauschte er – nichts. Er musste sich getäuscht haben.

Auch auf die Gefahr hin, seine Mitbewohner zu wecken, holte er tief Luft und rief: „Ich bin hier im Snoezelenraum!“

Er hörte eine Tür knarren.

Na endlich, fuhr es ihm durch den Sinn. Dann geschah zwei Minuten lang nichts.

Theo seufzte. Dann brüllte er: „Sorry, aber meine Blase platzt gleich!“

Stille. Theo tastete nach dem Notruf und fand ihn schließlich unter dem Plüschkissen. Im Grunde war es kein richtiger Notruf, eher ein Funkgong, wie er in einer Gartenlaube Verwendung findet. Aber er erfüllte seinen Zweck genauso gut und war erheblich preiswerter. Theo drückte den Knopf.

Stille.

Mist! Vielleicht war die Batterie leer? Er drückte noch mal.

Eine gefühlte Ewigkeit später hörte er erneut eine Tür knarren. Diesmal waren die Schritte im Flur deutlich zu vernehmen. „Was ist los?“, fragte eine Stimme mit osteuropäischem Akzent, sie wirkte nervös.

„Ich bin hier im Snoezelenraum!“

„Wo?“

„Gleich neben dem Büro!“

Das Licht wurde eingeschaltet. Theo kniff die Augen zusammen. In der Tür stand ein junger Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Doch das war nicht das Merkwürdigste. Der Unbekannte schien einen Schatten zu haben, der sich bewegte, obwohl der Mann selbst still dastand. Theo kniff die Augen zusammen. Als er sie erneut öffnete, blieb der Typ ein Fremder, aber zumindest war sein Schatten verschwunden.

„Wer … bist du?“, fragte ihn der Mann und kam näher. Theo konnte sein junges, blasses Gesicht erkennen, aus dem ihn große Augen anstarrten. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und ein Headset lag um seinen Hals wie ein spätmittelalterlicher Sklavenring.

„Ich bin Theo.“

Der junge Mann schien noch blasser zu werden. „Du … bist Theo?“ Er blickte sich nervös um, als erwarte er, jeden Moment mächtig Ärger zu bekommen.

„Ja.“ Theo lächelte nachsichtig. Der Mann war nicht ohne Grund besorgt. Wenn herauskam, dass er einen seiner Schützlinge schlicht vergessen hatte, würde ihm das eine Abmahnung einbringen. Zumal dieses Vergessen in Theos Fall nicht ganz ungefährlich war. „Ich nehme an, du bist die Nachtwache?“, fragte Theo freundlich.

Der junge Mann starrte ihn an. Irgendwo klapperte eine Tür. Er zuckte zusammen und stammelte: „Mein … mein Name ist Marek. Ich komme von der Leasingfirma. Meine Kollegin ist krank, und ich bin spontan eingesprungen.“

„Herzlich willkommen, Marek. Es tut mir leid, aber ich muss mal pinkeln. Dringend!“

„Okay …“ Der Mann schien durch Theo hindurchzublicken.

„Wäre schön, wenn du mir die Ente reichen könntest. Die ist im Pflegebad, zwei Türen weiter.“

„Ach so. Warte hier.“

Theo nickte und lächelte müde. Ihm blieb nichts anderes übrig, als hier zu warten. Der Grund dafür nannte sich kongenitale Muskeldystrophie. Eine Mutation in Theos Genen verursachte eine mangelhafte Produktion von Proteinen, was eine gravierende und stetig zunehmende Muskelschwäche zur Folge hatte. Erst mit dreieinhalb Jahren hatte Theo mühsam das Laufen erlernt. Ab dem fünften Lebensjahr benötigte er Krücken, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Zwei Jahre später konnte er sich nur noch mithilfe eines Rollators fortbewegen. Seit dem achten Lebensjahr saß er im Rollstuhl. Und seit seinem zwanzigsten Geburtstag vor drei Monaten benötigte er einen Elektrorollstuhl, weil das Antreiben der Räder für ihn zu schwer geworden war.

Theo war bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens auf Hilfe angewiesen. Nachts litt er unter Schlafapnoe. Bedingt durch seine Erkrankung erschlaffte die obere Ringmuskulatur seiner Atemwege so stark, dass sie die Luftröhre verschloss. Es kam kein Sauerstoff mehr in seine Lunge, und der CO2-Partialdruck im Blut stieg deutlich an. Theo drohte in Ohnmacht zu fallen, was dazu führte, dass sein Körper unbewusst eine Weckreaktion auslöste. Er schreckte auf, schnappte nach Luft, schlief wieder ein und der ganze Spaß begann von vorn. Am nächsten Morgen wachte er dann völlig erschöpft auf und fühlte sich müder als am Abend zuvor. Nacht für Nacht bestand die Gefahr, dass sein eigener Körper ihn erstickte. Deshalb musste er eine Atemmaske tragen. Sie erhöhte den Luftdruck und verhinderte, dass sich seine Atemwege schlossen. Das war nur bedingt bequem und sah auch nicht besonders elegant aus. Aber es rettete ihm das Leben.

Marek kam wieder herein. Er hatte ungewöhnlich lange gebraucht, war nun aber etwas weniger blass. Theo erleichterte sich in die Urinflasche, die wegen ihrer Form umgangssprachlich Ente genannt wird. Er war es gewohnt, dass weitgehend fremde Personen ihn bei seinen intimsten Verrichtungen unterstützen mussten.

„Ich will auf keinen Fall vorwurfsvoll rüberkommen, aber ist dir nicht aufgefallen, dass mein Zimmer leer ist?“, erkundigte sich Theo.

Marek zuckte mit den Achseln und murmelte: „Ich –“ Er verstummte.

„Ja?“

„Ich … wollte dich nicht stören.“

Theo riss die Augen auf. War das sein Ernst? Schließlich räusperte er sich und erwiderte: „Das ist im Grunde genommen sehr nett von dir. Allerdings brauche ich nachts eine Atemmaske. Ich leide unter Schlafapnoe.“

„Ich dachte, der andere …“, Marek wedelte mit der Hand Richtung Flur, „… braucht so’n Ding.“

„Ja, Mike auch, allerdings erst seit Kurzem. Wir haben beide eine ähnliche Erkrankung.“

Der Mann nickte geistesabwesend und wollte sich abwenden.

