Das Lied der Küste - Lauren Westwood - E-Book

Das Lied der Küste E-Book

Lauren Westwood

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Beschreibung

Die schottische Küste, eine zerrüttete Familie und ein geheimnisvoller Fremder… Ein atmosphärischer Frauenroman voller spannender Wendungen und Geheimnisse! In der Nacht, in der ihre Zwillingsschwester Ginny an der schottischen Küste von den Klippen stürzt, zerbricht Skye Turners Familie. Sie geht fort und kehrt erst fünfzehn Jahre später zurück. Ihre Heimatstadt hat sich verändert, doch das ehemalige Zimmer der Schwestern hat die Mutter als Schrein behalten, als würde sie glauben, dass die geliebte Tochter zurückkehrt. Im Ort gehen Gerüchte um, dass Ginny nicht allein war, als sie starb. Grund genug für Skye, nach der Wahrheit zu suchen. Dabei stößt sie nicht nur auf alte Bekannte, sondern auch auf einen geheimnisvollen Fremden, der sich im Cottage der Familie eingemietet hat. Als Skye die Lügen über die Todesnacht ihrer Schwester zu entwirren beginnt, wird bald klar, dass in der schottischen Kleinstadt in den Highlands noch viele Geheimnisse verborgen liegen … »Manchen Dingen entkommt man nie. Ich sollte das wissen. Ich laufe seit fünfzehn Jahren davon, nur um heute wieder genau dort zu stehen, wo damals alles begann …« Mit "Das Lied der Küste" ist Lauren Westwood ein emotionaler Liebes- und Frauenroman über die raue Küste Schottlands gelungen - über eine starke Frau, die ein tragisches Familiengeheimnis lüftet und ihren Platz im Leben und die Liebe findet.

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Seitenzahl: 451

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Lauren Westwood

Das Lied der Küste

Schottland-Roman

Aus dem Englischen von Petra Lingsminat

Knaur eBooks

Über dieses Buch

In der Nacht, in der ihre Zwillingsschwester Ginny von den Klippen der Steilküste stürzt, zerbricht Skye Turners Familie. Von Trauer und Schuldgefühlen überwältigt geht sie fort.

Als sie fünfzehn Jahre später zurückkehrt, scheint in ihrer Heimatstadt die Zeit stehen geblieben zu sein - und dennoch ist nichts, wie es einmal war. Die Gerüchte über jene Nacht holen Skye ein und wühlen das Familienleben auf. Sie beginnt, die Lügen über den Tod ihrer Schwester zu entwirren, und stößt dabei nicht nur auf alte Bekannte und einen schweigsamen Künstler, sondern auch auf unzählige, lang gehütete Geheimnisse …

Inhaltsübersicht

Motto

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

Epilog

Ein Brief von Lauren

Danksagung

 

 

 

 

Die Selkie

 

Kalt zaust ihr der Wind durch das Haar,

Lächelnd lockt sie dich in ihre Höhle.

Lass dein Zuhause und deine Heimat zurück,

lass zurück das Ufer mit dem perlgrauen Sand.

Vergiss deine Liebe und all deine Versprechen,

und folge ihrer Stimme ins Wassergrab.

 

Text und Musik von Skye Turner, 17 Jahre alt

Prolog

Meine Schwester steht draußen auf den Felsen. Sie hat den Kopf in den Nacken gelegt, die Arme ausgestreckt. Über den Himmel zuckt der Lichtstrahl des Leuchtturms. Der Wind peitscht ihr Haar auf, das vor dem dunklen Horizont wie ein goldener Heiligenschein wirkt. Die See hinter ihr ist ein schäumender Kessel, und die Wellen donnern mit grausamer Regelmäßigkeit ans Ufer. Das Wasser steigt, wölbt sich über meiner Schwester, die Luft ist gesättigt von Gischt. In ihren Augen leuchtet ein merkwürdiges Feuer.

Ich fange an zu zittern, das Blut in meinen Adern pocht vor Angst und aufgestautem Zorn. An diesem Punkt war ich schon oft, zu oft. Bin an den Rand des Abgrunds getreten, habe die Hand ausgestreckt. Habe mir angehört, wie sie mich auslacht, aber am Ende habe ich ihre Erleichterung gespürt und die Wärme ihrer Hand in meiner.

»Na los«, rufe ich. »Ich bringe dich nach Hause.«

Sie lacht tatsächlich, doch gleichzeitig läuft ihr eine Träne über die Wange. In dem Moment wäre ich beinahe zu ihr gegangen. Beinahe lasse ich mich in ihren unerbittlichen Bannkreis zurückziehen. Ich mache einen Schritt vorwärts, über die Absperrung. Sie macht einen Schritt rückwärts zum Abgrund.

»Nein«, sagt sie.

Das alles gehört zum Spiel. Meine Loyalität, meine Würde werden bis zum Äußersten strapaziert. Das ist der Moment, in dem ich die Führung übernehmen muss, sie beschützen, uns beide vom Abgrund zurückreißen muss.

Eine mächtige Welle rollt heran, donnert gegen die Felsen. Eisiges Wasser regnet auf mich herab, sticht meine Kopfhaut wie mit Nadeln.

Hier hört es auf.

1. Kapitel

Der Nebel verdichtet sich. Wabert herab von den kahlen Hügeln, kriecht aus den Tälern. Das Licht schwindet rasch, und mit ihm meine Entschlossenheit. Das hier ist ein Fehler. Ich sollte nicht hier sein.

Ich wickle mir den verzierten Lederriemen meiner Handtasche eng um die Hand, schnüre das Blut ab. Aber ich kann die Flut der Erinnerungen nicht eindämmen, mit jeder Meile, die der Bus westwärts fährt, werden sie mehr.

Manche davon sind wunderschön und glänzend: Erinnerungen an meine Kindheit, vor allem jetzt um diese Jahreszeit. Der Butterduft des Shortbreads im Backofen, die Hunde, die auf einem Teppich vor dem Kamin schlafen. Gäste, die zum Dinner kommen, Dylan-Songs auf der Gitarre, Brettspiele und Gelächter. Schnee, der in dichten weißen Flocken auf den Strand fällt.

Jede dieser Erinnerungen packe ich aus und betrachte sie prüfend, wie ein Kind an Weihnachten. Dad, wie er die Lichterkette um den Baum windet, mein kleiner Bruder Bill, wie er hochgehalten wird, um den Stern oben zu befestigen. Mum, die ein Feuer im Kamin anzündet, um die Kälte abzuwehren, die ständig durch all die Ritzen nach innen zu dringen sucht. Die wohlige Wärme der Gemeinschaft. Vor langer Zeit.

Der Bus biegt nach Norden ab, und ich kann kurz das Meer sehen. Grauviolett, beinahe lila, am Horizont eine Spur orangefarbener Dunst, als die Sonne verschwindet. Ich sehe mein Spiegelbild im Fenster, das immer deutlicher hervortritt, je dunkler es draußen wird. Einen Augenblick lang ist es, als sähe ich ein anderes Gesicht, Ginnys Gesicht, das mir aus der Dunkelheit entgegenstarrt. Mich herausfordert, jene anderen Erinnerungen auszupacken – die in dem Päckchen ohne Schleife, von dem der Geschenkanhänger abgefallen ist. Nimm das Seidenpapier fort, sieh hinein …

»Eilean Shiel«, ruft der Busfahrer.

Ich mache meine Hand frei und ziehe mir den Schal vom Hals. Das Atmen fällt mir schwer. Ich hätte dem Busfahrer schon vor vielen Meilen zurufen sollen, anzuhalten und mich aussteigen zu lassen – überall, bloß nicht hier. Jetzt jedoch ist es zu spät. Eine Frau mittleren Alters auf der anderen Seite des Mittelgangs schaut mich an und runzelt die Stirn.

»Alles in Ordnung, Liebes?«

»Ja«, sage ich heiser, auch wenn auf der Hand liegt, dass es nicht stimmt. Seit meiner Flucht vor fünfzehn Jahren bin ich wohl im Großen und Ganzen »in Ordnung« gewesen. Ich habe gute Zeiten erlebt, die nichts mit diesem Ort hier zu tun haben. Ich habe die Sonne über der Mojave-Wüste im Westen der USA aufgehen sehen, bin mit offenem Verdeck über den Sunset Strip in Hollywood gefahren. Ich habe in Las Vegas gelebt und in Nashville und in vielen Orten dazwischen. Ich habe gute Erinnerungen gesammelt, die ich auspacken und wiederaufleben lassen kann, wenn ich sie besonders brauche: in einer schlaflosen Nacht in einem heruntergekommenen Motel, auf einer endlosen Fahrt über eine lange, einsame Highwaystrecke. Dad hat immer gesagt, dass man ohne die schlechten Zeiten gar nicht wüsste, wie gut man es hat. Dad hatte immer eine Menge Sprüche auf Lager, doch das meiste davon habe ich auf die harte Tour gelernt. Aber am Ende kann ich zurückblicken und sagen, dass ich mein Bestes gegeben habe. Mich nach Kräften bemüht habe, ein Leben für mich und auch für Ginny zu führen.

