Das Lied des Kolibris - Ana Veloso - E-Book
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Das Lied des Kolibris E-Book

Ana Veloso

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Beschreibung

Eine geflüsterte Hoffnung nach Freiheit … Bahia in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Seit sie denken kann, arbeitet die junge Sklavin Lua auf der Zuckerrohrplantage von São Fidélio – doch sie hat ein Geheimnis: Sie kann lesen und schreiben, was Sklaven unter Strafe verboten ist. Als die alte Imaculada sie mit ihren verbotenen Kenntnissen konfrontiert, befürchtet sie das Schlimmste. Umso erstaunter ist sie, als die ergraute Sklavin sie bittet, ihre Lebensgeschichte aufzuzeichnen. Zunächst widerstrebend, aber dann zunehmend fasziniert, lauscht Lua Imaculadas Geschichte und gerät in ihren Bann – und in den Bann des attraktiven Sklaven Zé, der von einem Leben in Freiheit träumt … »Manche Geschichten lassen uns Zeit und Raum vergessen – dieses ist so eine Geschichte.« Freizeit Exklusiv • Mitreißender Historienroman über das bewegte Leben zweier Frauen im Kampf um ihr Glück und ihre Freiheit • Love and Landscape vor der prachtvollen Kulisse des brasilianischen Regenwalds im 18. Jahrhundert • Für die Fans von Nicole C. Vosseler und Catherine Tarleys »Die Plantage«-Reihe

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Seitenzahl: 678

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

Bahia in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Seit sie denken kann, arbeitet die junge Sklavin Lua auf der Zuckerrohrplantage von São Fidélio – doch sie hat ein Geheimnis: Sie kann lesen und schreiben, was Sklaven unter Strafe verboten ist. Als die alte Imaculada sie mit ihren verbotenen Kenntnissen konfrontiert, befürchtet sie das Schlimmste. Umso erstaunter ist sie, als die ergraute Sklavin sie bittet, ihre Lebensgeschichte aufzuzeichnen. Zunächst widerstrebend, aber dann zunehmend fasziniert, lauscht Lua Imaculadas Geschichte und gerät in ihren Bann – und in den Bann des attraktiven Sklaven Zé, der von einem Leben in Freiheit träumt…

Über die Autorin:

Ana Veloso wurde 1964 geboren. Nach ihrem Studium der Romanistik arbeitete sie als Journalistin für mehrere namhafte deutsche Magazine. Ihr erster Roman, »Der Duft der Kaffeeblüte«, wurde ein großer Erfolg und in viele Sprachen übersetzt. Ana Veloso lebt als Journalistin und Autorin in Hamburg, verbringt aber jedes Jahr mehrere Monate im Ausland, um dort Eindrücke für ihre Romane zu sammeln.

Die Website der Autorin: www.ana-veloso.de/

Bei dotbooks veröffentlichte Ana Veloso ihre exotischen Love-and-Landscape-Romane »Der Duft der Kaffeeblüte«, »Unter den Sternen von Rio«, »Der Himmel über dem Alentejo«, »Das Leuchten der Indigoblüte«, »Die Frau vom Rio Paraíso«, »Das Lied des Kolibris« und »Das Flüstern der goldenen Bucht«.

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eBook-Neuausgabe März 2025

Copyright © der Originalausgabe © 2011 Knaur Verlag. Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München.

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung zweier Motive von Mix and Match Studio / Ana / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3-98952-654-9

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Ana Veloso

Das Lied des Kolibris

Roman

dotbooks.

Teil 1

Kapitel 1

Von drei Seiten drohte Ungemach.

Von rechts sah Lua die verrückte Imaculada kommen, die ihren Blick starr auf sie richtete und genau auf sie zu humpelte, weiß der Himmel, warum. Lua hatte mit der Alten nie ein Wort gewechselt und sah auch keinen Grund, daran etwas zu ändern. Imaculada gehörte seit Urzeiten zu São Fidélio, so ähnlich wie die knarrenden Stufen zum Dachgeschoss des Herrenhauses, und genau wie bei der Treppe konnte sich niemand daran erinnern, sie jemals anders als verwittert und ächzend erlebt zu haben. Sie war Lua unheimlich, und die junge Sklavin wollte nichts mit der Alten zu schaffen haben.