„Warte.“ Theo hasste es, anderen zur Last zu fallen. Aber er hatte keine andere Wahl. „Es wäre nett, wenn du mich noch in mein Zimmer bringen könntest. Vielleicht kann ich dann noch ein bisschen schlafen.“ Er verkniff es sich zu ergänzen: Außerdem beruhigt es mich irgendwie, wenn ich weiß, dass ich nicht im Schlaf ersticken werde. Stattdessen fügte er hinzu: „Wir haben einen mobilen Lifter im Pflegebad, damit geht das ganz gut.“

„Okay.“ Marek nickte und schien schon wieder mit den Gedanken woanders zu sein. „Warte hier.“

„Ich verspreche, dass ich nicht weglaufen werde.“

Marek schien nicht allzu viel Erfahrung mit dieser Art von Liftersystem zu haben. Theo erklärte ihm geduldig jeden einzelnen Handgriff. Er hatte sich daran gewöhnt, seine Helfer einweisen zu müssen. In letzter Zeit wurden immer mehr Leasingkräfte eingesetzt, die nur für ein paar Wochen, manchmal sogar nur tageweise im Einsatz waren und dann wieder verschwanden.

Es dauerte weit über eine halbe Stunde, bis Theo endlich in seinem eigenen Bett lag und seine Atemmaske trug. Nicht ganz unschuldig daran war der Umstand, dass Marek wirkte, als wäre er nur mit halbem Gehirn bei der Sache.

Mit einem gemurmelten „Nacht“ verließ der junge Mann schließlich das Zimmer, und Theo blieb allein zurück.

Das vertraute Schnaufen des Atemgeräts hatte etwas Beruhigendes an sich.

Theo schloss die Augen. Alles wieder im Lot, dachte er zufrieden.

Er musste schließlich eingeschlafen sein. Denn als die Tür gegen die Wand knallte und eine Hand ihn grob an der Schulter rüttelte, drang bereits die Morgensonne durch die dünnen Vorhänge.

„Theo! Theo, wach auf!“ Ein verschwommenes rundliches Gesicht schob sich in sein Blickfeld. „Theo! Es is wat janz Schlimmet passiert. Der Miky is tot.“

Am Morgen

„Was hast du gesagt?“, stammelte Theo.

„Der Miky is tot“, schluchzte Lene. Er konnte ihren schnaufenden Atem hören, als sie näher kam. Bei einer Körpergröße von 1,57 Meter und einem Gewicht von 120 Kilo geschah es nicht selten, dass sie nach Luft rang. Doch dieses Mal lag es daran, dass sie weinte.

Lene stand neben seinem Bett und griff nach seiner Hand. Er konnte ihr gutmütiges Gesicht dicht neben sich sehen. Helene Schmidt war die älteste Mitbewohnerin der WG. Vermutlich war das der Grund, warum sie mit Vorliebe die mütterliche Rolle übernahm.

„Miky liegt in sein Bett und atmet nich mehr. Die Martha hat ihn heute früh jefunden. Sie hat gleich jesehn, dassa tot is, und hat jarnich mehr versucht, ihn zu remarmorieren.“

„Reanimieren“, verbesserte Theo instinktiv. Im nächsten Moment schämte er sich für seine Besserwisserei. Helene war ein herzensguter Mensch. Dass Fremdwörter nicht zu ihrem Spezialgebiet gehörten, war ganz gewiss nicht ihr Fehler.

Aber sie war ohnehin zu verstört, um auf seine Reaktion zu achten. „Ick glaub, dit war ’n Anfall.“

„Ein Anfall?“ Theo schüttelte den Kopf. Mike war kein Epileptiker. Er litt unter Amyotropher Lateralsklerose, kurz ALS, der gleichen Nervenerkrankung, an der auch der berühmte Physiker Stephen Hawking gestorben war. Manchmal bekam Mike schwere Muskelkrämpfe. Sie mochten einem epileptischen Anfall ähneln, waren aber mit Sicherheit nicht tödlich. Noch während Theo das dachte, ärgerte er sich über sich selbst. Was spielte es für eine Rolle, woran Mike gestorben war? Er war tot, und das war schrecklich.

„Martha glaubt, dass der Miky schon vor ein paar Stunden jestorben is, weil der schon so doll starrt“, bemerkte Helene kummervoll.

„Er starrt?“

„Ja, am janzen Körper“, bestätigte sie.

„Du meinst: Die Totenstarre hat eingesetzt.“

„Jenau.“ Helene nickte. „Der arme Mike.“

„Ja.“ Eine Zeit lang lag Theo schweigend da und starrte an die Decke. Er fühlte sich leer und schrecklich hilflos. Schließlich sagte er leise: „Danke, Lene, dass du zu mir gekommen bist.“

„Is doch klar.“ Sie tätschelte seine Wange. „Is ja nich fair, wenn du nischt weißt, nur weil du nich loofen kannst.“ Sie nickte, wie um sich selbst zu bestätigen. „Ick jeh mal den andern Bescheid sagen. Die wissen dit ja noch nich.“

Sie wandte sich ab und schlurfte schnaufend aus dem Zimmer.

Theo sah ihr nach. Ihre kleine runde Gestalt verschwamm zu einem blassen Fleck, und das lag nicht nur an Theos Kurzsichtigkeit. Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen.

Mike war tot. Wie war das möglich? Gestern hatten sie noch zusammen gelacht. Es war ihm gut gegangen. Die ganze Wohngemeinschaft hatte zusammen auf der Terrasse gesessen und gegrillt. Mike hatte es sogar geschafft, seine Bratwurst ohne Hilfe zu essen. Zumindest nachdem Paul sie ihm geschnitten und auf den Therapietisch gestellt hatte, der an Mikes Rollstuhl befestigt war und über die Armstützen geklappt werden konnte.

Während Theo mühsam seinen gegrillten Maiskolben abgeknabbert hatte, waren Lene in derselben Zeit dreizehn Bratwürste, fünf marinierte Schweinerückensteaks und unzählige Portionen Kartoffelsalat zum Opfer gefallen. Für den Rest der Gruppe war nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Sie hatte es nicht böse gemeint – das tat sie nie. Im Grunde war Lene einer der liebenswertesten Menschen, die Theo kannte, aber wenn man sich zwischen sie und eine Bratwurst stellte, wurde es gefährlich.

Mike hatte es mit Humor genommen und Theo von seinen Plänen berichtet, sein Chemiestudium wieder aufzunehmen. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass es ihm schlechter gegangen war – und nun war er tot … einfach so.

„Theo?“, die Stimme von Martha, der korpulenten Pflegekraft, riss ihn aus seinen Gedanken.