Der Bus hält am Wartehäuschen gegenüber dem Gemeindesaal. Die Türen gehen auf, und die Frau auf der anderen Seite steht auf, holt ihre Tasche aus der Gepäckablage. Ich sitze da, bewege mich nicht, starre hinaus auf das dunkle, unendliche Meer. Die Frau geht nach vorn und bleibt stehen, sieht sich nach mir um. Ich befürchte, dass sie mich noch einmal anspricht. Ich zwinge mich aufzustehen und auch nach vorn zu gehen.

Ich steige aus dem Bus auf den Gehsteig. Das orangefarbene Licht der Natriumdampflampen kann die Dunkelheit nicht einmal ansatzweise vertreiben. Die Dunkelheit hatte ich ganz vergessen, dabei ist sie um diese Jahreszeit drückend und endlos. Der größte Schock jedoch ist die Kälte. Ich wickle mir den Schal wieder um den Hals und beiße die Zähne zusammen, damit sie nicht so klappern. Der Wind fährt mir unter die Kleider, der dünne Mantel kann die Kälte nicht abhalten.

Der Busfahrer öffnet den Kofferraum, um das Gepäck auszuladen. Ich blicke über die geschwungene Bucht zu der dunklen Halbinsel, die dem Dorf gegenüberliegt. Durch den Nieselregen kann ich gerade noch die stecknadelkopfgroßen Lichter ausmachen. Das Cottage, in dem ich aufgewachsen bin. In ein paar Minuten werden diese Lichter meine Wirklichkeit sein, sobald ich ein Taxi bekomme. All die leuchtenden Erinnerungen, so viele es auch sein mögen, können nicht aufwiegen, was da draußen vor mir liegt. Ich werde Mum wiedersehen. Ich werde heimkehren.

Während der Busfahrer das Gepäck auslädt, kommen mir die fünfzehn Jahre vor wie ein Tag, als wäre es gestern gewesen. Ich war gerade zwanzig geworden und in die andere Richtung unterwegs: von Eilean Shiel nach Fort William, von Fort William nach Glasgow und schließlich in einen Flieger nach Amerika. Für mich ist es wie gestern. Aber wie wird es Mum empfinden?

Natürlich sind wir in Verbindung geblieben. Eine hastige Postkarte, hin und wieder ein steifes Telefongespräch an Geburtstagen und zu Weihnachten. Mein Bruder Bill betätigt sich als Bote zwischen den Gräben, bringt uns regelmäßig per E-Mail auf den neuesten Stand. Für diese Anstrengungen bin ich ihm dankbar, und es tut mir leid, dass er diese Aufgabe hat. Als er sich Ende November bei mir gemeldet hat, um zu berichten, dass Mum gestürzt sei und sich den Knöchel gebrochen habe, habe ich mir Sorgen gemacht. Ich habe Blumen geschickt, Pralinen und eine nette Karte. Als er mich dann noch einmal angeschrieben hat, um mir zu erzählen, wo es passiert ist, habe ich geweint. Und als ich mich dann in einer einsamen Novembernacht nach einer neuen Stadt gesehnt habe, nach einem neuen Liebhaber – nach etwas anderem, irgendetwas –, um wieder einmal zu fliehen, rief Bill mich an. Mum, sagte er, hätte nach mir gefragt. »Sie möchte wissen, wann du heimkommst.« Er wusste nicht, dass dies die einzigen Worte waren, die mich dazu bringen konnten, hierher zurückzukehren, die Worte, auf die ich all die Jahre gewartet hatte. Ich habe meine Sachen gepackt und einen Flug gebucht …

Die Frau aus dem Bus beobachtet mich immer noch. Ich hole mein Handy heraus und tue so, als hätte ich eine wichtige SMS zu verschicken. Kein Signal. Hier gibt es nichts vorzuschützen.

»Was haben Sie da bloß reingepackt, Mädchen?«, fragt der Busfahrer und krümmt sich unter der Last meines Rollkoffers. »Goldnuggets?« Sein Akzent klingt mir in den Ohren. Der volltönende Singsang der westlichen Highlands. Im Lauf der Jahre sind mir immer wieder Leute begegnet, die meinen Akzent »süß« fanden, »sexy«, »melodisch« oder »merkwürdig«. Für mich jedoch klingt er nach Heimat.

»Ich dachte, dass ich mit ziemlich leichtem Gepäck reise«, sage ich.

Er stellt meinen Koffer auf den Gehsteig. »Zu meiner Zeit haben wir nicht mehr gebraucht als eine Zahnbürste und eine Unterhose zum Wechseln.«

Das entlockt mir ein Lachen, das mich innerlich wärmt. Ein bisschen.

Der Busfahrer schließt den Laderaum, und ich rolle meinen Koffer an die Seite. Er ist so schwer, weil ich im letzten Augenblick noch ein paar Bücher hineingeworfen habe, aber dafür, dass ich nicht weiß, wie lang ich bleibe, ist er ziemlich klein. Vor meiner Abreise habe ich mein Haus in Las Vegas gekündigt. Beim Packen habe ich festgestellt, dass ich kaum warme Kleider besitze. Ein paar Baumwollpullis, Stiefel, ein paar Schals und eine Strickmütze mit Pailletten und einer Webpelzbommel. Ich habe so viel in den Koffer gestopft, wie ich konnte, meine Gitarre bei einem Freund gelassen und den Rest an die Wohlfahrt gespendet. Ich bin es gewohnt, als Nomadin zu leben, als Vagabundin. Meine Wurzeln sind vertrocknet und abgestorben.

Der Fahrer steigt wieder in den Bus, und die Türen schließen sich mit hydraulischem Zischen. Stotternd erwacht der Motor zum Leben. Noch ist vielleicht Zeit. Die Buslinie endet hier, aber wenn ich ihm zwanzig Pfund gäbe, würde er mich bestimmt wieder einsteigen lassen. Und mich in einem anderen Dorf absetzen, einer anderen Bucht, mich vielleicht sogar zurück nach Fort William mitnehmen.

Zu spät. Der Bus fährt an. Die Frau hält sich immer noch in der Nähe auf. Ich richte mich ein wenig auf, als wüsste ich, was zum Teufel ich als Nächstes tun werde. Während ich doch keine Ahnung habe. Es gibt keine Taxis. Früher hat immer ein Dorftaxi an der Endhaltestelle gewartet, da bin ich mir sicher.

»Brauchst du vielleicht eine Mitfahrgelegenheit, Liebes?«, fragt die Frau. »Meine bessere Hälfte ist gleich da. Er holt mich ab.« Sie lächelt, und im Glühen der Laternen kommt sie mir irgendwie bekannt vor. Ich will nichts Bekanntes.

»Nein, danke«, sage ich. »Ich werde auch abgeholt.« Die Lüge geht mir leicht über die Lippen.

»Na schön«, sagt sie. Scheinwerfer kommen auf uns zu, blenden mich einen Moment. »Das hier ist er. Bist du sicher …«

»Ja. Ich komme zurecht. Schönen Abend noch.« Ich nutze die routinierte amerikanische »Schönen Tag noch«-Antwort auf alles.

Als der Wagen hält, legt die Frau den Kopf schief. »Schön, dass du endlich nach Hause gekommen bist. Deine Mum freut sich bestimmt, dich zu sehen.«

Ich starre sie an, als sie in den Wagen einsteigt. Wenn ich nur wüsste, ob das wirklich stimmt. Ihre Worte rühren an der Stelle, an der meine Schuldgefühle lauern, jederzeit bereit loszuschlagen. Sie weiß nichts – kann nichts wissen. Über die Worte, die nie zurückgenommen werden können, die Wunden, welche die Zeit zwar verdecken, aber niemals heilen kann.

Der Wagen fährt weg, und ich bleibe im Wind und der Dunkelheit zurück. Ich fühle mich vollkommen allein.