Von links näherte sich der Senhor. Er sah aus, als wolle er Lua eine weitere unsinnige Aufgabe erteilen, eine von der Art, die ihm ein wenig Zweisamkeit mit ihr erlaubt hätte. Allmählich drängte sich ihr der Verdacht auf, dass er sich seine Hemdknöpfe absichtlich abriss, nur damit er sie bitten konnte, ihm in sein Studierzimmer zu folgen und sie ihm schnell wieder anzunähen. Nicht dass es andere Sklavinnen gegeben hätte, die in dieser Arbeit viel geübter waren als sie. Auf eine Begegnung mit ihm war sie ebenso wenig erpicht wie auf die mit der alten Sklavin.

Sie hätte nach vorn oder nach hinten zum Schuppen ausweichen können, um beiden aus dem Weg zu gehen. Doch dann sah sie plötzlich, dass Gefahr aus einer Richtung drohte, aus der sie sie nicht vermutet hatte: von oben. Ein Drachen schoss im Sturzflug auf sie zu. Die Hühner stoben wild gackernd auseinander, als Lua sich vor dem Ungetüm in Sicherheit bringen wollte und dabei fluchend durch ihre Mitte rannte. Sie hatte geahnt, dass der kleine Sohn der Wäscherin nicht in der Lage sein würde, den selbstgebauten Drachen bei dem starken Ostwind zu bändigen. Dennoch hatte sie dem Kind zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, hatte sich darauf verlassen, dass seine Mutter rechtzeitig eingreifen würde.

Sie lief geradewegs in die Arme Imaculadas. Hinter ihr hörte sie eine Vielzahl an Geräuschen, aus denen sie schließen konnte, was geschehen war: das Gezeter des Senhors, der offenbar beinahe von dem Drachen getroffen worden wäre, das Geflatter der ebenfalls erschrockenen Hühner sowie das Geschrei der Wäscherin, die ihren allzu lebhaften Sohn maßregelte. Dann folgte das Geheul des Jungen, dessen Drachen anscheinend zerfetzt in den Ästen des Cajú-Baumes hing.

Sehen konnte sie von alldem nichts. Imaculadas Blick hielt den ihren unerbittlich gefangen.

»Ich wissen, dass du Richtige«, sagte sie. »Wind auch wissen.« Lua hatte von den anderen Sklaven auf Sâo Fidélio erfahren, dass Imaculada noch zu jenen gehörte, die direkt aus Afrika nach Brasilien gebracht worden waren. Die anderen waren alle hier geboren. Daher hätte sie das schlechte Portugiesisch der Alten nicht wundern dürfen, was es aber trotzdem tat. Es verstärkte den Eindruck von Andersartigkeit, den all ihre Gesten und Blicke ausstrahlten. Und was sollte das überhaupt heißen, sie sei die Richtige? Wofür? Glaubte die Alte tatsächlich, dass nicht ein dummer Zufall sie in ihre Nähe geführt hatte, sondern der heiße Ostwind, von dem es hieß, er komme geradewegs aus Afrika?

Imaculadas Stimme war so ausdruckslos wie ihre Miene. Lua wagte trotzdem nicht, ihr zu widersprechen. Vielleicht veranlasste die Autorität des Alters sie dazu, Imaculada, die ihren Arm umklammert hielt, zu folgen. Vielleicht war es aber auch ihre Furcht davor, dass an den Gerüchten etwas dran war, hieß es doch von der betagten Sklavin, sie verfüge über magische Kräfte. Lua bekreuzigte sich im Geiste.

Imaculada führte die Jüngere um das Herrenhaus herum zu einer steinernen Bank, die nun, am Nachmittag, im Schatten des Gebäudes stand. Es war die dem Wind zugewandte Seite. Eine kräftige Bö fuhr unter Imaculadas Rock und entblößte ihre dürren, ledrigen Waden, ein Anblick, der Lua sonderbar anrührte. Die Alte bedeutete ihr, Platz zu nehmen, aber angesichts der ihr drohenden Strafe wagte sie nun endlich Widerworte.

»Jesus und Maria! Was, wenn die Senhora uns hier erwischt? Du weißt, dass sie uns auspeitschen lassen kann, wenn es ihr gefällt. Sie hasst Müßiggang bei den Sklaven, und noch viel mehr verabscheut sie die Vorstellung, mit ihrem kostbaren Hinterteil dieselbe Stelle zu berühren, auf der schon einmal ein schwarzer Hintern gesessen haben könnte.«

Die Alte nickte bedächtig. »Du viel lernen. Viel, viel.«

Lua war verunsichert. Hieß das, sie hatte viel gelernt? Viele portugiesische Wörter, die Imaculada möglicherweise nicht verstand? Oder wollte sie Lua vielmehr zu verstehen geben, sie habe noch viel zu lernen?