„Ja?“

„Ich weiß nicht, was mit Keno los ist. Er reagiert überhaupt nicht auf mich, und in einer halben Stunde kommt doch schon der Fahrdienst. Kannst du mal mit ihm reden?“

„Natürlich.“

Nach einer hastigen Katzenwäsche kleidete Martha ihn an und setzte ihn mithilfe des Lifters in seinen Rollstuhl.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. „Ach du meine Güte, in zehn Minuten kommt der Bus, und Keno hat mit seinen Morgenritualen noch nicht mal angefangen. Du weißt, dass er es hasst, wenn wir davon abweichen.“

Theo nickte. Er durchquerte den Flur und fuhr auf Kenos geschlossene Zimmertür zu. Fast alle Betreuer waren der Ansicht, dass Theo einen besonders guten Draht zu ihm hatte. Nicht selten wurde er deshalb vorgeschickt, wenn Keno „Probleme machte“, wie sie es nannten. Theo gefiel das nicht besonders. Er war äußerst ungern die Geheimwaffe, die gezückt wurde, wenn das Betreuungspersonal nicht weiterkam. Und im Grunde tat er auch gar nichts Besonderes, er versuchte einfach nur, Kenos Verhalten zu verstehen, ihm zuzuhören.

Keno war in Thailand geboren, lebte aber seit fast zwanzig Jahren in Deutschland. Die ersten sechs Lebensjahre hatte er bei seiner Großmutter verbracht, zwei davon in einem winzigen Bambusverschlag – weggesperrt wie ein wildes Tier, weil seine Großmutter mit ihm überfordert gewesen war. Dann hatte Kenos Mutter ihren Sohn zu sich nach Berlin geholt. Erst hier war die Diagnose Autismus gestellt worden. Lange hatte die Wiedervereinigung von Mutter und Sohn allerdings nicht gedauert. Sein deutscher Stiefvater hatte das Zusammenleben mit Keno nicht mehr ausgehalten und darauf gedrungen, dass er in einer Wohneinrichtung untergebracht wurde. Seitdem war er hier.

Theo klopfte vorsichtig an. Niemand reagierte. „Keno, ich komme rein, okay?“ Behutsam öffnete er die Tür.

Die Wände waren weiß gestrichen und vollkommen kahl. Ein Schrank, ein Bett und ein Schreibtisch, das war alles, was Keno akzeptierte. Langsam fuhr Theo in den Raum hinein. Die Reifen seines Rollstuhls quietschten auf dem Linoleumboden. Auf dem Bett lag ein zerrissenes T-Shirt. Keno stand zwischen Bett und Schrank, das Gesicht zur Wand gerichtet. Er hatte beide Hände an die Ohren gepresst und wippte mit dem Oberkörper vor und zurück. Dabei bewegten sich seine Lippen, ohne dass ein Laut zu hören war.

„Keno, nicht erschrecken. Ich bin’s, Theo. Sag mir Bescheid, falls ich wieder verschwinden soll.“

Keno reagierte nicht. Zumindest konnte Theo keine Reaktion erkennen. „Ich komme ein bisschen näher.“ Er fuhr bis auf etwa einen Meter an Keno heran und wartete ab. Als er das Gefühl hatte, dass sein Mitbewohner ihn registrierte, fragte er: „Hat Lene dir erzählt, was passiert ist?“

Schweigen.

„Mike ist letzte Nacht gestorben.“

Keno gab ein leises Stöhnen von sich. Doch er hörte weder mit dem Schaukeln auf noch nahm er die Hände von den Ohren. Dennoch war Theo sich sicher, dass sein Mitbewohner ihn verstanden hatte. Es gab Leute, die behaupteten, Keno würde sich nur um sich selbst drehen und er habe gar nicht die Fähigkeit, Gefühle für andere Menschen zu entwickeln. Nach Theos Erfahrung war das ausgemachter Blödsinn.

„Es tut mir so leid“, sagte er. „Mike ist … war mein Freund, und ich kann mir vorstellen –“

Keno fuhr herum. Erschrocken hielt Theo inne. Das Gesicht des jungen Mannes war aschfahl, und seine Augen waren weit aufgerissen. Seine Lippen bewegten sich immer schneller. Diesmal konnte Theo etwas verstehen. Leise flüsternd sagte Keno immerzu die gleichen Worte. „Der Taucher, der Taucher, der Taucher, der Taucher …“

„Der Taucher?“ Theo schüttelte nachdenklich den Kopf. „Das verstehe ich nicht. Was meinst du damit?“

„Der Taucher, der Taucher, der Taucher, der Taucher …!“ Immer hektischer wurden Kenos Worte. Schweiß perlte von seiner Stirn.

„Was für ein Taucher?“

„Der Taucher, der Taucher, der Taucher …“, wiederholte Keno immer lauter und dringlicher. „DER TAUCHER, DER TAUCHER!“

Die Tür wurde aufgestoßen. Martha warf Theo einen vorwurfsvollen Blick zu. „Der Fahrdienst ist da.“

Theo schaute in Kenos verzweifeltes Gesicht und dann hinüber zur Tür, in der nun auch der graubärtige Fahrer stand.

„Na ja“, Theo räusperte sich, „ich glaube nicht, dass Keno heute arbeiten kann.“

Martha nickte knapp und wandte sich dann an den Fahrer. „Tut mir leid. Keno bleibt heute zu Hause.“

„Och nee“, murrte der Fahrer. „Immer das Gleiche! Könnt ihr nicht vorher Bescheid sagen? Jetzt hab ich die Tour wieder umsonst gemacht. Ne Leerfahrt krieg ich nicht bezahlt!“

„Tut mir leid.“ Martha geleitete den Fahrer zur Tür. „Wir hatten hier einen Todesfall.“

„Beileid“, brummte der Mann. „Aber nächstes Mal vorher Bescheid sagen, ja? Nicht vergessen!“

„Auf Wiedersehen.“

Die Tür fiel ins Schloss.

Keno hatte sich wieder in seine Ecke zurückgezogen. Noch immer konnte Theo ihn flüstern hören. „Der Taucher, der Taucher, der Taucher …“

Theos Blick fiel auf das zerrissene T-Shirt. Es war schwarz und trug die Aufschrift Navy Seals. Eigentlich war es eines von Kenos Lieblingsshirts.

Ratlos und traurig verließ Theo den Raum.

Vandalismus und ein Todesfall

„Das Haus da drüben ist es.“ Lina deutete auf einen Altbau.

