Finding Home - Das Geheimnis von Rosemont Hall - Lauren Westwood - E-Book

Finding Home - Das Geheimnis von Rosemont Hall E-Book

Lauren Westwood

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Beschreibung

Vor einem Monat hatte Amy Wood noch ein perfektes Zuhause, einen perfekten Freund und einen perfekten Job in London. Jetzt hat sie ein gebrochenes Herz, lebt wieder bei ihren Eltern und hat einen langweiligen Job in einem Immobilienmaklerbüro in Bath. Nicht nur ihre Eltern gehen Amy auf die Nerven, auch das Verhältnis zu ihren Kollegen und zum neuen Chef ist eher schwierig.

Entschlossen, das Beste aus der Situation zu machen, übernimmt Amy das Projekt „Rosemont Hall“ und verliebt sich auf den ersten Blick in das alte, verfallene Herrenhaus. Auf der Suche nach einem geeigneten neuen Besitzer, der dem Haus wieder zu altem Glanz verhilft, stößt Amy auf ein geheimnisvolles Gemälde und alte Briefe, die von einer unglücklichen Liebe erzählen. Aber sie trifft auch auf eine übellaunige Haushälterin mit einem riesigen Hund und einen Bauunternehmer, der Rosemont Hall nur zu gerne in ein modernes Golfresort verwandeln würde. Doch Amy ist fest entschlossen das Geheimnis von Rosemont Hall zu lüften und gibt nicht auf.

Drei Monate bleiben ihr, um das Herrenhaus vor dem Abriss zu bewahren. Als dann ein mysteriöser amerikanischer Erbe auftaucht, scheint alles verloren. Auch wenn er hinreißend aussieht und Amys Herz gefährlich ins Stolpern bringt …

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Über das Buch

Ich habe das seltsame Gefühl – fast eine Vorahnung –, dass sich für mich alles ändern wird. Es ist fast, als wäre ein Haus aus einem der Bücher, die ich so liebe, den Seiten entsprungen und in meinem Schoß gelandet.

Vor einem Monat hatte Amy Wood noch ein perfektes Zuhause, einen perfekten Freund und einen perfekten Job in London. Jetzt hat sie ein gebrochenes Herz, lebt wieder bei ihren Eltern und hat einen langweiligen Job in einem Immobilienmaklerbüro in Bath. Nicht nur ihre Eltern gehen Amy auf die Nerven, auch das Verhältnis zu ihren Kollegen und zum neuen Chef ist eher schwierig. Entschlossen, das Beste aus der Situation zu machen, übernimmt Amy das Projekt »Rosemont Hall« und verliebt sich auf den ersten Blick in das alte, verfallene Herrenhaus.

Auf der Suche nach einem geeigneten neuen Besitzer, der dem Haus wieder zu altem Glanz verhilft, stößt Amy auf ein geheimnisvolles Gemälde und alte Briefe, die von einer unglücklichen Liebe erzählen. Aber sie trifft auch auf eine übellaunige Haushälterin mit einem riesigen Hund und einen Bauunternehmer, der Rosemont Hall nur zu gerne in ein modernes Golfresort verwandeln würde.

Doch Amy ist fest entschlossen das Geheimnis von Rosemont Hall zu lüften und gibt nicht auf. Drei Monate bleiben ihr, um das Herrenhaus vor dem Abriss zu bewahren. Als dann ein mysteriöser amerikanischer Erbe auftaucht, scheint alles verloren. Auch wenn er hinreißend aussieht und Amys Herz gefährlich ins Stolpern bringt …

Über Lauren Westwood

Lauren Westwood ist erfolgreiche Romance-Autorin und zudem als Anwältin für eine Firma für erneuerbare Energien tätig. Ursprünglich aus Kalifornien stammend, lebt sie heute mit ihrem mann und ihren drei Töchtern in einem Cottage in Surrey.

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Lauren Westwood

Finding Home – Das Geheimnis von Rosemont Hall

Aus dem Englischen übersetzt von Christina Kagerer

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Teil eins

Prolog

I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

II

Kapitel 5

Kapitel 6

III

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil zwei

IV

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

V

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Teil drei

VI

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Teil vier

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

VII

Kapitel 38

VIII

Kapitel 39

IX

Kapitel 40

Kapitel 41

Teil fünf

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Epilog

Anmerkungen der Autorin

Impressum

Teil eins

Ist Thornfield Hall eine Ruine? Bin ich durch unüberwindliche Hindernisse von dir getrennt? Verlasse ich dich ohne eine Träne? – ohne einen Kuss? – ohne ein Wort?

Charlotte Brontë: Jane Eyre

Prolog

Oktober, London

Auf dem Papier sieht die Wohnung perfekt aus.

Ich krame in meiner Tasche und glätte die ausgedruckte Beschreibung, die ziemlich verknittert ist. In der Anzeige wird die Wohnung als ein »Zuhause mit viel Potenzial« in einer »aufstrebenden Gegend mit guter Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel« beschrieben. In der kurzen Zeit allerdings, in der ich jetzt auf Wohnungssuche bin, habe ich gelernt, dass die Immobilienmakler alles beschönigen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass »Zuhause mit viel Potenzial« mehr oder weniger heißt, dass es ein Wohnklo mit schlechten Leitungen, einer heruntergekommenen Küche und ohne Zentralheizung ist. »Aufstrebende Gegend« bedeutet wahrscheinlich, es gibt weit und breit keinen Starbucks, und wie mir die Blase an meiner Ferse bestätigt, ist »gute Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel« bloß eine Umschreibung dafür, dass die U-Bahn der Zone 3 einen zwanzigminütigen Fußmarsch entfernt liegt, man sein Auto aber ohne Parkerlaubnis in der Straße abstellen darf.

Ich werfe noch mal einen Blick auf die Karte und stecke das Papier zurück in die Tasche. Nachdem ich schon meilenweit von der U-Bahn aus die belebte Straße entlanggelaufen bin, nähere ich mich endlich dem Pfeil, der Thornton Gardens markiert. Der Name gefällt mir, weil er mich an Thornfield erinnert, das Haus, in dem Jane Eyre Mr Rochester getroffen hat. Das Straßenschild ist hinter dem wuchernden Efeu an einem Eckhaus. Als ich in die Straße einbiege, lasse ich augenblicklich quietschende Busbremsen und den Geruch von frittierten Pommes zurück und betrete eine scheinbar andere Welt.

Thornton Gardens ist von geparkten Autos und Platanen gesäumt, und als ich durch die gelben Blätter auf dem Gehweg streife, entdecke ich nicht nur eine, sondern gleich zwei blaue Plaketten an den Häusern der leicht verwahrlosten viktorianischen Terrasse. Ich habe weder von dem Komponisten noch von dem aus der Krim stammenden Kriegsreporter je gehört, die anscheinend hier gelebt haben. Aber plötzlich spüre ich eine gewisse Spannung in der Luft – eine Unterströmung der Geschichte, die ein gutes Omen für meinen neuen Job als Dozentin für Englische Literatur am College zu sein scheint.

Schon fast am Ende der Terrasse lehnt ein »Zu verkaufen«-Schild in Form eines riesigen Lutschers an den Stufen. Ich gehe auf das Haus zu. Bereits von Weitem kann ich sehen, dass die Fensterbretter abgeschlagen sind und das Mauerwerk neu verfugt werden muss. Aber irgendetwas regt sich in mir, als ich den Kopf in den Nacken lege und mir alle Stockwerke des großen roten Backsteingebäudes ansehe. Die Wohnung, die zu verkaufen ist, befindet sich ganz oben. Von den Engelsfiguren über der Tür bis hin zu den Tauben, die hoch über dem Fußwalmdach am Himmel fliegen, habe ich das seltsame Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Als ob ich hierhergehörte.

Während ich auf den Immobilienmakler warte, gehe ich in Gedanken durch, wie ich meinen Freund Simon davon überzeugen kann, hierherzukommen und es sich anzuschauen. Trotz einiger Punkte, die dagegensprechen, liegt die Wohnung immer noch über unserem Budget. Während ich ein Zuhause für uns finden will, das sich »einfach nur richtig anfühlt«, wird Simon den Preis drücken wollen. Ich werde ihm erzählen, dass ich mir den Mitgliedsbeitrag fürs Fitnessstudio sparen kann, wenn ich hier ständig die ganzen Stufen hochsteigen und zur Arbeit radeln muss. Außerdem können wir einen Großteil der Renovierung selbst erledigen – es wird viel Spaß machen, die Tapeten runterzureißen, Holzdielen zu schleifen und zusammen Wandfarben auszusuchen. Ganz zu schweigen vom Bummeln durch Antiquitätenläden, in denen wir nach alten Möbeln suchen. Vielleicht kann ich ja einen Wochenend-Nähkurs belegen und die Vorhänge und eventuell sogar die Polster selbst machen …

Die schwache Herbstsonne verschwindet hinter einer Wolke, und die plötzliche Kälte holt mich wieder in die Realität zurück. Ich sehe mich nach dem Immobilienmakler um – er ist bereits ein paar Minuten zu spät. Ehrlich gesagt bin ich ein bisschen nervös, ihn kennenzulernen. Als wir miteinander telefoniert haben, hat er nicht sonderlich beeindruckt von meinem Budget geklungen oder von der Tatsache, dass ich in den letzten sieben Jahren meinen Doktortitel gemacht habe. Am Ende habe ich mich dabei ertappt, wie ich bezüglich meines Gehalts und Simons Promotionsaussichten bei der Bank, bei der er arbeitet, etwas übertrieben habe. Bei der Suche nach einem Zuhause kann doch schließlich das Finanzielle nicht das entscheidende Kriterium sein. Es geht darum, den Ort zu finden, nach dem man schon sein ganzes Leben gesucht hat, ohne es überhaupt zu wissen; ein kleines Nest; ein sicherer Hafen. Meine Mum sagt immer, dass jeder den Ort findet, an den er gehört. Ich kann nur hoffen, dass sie recht hat.