Imaculada setzte sich auf die Bank und hielt dabei weiter Luas Arm fest, so dass diese gezwungen war, es ihr gleichzutun. Lua schaute sich ängstlich nach allen Seiten um. Wenn sie nun jemand sah und bei den Herrschaften anschwärzte? Die dicke Maria zum Beispiel, die allen Mädchen, die hübscher waren als sie, das Leben zur Hölle machte? Oder der liebedienerische João, der sich vom Verpetzen gewisse Vorteile in der Casa Grande versprach?

Es war weit und breit niemand zu sehen, doch das mochte nicht viel heißen. Auf São Fidélio ist man nie allein, so viel hatte Lua in ihren 18 Lebensjahren, die sie alle auf dieser Fazenda verbracht hatte, gelernt. Die Zuckerrohrplantage erstreckte sich weit über den Horizont hinaus, und auf den Feldern sowie im Urwald konnte man sich sehr einsam fühlen. Doch das Anwesen selbst, bestehend aus Herrenhaus, casa grande, sowie den Nutzgebäuden und dem Sklaventrakt, senzala, beherbergte an die 200 Personen, von denen nur fünf von weißer Hautfarbe waren. Von den Sklaven wiederum befand sich immer mindestens ein Viertel im oder am Haus – jede Menge Leute also, die im Herrenhaus, in der Küche, der Wäscherei, den Ställen, der Schmiede, im Obstgarten, in der Maniokmühle oder an der Zuckerrohrpresse arbeiteten, ganz zu schweigen von Müttern im Kindbett, Rekonvaleszenten, kleinen Kindern, Greisen oder anderen Personen, die aus diesen oder jenen Gründen nicht einsatzfähig waren.

Lua hatte schon in ihrer Kindheit die Erfahrung gemacht, dass sie sich, wenn sie Ruhe suchte, möglichst weit vom Haus entfernen musste. Einmal hatte sie der Sinhazinha Eulália ein Buch stibitzt, um es heimlich zu lesen, doch sie kam kaum drei Seiten weit, da sauste die Gerte auf sie nieder. Die Gouvernante hatte sie bei ihrem mittäglichen »Verdauungsspaziergang«, wie sie es nannte, erwischt. Kein normaler Mensch ging freiwillig mittags aus dem Haus, nur Lua und diese schreckliche Frau, und prompt trafen sie aufeinander. Ein anderes Mal wollte sie, gerade 13-jährig, mit einem schmucken Burschen turteln – der, Gott hab ihn selig, im vergangenen Jahr bei einem Fluchtversuch getötet wurde –, da wurden sie von einem Hund sowie drei kleinen Jungen gestört, die eben diesen Hund fangen wollten.

Es war also nicht ratsam, in der Nähe des Hauses irgendwelchen Beschäftigungen nachzugehen, bei denen man ungestört bleiben wollte. Und das verschwörerische Getue von Imaculada verhieß nichts Gutes. Allerdings war Luas Neugier schon immer größer als ihre Angst vor Bestrafung gewesen, so dass sie sich also hinsetzte und Imaculada fragend ansah.

»Ich sterben«, sagte die Alte in einem Ton, in dem sie auch hätte mitteilen können, dass an diesem wie an jedem anderen Tag in den letzten drei Monaten die Sonne schien.

»Oh«, brachte Lua hervor.

»Nicht schlimm. Ich zurück zu mein Ahnen und mein Kinder nach Cubango-Fluss, nach Ndongo.«

»Oh«, sagte Lua ein weiteres Mal. Was sonst hätte sie auf eine solche Aussage erwidern sollen? Ihr graute vor den sentimentalen Erinnerungen der Alten. Sie wollte nichts über sie, ihre Familie oder ihre heidnische Herkunft wissen. Die Afrikaner waren Wilde, das wusste doch jedes Kind. Sie waren Hottentotten und Menschenfresser, oder etwa nicht? Die Sklaven konnten sich glücklich schätzen, dem schwarzen Kontinent und seinen bestialischen Bräuchen entkommen zu sein. Die Liebe von Jesus Christus sowie die Fürsorge ihrer Senhores wogen doch hundertmal die Tatsache auf, dass sie nicht »frei« waren. Lua schloss sich ganz der Meinung des Padres an, der jeden Sonntag predigte, die Freiheit sei ein Gut, das den Negern überhaupt nicht bekäme. Im Übrigen fühlte sie sich durchaus nicht als jemandes Eigentum, auch wenn es auf dem Papier wohl so war.