2. Kapitel

Das Nieseln schwillt zu einem beständigen Regen an, worauf ich die Lichter auf der Halbinsel nicht mehr erkennen kann. Ich atme durch und wappne mich. Ist schon in Ordnung, dass es keine Taxis gibt. Es ist Spätnachmittag, nicht mitten in der Nacht. Ich habe seit sechs Stunden nichts mehr gegessen, das letzte Mal am Flughafen in Glasgow. Ich werde ins Dorf gehen, mir einen Kaffee kaufen, mich aufwärmen und ein Taxi rufen. Das dauert höchstens eine halbe Stunde. Und es wäre gar nicht schlecht, erst mal die Lage zu peilen, bevor ich zum Cottage fahre. Im Kopf habe ich das Wiedersehen mit Mum oft durchgespielt, aber es kann nicht schaden, es noch einmal zu tun. Was hat eine halbe Stunde schon zu bedeuten, nach fünfzehn Jahren?

Ich gehe schnell, nach vorn gebeugt, während mir der Wind den Regen ins Gesicht bläst. Das Dorf besteht nur aus ein paar Straßen, die alle zum Hafen und zur Uferpromenade führen.

Ich schlage den Weg zu Annies Teestube ein. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der es sie nicht gegeben hätte, und im Sommer vor meinem Aufbruch habe ich dort ausgeholfen, habe Tee und Kuchen serviert und die Tische abgeräumt. Die Teestube gehört einer Frau namens Annie MacClellan, die jeder im Dorf nur Tante Annie nannte, vermutlich weil sie alles über jeden wusste und mit jedem auf bestem Fuße stand – vorausgesetzt, man hielt sie sich gewogen. Annie bereitete aus wilden Himbeeren, süßer Sahne, Haferflocken und Whisky ein Cranachan zu, das einem auf der Zunge zerging, und im Winter war ihr gedämpfter Clootie-Dumpling, schwer und gehaltvoll von all den Trockenfrüchten und Gewürzen, der kulinarische Höhepunkt von Silvester. Cranachan, Clootie, Früchtebrot … all die erinnerten Geschmäcke und Düfte … Meine Sinne sind in Alarmbereitschaft.

Der Koffer rattert hinter mir über das bucklige Pflaster. Ich gehe an ein paar weiß getünchten Cottages mit Giebeldach vorbei und dann, näher am Wasser, an einer kleinen Reihe von Läden. Die meisten haben zu, doch der Spar hat geöffnet, ebenso der Kramladen, in dem Angelzubehör, Souvenirs und sogenannte Antiquitäten verkauft werden. Vor dem Laden knarrt ein Schild im Wind, auf dem optimistisch Eiscreme angepriesen wird.

Der Hafen liegt verlassen. Ich gehe an der Bootsrampe vorbei, die übersät ist mit Fischreusen und Netzen. Die Mole ragt hinaus in die Düsternis, am Ufer sind ein paar windgepeitschte Boote festgemacht. Von der salzhaltigen Luft und den Windböen tränen mir die Augen. Ich biege auf die Promenade ab und suche die Häuserreihe nach Annies Teestube ab. Wo ist sie? Sie kann doch nicht … weg sein.

Ich komme an die Stelle, wo sie sich einmal befunden haben muss. In der Teestube ist es dunkel, und im Fenster ist ein Schild. Geschlossen. Ich mache die Augen zu, bis das irrationale Gefühl der Verzweiflung abebbt. Umdenken, neu anfangen. Ich bin gut darin, neu anzufangen. Weniger darin, es durchzuhalten. Ich brauche sowieso keinen Kaffee oder Kuchen.

Ich gehe weiter. Ein Stück weiter am Ufer entlang sehe ich ein Leuchtschild: das Fisherman’s Arms.

Fish & Chips – auch eine Idee. Die richtigen, in Zeitungspapier gewickelt, so gründlich gesalzen und mit Essig begossen, dass die Aromen an der Zunge kleben bleiben und man noch Stunden später Durst hat. Im Sommer hat uns Dad samstagabends immer auf eine Portion dorthin mitgenommen. Dann haben wir uns am Ufer eine Bank gesucht, und die Möwen sind im Sturzflug herabgeschossen und haben sich um die heruntergefallenen Pommes gezankt. Bill hat sie immer gescheucht und dabei die Pommes auf der Bank stehen lassen, auf die sich dann wieder andere Vögel gestürzt haben. Der Teig war knusprig gebacken und der Fisch so saftig, dass er von selbst zerfiel. Wie habe ich diese Fish & Chips nur vergessen können?

Ich laufe auf das Leuchtschild zu. Der Pub ist sauber getüncht, und das Erkerfenster ist mit einer Lichterkette geschmückt. Sobald ich die Tür öffne, stürzen vertraute Gerüche auf mich ein: nach frittiertem Essen, Bier und Holzfeuer. Die Wärme zieht mich hinein. Vor wohligem Behagen überläuft mich ein Zittern.

Der Pub ist nicht voll. An ein paar Tischen sitzen Paare oder Familien und essen Fish & Chips, an einem Spielautomaten an der Tür steht ein alter Mann. Der Raum wird von Windlichtern und Wandlampen aus alten Fischerkugeln erhellt. Weiter hinten in der Ecke sehe ich eine geschnitzte Galionsfigur, eine Frau mit fließendem Haar, das mit Rosengirlanden geschmückt ist. Ich erinnere mich noch an die merkwürdig empfindliche Reaktion, die ich hatte, als mir mit etwa zwölf zum ersten Mal die nackten Brüste aufgefallen sind. Selbst jetzt kommt mir die geschnitzte Frau grell und gewagt vor.

Ich gehe zum Tresen. Die meisten Barhocker sind besetzt. Der Barkeeper steht mit dem Rücken zu mir und misst einen Whisky ab. Doch noch bevor er sich umdreht, habe ich ihn erkannt. Ich hatte keine Ahnung, dass er hier arbeitet, sonst wäre ich nicht hergekommen. Ich hätte mir vor meiner Ankunft ein Taxi bestellen oder, besser noch, in Glasgow ein Auto mieten sollen. Jetzt ist es zu spät. Er dreht sich um und entdeckt mich. Byron.

Er starrt mich an. Lange Sekunden vergehen. Ich weiß nicht, was schlimmer wäre: dass er mich erkennt oder dass er mich nicht erkennt. So sehr habe ich mich doch sicher nicht verändert …

Ein Lächeln breitet sich über sein Gesicht. Er geht auf mich zu. Sein blondes Haar ist länger als damals, sein Gesicht gebräunter, als wäre er irgendwo in der Sonne gewesen. Er ist immer noch groß, und obwohl er einen grauwollenen Fischerpullover trägt, wirkt er sehr durchtrainiert. Seine Züge sind markant und attraktiv, die Konturen sind im Lauf der Jahre kantiger geworden. Byron …

Früher einmal hätte ich für Byron einfach alles gemacht.

»Skye! Skye Turner – du bist es doch, oder?«

»Ertappt«, sage ich und bereue es sofort.

Byron schließt mich in seine kräftigen Arme. Er riecht nach Bier und Mann, und das ist so vertraut, dass mir die Knie weich werden.

»Dann lass dich mal ansehen.« Er schiebt mich auf Armeslänge von sich weg. »Gut siehst du aus. Wie lang ist es her? Zehn Jahre?«

»Fünfzehn«, sage ich heiser.

»Fünfzehn! Hast du gehört, Lachie?«

Ein rotblonder Mann mit zotteligem Bart auf einem der Barhocker dreht sich um. Ihn kenne ich ebenfalls. Lachlan McCray.

»Jep«, sagt Lachlan. Er lächelt nicht, macht nicht einmal eine freundliche Miene.

»Und du bist jetzt ein Promi!« Byrons Stimme ist so laut, dass die Leute anfangen, sich zu uns umzudrehen. Er hält mich immer noch an den Schultern.

»Nein.« Verlegen tue ich einen Schritt zurück. »Nein, bin ich nicht.«

»Ach, komm schon«, neckt Byron mich, »sei nicht so bescheiden. Klein Bill hält uns auf dem Laufenden. Wir haben dich alle auf YouTube gesehen.«

Das wird ja immer schlimmer. Als ich weggegangen bin, wussten alle, dass ich große Träume hatte. Dass ich meine Songs singen wollte, zu meinen Bedingungen, und die Welt mit poetischen Texten und bewegenden Melodien erobern wollte. Stattdessen habe ich den Großteil der Zeit aufgetakelt in Jeans und Strass verbracht und in billigen Shows und schäbigen Nachtclubs Countryklassiker gesungen. Es war wohl zu viel erwartet, dass sie das nicht wussten.