Ein dunkelgrüner Mini mit einem Rennstreifen auf der Motorhaube biegt in die Straße ein und quetscht sich in eine kleine Parklücke. Ein Mann mit zu Stacheln hochgegelten Haaren im Nadelstreifenanzug steigt aus. Sein Blick wandert an mir vorbei, und ich wünschte, ich hätte mir ein schickes Kostüm und Schuhe mit hohen Absätzen angezogen anstatt eines altmodischen Rocks vom Camden Market und den flachen Ballerinas, die ich noch aus meiner Studentenzeit habe.

»Hallo?«, sage ich.

Er realisiert, dass ich die Interessentin sein muss, und kommt zu mir rüber. »Tut mir leid, ich bin zu spät«, sagt er charmant. Ich erkenne seine gedehnten Vokale und die nasale Intonation vom Telefon. »Ich bin Marcus Hyde-Smythe. Und Sie müssen …«

»Amy Wood.« Als wir uns die Hände schütteln, ärgere ich mich sofort über mich selbst, weil ich nicht Doktor Amy Wood gesagt habe.

»Warten wir noch auf jemanden, oder sind Sie heute allein gekommen?« Er zwinkert mir zu.

»Heute bin ich ohne Begleitung. Wenn ich die richtige Wohnung gefunden habe, bringe ich meinen Freund auch mit. Wir haben ein paar Jahre lang eine Wohnung gemietet, wollen uns aber jetzt eine kaufen.«

Ich will das zumindest. Doch das sage ich ihm nicht. Denn als ich Simon erzählt habe, dass ich mich bei ein paar lokalen Immobilienmaklern registriert habe, hat er nicht besonders erfreut geklungen. Und er war noch weniger erfreut, als er plötzlich täglich Textnachrichten mit Wohnungsanzeigen jeder freien Wohnung in einem Umkreis von fünf Meilen bekommen hat. Manchmal mache ich mir Sorgen, dass die gemietete frühere Sozialwohnung in den Docklands mit der Leder-Chrom-Clubgarnitur und dem Fünfzig-Zoll-3-D-Fernseher für ihn schon zu sehr zur Heimat geworden ist.

»Gut, gut.« Marcus Hyde-Smythe verzieht seine dünnen Lippen zu einem Lächeln. »Helfen Sie mir noch mal auf die Sprünge – suchen Sie nach etwas Modernem oder etwas Renovierungsbedürftigem?«

»Oh – nichts zu Modernes. Ich würde gerne eine Wohnung mit viel Charakter und ursprünglicher Ausstattung finden.« Ich drehe mich um und werfe erneut einen Blick auf die Hausfassade. Ich sehe die Frauen, die in der Vergangenheit hier gelebt haben mögen, fast vor mir: Ihre langen Seidenröcke rascheln, als sie durch die Eingangstür kommen. Sie rufen ein Taxi, um sich in der Regent’s Street ein Accessoire für einen neuen Hut zu kaufen, bevor sie sich bei Fortnum & Mason zum Tee treffen … »Eigentlich«, sage ich verträumt, »sieht dieses Haus von außen schon mal perfekt aus.«

»Ursprüngliche Ausstattung.« Seine Nasenflügel beben bei den Worten, als läge ein fauliger Geruch in der Luft. »Gut, gut.« Er schaut auf die überdimensionierte goldene Uhr an seinem Handgelenk. »Dann gehen wir mal nach oben. Die andere Besichtigung sollte jetzt zu Ende sein.«

»Andere Besichtigung?«

»Diese Wohnung wird von verschiedenen Immobilienmaklern gehandelt. Mir wurde gesagt, dass sich ein anderes Paar die Wohnung vor uns ansieht.«

»Oh.« Beunruhigung macht sich in mir breit. Meine perfekte Wohnung könnte auch für jemand anderen perfekt sein – sogar für viele Leute. Für Leute, die mehr Geld auf dem Konto haben als Simon und ich. Aber darüber kann ich jetzt nicht nachdenken. »Großartig«, sage ich schroff. »Gehen wir rauf.«

Er fischt ein Schlüsselbund aus seiner Tasche und öffnet die Tür. Ehrfürchtig trete ich ein. Das Foyer ist voller Werbeprospekte, aber darunter erkenne ich einen originalen rot-schwarzen Fliesenboden in geometrischem Muster. Am Ende erhebt sich eine Treppe mit weiß lackiertem Geländer unter einer rissigen Stuckleiste mit kunstvollen Gipsfrüchten. Ich atme den Geruch von Reinigungsmitteln, altem Haus und ein bisschen nassem Hund ein. Er ist ungewohnt, doch ich könnte mich definitiv an ihn gewöhnen.

Irgendwo über uns hören wir das Klackern von Absätzen. Einen Moment später erscheint eine rothaarige Frau in rotem Hosenanzug mit Make-up, das überhaupt nicht zum Rest der Farben passt, am Treppenabsatz.

»Hallo, Florence«, sagt mein Immobilienmakler mit schleimender Stimme. »Wie war die Besichtigung?«

Die rothaarige Frau verdreht die Augen. »Gib ihnen noch ein paar Minuten«, sagt sie. »Sie können ihre Hände einfach nicht voneinander lassen. Ihnen gefällt die Wohnung so sehr, dass sie am liebsten gleich das Schlafzimmer ausprobieren würden, bevor sie überhaupt ein Angebot bekommen haben – ganz zu schweigen von Möbeln.«

Mir stockt der Atem. Habe ich die Wohnung schon verloren, ehe man sie mir überhaupt gezeigt hat? »Ähm, ich würde sie trotzdem gerne noch sehen, wenn das in Ordnung ist«, sage ich.

Mein Makler schaut mich an, als hätte er Mitleid mit mir. Aber ich bin entschlossen, mich nicht von meinen Mitstreitern in die Flucht schlagen zu lassen. Bevor einer der beiden einen anderen Vorschlag machen kann, gehe ich die Treppen hoch.

Im ersten und zweiten Stock gibt es noch mehrere andere Wohnungen mit Türen in verschiedenen Farben. Das letzte Stück der Treppe, das zur Dachwohnung führt, ist schmal und wacklig. Hinter der schwarz glänzenden Tür ganz oben kann ich hohes Gelächter hören, das in ein leidenschaftliches Quietschen übergeht. Plötzlich werde ich an die Szene erinnert, in der Jane Eyre Mr Rochesters kleines, schmutziges Geheimnis in der Dachwohnung entdeckt und ihr Schicksal besiegelt ist. Meine Entschlossenheit kommt ins Wanken. Vielleicht sollte ich doch an einem anderen Tag wiederkommen …

»Soll ich vorgehen?« Mein Immobilienmakler tritt neben mich. »Und sichergehen, dass sie sich anständig benehmen?« Er zwinkert mir wieder zu.

Ich ignoriere seine Schleimerei und komme aufs Geschäftliche zu sprechen. »Können Sie mir sagen, wie das funktioniert?«, frage ich. »Wenn mir die Wohnung gefällt, können wir dann heute noch ein Angebot fertig machen, oder wie?« Ich betone das oder wie und denke daran, dass ich zuerst Simon an Bord holen muss. Als wir am Ende der Treppe angelangt sind, hole ich mein Handy hervor und schreibe ihm eine kurze Nachricht. Wenn er sich nach der Arbeit mit mir treffen kann, um sich die Wohnung anzusehen, dann haben wir vielleicht eine bessere Chance, sie zu bekommen, ehe ein erbitterter Kampf ausbricht.

»Eins nach dem anderen«, sagt Marcus Hyde-Smythe etwas herablassend. »Wollen wir erst mal sehen, ob sie Ihnen wirklich so sehr gefällt, okay?«

»Okay.« Mein Daumen liegt immer noch über der Senden-Taste.

Dann drehe ich den Messingtürknauf und schiebe die Tür sanft auf. Ich brauche nur einen Blick, um es zu wissen. Das ist das richtige Zuhause für Simon und mich, der perfekte Kokon für unser neues gemeinsames Leben. Mir wird ganz warm ums Herz. Ich betrete ein hübsches, kleines Empfangszimmer mit poliertem Holzboden. An einer Wand ist ein gemütlicher gusseiserner Kamin mit blauen und weißen Kacheln angebracht. Darunter, unter dem Dachvorsprung, befindet sich eine Ecke, in der ich meinen Schreibtisch aufstellen könnte – direkt unter einer Reihe von Schiebefenstern, die das rosa-orangefarbene Herbstlicht in die Wohnung lassen. Ich sehe genau vor mir, wie wir hier leben – ich, wie ich meinen Buchclub zu uns einlade, Simon, wie er mit seinen Arbeitskollegen Dinnerpartys veranstaltet. Ich stelle mir vor, wie wir zusammen am Fenster stehen, mit unseren Weingläsern anstoßen und den Himmel betrachten, wie er sich über den Schornsteinen von London dunkel und verschwommen färbt.

Das Geräusch von Schritten und gurrenden Stimmen aus der Küche reißt mich aus meinen Tagträumen. Hoffentlich kriegen die zwei Turteltauben für ein paar Stunden ein Zimmer, damit ich Simon herholen und über ein Angebot reden kann. Schnell drücke ich auf Senden, damit die Nachricht, die ich geschrieben habe, rausgeht.