»Du tun dumm, aber du sein klug. Du schreiben.«

»Nein, das stimmt nicht«, antwortete Lua. Endlich sprach Imaculada ein Thema an, zu dem sie sich hätte äußern können, aber sie hatte nicht vor, ihr dieses Geheimnis anzuvertrauen, ein Geheimnis, das anscheinend bei weitem nicht so wohlgehütet war, wie sie es sich erhofft hätte. Sie konnte nämlich lesen und schreiben, beides, wie sie ganz unbescheiden fand, sehr gut. Die Eitelkeit war eine Todsünde, hatte der Padre sie gelehrt, doch eine noch viel größere Sünde war es, wenn Sklaven lesen und schreiben konnten. Aus diesem Grund würde sie vor einer ihr fremden und noch dazu so furchteinflößenden Person wie Imaculada nie zugeben, dass es sich wirklich so verhielt. Der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der um ihre verbotenen Kenntnisse wusste, war ihre Freundin Fernanda, und die scherte sich herzlich wenig darum. Wofür das Lesen gut sei, wenn man keine Bücher habe? Da hatte sie nicht ganz unrecht. Allerdings verschaffte Lua sich gelegentlich Zugang zu Büchern, was selbst Fernanda nicht wusste.

»Du tun dumm, das klug. Aber Kasinda wissen. Du schreiben Geschichte von Kasinda.«

»Wer ist Kasinda?«, fragte Lua, obwohl ihr bereits schwante, dass die Alte selbst damit gemeint war.

»Kasinda mein afrikanisch Name. Imaculada gibt nicht.« Daraufhin spuckte sie mit hassverzerrtem Gesicht vor Lua in den Staub.

»Du willst also, dass ich deine Geschichte aufschreibe? Wozu soll das gut sein?«

Imaculada starrte sie ungläubig an und schimpfte in ihrem Kauderwelsch, sie sei womöglich noch dümmer, als sie sich gab, und sie habe sich in ihr getäuscht. Ihre Geschichte verdiene es, bewahrt zu werden, und sie, Lua, solle sich glücklich schätzen, die Auserwählte zu sein, die dank dieses überlieferten Wissens zu großer Weisheit gelangen könne. Das zumindest entnahm Lua dem Wortschwall, der mit Wörtern einer ihr unbekannten Sprache durchsetzt war.

»Aber ich sagte dir doch: Ich kann nicht schreiben. Selbst wenn ich es könnte, ich hätte nicht einmal Papier und einen Stift, um es zu tun.«

Imaculada lächelte verschmitzt, griff in ihren Rockbund und zog eine Kladde sowie einen Kohlegriffel daraus hervor.

»Du anfangen. Jetzt. Nicht mehr viel Zeit, ich sterben.«

Sie sprach, wiewohl zittrig und krächzend, in sehr bestimmtem Ton, und der Blick aus ihren kleinen schlauen Äuglein war scharf. Würde sie Lua mit einem bösen Fluch belegen, wenn sie ihrem Wunsch nicht Folge leistete? Lua musste sich wohl oder übel fügen. Sie konnte ja auch einfach etwas anderes niederschreiben als das, was die Alte ihr erzählte – sie würde das Geschriebene ja doch nicht lesen können.

»Na schön«, sagte Lua widerstrebend. »Gib mir die Schreibsachen.«

Imaculada reichte ihr Stift und Papier, und Lua versuchte, einen Blick auf ihre verstümmelte Hand zu erhaschen. Es hieß, ihr fehle ein Finger, und es kursierten jede Menge Gerüchte darüber. Aber Imaculada hielt ihre Hände mit den dicken Adern und den knotigen Fingern immer so geschickt, dass man den angeblichen Stumpf nie sehen konnte.

Ein plötzliches Glücksgefühl durchströmte Lua, denn es war lange her, dass sie die Möglichkeit gehabt hatte, zu schreiben. Es bereitete ihr ein immenses Vergnügen, den Griffel in ihrer linken Hand zu fühlen und den Duft des Papiers einzuatmen. Erneut sah sie sich um. Mit diesen verbotenen Utensilien erwischt zu werden zöge eine weitaus schlimmere Bestrafung nach sich als das ungebührliche Benutzen einer Steinbank. »Niemand kommen. Alle Angst vor Kasinda«, murmelte die Alte. Wahrscheinlich hatte sie recht. Von den Sklaven jedenfalls traute sich niemand in ihre Nähe. Und dass ein Mitglied der Familie Oliveira sich hierher verirrte, schien Lua ausgeschlossen. Dona Ines hatte Besuch, Dom Felipe hatte sich schätzungsweise längst ein anderes Opfer auserkoren, Sinhá Eulália scheute die Sonne, und der junge Sinhô Manuel brütete sicher wieder über den Zahlen der Rechnungsbücher. Der älteste Sohn der Familie, Carlos, kam ohnehin nur an den Wochenenden.