»Toll.« Es gelingt mir, mich nicht zu winden.

»Unsere Lokalmatadorin hat es geschafft«, sagt Byron. »Himmel, fünfzehn Jahre. Ich kann nicht glauben, dass es schon so lang her ist, seit …«

Ich wappne mich. Doch er unterbricht sich. Lachlan begegnet meinem Blick. Ein kurzer Moment der Erkenntnis: Dieses Gespräch kann sich nur in Bahnen weiterentwickeln, die man lieber nicht betritt, bis Gras darüber gewachsen ist.

»… seit ich weggegangen bin«, beende ich den Satz für ihn.

»Hey, bleibst du über Hogmanay?«, wechselt Byron geschickt das Thema. »Wir könnten dich brauchen. Du erinnerst dich doch an das Feuerfestival, oder?«

Als ob ich das je vergessen könnte. Das Feuerfestival ist ein regionales Event, das an Silvester in fünf Dörfern gefeiert wird. Am Strand wird ein großes Feuer entzündet, an der Promenade sind Imbissstände aufgebaut und auf dem Sportplatz Fahrgeschäfte, und im Hafen findet eine Parade lichtergeschmückter Boote statt. Die Boote werden für den Winter vom Pfarrer gesegnet, und eine vom Glück begünstigte Jugendliche wird zur Königin der Flotte gekrönt. Als wir achtzehn wurden, war das Ginny. Ich erinnere mich, wie schön sie aussah vorn am Bug des ersten Bootes, wie ihr langes Haar im Wind flatterte. Für mich wäre das nichts gewesen, aber ich war wohl trotzdem ein wenig eifersüchtig, dass es nicht mich getroffen hatte. Später an diesem Abend nahm Byron am Feuer meine Hand. Er küsste mich und sagte, für ihn sei ich die Königin des Universums. Und auch wenn ich wusste, dass es nicht von Dauer sein konnte, war es in diesem Augenblick genug. Ich frage mich, ob er sich überhaupt an diesen Abend erinnert.

»Ich mache bei der Organisation der Stände und des Programms mit«, sagt er. »Wir haben schon eine Ceilidh-Band am Start. Es wäre toll, wenn du mit ihnen auftreten könntest. Nur ein, zwei Songs. Unsere Lokalmatadorin!«

Ich bezweifle, dass er sich erinnert, und wünsche mir, dass er mit diesem Groupie-Akt aufhört. Byron hatte schon immer die Gabe, zum richtigen Zeitpunkt genau das zu sagen, was man hören will. Ich kann nicht zulassen, dass er mich gleich so entwaffnet und auf die bedürftige Halbwüchsige zurückwirft. Die, die sich Lob und Anerkennung wünschte und sich nicht nur im Abglanz ihrer Zwillingsschwester sonnen wollte. Die stolz darauf war, dass er sie allen anderen vorzog.

»Ich nehme mir gerade eine Auszeit.« Ich lächle lässig. »Um die Batterien wieder aufzuladen.« Jetzt bin ich es, die gekünstelt klingt, als wäre das hier eine Art Erholungstrip, bevor ich die nächste große Sache in Angriff nehme. Aber was soll ich machen? Einräumen, dass ich mein Engagement in Las Vegas vor ein paar Monaten verloren habe? Sieht so der Small Talk unter alten Freunden – Jugendlieben – aus, die sich seit Jahren nicht mehr gesehen haben?

»Na gut, da wir schon mal beim Aufladen von Batterien sind – was kann ich dir zu trinken bringen?« Er tritt einen Schritt zurück und mustert mich. »Mal sehen, was hast du immer getrunken …? Ach ja: Whisky Cola.«

Mir steigt die Galle hoch, obwohl ich weiß, dass er nur gastfreundlich sein will. Ab und an trinke ich ganz gern etwas – vielleicht öfter, als ich sollte. Aber seit ich von hier weggegangen bin, habe ich keinen Tropfen Whisky mehr angerührt.

»Bitte nur ein Bier. Ein kleines.«

Byron runzelt die Stirn, als hätte er damit gerechnet, dass ich zu einem nachmittäglichen Besäufnis hierbleibe, statt zu meiner Mum zu gehen. Aber vielleicht hat er mich auch in Verdacht, dass ich nur hergekommen bin, um das Unvermeidliche hinauszuzögern. Und vielleicht hätte er damit sogar recht.

»Eigentlich bin ich hier, weil ich ein Taxi brauche«, sage ich. »An der Bushaltestelle hat keins gestanden.«

Er tritt hinter den Tresen, nimmt ein kleines Bierglas und schenkt starkes, bernsteinfarbenes Bier ein. Ich hole meine Karte heraus, um zu bezahlen, doch er winkt ab.

»Lachie kann dich hinfahren«, sagt Byron. »Jederzeit.«

Ich schaue zu Lachlan hinüber. Er unterhält sich gerade mit einem alten Mann mit Sherlock-Holmes-Mütze, der auf dem Barhocker neben ihm sitzt. Er unterbricht das Gespräch nicht.

»Ich will ihm keine Umstände machen«, sage ich. »Kann ich nicht irgendwen anrufen?«

»Lachie ist unser Taxifahrer«, sagt eine Frau am Ende des Tresens. »Ganz offiziell.«

Ich schaue zu ihr hin und dann zur Sicherheit noch einmal. Sie ist um die sechzig, mit faltigem, stark geschminktem Gesicht und gefärbtem orangefarbenem Haar, das ihr zottelig um das Gesicht hängt. Sie trägt eine ausladende Halskette mit Holzperlen und an allen Fingern klobige Ringe. Sie würde gut in eine Trucker-Bar in Tennessee oder Arizona passen, irgendeine traurige Spelunke, wo ein Mann auf der Durchreise für zehn Dollar praktisch alles bekommen kann. Ich fühle mich schuldig wegen dieses Gedankens, denn ich erkenne sie auch.

»Tante Annie?«, sage ich. Byron reicht mir mein kleines Bier.

Die Frau lacht rasselnd. »Heutzutage eher eine Großmutter.« Sie wedelt mit einer beringten Hand in meine Richtung. In der oberen Zahnreihe klafft eine riesige Lücke. »Du warst viele Jahre weg, Liebes.«

»Ich weiß!« In meinem Augenwinkel bildet sich eine winzige Träne. Irgendwie macht Annie MacClellans Anblick meine Rückkehr real, mehr noch, als es Byrons Anblick vermocht hat.

Sie legt den Kopf schief und sieht mich an. »Du hattest es immer so eilig, von hier fortzukommen. Warum bist du jetzt wieder da?«

In ihrer Stimme liegt eine Schärfe, die mich nervös macht. Es stimmt, als ich bei ihr gearbeitet habe, habe ich mich ständig darüber ausgelassen, was für ein Leben ich führen würde, wenn ich den Nebelschleiern von Eilean Shiel erst einmal entkommen wäre. Wie Ginny und ich große Stars werden würden, an einem besseren Ort. Aber das ist so lang her …

Ich schenke ihr ein warmes Grinsen, um die Stimmung aufzulockern. »Ich hab deinen Clootie und dein Früchtebrot vermisst, Tante Annie. Sie haben von weit her nach mir gerufen.«

Sie lacht noch einmal, doch die kajalumrandeten Augen wirken wachsam. Ich halte das kleine Glas Bier unter die Nase und atme den herzhaften Hefeduft ein. Eigentlich will ich es gar nicht, aber ich trinke es trotzdem. Ich hätte mich zurückhalten und nicht in den Pub gehen sollen. Mich eher schrittweise an die Sache herantasten sollen. Byron, Annie, Lachlan – alle sind hier, alle sind anders. Wie Mum nach fünfzehn Jahren wohl sein wird?

Ich würge den letzten Rest Bier hinunter und stelle das leere Glas auf den Tresen. »Ich muss bloß noch aufs Klo«, sage ich. »Und dann, Lachlan, tut mir wirklich leid, aber könntest du mich zum Cottage fahren?«

Lachlan dreht sich um und mustert mich auf eine Art, die mir ein wenig unangenehm ist. Für uns war er immer das »Beinahe«-Kind gewesen. Beinahe hätte er Fußball in der Regionalliga gespielt, beinahe hätte er Abitur gemacht, beinahe hätte er studiert. Er war nie so cool wie Byron oder so reich wie James, er war nie so witzig oder gescheit wie wir anderen – oder so eitel und eingebildet. Und dennoch war Lachlan immer irgendwo im Hintergrund dabei. Hat beobachtet. Geurteilt. Ich freue mich nicht darauf, von ihm gefahren zu werden.