»Lass uns das Schlafzimmer noch mal anschauen!«, ruft die Frau. Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich blondes Haar durch die Küchentür. Aus dem Innern der Küche höre ich ein Handy piepsen.

»O Mann«, sagt eine Männerstimme. »Warte kurz.«

Der Mann kommt in die Küchentür.

Unsere Blicke treffen sich.

Dann läuft alles wie in Zeitlupe ab.

»Simon?«, keuche ich.

»Amy?«, keucht er.

Als sich die schreckliche Wahrheit über mich legt, passiert alles wieder schneller. Die aufkeimende Übelkeit in meinem Magen, der schuldige Blick in Simons Gesicht, das Gewicht des Telefons in meiner Hand, gefolgt von der Leichtigkeit, als ich meinen Arm zurückreiße und es loslasse. Das Handy fliegt durch die Luft und überbrückt den Spalt zwischen uns. Dann ein dumpfer Schlag, als mein iPhone direkt auf der kecken, kleinen Nase der Frau auftrifft. Sie schreit auf, ich schreie auf. Schließlich drehe ich mich um und renne die Treppe runter, als die Wände meines Lebens über mir einstürzen.

I

Erster Brief (Abschrift)

Rosemont Hall

10. April 1952

Lieber Henry,

ich nehme an, dass Du in Deinen letzten paar Wochen an der Universität viel lernen musst. Schon bald wirst Du in Dein Zuhause Rosemont Hall zurückkehren. Ich befürchte, Du wirst es zum Schlechten verändert vorfinden.

Gestern habe ich den Gainsborough verkauft, der im grünen Salon hing. Für mich war es, als würde ich Deine Mutter noch einmal verlieren. Das Haus ist nichts mehr wert: die Wände kahl und leer, die Räume ohne das Leben und das Lachen, die sie einst erfüllten. Es ist lediglich ein schwacher Trost, dass die Balken im Dachboden nun ersetzt werden können, der Boiler gerichtet und das Rosenschlafzimmer neu tapeziert. Ich weiß, was Du zu mir sagen würdest, wärest Du jetzt hier – »Das Haus ist nur ein Haus; ein Gemälde nur ein Gemälde.« Und wir würden darüber streiten und zu keiner Einigung kommen.

Aber nun hat meine Nachsicht ein Ende. Es ist Zeit für Dich, etwas aus Dir selbst zu machen. Ich habe einen Plan, der diese erbärmliche Misere beenden und das Vermögen unserer Familie und unser stolzes Erbe wiederherstellen wird. Wenn Du zurückkommst, werden die Arrangements bereits getroffen worden sein. Bis dahin verbleibe ich …

Dein Vater

1

November …

Nailsea, Somerset

Das Auto stottert, als ich in die Einfahrt des Bungalows einbiege, als wolle es hier draußen nicht gesehen werden. Aus Versehen schalte ich in den dritten anstatt in den ersten Gang, und der Motor stirbt ab. Mrs Harvey, die Nachbarin von nebenan, zieht die Vorhänge ihres Küchenfensters zur Seite und winkt mir kurz zu. Ich zwinge mich dazu, sie anzulächeln, bis sie wieder verschwindet, und bin mir sicher, dass sie sofort zum Telefon greifen und ihren Freundinnen vom Scrabble Club erzählen wird, dass Amy Wood nicht nur wieder zurück zu ihren Eltern gezogen ist, sondern dass sie noch dazu nicht Autofahren kann.

Ich öffne die Fahrertür, kann mich aber nicht dazu aufraffen, auszusteigen. Ich lehne meinen Kopf an die Kopfstütze und schließe die Augen. Alles, was an diesem schrecklichen Nachmittag passiert ist – ist es wirklich schon einen Monat her? –, holt mich wieder ein. Der Schreck, die aufkeimende Panik, die Ungläubigkeit, meinen Freund, mit dem ich seit sieben Jahren zusammen bin, in dieser wunderschönen kleinen Wohnung mit einer anderen Frau zu sehen. Erst hinterher wurde mir bewusst, dass ich sie kannte – Ashley, die Sportlehrerin an dem College, an dem ich unterrichtete. Eine kleine blonde Amerikanerin, die schon bei Olympia war. Jetzt hat sie dank meiner Ungenauigkeit beim Zielen eine schiefe Nase.

Doch das Schlimmste kam erst noch … als mir der Institutsleiter Folgendes mitteilte: Es tut mir leid, Ms Wood, aber das Direktorium kann einen tätlichen Angriff von einer Lehrerin auf eine andere nicht billigen – egal unter welchen Umständen. All meine Einwände, die ich unter Tränen vorbrachte, halfen nichts. Ja, ich bin mir sicher, dass die Wohnung sehr hübsche Originalverzierungen hatte …

»Geht’s dir gut, Prinzessin?«

Ich blinzle mich wieder in die Realität zurück. Mein Vater steht auf einer Leiter vor dem Bungalow und kämpft mit einer Weinranke, die über einem Fenster hängt. Ich zwinge mich dazu, aus dem Auto auszusteigen, und gehe zu ihm. Das Haus wurde in den siebziger Jahren gebaut – komplett aus rotem Backstein, Rauputz und gebeiztem Holz, identisch mit jedem anderen in der Straße. Als meine Eltern beschlossen hatten, das kleine Fachwerkhaus, in dem ich aufgewachsen bin, zu verkaufen, habe ich mich wie eine entwurzelte Pflanze gefühlt, die aus der Erde gerissen und in einen Plastikkübel aus dem Baumarkt gesetzt wird. Ich habe den Bungalow gehasst. Alles – von dem orangefarbenen Teppichflor über das avocadofarbene Badezimmer bis hin zu der Schwarz-Eiche, die mir den Ausblick von meinem Zimmerfenster aus versperrt – hat sich falsch angefühlt.

Eins muss ich Dad aber zugutehalten: In den letzten Jahren hat er hart an dem Bungalow gearbeitet. Der Türrahmen ist immer frisch gestrichen, und der Garten sieht auch in der blassen Novembersonne noch grün und üppig aus. Für sie bedeutet Zuhause, in fußläufiger Entfernung zu den Läden und der Kirche des Ortes zu wohnen, und das Pub am Ende der Straße zu haben, in dem sie jede Woche Scrabble und Bridge spielen. Es ist ein gemütlicher, freundlicher Ort für ihren Ruhestand, da kann ich nicht widersprechen.

Dad legt das Fadenknäuel auf die erste Sprosse, wo es prompt hinunterfällt und sich aufrollt.

»Ja, Dad, mir geht es gut.« Ich akzeptiere den plötzlichen Rückfall in mein Kindesalter, dem mich meine Eltern seit dem Abend vor fast exakt einem Monat unterworfen haben, als ich tränenüberströmt vor ihrer Tür stand und ihnen mein Leid klagte: Freund weg, Wohnung weg und Job weg – und das alles in weniger als vierundzwanzig Stunden. Ich hebe das Fadenknäuel auf. »Brauchst du Hilfe?«

»Klar.«

Pflichtbewusst schneide ich etwas Faden ab und halte es ihm hin. Er bindet die widerspenstige Ranke an das Rankgerüst. Es ist das erste Mal heute, dass ich mich nützlich fühle. Ich schneide zwei weitere Stücke ab und reiche sie ihm.

»Warst du shoppen oder so?«, fragt Dad.

»Nein, ich habe mir eine Stelle angeschaut.«

»Eine Stelle!« Er kommt die Leiter ein paar Sprossen hinunter und schüttelt mir die Hand, als wäre er begeistert, dass ich so etwas Erwachsenes tue. »Was ist es? Nein, lass mich raten … Badminton-Lehrerin an der Mädchenschule? Beeinflussbare junge Damen über die Gefahren eines Korsetts aufklären?«

»Eigentlich war es eine Gesamtschule in Bridgewater. Und leider hat sich herausgestellt, dass sie niemanden einstellen.« Mich nicht einstellen. Genauso wenig wie die anderen Colleges und Mittelschulen in einem Umkreis von dreißig Meilen rund um Bristol, bei denen ich es im letzten Monat versucht habe. Nicht einmal zum Unterrichten eines Abendkurses.

»Na ja.« Er kratzt sich am Haaransatz. »Kopf hoch, du wirst schon etwas finden.«

»Ja, Dad.« Ich lächle tapfer. »Das werde ich.« Aber was? Ich habe sogar begonnen, mir zweimal am Tag die Online-Kleinanzeigen durchzulesen. Doch jeder angebotene Job in der Umgebung scheint etwas mit Toilettenreinigen in einem Pub oder Regale-Auffüllen im Supermarkt zu tun zu haben. Und wahrscheinlich würden sie nicht einmal dafür eine Handy-werfende Furie ohne persönliche Empfehlung einstellen.

»Das sollte genügen.« Dad bindet das letzte Stück Faden an und klettert die Leiter ganz hinunter. »Ab hier übernehme ich.«

»Okay, Dad. Ich gehe rein.«

Die Fliegengittertür fällt hinter mir ins Schloss, als ich das Haus betrete und einen Blick in die Küche werfe. Mum steht am Herd und trägt eine Wallace & Gromit-Schürze, die ihr eins ihrer Kinder zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hat. Sie brät Würstchen in einer riesigen Pfanne. Das Fett brutzelt und spritzt und trifft Wallace – oder Gromit? –, als Mum gewissenhaft die Zwiebeln und den Lauch zugibt. Mir dreht es den Magen um. Seit ich ein kleines Kind war, habe ich Würstchen gehasst. Aber ich würde niemals Mums Gefühle verletzen und ihr das sagen.