»Fang an«, forderte Lua Imaculada ein wenig barsch auf, um sich nicht anmerken zu lassen, welche Vorfreude aufs Schreiben sie erfüllte.

»Mein Name Kasinda«, begann die Alte, und Lua notierte brav die Schilderungen, nicht ohne diese zuvor zu korrigieren. Wem nützte schon eine Geschichte, die voller fremdländischer Vokabeln war und von so fehlerhafter Grammatik, dass man sie kaum verstand?

»Ich sein neun Tochter von groß Häuptling Mukua-nguzu und Frau drei Nzinga. Ich sehr schön und sehr klug. Mit vierzehn ich heirate stolzer Krieger.«

Lua horchte auf. Die alte Hexe Imaculada erzählte vielleicht ein Märchen. Doch wider Willen begann die Geschichte sie in ihren Bann zu ziehen. Sie schrieb fieberhaft mit, was sie große Anstrengung kostete, da sie das Gehörte zunächst deuten und gleichzeitig umformulieren musste.

Sollte irgendjemand eines Tages das unscheinbare Heft finden, in dem sie alles notierte, dann konnte sie nur hoffen, dass er ihr verzieh, wenn afrikanische Namen nicht richtig geschrieben waren und die schlichte Ausdrucksweise Imaculadas verfälscht wurde. Sie betete, dass dieser Leser berücksichtigen würde, dass sie ihr Bestes gab, um Imaculadas Schilderungen gerecht zu werden und dafür zu sorgen, dass ihr Schicksal nicht in Vergessenheit geriet.

Kapitel 2

Mein echter Name lautet Kasinda. Ich bin die neunte Tochter des angesehenen Häuptlings Mukua-nguzu und seiner dritten Ehefrau Nzinga. Ich war ein sehr schönes und sehr kluges Mädchen, so dass man mich im Alter von 14 Jahren dem stolzen Krieger Uanhenga zur Frau gab. Damit hatte ich eine viel bessere Partie gemacht als meine älteren Schwestern, doch das Unheil, das daraus hervorgehen sollte, war mir damals noch nicht bewusst.

Uanhenga war ein guter Ehemann. Er schlug mich nur, wenn ich ihm Anlass zu ernsthaftem Kummer gegeben hatte, und er wohnte mir jede Nacht bei, wie es seine Pflicht war. Ich war ihm treu ergeben und schenkte ihm nach neunmonatiger Ehe seinen ersten Sohn. Es war ein starker, gesunder Junge, den wir Chilala nannten. Ich liebte dieses Kind mehr, als gut für mich war. Ich vergötterte Chilala und schenkte ihm mehr Zuwendung als jedem anderen der drei Kinder, die ich in den ersten Jahren unserer Ehe gebar. Es waren zwei weitere Söhne und eine Tochter.

Uanhenga sorgte gut für uns. Auch hatten wir das Glück, von Dürren oder Überschwemmungen verschont zu bleiben, so dass alle vier Kinder gesund blieben und prachtvoll gediehen. Uanhenga hätte sich weitere Ehefrauen nehmen können, doch er wollte keine außer mir, was mich mit großem Stolz erfüllte. Trotz meiner Jugend gehörte ich bald zu den angesehensten Frauen unseres Krals, und das nicht nur wegen meiner Position als Ehefrau Uanhengas. Ich war sehr tüchtig, wirtschaftete umsichtig und legte genügend Vorräte für schlechtere Zeiten an. Ich war bewandert in der Kunst des Heilens und in der Gewinnung von Palmwein. Ich war außerdem eine gute Spurenleserin, so dass ich einmal unser Dorf davor bewahrte, von einem einzelgängerischen Elefantenbullen angegriffen zu werden. Daraufhin kam ich in den Ruf, eine Hellseherin zu sein. Ich ließ die Leute in dem Glauben. Natürlich konnte ich die Zukunft keineswegs vorhersagen, doch ich verfügte über eine gute Auffassungs- und eine noch bessere Kombinationsgabe. Wenn man darüber hinaus eine gewisse Kenntnis der Verhaltensweisen von Mensch und Tier besitzt, reicht das meist aus, um zu ahnen, was geschehen wird. Einzig bei meiner Schwester Thandeka haben mich meine vermeintlich hellseherischen Kräfte verlassen, ein Umstand, der mich meiner Familie beraubt hat und mich beinahe das Leben gekostet hätte.