»Klar«, sagt er.

»Danke.« Ich gehe zur anderen Seite des Tresens, wo eine Tür zu den Klos und dem Pooltisch im ersten Stock führt. Der Korridor wird nicht beheizt, und nach der warmen Kneipe trifft mich die Kälte ziemlich unvermutet. Auf dem Klo starre ich mein Spiegelbild lange an. Als ich von hier weggegangen bin, war ich gerade einmal zwanzig. Jetzt bin ich fünfunddreißig. Mein Gesicht ist schmaler geworden, mein dunkles Haar länger. Meine Augen sind das Schönste an mir: grün mit nussbraunen Sprenkeln. Aber in diesem Licht wirken sie beinahe blau. Mehr wie Ginnys.

Größtenteils haben Ginny und ich uns nicht sehr ähnlich gesehen. Sie war blond und hellhäutig und umwerfend schön. Die meisten Leute waren überrascht, wenn sie erfuhren, dass wir Schwestern, ja sogar Zwillinge waren. Weniger erstaunt waren sie darüber, dass ich die ältere war, wenn auch nur um ein paar Minuten. Dad hat immer gesagt, dass ich eine »alte Seele« hätte. Ginny dagegen war ein kleines Mädchen, das nicht erwachsen werden wollte. Ein freier Geist, widerspenstig und nicht zu bändigen.

Ich spritze mir Wasser ins Gesicht und lege Lipgloss auf. Es wird Zeit, ich kann es nicht länger hinauszögern. Ich muss zu Mum fahren. Ihr gegenübertreten. Herausfinden, ob es wirklich möglich ist, nach all den Jahren heimzukehren.

Als ich wieder in die lärmende Kneipe komme, bilde ich mir ein, es träte für einen winzigen Augenblick Stille ein. Ich höre eine Stimme. Tante Annie redet mit dem Mann neben ihr: »… tote Schwester.«

Ich muss hier raus. Panik keimt in mir auf, genau wie vorhin im Bus. Panik mit einem Schuss Resignation. Hier werde ich immer dieses Mädchen sein, selbst wenn ich einmal so alt wie Annie MacClellan bin. Manchen Dingen kann man einfach nicht entkommen. Ich sollte es wissen. Ich bin seit fünfzehn Jahren auf der Flucht. Und nun bin ich wieder genau da, wo ich angefangen habe.

3. Kapitel

Vor dem Pub weht ein unerbittlicher Wind, er treibt mir den Regen ins Gesicht. Die Boote, die vor Anker liegen, knarren und ächzen, die Wellen donnern gegen das befestigte Ufer. Schon beim ersten Schritt ins Freie ist mein Mantel von Regen und Gischt durchweicht. Das Gute an diesem Wetter ist, dass es gar nicht infrage kommt, mit Lachlan ein gemütliches Gespräch anzufangen. Wir beide ziehen den Kopf ein und laufen, so schnell wir können.

Lachlans Wagen, ein Nissan Qashqai, steht in der Nähe der Bushaltestelle. Er öffnet die Zentralverriegelung, und ich hieve meinen Koffer hinten rein. Im Nissan ist es eiskalt, aber wenigstens trocken. Sobald ich die Tür schließe, wird mir merkwürdig schwindelig. Ich hasse es, als Beifahrerin in einem Auto zu sitzen, ich habe dann das panische Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Wenigstens ist es nur eine kurze Strecke.

Als Lachlan den Wagen startet, plärrt die Stereoanlage los. Ich erkenne die CD: Capernaum von den Tannahill Weavers, einer schottischen Folkband. Unerwartet überkommt mich Nostalgie. Als wir Teenager waren, kannte Ginny sämtliche Texte auswendig, während ich die Akkorde auf der Gitarre nachspielen konnte.

Lachlan stellt die Musik abrupt ab. »Und, für wie lang bist du hier?«, sagt er. Er schaltet die Scheibenwischer auf die höchste Stufe, aber vor uns ist trotzdem eine Wasserwand.

»Ich weiß es noch nicht.«

Er nickt. Wir fahren vom Parkplatz auf die Hauptstraße, die in Richtung Norden dicht an der Küste verläuft. Ich brauche nicht auf die in Englisch und Gälisch gehaltenen Wegweiser zu schauen, ich kenne den Weg im Schlaf.

»Ist lang her, seit sie gegangen ist«, sagt er.

Ich brauche einen Augenblick, bis mir klar wird, dass er »sie« statt »du« gesagt hat.

»Gegangen?«, wiederhole ich. »Du meinst Ginny? Ginny ist tot.« Die Worte klingen im Wagen nach, übertönen das Rauschen des Regens. Ich umklammere den Türgriff und wünsche mir, ich könnte aussteigen und zu Fuß gehen.

»Ja. Das hab ich gemeint.« Er seufzt. »Vor ein paar Tagen habe ich im Radio den Song gehört, den ihr beiden immer gesungen habt, The Bonny Swans, weißt du noch? Mann, das ist ziemlich düsteres Zeug.« Er lacht verlegen auf. »Das mit der Harfe?«

Ich lache auch, denn andernfalls müsste ich ausflippen. The Bonny Swans basiert auf einer traditionellen Ballade namens The Cruel Sister. In dem Lied ertränkt die »grausame« dunkelhaarige Schwester ihre jüngere Schwester, weil sie deren Liebsten, einen Prinzen, für sich will. Ein Müller fertigt aus dem Brustbein des toten Mädchens eine Harfe und bespannt sie mit ihrem goldblonden Haar. Er bringt die Harfe zum Schloss und legt sie dem König und der dunklen Schwester vor, die jetzt die Königin ist. Die Harfe beginnt von selbst zu spielen und singt, dass die Königin ihre Schwester ermordet habe.

Die Version, die wir immer gesungen haben, stammte von Loreena McKennitt, der kanadischen Folksängerin. Wie sie hatte auch Ginny eine reine, klare Stimme – eine besondere Stimme, die für Großes ausersehen war. Wir haben die Ballade gesungen und miteinander gelacht, es war immer albern und lustig. Wir liebten makabre Lieder. Damals, als wir noch keinerlei Erfahrungen mit dem Tod hatten sammeln müssen.

»Es ist ein sehr altes Lied«, sage ich. »Die waren oft ziemlich düster.«

»Jep«, sagt Lachlan. »Vielleicht bin ich sentimental, aber ich mag die alten Lieder. Ich wünschte, wir hätten hier eine Folkmusikszene. Ich sage Byron immer, dass er mal eine Session im Arms veranstalten soll. Aber auf dem Ohr ist er taub. Kein Interesse.«

»Das ist schade«, sage ich. In Wirklichkeit bin ich erleichtert, dass es hier am Ort keine Musikabende gibt. Als Dad noch gelebt hat, sind wir beinahe jede Woche auf einem gewesen, in einem Pub oder einem Gemeindesaal in der Nähe. Die Musiker reisten von weit her an, um Musik zu machen, Gälisch zu sprechen und sich zu amüsieren. Die Leute wechselten sich ab bei der Führung und dem Ausrufen der Stücke. Noten gab es keine, wenn man den Song nicht kannte, improvisierte man. Je nachdem, wer gerade da war, klangen dieselben Melodien von einer Woche zur anderen völlig unterschiedlich. Wenn der Abend fortgeschritten und reichlich Bier geflossen war, kamen die Songs an die Reihe. Ich sehe Dad noch vor mir, wie er mit seiner Reibeisenstimme Ae Fond Kiss oder Ye Banks and Braes gesungen hat, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen, und all die anderen harten, wackeren Männer stimmten ein. Über diesen Nächten lag ein Zauber. Es waren die besten meines Lebens, glaube ich.

Dank Lachlan setzt sich The Bonny Swans in meinem Kopf fest und spielt dort nun in Endlosschleife. Ich sitze schweigend da, während wir die Fahrt fortsetzen. Die Straße schlängelt sich an den kleinen, mit Häusern gesprenkelten Buchten entlang und verengt sich dann zu einer Spur, als es Richtung Halbinsel geht. Vor den Scheinwerfern rauscht der Regen wie aus Eimern herab, es ist, als wären wir unterwegs zum Ende der Welt.

»Ich habe über diesen Abend viel nachgedacht«, sagt Lachlan. »Ich glaube, er hat mich verändert. Das alles war so schrecklich. So … unerwartet.«

Ich gebe keine Antwort. Vermutlich muss ich das alles als Teil meiner Strafe akzeptieren. Dafür, dass ich weggeblieben bin und … dass ich zurückgekommen bin. Gewissermaßen ist es eine Erleichterung, dass er es offen anspricht. Dass er, im Gegensatz zu Byron, nicht so tut, als wären wir einfach alte Freunde, die nach Jahren ein freudiges Wiedersehen feiern.