„Bist du sicher?“, fragte Ben. „Ich kann keine Hausnummer erkennen.“

Lina seufzte. „Ganz sicher. Mein Bruder wohnt in dieser Straße.“

„Echt, in der noblen Gegend?“

„Ja, echt.“

„Na dann …“ Ben lenkte den Wagen schwungvoll ins Halteverbot und schaltete den Motor aus.

Lina hob die Brauen.

„Hey, wir dürfen das. Irgendeine Entschädigung muss es ja dafür geben, dass wir diese spießigen Uniformen tragen.“ Er nahm die Mütze vom Armaturenbrett, drückte sie auf seine Locken und zwinkerte ihr verwegen zu. Sie arbeiteten seit knapp zwei Monaten zusammen, und Ben hatte es immer noch nicht aufgegeben, sie beeindrucken zu wollen.

Lina verdrehte die Augen und ergriff das Protokoll.

„Was ist los? Bist du heute früh aus dem Bett gefallen? Gab’s Schweinskopfsülze zum Frühstück? Bewirbst du dich für die Wahl zur grimmigsten Oberwachtmeisterin der Hauptstadt?“

Lina blickte in sein jungenhaft grinsendes Gesicht und hob die Brauen.

„Nun komm schon, Lina, sei nicht so grummelig. Freundlich zu gucken, ist gar nicht so schwer. Man muss nur ein paar Muskeln bewegen. Guck mal, so!“ Er grinste sie so übertrieben enthusiastisch an, dass Lina ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken konnte.

„Yes!“ Ben ballte triumphierend die Faust. „Sie hat mich angelächelt. Meine Woche ist gerettet!“

Lina schüttelte den Kopf. „Können wir jetzt bitte unseren Job machen, Herr Kollege?“ Sie konnte nicht leugnen, dass Ben ein attraktiver Mann war. Er hatte einen durchtrainierten Körper und ein spitzbübisches Lächeln. Lina war sich sicher, dass er sich seines guten Aussehens durchaus bewusst war.

Sie stieg aus und las den knappen Protokolleintrag. Dies war einer jener typischen Fälle, die mit hoher Wahrscheinlichkeit niemals aufgeklärt werden würden. Ein Dachboden war verwüstet worden.

Ben war ebenfalls ausgestiegen und linste über ihre Schulter. „Also, ich tippe auf eine etwas aus dem Ruder gelaufene Party.“

„Ist am wahrscheinlichsten“, bestätigte Lina.

In der Gegensprechanlage rauschte und knackte es, als sich nach mehrmaligem Klingeln schließlich eine heisere Stimme meldete. „Ja?“

„Guten Tag, hier sind Polizeimeister Schmidt und Polizeiobermeisterin Marquardt. Sie haben Anzeige wegen Vandalismus erstattet?“

„Warten Se, ick komme gleich!“

Der Hausmeister war ein hagerer, kahlköpfiger Mann Mitte sechzig. Er lächelte freundlich und kam ihnen mit dem Habitus eines Hürdensprinters und dem Tempo einer herzkranken Weinbergschnecke entgegen. Eine qualmende Pfeife klemmte zwischen seinen Zähnen.

„Mac Barren Vanilla Flake“, entfuhr es Lina, als der Mann bei ihnen angekommen war.

Ben warf ihr einen verblüfften Blick zu.

„Treffer“, erwiderte der Hausmeister mit schiefem Grinsen. „Roochen Se ooch Pfeife?“

„Nein.“ Die Erinnerung war vage und schmerzhaft zugleich. Er steht am Fenster. Wie ein Riese ragt er vor ihr auf. Rauch umwabert ihn wie Morgennebel. Sie zieht an seinem Hosenbein. Er senkt den Blick, und ein sanftes Lächeln legt sich auf sein bärtiges Gesicht.

Eine Hand auf ihrer Schulter holte Lina zurück in die Gegenwart. „Hey, alles in Ordnung?“, fragte Ben.

Lina nickte.

„Du siehst ein bisschen blass aus.“

„Alles okay!“ Barsch schüttelte Lina die Hand ihres Kollegen ab und wandte sich an den Hausmeister. „Haben Sie die Anzeige erstattet?“

„So isset.“ Der Mann nickte bedächtig. „Komm Se, am besten, ick zeig Ihnen mal dit Malheur.“ Bedächtig machte er kehrt und schlurfte zurück ins Treppenhaus. „Wir müssen janz ruff uff’n Dachboden. Leider jibt’s keen Fahrstuhl. Aber loofen hält ja fit.“

Lina hatte Zweifel bezüglich der Fitness des Mannes, denn ab dem dritten Stock blieb der Hausmeister auf jedem Absatz stehen und rang asthmatisch pfeifend nach Luft. Ben verdrehte heimlich die Augen.

Endlich erreichten sie den Dachboden.

„Da, sehn Se sich dit mal an!“

Die Tür war aufgebrochen und hing schief in den Angeln. Stickige Luft schlug Lina entgegen, als der Hausmeister sie aufzog.

Jemand hatte – vermutlich mit dem Schemel, der noch auf dem Boden lag – das Dachfenster eingeschlagen. Der Boden war übersät mit Glassplittern. Stirnrunzelnd sah Lina sich um. Nirgendwo waren Graffiti zu sehen, es lagen auch keine leeren Flaschen herum. „Nach Party sieht das nicht aus.“

„Ick hab ja ooch nich Anzeige wegen ’ner Party erstattet, sondern weil hier randaliert wurde“, bemerkte der Hausmeister.

„Das ist schon klar“, bemerkte Ben. „Wir fragen uns nur, welches Motiv dahinterstecken könnte.“

„Blödheit vielleicht?“, mutmaßte der Alte und nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife. „Zum Zerstören is nich allzu viel Jehirn notwendig.“

Ben stellte den Schemel auf und kletterte vorsichtig hinaus aufs Dach.

„Nich übermütig werden, Herr Wachtmeister. Ick würd Se unjern im Hof wieder zusammenkehrn“, bemerkte der Hausmeister.