»Riecht gut, Mum.«

Mum wirft mir einen Blick über ihre Schulter hinweg zu und runzelt die Stirn. »Der obere Knopf deiner Jacke hängt nur noch an einem Faden. Soll ich ihn dir annähen?«

Als ich auf meine schwarze Jacke hinabsehe, fällt mir auf, dass der erste Knopf tatsächlich locker zu sein scheint. Ich wünschte, ich könnte mein Versagen bei dem Bewerbungsgespräch auf mein schlampiges Aussehen zurückführen, aber ich weiß, dass das nur Wunschdenken ist. »Ist schon okay, Mum. Das mache ich später.« Ich gehe in Richtung meines Zimmers.

»Wie war das Bewerbungsgespräch?«, fragt Mum.

Ich bleibe stehen und drehe mich um. »Es war nicht wirklich ein Bewerbungsgespräch – eher eine inoffizielle Unterhaltung. Du weißt schon, nur mal zum Kennenlernen.«

»Oh.« Sie wendet sich mit einer Gabel den Würstchen zu. »Dann hast du den Job also nicht bekommen?«

»Nein.« Ich seufze.

Sie dreht die Hitze am Ofen runter und deckt das seltsam riechende Gericht zu. »Nun ja, wenn du so dringend einen Job haben willst, wie du sagst, könnte Mrs Harvey von nebenan dir vielleicht etwas besorgen. Ihre Nichte ist schwanger, und ihr Büro sucht eine Aushilfe.«

»Eine Aushilfe?«

»Nur, bis du wieder auf die Füße kommst.«

»Eine Aushilfe als was?«, stammle ich. »Als Schreibkraft?«

»Es ist in Bath – mehr weiß ich nicht. Aber ich kann sie nach weiteren Informationen fragen.« Mum nimmt die Würstchen aus der Pfanne und verteilt die fettigen Dinger auf drei Teller.

»Ich denke nicht, dass es das ist, wonach ich suche. Ich meine, ich habe Jahre auf der Uni verbracht, um einen guten Abschluss und schließlich meinen Doktortitel zu bekommen …« Die Worte lösen sich auf meiner Zunge auf. Ich war vielleicht gut darin, zu recherchieren und kluge, kurze Essays für wissenschaftliche Magazine zu schreiben – ich habe einen Artikel über »Häuser als Charaktere in der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts« geschrieben, der einen Preis gewonnen hat. Als Lehrerin war ich stolz auf mein Talent, einigen der größten literarischen Klassiker für meine Studenten Leben einzuhauchen – wir sind zusammen jede Nuance von Mr Darcys Verhalten aus der Perspektive von Elizabeth Bennet in Stolz und Vorurteil durchgegangen. Wir haben jeden bebenden Herzschlag während Jane Eyres Niedergang in der Liebe zu ihrem aufgewühlten Arbeitgeber Rochester in Jane Eyre studiert. Wir sind auf jeder Seite bei den düsteren Schatten von Manderley zusammen mit der zweiten Mrs de Winter in Rebecca zusammengezuckt. Aber mal im Ernst – das sind nicht wirklich Fähigkeiten, die man für die reale Welt braucht.

»Wie du willst.« Mum zuckt mit den Schultern.

Ich lasse den Kopf hängen. »Vielleicht kann es nicht schaden, etwas mehr über die Stelle zu erfahren – für den Fall, dass ich nichts anderes finde.«

Mum grinst ein bisschen zu selbstgefällig. »Das ist mein Mädchen. Wenn es hart auf hart kommt, reißt du dich zusammen.«

»Ja, Mum.« Ich schlage halbherzig mit ihr ein. »Niemals den Mut verlieren, und so weiter.«

Mum sieht fast erfreut aus, als sie Mrs Harvey von nebenan anruft, um mehr von ihr zu erfahren. Aber alles, was sie erfährt, sind eine Adresse und der Name einer Firma in Bath: Tetherington Bowen Knowles. Als ich den Namen höre, fasse ich Mut. Es klingt nach einer superseriösen Anwaltskanzlei oder vielleicht nach einer Buchhaltungsfirma. Irgendetwas mit bequemen Sofas und Messinglampen mit grünem Glas, das nach Zigarrenrauch, Ledereinbänden und vergilbtem Papier riecht. Meine Eltern haben keinen Internetzugang, also kann ich es nicht herausfinden.

»Sie sagt, du kannst morgen kommen«, sagt Mum. »Anscheinend ist es bei ihrer Nichte bald so weit.«

Ich verziehe das Gesicht bei dem Gedanken. »Okay, das werde ich.«

Beim Abendessen ertränke ich die Würstchen in Senf und stochere auf meinem Teller herum. Mit halbem Ohr höre ich Mum und Dad dabei zu, wie sie Klatsch und Tratsch über ihre Nachbarn, die Spendensammlung für das Kirchendach und die Vorzüge von Aldi vs. Lidl reden. Danach verbringen wir einen ruhigen Abend vor dem Fernseher und sehen uns Antiques Road Trip und Mastermind an. Als Dad eine Aufzeichnung von Autumnwatch anmacht, entschuldige ich mich mit der Begründung, dass ich mich gleich morgen früh um diese Aushilfsstelle kümmern möchte. Dad sieht beeindruckt aus. »Okay, Prinzessin«, sagt er. »Wir werden dir die Daumen drücken.«

»Toll, Dad«, entgegne ich. »Das ist gut zu wissen.«

»Und vergiss nicht, diesen Knopf noch anzunähen«, wirft Mum ein, als ich das Wohnzimmer verlasse.

Ich gehe ins Bad, mache mir eine Fünf-Minuten-Gesichtsmaske und lege mir Gurkenscheiben auf die Augen. Dann setze ich mich auf den Badewannenrand, und je mehr ich versuche, nicht an die Vergangenheit zu denken, desto präsenter ist sie in meinem Kopf. Ich sehe Simon lebhaft vor mir – er sitzt zwei Reihen hinter mir im Vorlesungssaal, wo wir uns zum ersten Mal getroffen haben. Wir sind ins Gespräch gekommen und haben festgestellt, dass wir denselben Nachtbus nach Hause nehmen müssen. Große Liebesgeschichten der Zeit waren bereits auf weniger aufgebaut, würde ich sagen. Eins hat zum anderen geführt, und schon bald war Simon so oft bei mir in dem Mini-Apartment, dass es seinen Worten zufolge »verrückt sei, so viel Geld für zwei Wohnungen zum Fenster rauszuschmeißen«. Das ist zugegebenermaßen nicht der romantischste Grund zusammenzuziehen. Trotzdem habe ich pflichtbewusst meine Bücher, meine Klamotten und all mein Hab und Gut genommen und bin in seine Junggesellenbude in den Docklands gezogen, die eigentlich bereits voll war mit einer Hantelbank, einer Xbox, einem Nasenhaartrimmer und einem Hosenbügler. Ich habe mich dort nie wirklich zu Hause gefühlt – als hätte ich dort nie eine Spur hinterlassen. Nachts habe ich immer davon geträumt, dass wir es uns eines Tages leisten können, ein richtiges Zuhause für uns beide zu finden.

Obwohl die Wohnsituation nicht perfekt war, war Simon stets ein Vorzeigefreund. Ich konnte immer auf kleine Aufmerksamkeiten zählen: einen runtergesetzten Blumenstrauß vom Laden am Bahnhof, meinen Lieblingsfalafel-Wrap ohne Zwiebeln, den er mir mitgebracht hat, wenn er lange gearbeitet hat, Textnachrichten, wenn er mal wieder in einem langweiligen Meeting mit Saudi-Investoren saß, obwohl er viel lieber mit mir zu Hause University Challenge angeschaut hätte. Nach etwa einem Jahr wurden diese Aufmerksamkeiten weniger, und die mageren Jahre begannen. Ich habe rund um die Uhr an meiner Doktorarbeit gearbeitet, er rund um die Uhr in seiner Investmentbank. Aber wir hatten immer noch die Wochenenden, die wir meistens aneinander gekuschelt auf dem orangefarbenen Samtsofa verbracht haben, das wir in einem Container in Wapping gefunden und es mit Ach und Krach zusammen durch das Fenster der Wohnung gehievt hatten. Wir haben viel Essen beim Lieferdienst bestellt, viel Wein getrunken, jede Menge Filme geschaut und – wenn wir nicht zu müde waren – Sex in dem schmalen Doppelbett gehabt, auf dem eine gehäkelte Bettdecke lag, die ich auf dem Petticoat Lane Market gekauft habe. Alles in allem war es eher eine nette Co-Existenz als eine großartige Liebesgeschichte, aber es genügte mir. In den letzten paar Monaten wurde es auch besser. Ich habe begonnen, am College Englische Literatur zu unterrichten, und die Bank hat Simon zum Vizepräsidenten für aufkommende Märkte gemacht. Ich hatte ein Leben. Ein Leben …

Ich nehme eine Gurkenscheibe vom Auge und esse sie. Um mich herum versetzt mir der Anblick der Artex-Wände und des avocadofarbenen Badezimmers einen kleinen Stich. Warum bin ich hier, wo ich doch eigentlich am Kopfende eines Tisches voller kluger und interessierter Studenten stehen und mit ihnen über »Das Mysterium der feministischen Identität anhand von Jane Austen« diskutieren sollte? Was ist mit der Zukunft passiert, die »hätte sein sollen«? Eine Szene in einem romantischen Restaurant, Wein und Kerzen; Simon, der etwas aus seiner Tasche holt, auf die Knie geht; alle um uns herum unterbrechen ihre Unterhaltungen und sehen uns an. Ich stelle mir den Ring vor – er weiß, dass ich auf antike Sachen stehe, also wäre es wahrscheinlich etwas Altes, Viktorianisches mit Saatperlen und winzigen Diamanten. Und plötzlich wäre ich aufgenommen in die Schwesternschaft der Frauen, die nach langem Kampf und einem harten Leben endlich ihr Happy End gefunden haben.