»Also, wahrscheinlich willst du nicht darüber reden«, fügt er hinzu, »aber manchmal frage ich mich, was wirklich passiert ist, weißt du, was ich meine?«

»Nein«, erwidere ich ausdruckslos, »weiß ich nicht. Wir wissen doch alle, was passiert ist.«

Alle außer mir, aber das sage ich nicht. Ich habe überhaupt keine Erinnerungen an diesen Abend.

»Hast ja recht …« Er zögert einen Augenblick. »Es ist nur, dass im Dorf geredet wurde, vor einiger Zeit …«

»Bitte, Lachlan«, sage ich. »Können wir uns über etwas anderes unterhalten?«

»Klar, tut mir leid.« Blinzelnd schaut er auf die dunkle Straße vor uns.

»Nein, schon gut.« Ich schlucke heftig. »Es ist nur – ich bin hergekommen, um Mum zu sehen. Nicht um wieder hervorzukramen, was damals passiert ist. Ich vermisse Ginny jeden Tag, jede Sekunde. Sie war meine Zwillingsschwester. Und ich weiß nicht – vielleicht klingt es herzlos –, aber ich habe versucht, das alles hinter mir zu lassen. Verstehst du?«

»Jep, schon klar.« Er wirft mir ein Lächeln zu, das fast sehnsüchtig ist. Byron hat mich immer damit aufgezogen, dass Lachlan in mich verknallt wäre. Damals habe ich das nicht geglaubt, und jetzt ist es total unerheblich. »Jedenfalls ist es schön, dich zu sehen.«

»Danke«, sage ich. Ich bringe es einfach nicht über mich, das Kompliment zu erwidern.

»Bestimmt freut sich deine Mum, dass du wieder da bist«, fügt er hinzu. »In letzter Zeit haben wir sie nicht oft zu sehen bekommen. Seit ihrem Sturz nicht.«

Dass er Mums Sturz erwähnt, bringt mich etwas aus dem Takt, auch wenn es mich nicht überraschen sollte – an einem Ort wie diesem gibt es einfach keine Geheimnisse. Vermutlich weiß er mehr als ich über Mums generellen »Zustand«. Bill hat in seinen E-Mails zwar immer darauf angespielt, sich aber nie näher dazu geäußert.

»Nun ja, also, ich hoffe, dass ich ihr helfen kann, solange ich hier bin.«

»Jep. Sie hat wohl viel zu tun mit den Ferienwohnungen«, sagt er, das Thema wechselnd. »Das war eine gute Entscheidung.«

Ich habe mitbekommen, dass Mum die beiden Wirtschaftsgebäude auf dem Grundstück vor einigen Jahren hat renovieren lassen. Anscheinend hat sie eine Hypothek auf das Cottage aufgenommen (schon das war eine Riesensache: Meine Eltern haben Dinge wie Banken und Schulden immer verachtet) und einen ortsansässigen Bauunternehmer beauftragt, die beiden Häuser bis auf die Außenwände zu entkernen. Die Baugenehmigung und die nötigen Lizenzen hat sie ganz allein besorgt. Damals dachte ich, wenn sie all das geschafft hat, muss es ihr wohl gut gehen. Ich wollte es glauben …

»Sie war den ganzen Sommer über ausgebucht«, fügt er hinzu. »Die eine ist sogar jetzt noch vermietet.«

»Wirklich?« Mir gelingt ein leises Lachen. »Wer kommt denn jetzt im Dezember hierher?«

»Irgendein Künstler aus dem Süden.« Er rümpft herablassend die Nase. »Oft habe ich ihn noch nicht gesehen.«

»Vermutlich festgefroren.«

»Genau.«

Lachlan biegt auf eine Schotterstraße, die über ein schmales Stück Land führt. Dahinter erheben sich die dunklen Hügel der Halbinsel. Eigentlich war die Halbinsel, auf der Mums Cottage steht, einmal eine Insel, doch im 19. Jahrhundert füllte ein Kleinbauer den schmalen Meeresarm zwischen Insel und Festland mit Felsen und Bruchsteinen, um den Weg anzulegen. Auf der anderen Seite kommen wir durch ein kleines Wäldchen aus moosbewachsenen Eichen und Rhododendren. Dahinter führt der Weg in eine geschützte Senke, wo die Häuser liegen. Wir erreichen das Gatter. Ich mache mich bereit, dem Regen zu trotzen und auszusteigen, um es zu öffnen, wie ich es tausendmal getan habe. Doch Lachlan springt als Erster aus dem Wagen.

Er öffnet das Gatter, kommt pitschnass in den Wagen zurück und fährt durch. Ich bleibe sitzen, als er ein zweites Mal aussteigt und das Gatter schließt. Es bringt ja nichts, wenn wir beide nass werden. Ein paar Minuten später halten wir im Hof von Croft-Cottage. Von innen dringt ein gelblicher Lichtschein nach draußen. Am Küchenfenster steht eine Gestalt. Mein Magen krampft sich zusammen. Mum.

4. Kapitel

Lachlan parkt vor dem Cottage und lädt meinen Koffer auf dem nassen Kies ab. Ich sitze im Wagen und starre hinaus auf den Regen, der über die Windschutzscheibe läuft. Jetzt, wo ich den weiten Weg hinter mich gebracht habe, scheint es mir unmöglich, die letzten paar Meter zu gehen, die mich zurück an den Ort führen werden, an dem ich aufgewachsen bin, und mit der Person vereinen, die für mich der wichtigste lebende Mensch ist. Meine eigene Mutter, die ich wie all meine Kindheitserinnerungen bequemerweise vom Nebel der Vergangenheit habe verschlucken lassen … weil sie das so wollte.

Die Worte, ausgesprochen vor so langer Zeit, bohren sich wieder in mein Bewusstsein.

Ich weiß, dass es nicht richtig ist, aber ich gebe ihr die Schuld …

Meine Hand schließt sich wie eine Kralle um den Türgriff. Lachlan runzelt die Stirn, als er zum Wagen zurückkehrt. »Alles in Ordnung?«, fragt er.

»Alles prima.« Ich lockere den Griff, ringe mir ein Lächeln ab. »Ich drück mich nur vor dem Regen. Wie viel bekommst du von mir?«

»Das geht aufs Haus.« Ich spüre, dass er sich von meiner betont lässigen Haltung nicht täuschen lässt. In Wirklichkeit habe ich panische Angst. Bestimmt hat er es bemerkt. »Gib mir im Pub ein Bier aus, wenn du dich eingewöhnt hast.«

»Das mache ich«, sage ich. »Vielen Dank fürs Herfahren.«

»Na klar.«

»Und jetzt … lauf ich mal besser los.«

Ich steige aus dem Nissan, packe meinen Koffer und eile unters Vordach. Erleichtert stelle ich fest, dass er nicht abwartet, bis ich drinnen bin. Die gelben Lichtkegel der Scheinwerfer gleiten über mich, als der Wagen zurückstößt und auf dem knirschenden Kies davonfährt.

Das Cottage hat sich verändert. Die Tür ist in einem hübschen Kornblumenblau gestrichen, auf der Eingangsstufe stehen ein Paar Gummistiefel mit Blumenmuster und ein Korb mit Muscheln und Kieseln vom Strand. Früher waren rings um den Eingang immer schlammige Stiefel, alte Schlittschuhe, Fossilien und Fahrräder verstreut. Selbst das Wasser, das sich aus dem Rinnstein ergießt, wirkt inzwischen ordentlich. So ist Mum wohl geworden, nachdem sie all die Jahre allein gelebt hat. Wieder schwellen die Schuldgefühle an, und ich schließe die Augen, bis sie nachlassen. Ich kann nicht rückgängig machen, was ich getan habe, und ich habe keine Ahnung, wie sie mich aufnehmen wird. Werde ich ein Urteil in ihrem Blick sehen, Vorwürfe? Wird sie mich ansehen und sofort an Ginny denken? Oder wird sie mich gar nicht erkennen?

Es wird Zeit, sich der Antwort auf diese Fragen zu stellen. Ich konzentriere mich auf die eine unverrückbare Tatsache, klammere mich daran wie eine kleine Pflanze an die Kante eines Abgrunds.

Sie ist meine Mum, und ich liebe sie.