„Kannst du irgendetwas erkennen?“

„Nicht wirklich.“

Linas Funkgerät gab ein Knacken von sich. „Ja, was gibt’s?“

„Seid ihr noch in der Mohrenstraße?“

„Ja.“

„Wenn ihr gerade nicht wisst, was ihr sonst machen sollt, schaut doch mal in der Vierzehn vorbei. Da hat’s einen Toten gegeben.“

Lina spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. „Wisst … ihr Genaueres?“

„Nicht viel, wahrscheinlich handelt es sich um eine natürliche Todesursache. In einer Behinderten-WG ist in der Nacht ein Rollstuhlfahrer gestorben.“

Lina glaubte, das Wummern ihres Herzschlags zu hören. „Wie heißt er?“

„Was …?“

„Haben wir einen Namen?“

Ben lugte durch das Dachfenster herein. „Lina, alles in Ordnung?“

Sie winkte ab.

„Äh, nein, wir haben keinen Namen. Die Betreuerin war ein bisschen durcheinander und hat uns angerufen, obwohl noch gar kein Arzt da war. Es sieht allerdings nach einer natürlichen Todesursache aus. Ich habe sie gebeten, einen Arzt zu rufen. Bevor die Leichenschau stattgefunden hat, müsst ihr eigentlich noch gar nicht –“

„Bin unterwegs.“ Lina schaltete das Funkgerät aus.

Ben und der Hausmeister sahen sie mit großen Augen an. Am liebsten hätte Lina den beiden ein Was glotzt ihr so? an den Kopf geworfen. Stattdessen sagte sie, um einen neutralen Tonfall bemüht: „Ben, du machst hier weiter. Ich kümmere mich schon mal um den nächsten Fall.“ Sie nickte dem Hausmeister zu. „Auf Wiedersehen.“ Ehe einer der beiden reagieren konnte, war sie bereits durch die Tür geschlüpft und eilte die Treppe hinunter.

„Lina?“ Ben folgte ihr. „Lina, nun warte doch.“ Auf halber Strecke holte er sie ein.

„Hatte ich dich nicht gebeten hierzubleiben?“

„Nicht ganz“, erwiderte Ben. „Du hast mir einen Befehl an den Kopf geknallt und bist abgezischt.“

„Ist doch Wurst. Du kannst unseren Zeugen nicht einfach so stehen lassen.“

„Hab ich nicht, ich habe mich freundlich verabschiedet. Also, was ist so dringend, dass du plötzlich davonstürmst?“

„Im Nachbarhaus gab es einen Todesfall.“ Lina sprang die letzten Treppenstufen hinunter und stieß die Haustür auf.

„Echt?“ Ben hetzte ihr hinterher. „Warum hast du das nicht gleich gesagt? Besteht Mordverdacht?“

„Nein!“ Lina presste die Lippen zusammen und eilte hinüber zum Nachbarhaus. Ihre Finger zitterten, als sie die Klingel der Wohngemeinschaft Lebenslust e. V. drückte.

„Irgendwie unpassend, der Name, oder?“, schnaufte Ben.

Lina antwortete nicht. Als der Türsummer erklang, stieß sie hektisch die Tür auf. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte sie die Treppe hinauf.

Ben folgte ihr.

Die WG befand sich im ersten Stock, eine mollige Frau mittleren Alters öffnete ihnen die Tür. Es war Martha Nowak, eine der Betreuerinnen. Sie hielt sich ein Telefon ans Ohr und wirkte sehr aufgeregt. „Jetzt warten Sie doch einen Moment!“, sagte sie. „Ich muss kurz die Polizei … Aber wieso denn nicht …? Sie stehen doch schon vor der Tür …“

„Entschuldigung.“ Lina zwängte sich an der Frau vorbei in den lang gestreckten Flur. Am Ende des Ganges kam ein junger Mann in einem E-Rollstuhl um die Ecke gefahren. „Theo!“ Sie rannte zu ihm und schloss ihn in die Arme. „Gott sei Dank!“, entfuhr es ihr.

„Lina“, nuschelte der junge Mann in den Stoff ihrer Uniformjacke. „Findest du nicht, dass du ein bisschen übertreibst?“

Geschwister

Lina trat einen Schritt zurück und betrachtete das Gesicht ihres Bruders. Theo lachte gern und viel, doch heute lag ein kummervoller Zug um seine Augen. Er ist noch so jung, ging es ihr durch den Kopf. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“

„Du machst dir immer Sorgen“, erwiderte Theo.

„Dieses Mal hatte ich ja auch allen Grund dazu“, verteidigte sich Lina.

Theo senkte den Blick. „Mike ist tot.“

Lina nickte. In dem Moment, in dem sie Theo gesehen hatte, war ihr das klar gewesen. Mike war der einzige weitere Rollstuhlfahrer in dieser WG gewesen, ein kluger junger Mann mit einem ernsten Lächeln.

Sie hörte, wie im Hintergrund die Betreuerin ihr Telefonat beendete. „Es ist alles so furchtbar!“, stieß sie dann hervor.

„Jetzt beruhigen Sie sich erst mal“, hörte sie Bens Stimme. „Was genau ist denn passiert?“

Lina blendete das Gespräch aus. Behutsam legte sie eine Hand auf die schmale Schulter ihres Bruders. Durch sein Shirt konnte sie sein Schlüsselbein spüren, dünn und zerbrechlich wie ein Vogelknochen. „Es tut mir so leid.“

Theos Versuch zu lächeln scheiterte. „Wir haben gestern noch zusammen gelacht. Es ging ihm gut. Er …“, Theo schluckte, „… er hätte noch mehr Zeit haben müssen.“

Das vertraute Gefühl der Bitterkeit stieg in Lina auf. Siehst du?, wollte sie ihrem Bruder ins Gesicht schreien. Es ergibt keinen Sinn! Das Leben hält sich nicht an Regeln. Es gibt niemanden, der die Zügel in der Hand hält. Das namenlose Schicksal herrscht über alles, mächtig, aber hirnlos. Es schlägt blind um sich, wie ein trotziges Kind, und wer getroffen wird, der stirbt, ob er nun Gutes oder Böses getan hat, ob er hehre Ziele hatte oder nicht. Hör auf, dich selbst zu täuschen. Schmeiß deinen Kinderglauben über Bord und stell dich der Realität!

All diese Worte hatten sich in ihr angestaut und wollten heraus, doch ein Blick in Theos Augen hielt sie zurück. Du darfst ihm nicht seinen letzten Halt nehmen, sagte sie sich stumm.