Ich befand mich im Busch an den Ufern des Cubango, wo ich nach einer seltenen Wurzel suchte, deren Saft bei Verdauungsstörungen half. Ich war ganz allein, einmal abgesehen von dem Säugling, den ich in einem Tragetuch eng an meinen Leib gewickelt hatte. Meine Suche schritt sehr erfreulich voran und wurde weder durch hungrige Geparden noch durch aufgeschreckte Schlangen vereitelt. Ich summte eine Melodie vor mich hin und dankte meinem Orixá für das Glück, das mir beschieden war. Ich nahm mir vor, ihm noch am selben Abend ein Opfer darzubringen, damit er mir weiter wohlgesinnt sein möge.

Plötzlich wurden die Geräusche des Waldes, die ich stets als beruhigend empfunden hatte, von einem anderen Laut überlagert. Ein Mensch rannte auf mich zu, stolpernd und keuchend. Ein Mensch, der sich offenbar in Gefahr befand, denn unter normalen Umständen bewegten wir Leute aus Cambundi uns beinahe geräuschlos. Die Vögel verstummten, das Rascheln in den Bäumen wurde leiser, und dann stand auf einmal meine Schwester vor mir.

»Schnell, Kasinda, deinem Sohn geht es nicht gut! Chilala wäre beinahe ertrunken, weiter unten am Flussufer bei dem großen Affenbrotbaum. Komm schnell, damit wir ihn gemeinsam heimtragen können.«

Vor Schreck ließ ich den Beutel fallen, in dem ich die Wurzeln gesammelt hatte. Ich war so erschüttert, dass mein Verstand vorübergehend aussetzte. Nicht einen Moment lang fragte ich mich, warum meine Schwester im Busch nach mir gesucht hatte, wo doch das Dorf viel näher gewesen wäre, um Hilfe zu holen. Ebenso wenig zweifelte ich am Wahrheitsgehalt ihrer Aussage, obwohl doch ein Vierjähriger, den ich obendrein in der Obhut meiner Mutter gelassen hatte, kaum allein zum Fluss geschlendert sein konnte. Ich folgte Thandeka schweigend. So schnell unsere Füße uns trugen, liefen wir zu der von ihr beschriebenen Unfallstelle, die nicht allzu weit entfernt lag.

Was wir dort vorfanden, war nicht etwa ein verstörter kleiner Junge. Es war vielmehr eine Gruppe grimmig dreinschauender Männer, die mir unbekannt waren. Sie waren nicht von unserem oder einem befreundeten Stamm, denn sie trugen Schmucknarben, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Einer von ihnen verstand jedoch offenbar unsere Sprache, denn Thandeka wandte sich triumphierend an ihn: »Hier ist sie. Habe ich dir zu viel versprochen? Jung, stark, schön und gebärfreudig.«

Der Mann kam auf mich zu und kniff mich ins Gesäß. Ich schlug seine Hand fort, woraufhin er mich hart zu Boden stieß. Meine kleine Tochter begann zu schreien.

»Gib sie mir«, sagte Thandeka. »Wo du hingehst, bist du ohne sie besser dran.«

»Was hast du getan, Schwester?« Ich konnte nicht fassen, was mir widerfuhr. Zwar waren auch mir die Gerüchte zu Ohren gekommen, wonach sich Menschenfänger in unserer Gegend herumtrieben, doch gesehen hatte ich nie einen von ihnen. Noch viel weniger wollte mir in den Sinn, dass ausgerechnet ich zu ihrer Beute wurde. In die Dörfer fielen die Sklavenhändler nicht ein, das war ihnen zu gefährlich. Sie ergriffen ausschließlich Menschen, die allein unterwegs waren. Im Busch, da war ich mir sicher, hätte ich sie rechtzeitig gehört und ihnen entkommen können. Eine so bösartige Täuschung jedoch, eine so gemeine Falle hätte ich in meinen schlimmsten Träumen nicht für möglich gehalten.

»Du bist eine Schande für Uanhenga«, erklärte Thandeka wütend. »Dein Mann steht unter deiner Fuchtel, nicht einmal eine Zweitfrau wagt er sich zu nehmen. Das hat er nicht verdient. Und wir anderen Frauen aus Cambundi haben es nicht verdient, dass wir neben dir alle hässlich, dumm und faul wirken. Wir wären alle besser dran ohne dich. Und wo diese Männer dich hinbringen, da kannst du auch mit deinen Tugenden glänzen. Es wird dir gutgehen.«

Viele Jahre später gelangte ich zu der Einsicht, dass Thandeka sich in Rage geredet hatte, um ihr wahrscheinlich unüberlegtes Handeln vor sich selbst zu rechtfertigen. Damals jedoch verspürte ich nichts als grenzenlosen Zorn angesichts ihres Verrats. Ich spuckte sie an, versuchte, sie zu schlagen und zu treten, doch auf ein Zeichen ihres Anführers hin ergriffen mich zwei weitere Männer und sorgten dafür, dass ich ihr nicht weh tun konnte.