Ein Happy End. War es so falsch von mir, das zu wollen?

Ich wasche mir die Schlammmaske vom Gesicht und blicke in den Spiegel. Die Frau, die zurückstarrt, ist etwas dünner als vor einem Monat und hat ein – wie es ein Romanautor beschreiben würde – herzförmiges Gesicht und eine Porzellanhaut. Ihr dickes dunkles Haar ist schulterlang zu einem Bob geschnitten. Einzig ihre Augen scheinen etwas von ihrem Glanz verloren zu haben. Während die Wut, durch die perfekte Ashley ersetzt worden zu sein (»Es tut mir wirklich leid, Amy. Aber als ich sie bei dieser Einführungsveranstaltung für neue Lehrer getroffen habe, wusste ich einfach, dass es Schicksal ist«), langsam nachlässt, hält der Schmerz dessen, was zum Teufel ich jetzt machen soll, weiter an. Ein Aushilfsjob ist nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Doch ich muss etwas tun – irgendetwas –, um wieder auf die Beine zu kommen, egal wie wacklig meine Knie immer noch sind. Ich mache ein paar Gesichtsübungen im Spiegel und übe mein perfektes »Bewerbungsgespräch-Lächeln«. Es ist jedes Mal nervenaufreibend, sich für einen neuen Job zu bewerben, aber wie schlimm kann es schon sein?

Ich putze mir die Zähne und ziehe meine kuscheligen Hausschuhe an. Bevor ich das Badezimmer verlasse, stecke ich meinen Kopf in den Flur, um zu checken, ob die Luft rein ist. Der Fernseher ist aus, und unter der Tür des Schlafzimmers meiner Eltern scheint Licht hindurch. Ich gehe den Gang entlang zu der Kommode, in der Mum ihre Nähsachen hat. Aber sie sind nicht da. Ich eile in mein Zimmer zurück und stecke mir ein paar blaue Schaumstoff-Ohrstöpsel in die Ohren, die ich mir letzte Woche während eines nächtlichen Notfalls gekauft habe – aus dem Zimmer meiner Eltern kamen mitten in der Nacht Geräusche. Ich bete, dass ich schnell einen Job finde, etwas Geld verdiene und mir bald eine eigene Bleibe leisten kann.

Doch bis dahin kann ich nichts weiter tun, als mich in dem schmalen Bett unter der Decke zu verkriechen und mir das Kissen über die Ohren zu ziehen.

2

Zwei kleine Worte.

Mir rutscht das Herz in die Hose, als ich vor dem goldenen Bürogebäude von Tetherington Bowen Knowles in Bath stehe und überlege, ob ich reingehen oder zurück in den Zug springen und nie wieder zurückkommen soll. Das ist keine superseriöse Anwaltskanzlei oder eine Buchhaltungsfirma. Es ist auch keine Privatchirurgie oder eine Karriereberatungsstelle. Das Büro, in dem ich – wenn ich Glück habe – eine Aushilfsstelle bekomme, ist nichts anderes als …

… ein Immobilienbüro.

Immobilienmakler – der Beruf, den einfach jeder hasst. Für mich ist es der Beruf, der mich immer an die Szene meiner ultimativen Demütigung erinnern wird. Den Gesichtsausdruck meines Immobilienmaklers, nachdem ich Ashley mein Handy ins Gesicht geworfen habe – seine fleischige Oberlippe, die er leicht amüsiert verzogen hat –, werde ich nie vergessen. Wie er ein fleckiges Seidentaschentuch entfaltet hat, als er dem Fräulein mit der blutigen Nase zu Hilfe geeilt ist. Seine Worte zum Abschied an mich, als ich die Treppen runter auf die Straße gerannt bin, meine Träume in Scherben, mein Gesicht aufgedunsen und tränenüberströmt: »Miss Wood, dann kann ich davon ausgehen, dass Sie kein Angebot abgeben werden?«

Ich hole tief Luft, um mich zu beruhigen, als sich der Knopf meiner Jacke über der Brust erneut zu lösen droht. Der einzige Weg, wie ich wieder aus dem Loch, in das ich gefallen bin, herauskomme, ist, einen Job zu finden. Irgendeinen Job. Ich muss meinen Blick auf den Preis richten – aus dem Bungalow meiner Eltern auszuziehen in eine Wohnung, die ich mein Zuhause nennen kann. Ich muss da rein.

Ein Glöckchen klingelt, als ich die Tür öffne. Sofort herrscht reges Treiben in dem offenen Büro. An einem Schreibtisch lacht ein Mann mit Stachelfrisur in ein Telefon, das er zwischen Kinn und Schulter geklemmt hat, und wedelt mit einem Stift herum. Am hinteren Ende des Raumes schenkt mir eine ältere Frau in Tweed gekleidet ein schmallippiges Lächeln, während sie sich Milch in ihre Kaffeetasse schenkt. Sogar die hochschwangere Frau am ersten Schreibtisch neben dem Eingang – Mrs Harveys Nichte, nehme ich an – sieht von ihrem Computer auf und grinst mich durch die Zähne an wie eine Grinsekatze. Ich scheine die Einzige zu sein, die ihre Mundwinkel nicht nach oben ziehen kann.

Ich gehe auf die Nichte zu. Jeder beugt sich in unsere Richtung wie Pflanzen der Sonne entgegen.

»Hi, äh, ich bin Amy Wood. Ihre Tante wollte heute Morgen anrufen. Wegen dem Job als Mutterschutzvertretung?«

Sofort erlischt die ganze Energie im Raum. Alle widmen sich wieder ihren Aufgaben.

Die Nichte sieht mich abschätzig an. »Nehmen Sie Platz. Mr Bowen-Knowles ist in einer Telefonkonferenz.«

Also mache ich mich auf den Weg zum Wartebereich, der – mit einem Wort gesagt – beige ist. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass es hier keine Bücher in Ledereinbänden oder aufmunternde Messinglampen gibt. Ich setze mich in die Ecke eines harten beigen Sofas mit Armlehnen aus Chrom, das von Topfblumen umgeben ist. Auf dem beigen Holztisch liegen Stapel von Immobilienanzeigen. Einer davon besteht aus Anzeigen für verfügbare Immobilien auf einem Anwesen mit neu gebauten Häusern. Ein paar der mysteriösen Fachbegriffe erkenne ich wieder: »erstklassiges Inventar und Einrichtung zum Wohlfühlen« … ich nehme an, das bezieht sich auf die unechten Marmorsäulen, die weißen Teppiche und die glänzend schwarzen Küchen auf den Fotos. Der andere Stapel beinhaltet eine Mischung aus Einzimmerwohnungen und Doppelhaushälften im größeren Umkreis von Somerset – viele von ihnen in »charmanten Dörfern« (meilenweit kein Supermarkt) oder mit »guter Verkehrsanbindung« an Orte wie London und Cardiff. Ich sehe mir die Anzeige für ein Einzimmerapartment in einem kürzlich aufgewerteten Viertel Bristols an und schnappe nach Luft, als ich den »niedrigen!« Preis entdecke. Auch wenn ich nicht erst meinen Lehrerjob verloren hätte, hätte ich Schwierigkeiten, mir eine kleine Wohnung für mich alleine zu leisten. Langsam sacken meine Schultern hinab …

»Amy Wood?«

»Ja, das bin ich.« Als ich aufstehe, löst sich der oberste Knopf meiner Jacke und macht meinen großen Auftritt jäh zunichte, indem er auf den Boden fällt und wie ein flacher Stein über die Wasseroberfläche eines ruhigen Sees schlittert.

Und leider lächelt der Mann, der an der Tür eines winzigen Büros mit beigen Wänden steht, nicht. Sein Blick folgt dem Knopf, der schließlich unter dem Schreibtisch der Nichte zum Stillstand kommt. Dann sieht er zu der kleinen Spitzenfalte meines schwarzen BHs, der jetzt aus dem V-Ausschnitt meiner Bluse herauslugt, wie mir bewusst wird. Ich kann nur warten – bis seine Augen wieder auf meinem Gesicht landen, das nun knallrot ist.

»Kommen Sie in mein Büro. Ich bin Alistair Bowen-Knowles.«

Er schiebt mich nach drinnen. Der riesige Schreibtisch, der den größten Teil des Büros einnimmt, ist unnatürlich aufgeräumt. An den Wänden hängen Zeichnungen von Architekten von modernen Häusern und sechs gerahmte »Verkäufer des Jahres«-Zertifikate, die alle millimetergenau arrangiert wurden. Mr Bowen-Knowles trägt ein gestärktes rosa Hemd mit Manschettenknöpfen, eine Nadelstreifenhose und eine lila-silberne Krawatte. Seine Augen liegen zu eng beieinander, und er hat eine lange, wolfsähnliche Nase.

Mr Bowen-Knowles legt seine Finger aneinander. »Also, Miss Wood, was kann ich für Sie tun?«

Lächelnd gebe ich ihm meine vorbereitete Antwort. »Ich habe gehört, dass Sie in Ihrem Büro eine Stelle zu besetzen haben. Derzeit bin ich auf der Suche nach Arbeit und dachte, das wäre was … äh … für mich.« Ich reiche ihm meinen einseitigen Lebenslauf (in dem meine Ausbildung hervorgehoben und die Tatsache, dass ich überhaupt keine Erfahrung in dem Bereich habe, runtergespielt wird). Er nimmt ihn und liest ihn sich mit zusammengekniffenen Augen durch.