Doch wenn sie ganz ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass dies nicht der wahre Grund für ihr Schweigen war. Sie hatte schon so manches Mal mit Theo darüber gesprochen, und es war ihr nicht gelungen, seine Gedanken einfach beiseitezuschieben. Wir lassen uns in unseren Zweifeln oft von dem wenig reflektierten Gefühl leiten, dass es das Böse nicht geben darf, wenn Gott wirklich existiert, hatte er gesagt. Mit der gleichen Logik könnten wir allerdings auch behaupten, dass Mathematik ein Lügenkonstrukt ist, weil es so etwas wie Rechenfehler gibt, oder dass Liebeskummer ein untrüglicher Beweis dafür ist, dass es echte Liebe nicht geben kann. Unser Problem ist, dass wir nur einen winzigen Bruchteil der Wirklichkeit sehen können, und diesen auch noch gefärbt durch die Brille unserer subjektiven Wahrnehmung und unseres momentanen emotionalen Zustands – ein ziemlich wackliges Fundament, um Gottes Existenz infrage zu stellen. Sie presste die Lippen zusammen und schwieg.

„Ich verstehe das nicht“, fuhr Theo leise fort.

„Niemand kann das verstehen“, sagte sie. „Das Leben ist einfach ungerecht.“

Er schüttelte den Kopf. „So meine ich das nicht.“ Mit ungewohntem Ernst im Blick sah er zu ihr auf. „ALS ist eine tödliche Krankheit, aber sie tötet nicht … so. Irgendetwas stimmt da nicht.“

Lina hob die Brauen. „Was willst du damit sagen?“

Er zuckte kaum sichtbar die Achseln. „Wenn ich das wüsste. Irgendetwas muss komisch gewesen sein in dieser Nacht. Keno war völlig aufgelöst.“

„Nun ja, Keno ist Autist.“ Sie lächelte. „Soweit ich mich erinnere, ist er fast täglich völlig aufgelöst. Das letzte Mal zum Beispiel, weil jemand aus seinem Müslischälchen gegessen hatte. Und davor lag es daran, dass er seine Uhr nicht finden konnte.“

„Lina, ich weiß, dass ihm kleine Veränderungen eine panische Angst einjagen können, wenn es ihm gerade nicht gut geht, aber diesmal ist es … etwas anderes.“

„Okay … Und was genau?“

„Der Taucher“, murmelte Theo.

„Wie bitte? Der Taucher?“

„Ja.“

„Und wer soll das sein?“

„Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, seufzte er. „Aber bitte versprich mir, dass du Mikes Tod nicht einfach auf sich beruhen lässt. Ihr müsst da genauer hinschauen.“

Lina sah ihrem Bruder in die Augen. Sie konnte seine Trauer und Wut darin sehen. Es war ihm äußerst ernst. Langsam nickte sie. „Okay. Ist dir sonst noch etwas aufgefallen?“

„Eine neue Nachtwache, ein Typ namens Marek. Er war ziemlich durcheinander und ein bisschen nachlässig.“

„Nachlässig?“

„Er … hat mich im Snoezelenraum vergessen.“

„Und was hat das mit Mikes Tod zu tun?“

„Nichts, aber … mit dem Typen stimmte etwas nicht.“

„Gut.“ Lina nickte. „Ich werde auch mit ihm sprechen.“

„Danke. Ich muss jetzt in mein Zimmer … Hab ’ne Vorlesung.“

„Klar. Das lenkt dich vielleicht ein bisschen ab.“

Lina sah Theo hinterher. Ihr kleiner Bruder studierte im Fernstudium Psychologie, aber die Wahrscheinlichkeit, dass er jemals in diesem Beruf arbeiten würde, war nicht besonders hoch.

Es klingelte an der Tür.

Als sie sich umwandte, ließ Martha gerade einen hochgewachsenen, schlanken Mann herein. Er trug einen schwarzen Koffer in der Hand. „Dr. Behrends, guten Tag“, stellte er sich knapp vor. „Was macht denn die Polizei hier?“

„Ich … na ja, ich war so geschockt, und da dachte ich …“, stammelte die Betreuerin.

„Wahrscheinlich haben Sie die Herrschaften umsonst bemüht.“ Der Arzt wandte sich Lina und Ben zu. „Mike Lörke war mein Patient, er hatte eine chronisch degenerative Muskelerkrankung. In letzter Zeit ging es ihm zunehmend schlechter.“ Er kniff die Lippen zusammen und nickte ernst. „Natürlich muss ich erst eine Leichenschau abhalten, aber ich bin mir sicher, dass hier eine natürliche Todesursache vorliegt. Sie können sich also wieder der Verbrecherjagd widmen.“ Er lächelte.

„Danke, aber wir entscheiden selbst, was wir zu tun haben“, erwiderte Lina barsch. „Es stört Sie doch nicht, wenn wir die Ergebnisse Ihrer Untersuchung abwarten?“

Der Arzt zuckte die Achseln. „Wenn Sie sonst nichts zu tun haben.“ Er wandte sich ab, ging den Flur hinab zu Mikes Zimmer, trat ein und schloss die Tür hinter sich.

„Was für ein arroganter Mistkerl!“, brummte Ben.

„Er hat die Sozialkompetenz eines Blutegels, aber er ist ein äußerst erfolgreicher Arzt, der jede Menge wichtiger Leute kennt“, bemerkte Martha. Sie lächelte Lina müde zu. „Tut mir leid, dass ich dich nicht gleich erkannt habe. In der Uniform siehst du ganz anders aus.“

Lina winkte ab. „Kein Problem.“

„Setzt euch.“ Martha führte die beiden zu einer Sitzecke. „Ich würde euch ja einen Kaffee anbieten, aber ich muss mich jetzt um Keno kümmern.“

„Natürlich. Mach dir keine Umstände.“

Martha wandte sich ab und eilte in eines der WG-Zimmer.

Ben nickte Richtung Flur. „War das vorhin … dein Bruder?“

„Ja.“

„Hm … Tut mir leid“, brummte er.

„Kleiner Bruder halt.“ Sie zuckte die Achseln. „Manchmal ein bisschen nervig. Hast du auch Geschwister?“

„Zwei jüngere Schwestern.“

„Dann weißt du ja, wie das ist“, sagte Lina.

„Na ja.“ Er runzelte die Stirn. „Das ist wohl nicht ganz das Gleiche.“

„Weil Jungs schlimmer sind? Da habe ich Zweifel!“

„Eigentlich wollte ich damit sagen –“

„Ich weiß, was du damit sagen wolltest“, unterbrach Lina ihn. „Nimm’s mir nicht übel, aber du hast keine Ahnung. Weißt du, was richtig hart war? So richtig hart?“

„Äh, nein …“

„Als er mir einmal heimlich eine Nacktschnecke ins Bett gelegt hat und ich das erst am nächsten Morgen bemerkte. Dieser Schleim überall, das war so widerlich!“ Sie schüttelte sich.