Thandeka nickte dem Anführer zu und hielt ihm eine geöffnete Hand hin. Sie wollte ihren Lohn in Empfang nehmen. Ich war fasziniert von der Szene, denn ich wusste genau, was nun folgen würde. Thandeka war schon immer die dümmste von uns neun Schwestern gewesen.

Blitzschnell griff der Anführer nach Thandekas Hand, drehte ihr den Arm auf den Rücken und raunte ihr zu: »Du bekommst schon noch, was du verdienst.«

Sie heulte und jammerte und flehte den Mann an, sie gehen zu lassen. Voller Verachtung wiederholte ich ihre eigenen Worte: »Wo diese Männer dich hinbringen, wird es dir gutgehen.« »Aber ... aber du wolltest mir doch ...«, stammelte Thandeka an den Anführer gewandt, der ihren Arm wieder losgelassen hatte und sie nun mit erhobenen Brauen musterte wie ein fremdartiges Insekt.

Ich erfuhr nie, was es gewesen war, das diese Leute meiner Schwester als Lohn versprochen hatten. Denn auf einen Wink des Anführers ergriffen die anderen Männer Thandeka, rissen ihr brutal ihr Hüfttuch sowie die Halsketten fort und stießen sie in den Staub. Ich hielt mir die Ohren zu und schloss die Augen. Trotz meiner Wut auf meine Schwester konnte ich nicht mit ansehen, wie ihr auf so grausame Weise Gewalt angetan wurde. Der Anführer zwang mich jedoch, hinzusehen. Es war grauenhaft. Ich unterdrückte jeden Laut, aber mir liefen Tränen übers Gesicht. »Das«, so sagte der Mann, »passiert widerspenstigen Frauen. Also benimm dich.« Daraufhin nahm er sein Messer und stieß es mit einem gezielten Hieb in die Kehle meiner Schwester. Ich werde nie den Anblick vergessen, wie sie dort im Staub lag, geschändet, verstümmelt und mit dem Ausdruck unbegreiflichen Entsetzens in ihren im Tod weit geöffneten Augen.

Die Männer fesselten meine Arme auf dem Rücken und schubsten mich vor sich her. Später habe ich mich oft gefragt, warum sie mit meiner Schwester nicht dasselbe anstellten wie mit mir, doch ein wirklich guter Grund dafür fiel mir nicht ein. Thandeka war zwar dumm, hätte aber als Sklavin gewiss einen guten Gewinn eingebracht, denn sie war stark und gesund.

Die Männer brachten mich in eine Art Lager, wo sie bereits andere Gefangene gesammelt hatten. Dieses Lager war gut bewacht, unsere Häscher waren bis an die Zähne bewaffnet, und wir Gefangenen waren gefesselt. So gelang es nicht einmal den stärksten und mutigsten Männern, sich aus der Gewalt der Sklavenjäger zu befreien. Es herrschte ein großes Elend unter uns Gefangenen. Den einzigen Trost fand ich in der Tatsache, dass sich dort niemand sonst aus meiner Familie befand. Uanhenga würde eine neue Frau finden, unsere Kinder wären bei meiner Mutter in besten Händen. Einzig meine kleine Tochter war bei mir, ein Säugling noch, der ohne Mutter ohnehin keine Überlebenschance gehabt hätte. Ich würde sie mitnehmen müssen, wenn man mich ließ. Ich war beileibe nicht die einzige Mutter mit Kind dort. Bisher hatte jedoch keiner unserer Aufseher Anstalten gemacht, den Frauen ihre Kinder fortzunehmen.

Zuweilen fragte ich mich, ob es für die Kleine nicht besser sei, wenn ich sie tötete und der heimischen Erde überantwortete, so dass die Ahnen sich ihrer annehmen konnten, aber ich brachte es nicht übers Herz. Hätte ich damals bereits gewusst, welches Schicksal mir und meiner Tochter beschieden war, so hätte ich es wahrscheinlich getan. Doch wer konnte schon ahnen, wohin die Menschenjäger uns bringen würden? Wir alle gaben die Hoffnung nicht auf, dass uns entweder noch die Flucht gelingen würde oder aber dass wir an einen Ort kämen, wo es besser war als in diesem Lager.