»Sind Sie sicher, dass Sie hier richtig sind?« Er verzieht angewidert die Mundwinkel. »Der Buchladen ist die Straße runter.«

Ich rutsche auf meinem Stuhl umher und bereite mich auf einen würdigen Abgang vor. Ich habe schon genug Probleme, als dass ich auch noch Mr-Verkäufer-des-Jahres dazu brauche. Mein Blick wandert auf die weißen Visitenkarten, die in einer Halterung stehen. Unter den hervorgehobenen Wörtern Tetherington Bowen Knowles befindet sich noch eine klein geschriebene Zeile, die ich vorher noch nicht bemerkt hatte: spezialisiert auf einzigartige und historische Anwesen. Ich nehme eine der Karten aus der Halterung.

Einzigartig. Historisch. Zwei kleine Wörter …

Und plötzlich lichtet sich der giftige Nebel vor meinem Verstand.

»Sie werden sich meinen Lebenslauf ansehen und denken, dass ich überqualifiziert bin.« Ich setze mich etwas aufrechter hin. Er hebt die Augenbrauen, als hätte er diesen Gedanken keinesfalls gehabt.

»Aber Tatsache ist, dass die akademische Welt ein bisschen langweilig war. Ich habe viele englische Klassiker gelesen, in denen einzigartige und historische Anwesen vorkommen. Und ich denke, ich bin die perfekte Person, um solche zu verkaufen. Worauf sich Ihre Agentur spezialisiert hat, ist genau mein Fachgebiet.« Ich lächle ihn an und taue langsam auf.

Die Nichte watschelt in den Raum, und ihr Lächeln sieht jetzt eher nach einer Grimasse aus. Dann stellt sie einen Kaffeebecher vor mich auf den Schreibtisch, den ich ignoriere.

»Ich habe alte Anwesen schon geliebt, als ich noch ein kleines Mädchen war und mein Dad unsere Hütte renoviert hat. Sie war voller Charakter und Eigenarten – wie ein Mensch. Ich habe sie geliebt und war am Boden zerstört, als wir ausgezogen sind.« Ich beuge mich vor. »Ich bin mir sicher, ich kann jede Menge einzigartige und historische Anwesen verkaufen und vielen Menschen ihr Traumhaus verschaffen. Vielleicht werde ich sogar … ähm … Verkäufer des Jahres, wie Sie.« Ich lache nervös. »Ich meine, Verkäuferin.«

Zufrieden mit meiner Rede lehne ich mich wieder zurück. Anstatt wirklich beeindruckt zu schauen, spielt Mr Bowen-Knowles mit seinem rechten Manschettenknopf.

»Sind Sie fertig?«, fragt er schroff.

»Ja.« Ich werde ganz klein auf meinem Stuhl.

»Gut.«

Er nimmt sein BlackBerry und starrt mit düsterem Blick auf das Display. Die Stille tut richtig weh, als er beginnt, auf die winzigen Tasten zu tippen.

»Wie alt sind Sie?«, sagt er, ohne aufzublicken.

»Ich bin gerade einunddreißig geworden.«

»Und auf welche Schule sind Sie gegangen?«

»Ich habe meinen Doktor in Geschichte und Literatur an der UCL gemacht.«

»Davor?«

»Auf die Willowdale-Gesamtschule in Wookey Hole.«

»Das merkt man.«

»Wie bitte?«

Mr Bowen-Knowles legt sein BlackBerry ab und seufzt gereizt auf. »Miss Wood, Tetherington Bowen Knowles hat eine sehr exklusive Klientel. Unsere Käufer wollen Geschmack, Raffinesse und Diskretion.« Er sieht mich herablassend an. »Ich bin mir sicher, es ist beeindruckend, dass Sie Bücher über historische Anwesen gelesen haben und dass Ihr Vater eine alte Hütte renoviert hat.« Er schüttelt den Kopf und gibt einen abschätzigen Laut von sich. »Aber ehrlich gesagt frage ich mich, ob Sie das richtige Auftreten besitzen, um hier zu arbeiten. Das hier ist ein Geschäft. Es geht um Zahlen und Kommissionen. Wir sind keine Vermittlungszentrale für Mensch und Haus. Wir erwarten die Raffinesse und Würde des Cheltenham Ladies’ College, nicht Wookey Hole.«

Der Styroporbecher ploppt in meiner Hand. Ich weiß nicht, ob ich ihm ins Gesicht lachen oder aufstehen und hinausstürmen soll. Vielleicht habe ich ein bisschen übertrieben, und ganz offensichtlich habe ich keine Verkaufserfahrung. Vielleicht will er mich testen, oder er ist einfach nur gemein. Alles, was ich weiß, ist, dass je mehr er mir erzählt, ich wäre es nicht wert, eine Immobilienmaklerin zu sein – nicht einmal als Vertretung –, desto entschlossener bin ich, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

»Mr Bowen-Knowles …« Ich hebe mein Kinn an und richte mich auf dem Stuhl auf. »Ich verstehe Ihre Bedenken. Aber wenn Sie mich heute einstellen, werden Sie es nicht bereuen. Das verspreche ich Ihnen. Ich bin klug und enthusiastisch. Und ich lerne schnell. Außerdem kenne ich Somerset, Wiltshire und Gloucester wie meine Westentasche. Ich bitte Sie darum, mir eine Chance zu geben …«

Gib mir eine Chance – das habe ich zu Simon gesagt, als er in unsere gemeinsame Wohnung in den Docklands zurückgekommen ist, um offiziell mit mir Schluss zu machen. Gib mir eine Chance, kochen zu lernen. Gib mir eine Chance, meine Papiere, Bücher und mein Durcheinander aufzuräumen. Gib mir eine Chance, am Samstagabend mit dir Sky Sports anzuschauen anstatt Antiques Roadshow. Gib mir eine Chance …

Habe ich das wirklich gesagt? Wie erbärmlich.

Mr Bowen-Knowles macht sich nicht die Mühe zu antworten. Er nimmt sein BlackBerry wieder in die Hand und schaut auf das Display.

Ich stehe auf und seufze in mich hinein. Wenn ich etwas daraus gelernt habe, die schlimmsten Monate meines Lebens zu überstehen, dann die Tatsache, dass es keinen Sinn macht, zu bleiben und sich weiter demütigen zu lassen. Ich werde ihm einfach höflich danken, mit erhobenem Kopf aus seinem Büro gehen und vergessen, dass ich je …

Plötzlich bricht Tumult im Großraumbüro vor der Tür aus.

»Scheiße, Sally!«, ertönt eine männliche Stimme.

»Das ist keine Scheiße. Das ist meine Fruchtblase, die geplatzt ist«, schreit eine weibliche Stimme.

»Scheiße!«, ruft auch Mr Bowen-Knowles und verzieht angewidert die Mundwinkel.

Ich reiße seine Bürotür auf. Die schwangere Nichte – Sally – steht neben ihrem Schreibtisch, und eine klebrige Flüssigkeit rinnt ihr zwischen den Beinen hinunter und bildet eine Pfütze zwischen ihren Füßen. Die andere Frau, die ich vorhin gesehen habe, ist nicht mehr da, und der Mann mit den stacheligen Haaren macht ein entsetztes Gesicht.

Ich eile zu ihr, ziehe meine Jacke aus und kremple die Ärmel meiner elfenbeinfarbenen Seidenbluse nach oben. Da wird mir bewusst, dass ich keine Ahnung habe, was ich tun soll. Sallys Körper verspannt sich, und sie beginnt zu keuchen. Die Laute verwandeln sich schnell in tiefes Stöhnen und schließlich in Schreie.

»O Gott, tut das weh! Verdammt!«

Ich lege ihr eine Hand an den Rücken, um sie zu stützen. Sie beugt sich über die Rückenlehne ihres Stuhls und schafft es irgendwie, meine Jacke in die Pfütze klebriger Flüssigkeit zwischen ihren Füßen zu werfen. Ich beiße mir auf die Unterlippe und greife nach dem Telefon auf ihrem Schreibtisch. Ich habe noch nie in einem Büro gearbeitet, aber selbst ich weiß, wie man den Notruf wählt. Sally beginnt wieder zu atmen, als der Schmerz abzuebben scheint.

»Ich glaube, es kommt«, keucht sie.

»Was? Jetzt?«

»Ich habe diese Schmerzen seit letzter Nacht. Oh … verdammt!« Sie beugt sich wieder nach vorne.

Ich zwinge mich, ruhig zu bleiben, und versuche, der Person am anderen Ende der Leitung zu erklären, was hier gerade passiert: Schmerzen seit letzter Nacht, Fruchtwasser, das über meine Jacke und den edlen Parkettboden von Tetherington Bowen Knowles: Immobilienmakler und Spezialisten für einzigartige und historische Anwesen läuft. Ich gebe ihr die Adresse. Nein, ich bin nicht ihre Freundin oder Hebamme. Nein, ich bin auch keine Kollegin. Ich bin nur eine Bewerberin, die gerade rausbefördert werden sollte, als …

»Ooooooh! Verdammt!«

»Fünf Minuten? Okay, danke.«

»Können Sie tippen?«

Ich lege das Telefon weg und drehe mich überrascht um. Mr Bowen-Knowles ist aus seinem Büro gekommen und steht jetzt unangenehm nah hinter mir. Sein Blick wandert auf meine Brust, und auf einmal wird mir bewusst, wie durchsichtig meine Bluse ist.

»Entschuldigung?«

»Tippen, Miss Wood – auf einem Computer.« Er sieht mir wieder ins Gesicht und formt mit den Händen eine Tastatur.

»Ja, natürlich. Hundert Wörter in der Minute.«

»Helfen Sie mir, verdammt!«, schreit Sally.