Ben schüttelte ungläubig den Kopf. „Er hat was getan?“

„Das war die Rache dafür, dass ich seinen Klassenkameraden verprügelt habe.“

„Was?!“

„Ich gebe zu, es war nicht ganz fair, schließlich war ich älter. Aber der Typ war ein Sitzenbleiber und genauso groß wie ich. Er und seine Gang haben Theo richtiggehend gemobbt, sie nannten ihn Spasti, äfften ihn nach und schikanierten ihn heimlich. Da sind meine Beschützerinstinkte ein bisschen mit mir durchgegangen.“

Ben kratzte sich verwirrt am Kinn. „Du hast ihn beschützt, und zum Dank legt er dir eine Nacktschnecke ins Bett?“

„Charmant, nicht wahr?“ Lina schmunzelte. „Er sagte mir, dass sie ihn jetzt umso mehr hassen würden und dass ich ihm jede Chance genommen hätte, das Problem selbst zu lösen.“

„Oh, ganz schön tough, dein Bruder.“

Lina lächelte. Eine solche Erkenntnis hätte sie Ben gar nicht zugetraut. Vielleicht steckte doch mehr in ihm, als es den Anschein hatte. „Was hältst du von der ganzen Sache?“

„Keine Ahnung.“ Er zuckte mit den Achseln. „Ich habe vorhin kurz mit der Betreuerin …“, er warf einen Blick in sein Notizbuch, „… Martha Nowak gesprochen.“

„Und?“

„Sie schätzt das ähnlich ein wie der Arzt. Die Erkrankung des Verstorbenen war fortgeschritten. Besonders in den letzten Monaten hatte es heftige Schübe gegeben. Übrigens war sie es auch, die die Leiche gefunden hat. Die Übergabe mit der Nachtwache sei sehr kurz gewesen, weil Keno – ich zitiere – komplett ausgerastet sei. Etwa gegen 6.40 Uhr, als es an der Zeit gewesen sei, die Bewohner zu wecken, habe sie Mike Lörke leblos in seinem Bett vorgefunden. Sie habe erst die Polizei angerufen und dann die Eltern des Verstorbenen benachrichtigt.“

„Ist ihr sonst noch etwas aufgefallen?“, hakte Lina nach. „Irgendetwas Außergewöhnliches?“

Ben schürzte die Lippen. „Eigentlich nicht. Warum fragst du?“

„Theo glaubt, dass hier irgendetwas nicht stimmt.“

„Und du?“, fragte Ben.

Die Tür von Mikes Zimmer öffnete sich und Dr. Behrends trat in den Flur hinaus. Lina stand auf und fragte: „Nun, was haben Sie herausgefunden?“

„Atemstillstand infolge einer geschwächten Atemmuskulatur“, erwiderte der Arzt. „Eine der häufigsten Todesursachen bei Menschen mit amyotropher Lateralsklerose. Ich werde den Totenschein entsprechend ausstellen. Seien Sie doch so freundlich und geben Sie der Mitarbeiterin Bescheid, ja? Ich habe leider einen dringenden Patiententermin.“ Er rauschte an den beiden vorbei. An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Es tut mir leid, dass Sie Ihre Zeit hier vergeudet haben. Auf Wiedersehen.“

„Tschüss“, erwiderten die Polizisten.

Die Tür schloss sich.

„Tja, das war’s dann wohl“, meinte Ben.

„Sieht ganz danach aus.“ Lina nagte an der Unterlippe.

„Das nimmt dich ganz schön mit, oder?“ Sanft legte er seine Hand auf ihre Schulter.

Es war ihr nicht unangenehm. „Mike … war ein netter Kerl.“

„Brauchst du ’ne Auszeit? Ich kann die Schicht auch allein beenden.“

Lina warf ihm einen irritierten Blick zu.

„Sorry“, murmelte Ben. Der Druck seiner warmen Hand verschwand.

Vergangenheit

Es fühlte sich an, als wäre nicht nur sein ganzer Körper, sondern auch sein Gehirn in Watte gepackt. Er hörte etwas, konnte die Geräusche aber nicht zuordnen. Er blinzelte. Seine Augenlider waren verklebt und juckten. Doch als er darüberreiben wollte, stellte er fest, dass er seine Hände nicht bewegen konnte. Irgendetwas hielt sie fest. Wie durch dichten Nebel hindurch drang ein Schmerz in sein Bewusstsein. Instinktiv wollte er gegen die Umklammerung ankämpfen, doch eine Stimme in seinem Inneren mahnte ihn: Warte! Bleib ruhig.

Die Stimme war alt. Sie stammte aus der Zeit, als er noch einen Namen gehabt hatte. In all den Jahren hatte er sie nur sehr selten und undeutlich vernommen. Irgendetwas musste sie wachgerufen haben. Er erinnerte sich an Schmerz, Todesangst und daran, dass jemand ihm immer und immer wieder die gleiche Frage stellte. „Wo ist es? Wo ist es?“

Der Mann ohne Namen versuchte, sich aufzurichten – vergeblich. Warte, mahnte die Stimme in ihm. Erst beobachten, dann analysieren, dann handeln.

Er kniff die Augenlider zusammen, bis Tränenflüssigkeit die verklebten Stellen löste. Blinzelnd blickte er sich um. Er lag in einem alten Krankenhausbett. Seine Handgelenke waren mit Kabelbindern an die Stahlrohre des Bettgestells gefesselt. In seinem Arm steckte eine Kanüle, die mit einem Infusionsbeutel verbunden war. Ihm war kalt. Unter der alten Wolldecke, die jemand achtlos über ihn geworfen hatte, war er offenbar nackt. Neben dem Bett stand ein mit beigebraunem Kunstleder bezogener Drehstuhl. Etwas abseits sah er einen abgenutzten Schrank aus grau lackiertem Blech und einen Metalltisch, der auch in einem Operationssaal hätte stehen können, wären da nicht die massiven Befestigungsschnallen für Arm- und Fußgelenke.

Der Namenlose schluckte trocken. Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Furcht schnürte ihm die Kehle zu.

Atme ruhig, befahl ihm die Stimme. Denk daran: Beobachten, analysieren, handeln. Er ließ seinen Blick weiterwandern. Die Wände waren grau und trugen ein seltsames Muster. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass sie mit Schaumstoff verkleidet waren. Schallisolierung, ging es ihm durch den Kopf. Im Gesamtkontext war das kein ermutigendes Detail.