Ich klopfe an die Tür. Regentropfen schlagen den Takt, während ich warte. Von innen ist kein Laut zu hören. Auch das ist anders als in meiner Kindheit, wo wir immer mindestens einen Hund hatten, manchmal sogar drei, die gebellt haben, wenn jemand an der Tür war.

Die Stille macht mich nervös. Mum war in der Küche, da hat sie den Wagen doch sicher gesehen. Mit jeder Sekunde, die verstreicht, schlägt mein Herz schneller. Bills E-Mails waren meist Variationen von: »Ich weiß, dass Du viel zu tun hast, aber es wäre toll, wenn Du Mum anrufen könntest«, oder: »Nur zur Erinnerung: Nächste Woche hat Mum Geburtstag.« In den letzten Jahren waren die Nachrichten jedoch vorsichtiger formuliert. »Mum hat oft Schwierigkeiten, sich an Dinge zu erinnern.« – »Manchmal ist Mum desorientiert.« Und in den letzten Monaten dann pointierter: »Wir müssen miteinander reden. Allein schaffe ich das nicht.« Ich wusste nie, wie ich auf diese Botschaften reagieren sollte. Zu wissen, dass mein Bruder vermutlich nur das Schlechteste von mir dachte, mich für herzlos und gleichgültig hielt, tat weh. Und vielleicht hätte ich ihm sagen sollen, warum ich mich all die Jahre ferngehalten habe. Vielleicht ist es dafür noch nicht zu spät …

Ich klopfe noch einmal, lauter diesmal. Ich beginne zu zittern, und das nicht nur vor Kälte.

Und dann höre ich es endlich: ein Geräusch von innen. Langsame Schritte, die sich der Tür nähern. Nach jedem Schritt ein dumpfer Schlag. Die Kette rasselt. Dann geht die Tür auf.

»Mum«, sage ich. Meine Stimme ist heiser.

Sie ist kleiner und dünner, als ich sie in Erinnerung habe, ihr Pagenkopf ist vollkommen weiß. Aber der warme Duft nach Lavendel und Apfel hat sich nicht verändert. Ihr Gesicht ist faltig geworden, doch die braungrünen Augen sind dieselben geblieben.

»Skye …?« Sie hebt die Hand fast bis an mein Gesicht, und ich sehe, dass sie zittert. Und dann verliere ich endgültig die Fassung. Ich öffne die Arme und erdrücke sie beinahe. Meine Tränen fallen auf ihr Haar, und sie zittert, während ich sie festhalte. Doch gleichzeitig lächle ich, und irgendwo in mir versucht die Sonne die bisher so undurchdringlich wirkenden Wolken zu durchbrechen.

Sie erholt sich als Erste, entzieht sich meinem Griff und hält mich auf Armeslänge von sich ab. »Du bist es wirklich«, sagt sie mit einem Beben in der Stimme.

Was immer ich in diesem Moment auch sagen wollte – was immer ich mir zurechtgelegt habe –, es bleibt auf der Strecke. In diesem Moment ist kein Platz für all die Entschuldigungen, die ausgesprochen werden müssen, zumindest von meiner Seite. Es ist, als hätte sich eine Blase gebildet um uns, zwei Menschen, deren Existenz untrennbar miteinander verbunden ist. In diesem Augenblick bin ich froh, am Leben zu sein.

»Ja«, sage ich. »Es tut so gut, dich zu sehen.«

»Du bist pitschnass.« Sie begibt sich in die Rolle der Fürsorgenden. »Ich setze Wasser auf.«

Sie macht sich auf in Richtung Küche, und mir wird klar, warum sie so lang gebraucht hat, um an die Tür zu kommen. Sie stützt sich auf einen Stock. Am linken Fuß trägt sie einen dunklen Nylonstrumpf, aber keinen Schuh. Ihr Gang ist langsam und steif, ihr Rücken ist gebeugt. Ich bin ein wenig schockiert. Mum war immer so robust. Die Stütze unserer Familie, so stark, dass es beinahe beängstigend war. Doch nun wirkt sie … alt.

Ich ziehe meinen nassen Mantel aus und hänge ihn an einen Haken neben der Tür. Meine Stiefel stelle ich neben die säuberlich aufgereihten Schuhe darunter. Auch das Cottage wirkt kleiner, die Decke niedriger, als ich in Erinnerung habe. So sauber und aufgeräumt ist es jedenfalls nie gewesen. Als ich neunzehn und Bill sechzehn war, lagen unsere Sachen überall herum. Bill war begeisterter Rennradler und wollte einmal an der Tour de France teilnehmen – ein Ziel, das er aus den Augen verlor, sobald er den Führerschein machte. Ich weiß noch gut, wie das riesige Rad in diesem Zimmer stand, dazu sein Shintyschläger, Schlittschuhe und die Rugbysachen. Daneben die Musikausrüstung: Gitarren und Ständer, Verstärker, Koffer – ein Wunder, dass in dem Raum überhaupt noch Platz für Möbel und Menschen war.

Das alles ist jetzt verschwunden. An der Wand gegenüber steht ein Sofa, vor dem Kamin zwei Sessel. Kann sein, dass es das alte Sofa, die alten Sessel sind, aber wenn, dann sind sie neu bezogen worden mit blauem Cord, darauf als Akzente Kissen mit blau-weißem Blumenmuster. Die Nostalgikerin in mir hat auf einen Weihnachtsbaum gehofft; in unserer Kindheit hat Mum sich für Weihnachten immer vollkommen verausgabt. Jetzt jedoch könnte es jede Jahreszeit sein.

In gewisser Weise bin ich erleichtert, dass sich so viel verändert hat. Vielleicht hat Mum das Bedürfnis verspürt, die Erinnerungen und die Trauer jener Zeit herauszulösen und auszulöschen, genau wie ich. Sie konnte es sich nur nicht erlauben, dazu um die halbe Welt zu fliehen. Sie musste sich mit einem neuen Sofabezug und neuen Kissen zufriedengeben.

Mein Blick fällt auf die Fotos auf dem Kaminsims. Wie lange ich auch bleibe, es wird viele Dinge geben, denen ich mich stellen muss. Dazu gehören auch die Fotos.

Ich sehe mir jedes an, versuche gelassen zu bleiben. Wenn wir eine normale Familie wären, wäre ich vielleicht ein wenig pikiert, dass auf den meisten Bill, seine Frau Fiona und ihre drei Kinder zu sehen sind. Ein Hochzeitsbild ist dabei, ein Foto der fünf, wie sie an einem Strand einen riesengroßen Fisch in die Höhe halten; Bill mit einem Baby auf dem Arm, zwei Kleinkinder und ein kleines Mädchen beim Grimassenschneiden in einer Badewanne, dasselbe kleine Mädchen an einem Klavier. Als ich die Reihe von Fotos abgehe und zu den letzten drei komme, schnürt es mir die Kehle zu. Da ist ein Foto von Ginny und mir auf einer Bühne, wie wir ins Mikrofon singen, und unsere Schulfotos vom Abschlussjahr.

Ich starre auf Ginnys Foto. Vielleicht ist es der Umstand, dass auf Schulbildern keiner je gut aussieht, aber sie wirkt irgendwie weniger als das Mädchen in meiner Erinnerung. Weniger schön, weniger talentiert. Als hätte die Kamera ihr Wesen nicht einfangen können: ihre wunderbare Art, das Strahlen in ihren Augen. Plötzlich überrollt mich eine Welle der Trauer. Die echte Ginny – meine Ginny – ist nicht mehr.

»Ich habe Shortbread und Ingwerkekse. Was möchtest du lieber?«

Mum ist zurück ins Zimmer gekommen. Sie stützt sich auf ihren Stock und beobachtet mich dabei, wie ich die Fotos betrachte. Die Falte zwischen ihren Brauen vertieft sich ein wenig. Kekse sind jedoch ein Thema, mit dem ich fertigwerde. »Shortbread«, sage ich. »Ich kann es aber auch holen.«

Sie wischt mein Hilfsangebot beiseite. Ich folge ihr in die Küche. Während der letzten Jahre habe ich mir hin und wieder schottisches Shortbread im Supermarkt gekauft, manchmal haben es mir Leute auch zu Weihnachten geschenkt, weil sie dachten, dass ich mich über einen solchen kulinarischen »Gruß aus der Heimat« freuen würde. Aber die gekauften Mürbteigkekse haben nie so gut geschmeckt wie Mums Shortbread, das so üppig und zartschmelzend buttrig war.