Mr Bowen-Knowles macht eine abfällige Handbewegung in Sallys Richtung und hält Abstand zu ihr. »Anscheinend habe ich keine Zeit mehr, mir noch mehr Bewerber anzuschauen. Sie können also anfangen – als Vertretungssachbearbeiterin.«

»Sachbearbeiterin?«

Er sieht mich an, als wäre ich eine Idiotin. »Sally ist an der Rezeption. Sie denken nicht wirklich, dass wir ihr mehr anvertrauen, oder?«

»Ach so, ähm, ich weiß nicht …« Er muss mich für vollkommen verrückt gehalten haben, als ich davon geschwärmt habe, historische Anwesen zu verkaufen, wo die einzig offene Stelle die einer Aushilfsempfangsdame ist.

Er zuckt nur mit den Schultern. Sein Blick wandert wieder abwärts. »Ich sag Ihnen was. Da Sie so … klug und enthusiastisch sind«, er grinst mich anzüglich an, »werde ich Sie vielleicht bei der ein oder anderen Hausbesichtigung einsetzen, wenn Sie Ihre Sache gut machen. Wir haben hier an den Wochenenden mehr reiche Leute aus London, als wir bearbeiten können. Sie werden mit nichts weiter zu haben als mit dem Kauf und Verkauf. Und das auch bloß, wenn kein anderer Makler verfügbar ist.«

»Hausbesichtigung? Das klingt interessant.« Die einzige Hausbesichtigung, auf der ich bis jetzt in London war, war definitiv interessant. Aber dieses Mal werde ich auf der anderen Seite stehen. Und ich werde mehr tun als Büroarbeit.

»O Gott, es kommt!«

Draußen heulen Sirenen auf.

Ich gehe wieder in den Krisenbewältigungsmodus über, als Sally sich über den Schreibtisch beugt und ihren Rock nach oben schiebt. Ich bin mir nur am Rande der zwei Männer bewusst, die mit entsetzten Gesichtern hinter mir stehen. Ich nehme ihre Hand und drücke sie. »Halten Sie durch!«, rufe ich Sally zu. »Sie machen das großartig.«

Die Tür wird aufgerissen, und zwei Sanitäter eilen herein. Sie legen meine Vorgängerin auf eine Trage, verbinden sie mit Schläuchen und Monitoren und legen ihr eine Sauerstoffmaske an.

»Ich will eine PDA!«, schreit Sally und schnappt nach Luft.

»Dafür ist es zu spät.«

»Was? Verdammt, nein!«

Die Sanitäter schieben die schreiende Frau aus dem Büro. Ich halte ihnen die Tür auf und drehe mich dann verschwitzt und zerzaust um, um meinem neuen Arbeitgeber ins Gesicht zu schauen.

Mr Bowen-Knowles hat die Stirn tief in Falten gelegt. »Also, Miss Wood«, sagt er, »Sie wollen den Job, oder?«

»Ja, aber …«

»Dann stehen Sie nicht einfach hier rum.« Er deutet auf das Chaos am Boden. »Ergreifen Sie die Initiative.«

»Ja, Mr Bowen-Knowles«, presse ich zwischen den Zähnen hervor. Ich nehme meine vollgesogene Jacke und gehe in den hinteren Teil des Büros, um nach Putzlumpen zu suchen.

3

Bis zum Vormittag fühle ich mich wie eine Kriegsveteranin. In nur wenigen Stunden habe ich einen Job bekommen, Geburtshelferin gespielt, den Boden gewischt, meine Jacke in die Reinigung gebracht, und als ich zurückgekommen bin, hatte ich das Gefühl, »das Gesicht« von Tetherington Bowen Knowles zu sein. Die anderen Immobilienmakler sind alle bei Hausbesichtigungen, und Mr Bowen-Knowles hat sich hinter verschlossener Tür in seinem Büro verschanzt. Ich bin also auf mich allein gestellt. Da ich anscheinend keine Einführung bekommen werde, nutze ich die Zeit, das Büro zu erkunden. Im hinteren Bereich befindet sich eine Behindertentoilette, an deren Tür eine Liste mit der Überschrift »Verkäufer des Monats« hängt. Jemand hat mit rotem Stift die Buchstaben i und n an das Wort »Verkäufer« drangehängt. Dann gibt es noch einen Einbauschrank und eine Kaffeemaschine, die aussieht, als stamme sie aus Dr. Jekylls Labor, und aus der eine giftige schwarze Brühe tropft. Ich entscheide mich für ein kaltes Wasser aus dem Kühlschrank.

Auf meinem neuen Schreibtisch liegen jede Menge rosa und pinke Objekte: rosafarbene Aufkleber, weiche Spielzeughäschen, Make-up und Nagellack in Rosé-Tönen, eine Uhr in Form des Glasschuhs von Aschenputtel und eine pinke Tasse mit fröhlichen Bärchen darauf. Ich setze mich auf den Drehstuhl und räume alles in eine Schublade, die schon überquillt vor Schokolade, Babyzeitschriften und benutzten Taschentüchern mit rosa Lippenstiftflecken. Ein ordentlicher Schreibtisch ist Voraussetzung für ordentliche Arbeit. Ich überlege kurz, öffne die Schublade wieder und hole Aschenputtels Glasschuh heraus. Ich hatte noch nie eine Uhr auf meinem Schreibtisch, finde es aber irgendwie angemessen.

Als Nächstes betrachte ich die Post-its, die Sally rund um ihren Computermonitor geklebt hat. Erleichtert entdecke ich Namen und Telefonnummer eines IT-Beraters. Ich rufe bei der Nummer an, um einen Zugang zum Computersystem zu bekommen. Der Berater gibt mir meine eigene E-Mail-Adresse: [email protected]. Ich lege auf und verspüre zum ersten Mal seit Wochen wieder etwas Selbstbewusstsein. Ich habe einen Schreibtisch, einen Computer und eine E-Mail-Adresse. Ich habe einen Job – in einem Büro. In ein paar Wochen werde ich mein erstes Gehalt bekommen. Das Blatt hat sich definitiv gewendet.

Im nächsten Moment sehe ich ein Pärchen, das die Anzeigen im Schaufenster betrachtet. Sie sind beide in dicke Winterklamotten gehüllt, die ihr Ablaufdatum bereits deutlich überschritten haben. Ich halte die Luft an … sie sind an der Tür … sie kommen rein.

Einen Schreibtisch und eine E-Mail-Adresse zu haben ist eine Sache. Richtige Kunden zu haben die andere.

Der Mann führt die Frau mit seiner Hand an ihrem Rücken herein. Seine Augenbrauen zucken, als wäre er genauso verängstigt, wie ich es gerade bin.

»Guten Tag!« Ich springe auf die Füße und schenke ihnen ein herzliches Lächeln, wie ich es mir bei Kirstie Allsopp vorstellen würde. Ich habe jede Folge ihrer Serie angeschaut, und sie weiß wirklich, wie man Menschen ein gutes Gefühl verleiht. »Ich bin Amy Wood. Kann ich Ihnen helfen?«

»Äh …« Der Mann wirft der Frau einen Blick zu. Sie spielt mit dem Paisleyschal, der um ihren Hals liegt. »Wir suchen nach einem neuen Haus.«

»Großartig. Wir haben jede Menge reizende Anwesen, die ich Ihnen zeigen kann. Was suchen Sie denn? Etwas Altes oder Modernes, oder …« Ich zögere, und mir fällt plötzlich wieder ein, dass ich nur Verwaltungssachen erledigen sollte. »Oder vielleicht wollen Sie sich setzen und auf meine Kollegen warten …« Ich halte inne. »Ich meine … kann ich Ihre Daten aufnehmen?«

Verwirrt nehmen sie auf dem beigen Sofa Platz. Ich setze mich auf die Ecke des Kaffeetisches auf einen Stapel von Inneneinrichtungsmagazinen. Dann kritzle ich mit meinem Stift auf einem Block herum, um ihn zum Schreiben zu bringen.

»Ihre Namen bitte?«

»Mary Blundell«, sagt die Frau. »Und das ist Fred.«

»Schön, Sie kennenzulernen«, entgegne ich. »Und Ihr Budget?«

»Drei Millionen.«

Ich lehne mich zurück und sehe sie erstaunt an. Drei Millionen? Pfund? Britische Pfund? Ich hatte sie für Erstkäufer gehalten, die auf der Suche nach einem netten Häuschen in Pucklechurch sind – oder etwas Ähnlichem. Als Immobilienmaklerin habe ich wohl keine gute Menschenkenntnis.

»Also …« Mr Blundell scheint wegen meines Zögerns besorgt zu sein. »Ich nehme an, wir könnten auch auf 3,2 Millionen hochgehen, wenn es das richtige Haus ist. Wenn Sie verstehen, was ich meine?«

»Auf jeden Fall.« Ich stehe auf. »Ich werde Ihnen ein paar Broschüren holen und …«

Hinter mir fällt eine Tür ins Schloss. Als ich bei meinem Schreibtisch ankomme, ist der Mann mit den stacheligen Haaren, der überhaupt keine Hilfe bei der Geburt des Babys war, zurückgekehrt. Ich nehme an, dass er mich wieder überschwänglich angrinst, und wenn ich Kirstie bin, dann kann er vielleicht Phil Spencer sein. Aber als der Mann mich erblickt, verwandelt er sich sofort in das finster dreinschauende Ebenbild von Mr Bowen-Knowles. Meine Hoffnung auf kollegiale Zusammenarbeit ist damit im Keim erstickt.

»Was tun Sie da?«, fragt er mit scharfem Akzent.