Die Tür war mit dem gleichen Material verkleidet und wäre nicht zu erkennen gewesen, hätte sie nicht einen Spalt offen gestanden. Draußen sprach jemand. Hin und wieder waren Schritte zu hören. Da lief jemand auf und ab – nervös, wütend, angespannt. „… warum meldest du dich erst jetzt?!“, vernahm er undeutlich eine Stimme. Erneut Schritte. Die Stimme sprach wieder, war aber zu leise für ihn, um sie verstehen zu können.

Was soll das alles?, ging es ihm durch den Kopf. Warum bin ich hier?

Der Namenlose versuchte, seine letzten Erinnerungen hervorzukramen. Er war im Hinterhof des Restaurants gewesen. Ein Mann war plötzlich aufgetaucht: groß, breitschultrig, schütteres Haar. Er hatte ihn Peter genannt. Und dann? War da nur noch grauer Nebel …

Der Breitschultrige hatte geglaubt, ihn erkannt zu haben. Hatte ihn seine verschüttete Vergangenheit mit diesem Typen eingeholt oder war es eine Verwechslung gewesen?

Peter. Er versuchte, der Wirkung dieses Namens nachzuspüren. Doch er löste keinen Widerhall in ihm aus.

Hör auf damit!, blaffte die Stimme in seinem Inneren. Konzentrier dich auf das Wesentliche! Sein Hirn arbeitete fieberhaft, während seine Augen durch den Raum huschten und versuchten, jedes Detail wahrzunehmen. Eine Kamera war nirgends zu sehen, kein Laptop, kein Smartphone, keine Uhr. Nirgendwo war Technik zu erkennen. Die Einrichtung des Raums war alt, aber der Stil war ihm nicht unvertraut. Diese Gegenstände entstammten einer Zeit, in der er noch jung gewesen war.

Bilder blitzten vor seinem inneren Auge auf: ein Schlafsaal, junge Gesichter, rasierte Schädel und graue Uniformen … Unwichtig!, bellte die Stimme in ihm. Konzentrier dich! Stell die wesentlichen Fragen.

Er betrachtete die Kanüle und die Infusionsnadel. Warum bin ich wach? Sein Blick wanderte den Infusionsschlauch entlang nach oben. Der Beutel war voll. Aber keine Flüssigkeit rann durch den durchsichtigen Plastikschlauch. Die Stellschraube war nicht gelöst worden. Mit Absicht? Er blickte wieder zur leicht geöffneten Tür. Oder jemand war bei seiner Arbeit unterbrochen worden. Wie auch immer – einfach abzuwarten, war die schlechteste aller Optionen.

Versuchsweise zog er an seinen Fesseln. Das alte Bettgestell klapperte. Sofort hielt er inne. Es wäre fatal, wenn seine Bewacher mitbekämen, dass er bei Bewusstsein war. Sein Blick fiel auf die Kanüle. Rohe Gewalt war nicht die einzige Möglichkeit, die Fesseln loszuwerden.

Er ignorierte die Frage, woher er wusste, was genau zu tun war, und richtete sich auf. Es bot sich ihm eine winzige Chance, und die musste er nutzen. Sein ganzer Körper schmerzte, und er stellte fest, dass man ihn katheterisiert hatte. Unbedeutend! Mühsam kämpfte er sich so weit hoch, dass er die Infusionsnadel mit den Zähnen zu packen bekam. Es gab einen kleinen stechenden Schmerz, als er sie herauszog. Er spürte ihn kaum. Sein Körper hatte schon weit Schlimmeres erlebt.

Blutstropfen rannen seinen Arm hinab und perlten auf die gummierte Matratze. Er beugte sich tief über seinen gefesselten Arm und schielte über seine Nasenspitze hinweg auf den Kopf des Kabelbinders. Es brauchte seine ganze Konzentration und ein Dutzend vergeblicher Versuche, ehe es ihm endlich gelang, die Nadelspitze unter die Kunststoffzunge zu drücken, mit der die Zähne des Zugbandes fixiert wurden. Vorsichtig drückte er die Zunge hoch und übte dann mit dem Handgelenk Druck aus. Zahn um Zahn löste sich der Kabelbinder, schließlich fiel er mit einem leisen Klacken zu Boden.

Der Namenlose unterdrückte ein erleichtertes Aufseufzen. Er schüttelte seine Hand, um die stockende Durchblutung wieder in Gang zu bringen, und griff nach der Nadel, sobald er wieder genügend Gefühl in den Fingerspitzen hatte. Nach wenigen Sekunden hatte er sich auch vom zweiten Kabelbinder befreit.

Er schlug die Decke beiseite. Man hatte ihn tatsächlich vollkommen entkleidet.

Während er den Katheter zog, lauschte er. Ein leises Murmeln war zu hören. Der Unbekannte hatte sein ruheloses Auf- und-ab-Gehen vor der Tür wieder aufgenommen, und von Zeit zu Zeit waren einzelne Sätze zu verstehen. „… bin schon seit zwölf Stunden im Einsatz. Ich brauch ’ne Pause.“

Unendlich behutsam glitt der Namenlose aus dem Bett. Das leise Quietschen der Bettfedern ließ ihn erschaudern. Alle seine Muskeln spannten sich an, da er erwartete, gleich seinen Entführer durch die Tür stürmen zu sehen.

Doch alles blieb ruhig. Er schlich näher an die Tür heran.

„Was? Natürlich habe ich das!“, empörte sich der Mann.

Die Stimme kam ihm nicht bekannt vor.

Leise schlich er vorwärts und spähte durch den Türspalt in den Vorraum. Der Typ war untersetzt und ziemlich korpulent. Sein fettiges dunkles Haar hatte er zu einem Zopf gebunden.

„Ja, es ist alles normal … Vor zehn Minuten. Ich war nur kurz pinkeln und dann hast du angerufen … Selbstverständlich sehe ich sofort nach.“ Der Typ salutierte spöttisch und beendete das Gespräch. „Was für ein Scheißjob“, schnaufte er und stopfte das Handy in seine Hosentasche. Dann wandte er sich um und ging direkt auf die Tür zu.

Der Namenlose reagierte, ohne nachzudenken. Als der Typ die Tür aufstieß, sprang er vor und verpasste dem Mann einen gezielten Schlag auf das Karotisdreieck unterhalb des Kiefers. Der Getroffene sackte lautlos zusammen.