Mum lehnt ihren Stock an die Spüle und gießt kochendes Wasser in die Teekanne. Es ist dieselbe Teekanne, an die ich mich aus meiner Kindheit erinnere, rosa Rosen an einem goldenen Spalier. Sie wirkt fehl am Platz, aus der Zeit gefallen. Alles andere hat sich so verändert. Die Wände, einst gelb, sind in einem neutralen Cremeton gestrichen. Die Arbeitsplatten sind neu, und der große Holztisch, der beinahe den ganzen Raum eingenommen hat, ist durch einen kleineren Tisch aus hellerem Holz ersetzt worden. Die Vorderseite des Kühlschranks, einst voller Bescheinigungen, Merkzettel und Benachrichtigungen der Schule, ist nun leer bis auf ein rot gestreiftes Küchentuch an einem Magnethaken. In der Nähe des Hinterausgangs steht ein Recyclingeimer. Obenauf liegt ein Karton mit Schottenkaro: Walkers Shortbread. Kam Mums Shortbread schon immer aus der Packung? Habe ich mir nur eingebildet, dass sie es selbst gebacken hat?

Verlegen trete ich von einem Fuß auf den anderen. »Toll, wie du das Haus renoviert hast«, versuche ich es mit Small Talk. Mum stellt die Teekanne auf ein Tablett, daneben zwei Tassen und den Teller mit Keksen. Ich strecke die Arme aus, um das Tablett zu nehmen, doch Mum versperrt mir den Weg. Das Geschirr klirrt und klappert, als sie ohne Stock zögerlich einen Schritt auf den Tisch zu macht. Ich halte den Atem an, bereit, sie aufzufangen …

Sie stellt das Tablett ohne Zwischenfall auf dem Tisch ab.

»Setz dich doch bitte«, sagt sie.

Ich setze mich. Scharrend zieht sie sich einen Stuhl heran und lässt sich darauf sinken. Unter der blauen Baumwollbluse kann ich die scharfen Konturen ihres Schlüsselbeins ausmachen.

»Das Haus hatte es dringend nötig.« Mum teilt die Tassen aus, weiß mit Goldrand, nicht die blauen Steingutbecher, die wir früher hatten, und gießt uns Tee ein. »Annie aus dem Dorf hat mir geholfen. Sie ist jetzt wieder verheiratet, mit einem Schreiner. Greg heißt er.«

»Ich habe sie im Pub gesehen, als ich mir ein Taxi geholt habe.« Ich nehme einen Schluck Tee: eine Mischung aus Hagebutte und Earl Grey. »Sie wirkt, ähm … anders.«

»Nun, das trifft wohl auf uns alle zu.« Mum nippt an ihrem Tee und verzieht das Gesicht, als hätte sie sich die Kehle verbrüht.

»Ja.« Ich weiß nicht recht, wie ich auf diese unwiderlegbare Tatsache reagieren soll. Älter, trauriger und vermutlich nicht viel klüger. Zumindest in meinem Fall. »Byron habe ich auch gesehen, hinterm Tresen. Und Lachlan ist der Taxifahrer. Aber das weißt du ja sicher alles.«

Sie starrt in ihre Teetasse, als wüsste sie nicht, was sie sagen soll. Genau wie ich.

»Ja«, sagt sie. »Und in dem einen Cottage ist ein Mann abgestiegen. Im kleineren, dem Skybird.«

Skybird … Warum hat Mum diesen Namen gewählt? Skybird war einer der letzten Songs, die Ginny und ich zusammen geschrieben haben. Es war unsere achtzehnjährige Version der Legende von Tristan und Isolde. Isolde steht am Ufer und wartet darauf, dass ihr Liebster zurückkehrt. Am Horizont sieht sie ein Boot mit schwarzen Segeln, was bedeutet, dass Tristan tot ist. Während Isolde sich ins Meer stürzt und ertrinkt, steigt eine Schar Krähen von den Masten auf und gibt den Blick auf weiße Segel frei. Tristan sieht Isolde im Wasser treiben, die Vögel kreisen um ihre Leiche.

Unsere Songs damals waren fast alle lachhaft schlecht. Aber auf Skybird waren wir stolz. Ich kann noch hören, wie meine Schwester den Refrain singt, mit ihrer hohen, reinen Stimme: »Flieg, Vogel, flieg in den Himmel, bring meinen Liebsten zurück zu mir.« Wenn Ginny eine Note hielt, erinnerte das Vibrato an einen tanzenden Kreisel, an eine vollkommene Schneeflocke, die sorglos vom Himmel herabwirbelt.

Mich fröstelt, und ich nehme noch einen Schluck Tee. Mum scheint auch gefangen in einer Erinnerung. Verstohlen schiebe ich meinen Teller mit Keksen zu ihr hinüber, und sie isst, ohne sich dessen bewusst zu sein. »Wie schön, wenn wir wieder Musik im Haus haben, jetzt, wo Skye zurück ist«, sagt sie. »Darauf freue ich mich schon. Du kannst dann singen …«

Meine Hand mit der Teetasse verharrt auf halbem Weg zum Mund.

»Ich habe deine schöne Stimme so vermisst, Ginny.«

Eine Bemerkung aus Bills letzter E-Mail kommt mir in den Sinn. »Meistens geht es ihr gut. Manchmal ist sie aber völlig desorientiert.«

Meine Hand zittert, und ich setze die Tasse ab. Ich wünschte, ich hätte zurückgemailt und gefragt, was ich tun muss. Versuche ich es mit liebevoller Strenge und erkläre ihr ruhig, dass sie Ginnys schöne Stimme nie mehr hören wird, weil Ginny nämlich tot ist? Oder wechsle ich das Thema in der Hoffnung, dass sie von selbst in die Realität zurückfindet?

Ich probiere es mit Letzterem.

»Wann kommt eigentlich Bill? Ich freue mich wirklich darauf, die Kinder wiederzusehen. Das letzte Mal ist schon eine Weile her.« Ich schwafle weiter: »Vor eineinhalb Jahren habe ich sie gesehen, habe ich dir das schon erzählt? Sie waren in Disney World in Florida. Ich hatte einen Auftritt in Charlotte – das ist in North Carolina – und bin an einem Wochenende runtergefahren und habe mich mit ihnen getroffen.«

Ich beobachte sie. Die Fantasiewelt, in der sie eben noch verharrt hat, scheint zerschlagen. Ihre Miene wird ausdruckslos, und sie wirkt verwirrt. Sie öffnet den Mund und schließt ihn wieder, ohne etwas zu sagen.

»Ich habe unterwegs ein paar Geschenke besorgt«, fahre ich fort. »Nur ein paar Kleinigkeiten. Und was meinst du, könnten wir einen Baum aufstellen? Also, ich will dir keine zusätzliche Arbeit machen – oder mir …«, ich lache verlegen, »… aber es wäre doch schön für die Kinder. Ist der Weihnachtschmuck noch oben auf dem Dachboden? Ich könnte ihn runterholen …«

Mum seufzt. Ich spüre, dass sie jetzt wieder voll da ist und die Wirklichkeit nicht so hübsch ist wie ihre Dämmerwelt. »Dein Dad hat sich jedes Mal den Kopf an diesem Balken angestoßen, wenn er die Kisten runtergeholt hat«, sagt sie. »Erinnerst du dich?«

»Ja«, sage ich und spüre erneut den schmerzlichen Verlust. Dad war ein sanfter, bescheidener Mann, der für jede Lage ein freundliches Wort und einen tröstlichen Spruch auf Lager hatte. In seinem kleinen roten Lieferwagen fuhr er beinahe jeden Tag an die hundert Meilen, um die Post in den Dörfern und Gehöften an der Küste zuzustellen. Er hat nie einen Tag gefehlt, egal, welches Wetter war. Die Musik war Dads Leidenschaft. Er spielte Gitarre und Flöte, und wir verbrachten ein paar Sommer in quälender Geräuschkulisse, als er vergeblich versuchte, sich das Dudelsackspielen anzueignen. Er liebte die mitreißenden Lieder der Jakobiten, in denen Bonnie Prince Charlie gepriesen wurde, und er schmetterte sie in seiner schrecklichen Singstimme, während wir anderen mit den Füßen den Takt dazu schlugen und lachten. Wie Dad habe auch ich mich für Instrumente entschieden. Mit zwölf konnte ich Gitarre, Mandoline, Geige, Bodhrán und Keyboard spielen. Ginny spielte Gitarre und brachte sich selbst das Spiel auf einer keltischen Harfe bei, die jemand im Dorf hatte loswerden wollen. Größtenteils jedoch war Ginny die Sängerin, der Star. Zusammen waren wir ein großartiges Team.