Ich blicke zu dem Paar auf dem Sofa. Mit ihnen und dem Neuankömmling starren mich jetzt drei Menschen an, als hätte ich einen Knall.

»Die beiden suchen ein neues Haus. Es war kein anderer hier, also habe ich ihre Daten aufgenommen. Mr und Mrs Blundell.« Ich deute auf das Pärchen.

Als sich der Stachelkopf den potenziellen Kunden zuwendet, ändert sich sein Verhalten abrupt. Er schenkt den beiden ein schleimiges Lächeln und geht an mir vorbei auf sie zu.

»Entschuldigen Sie das Chaos – sie ist neu«, säuselt er. »Ich bin Jonathan Park-Spencer. Kommen Sie doch in mein Büro, dann helfe ich Ihnen weiter.«

Das Pärchen steht verwirrt auf.

»Ist schon in Ordnung«, sage ich, obwohl ich innerlich vor Wut koche. »Jonathan kann von hier an übernehmen.«

Die drei verschwinden hinter einer Tür neben Mr Bowen-Knowles’ Büro.

Ich setze mich wieder an meinen von Rosa befreiten Schreibtisch. Natürlich musste sich Jonathan um die Interessenten kümmern, da ich keinerlei Erfahrung habe. Aber er hätte mich bitten sollen, mich zu ihnen zu setzen, damit ich etwas lernen kann für den Fall, dass ich einmal Besichtigungen durchführen werde. Ich starre auf die Tür und lausche den gedämpften Stimmen dahinter, kann jedoch nicht verstehen, was sie reden. Um mich beim nächsten Mal nützlicher machen zu können – falls es ein nächstes Mal gibt –, nehme ich einen Stapel Hochglanzmagazine mit Immobilienangeboten von einem der Schreibtische und blättere sie durch, um mich selbst einzuarbeiten. Neubauten, moderne Wohnungen, Baugrundstücke, Bürogebäude zum Mieten, ein paar Doppelhaushälften – meine Augen werden glasig. Wo sind die »einzigartigen und historischen« Anwesen, auf die sich diese Agentur angeblich spezialisiert hat? Wenn ich wie Mary und Fred Blundell ein Budget von drei Millionen Pfund hätte, würde ich nicht zu Tetherington Bowen Knowles kommen, wenn ich die Anzeigen im Schaufenster sehen würde. Für diesen Betrag könnten sie sich selbst ein Thornfield, ein Pemberley, ein Manderley kaufen. In so vielen Klassikern, die ich gelesen habe, seit ich ein kleines Mädchen war, gibt es ein nennenswertes Anwesen – majestätisch, schrullig, manchmal sogar etwas unheimlich. Und ich liebe all ihre erfundenen Eigenarten. Mein Herz schlägt ganz schnell vor lauter Aufregung. Wie schön wäre es, einen Käufer für ein historisches Haus zu finden? Einen Seelenverwandten, mit dem ich mich bei einer Tasse Earl Grey, Rosinenbrötchen und Gurken-Sandwiches unterhalten könnte. Vielleicht könnte ich ihm dabei helfen, Handwerker für ausstehende Renovierungsarbeiten zu finden. Vielleicht könnte ich ihm sogar antike Möbel für das Haus besorgen. Oder ich könnte Nachforschungen über die Geschichte des Hauses anstellen oder …

Die Tür hinter mir fällt erneut ins Schloss. Eine attraktive Asiatin mit glänzendem Kurzhaarschnitt kommt herein. In ihrem blaugrünen Satinanzug und den passenden Stöckelschuhen sieht sie umwerfend aus. Sie stellt ihre Handtasche auf den Schreibtisch gegenüber von mir und lächelt mich tatsächlich an.

»Hi, ich bin Amy Wood – neu hier seit heute.« Ich beuge mich über meinen Schreibtisch und strecke ihr meine Hand entgegen.

»Claire Kumar.« Sie schüttelt meine Hand mit festem Griff. »Ist er zurück?« Sie nickt zu Jonathans Schreibtisch.

»Es sind Kunden hereingekommen, und er hat sie mit ins Büro genommen.«

»Typisch.« Sie schüttelt den Kopf. »Am einzigen Tag, an dem ich zu spät komme, schnappt sich Uriah Heep die ganze Aufmerksamkeit.«

Dieser Vergleich macht sie mir sofort sympathisch. Bevor ich mir eine passende Antwort zurechtlegen kann, geht die Tür von Mr Bowen-Knowles’ Büro auf.

»Wood«, schreit er, »wo ist mein Kaffee? Ich trinke ihn immer um halb zwölf. Und Kumar …« Er macht eine große Show daraus, auf seine protzige Golduhr zu schauen, »… schön, dass Sie uns beehren. Es wird Sie freuen zu hören, dass es um zwei Uhr eine Besichtigung dieser Absteige in Chipping Sudbury gibt. Sie wissen ja, wie der Hase läuft. Es ist ein Anwesen mit viel ›Charakter und Potenzial, das etwas liebevolle Pflege‹ benötigt.« Er rümpft die Nase. »Reden Sie ihnen ein, dass der Eigentümer es unbedingt verkaufen will und wahrscheinlich noch einen armen Schlucker dafür bezahlt, dass er es ihm abkauft. Aber erwähnen Sie nicht die Bausubstanz – oder das Dach oder die neue Hühnerfarm oder …« Er kratzt sich am Kopf. »Einfach gar nichts. Ich will, dass es in den nächsten zwei Wochen ein Angebot für dieses Anwesen gibt.«

»Aber, Alistair, das steht auf Jonathans Liste.« Claire klingt erbost. »Er sollte sich darum kümmern.«

»Heben Sie sich das für Ihr Jurastudium auf – wenn Sie es jemals so weit schaffen sollten. Und bei diesem Tempo«, er grinst sie verschlagen an, »wird Ihr Haar bis dahin grau sein, und Sie müssen sich keine Gedanken mehr um eine Perücke machen.«

Mit diesen Worten geht er in sein Büro zurück und knallt die Tür zu.

»O Mann«, sagt Claire, »dieser Mann ist unerträglich.«

»Studierst du Rechtswissenschaften?«

»Ja, und sobald ich ein Anwaltspraktikum bekomme, bin ich hier weg.«

Das wirft kein besonders gutes Licht auf meinen neuen Arbeitgeber, aber ich bin nicht überrascht. Mr Bowen-Knowles’ Ausbruch hat ihr anscheinend die Lust an der Unterhaltung verdorben. Sie starrt auf ihren Bildschirm und beginnt zu tippen. Ich räuspere mich. »Ähm, könntest du mir vielleicht zeigen, wie die Kaffeemaschine funktioniert?«

»Klar.« Seufzend steht sie auf, und wir gehen in die Küche. Ich stelle mich neben sie und schaue ihr zu, wie sie die Maschine entleert, einen Filter und ein Päckchen Kaffee einsetzt, die Brühe aus dem Behälter entleert, frisches Wasser einfüllt und dann eine Reihe Knöpfe drückt. Ich muss an den Personalraum im College denken, wo es nur Instantkaffee gab. Die Erinnerung an den kreidigen, säureartigen Geschmack löst ein Gefühl des Verlusts in mir aus.

»Der Boss mag seinen ohne Milch und mit zwei Würfeln Zucker«, sagt sie, als die Maschine in Gang kommt. »Und seine Lieblingstasse steht hier.« Sie öffnet eine Schranktür und nimmt eine große grün-weiße Tasse mit der Aufschrift Ich wäre lieber beim … GOLFEN! heraus. Ich zucke instinktiv zusammen. Rückblickend wird mir klar, dass ich in meiner Beziehung mit Simon viele Warnsignale vor etwas Kaputtem, das unter der Oberfläche gelauert hat, ignoriert habe. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass wir früher immer samstags zusammen im Bett das Kreuzworträtsel im Telegraph gelöst haben, bis er plötzlich angefangen hat, die Times zu kaufen. Oder die Tatsache, dass er angefangen hat, in einer Investment-Bank zu arbeiten, anstatt seine Theologie-Arbeit zu beenden. Oder dass er alle paar Wochen am Sonntagnachmittag zum Golfspielen gegangen ist. Ich habe nichts gegen Golf an sich, aber es ist eine dieser Sachen, die ziemlich machohaft sind. Insgeheim habe ich Mark Twain immer zugestimmt, der gesagt hat, dass Golf ein schöner Spaziergang ist, der einem verdorben wird. Ich habe mir jedes Mal eine Ausrede ausgedacht, nicht mit Simon mitgehen zu müssen, auch nicht, um ihm nur zuzuschauen. Vielleicht einer meiner vielen Fehler. Ich stelle mir Ashley in einem kurzen weißen Golfröckchen und Polohemd vor, wie sie ihre langen, braun gebrannten Beine über eine Seite des Golfwagens baumeln lässt und ihre vollen Lippen schürzt, während Simon mit seinem teuren Schläger von dannen zieht. Meine Hand zittert etwas, und ich lasse beinahe die Tasse fallen.

»Keine Milch, zwei Zucker«, wiederhole ich apathisch.

Claire kehrt zu ihrem Schreibtisch zurück, und ich bringe Mr Bowen-Knowles seinen Kaffee. Zum Glück telefoniert er, als ich in sein Büro komme. Und abgesehen von seinem lüsternen Blick, der weit unterhalb meines Gesichts liegt, lässt er mich in Ruhe. Als ich die Tür schließe, kommt Jonathan aus dem anderen Büro. Die Blundells folgen ihm, sichtlich zerknirscht.

»Auf Wiedersehen«, sage ich, als sie an mir vorbeigehen. »Ich hoffe, Sie finden Ihr Traumhaus.«