Nach etwa einer Woche war es so weit. Wir rund fünfzig Gefangenen wurden so aneinandergefesselt, dass wir eine lange Menschenkette bildeten, und wurden in die Küstenebene hinabgetrieben wie Vieh. Vor, hinter und neben uns liefen die Aufseher, die mit Peitschen dafür sorgten, dass alle sich in derselben Geschwindigkeit vorwärtsbewegten. Wer hinfiel und sich verletzte, wurde einfach mitgeschleift. Immerhin befanden sich in unserer Gruppe keine alten oder gebrechlichen Leute. Man hatte nur junge, kräftige Personen auserwählt. Die Männer waren leicht in der Überzahl. Sie waren den Frauen gegenüber im Vorteil, denn sie mussten keine Kinder tragen. Mit meinem an mich gewickelten Säugling erging es mir noch vergleichsweise gut. Es gab Frauen, die mit drei- bis sechsjährigen Kindern unterwegs waren, und diese zu schleppen war mühsam. Es war auch sehr traurig, denn die Kinder weinten und verstanden nicht, warum diese bösen Männer uns so misshandelten. Selbst das Flehen der Kinder konnte diese Bestien nicht erweichen, uns mehr zu trinken zu geben.

Nach einem halben Tagesmarsch waren die meisten von uns am Ende ihrer Kräfte und kurz vor dem Verdursten. Bei Einbruch der Dämmerung sperrte man uns in einen Pferch, der offensichtlich schon viele andere Gefangenengruppen wie die unsere aufgenommen hatte, denn er war sehr schmutzig. Unsere Notdurft mussten wir vor den Augen aller anderen verrichten, da wir weiterhin aneinandergefesselt waren. Es war eine furchtbare Schmach, sich wie die Schweine im eigenen Dreck suhlen zu müssen. An Schlaf war unter solchen menschenunwürdigen Bedingungen schon gar nicht zu denken. Meine »Nachbarn«, die in der Kette vor und hinter mir liefen, waren ein junges Mädchen, vielleicht 14 Jahre alt und bildschön, sowie ein hünenhafter Mann von rund 30 Jahren. Beide waren aus verschiedenen Stämmen, und keiner von uns dreien sprach dieselbe Sprache, obwohl wir alle Bantu waren. Die halbe Nacht starrten wir trübsinnig in den sternenklaren Himmel, das Mädchen leise wimmernd, der Mann mit geballten Fäusten, ich mein Kind schaukelnd. Das Mädchen und der Mann sollten den Marsch an die Küste nicht überleben – aber das ist eine andere Geschichte.

Als wir, stark dezimiert, die Küste erreichten, übergaben unsere Häscher uns einer Gruppe weißer Männer. Sie begutachteten uns wie Vieh. Sie schauten sich unsere Zähne an, begrabschten die Brüste der Frauen und lachten über die entblößten Genitalien der Männer. Wir standen alle nackt vor ihnen, und obwohl wir uns tagelang nicht gewaschen hatten, stanken wir nicht halb so erbärmlich wie diese farblosen Kreaturen in ihren sonderbaren Stammestrachten. Die sehr jungen Mädchen wurden von den Männern – Portugiesen, wie ich erfuhr, obgleich mir das wenig sagte – fortgeführt: Sie nahmen sie mit in ihr Nachtlager. Wir anderen wurden abermals in einen Pferch gesperrt. Man gab uns verdorbenes Obst zu essen und stinkendes Wasser zu trinken. Am nächsten Tag litt die Hälfte von uns unter starkem Durchfall, was die Portugiesen zu scheußlichen Wutausbrüchen veranlasste. Als ob wir an unserer Misere selber schuld gewesen wären, wurden wir angeschrien, ausgepeitscht und geprügelt.

Meiner Tochter ging es gut, denn sie bekam ja noch Muttermilch. Mir selbst blieb ebenfalls das Schlimmste erspart, denn ich aß und trank so gut wie gar nichts. Ich hatte mich die ganze Zeit über an dem Glauben festgehalten, dass Uanhenga mit den anderen Kriegern unseres Stammes noch auftauchen und mich befreien würde, doch am nächsten Tag schwand auch diese Hoffnung. Wir wurden, gemeinsam mit weiteren Gruppen von Gefangenen aus anderen Teilen Ngolas, in ein großes Schiff gebracht.

Am vierten Tag nach meiner Verschleppung legte das Schiff ab. Das alles geschah im Jahre 1705 der Zeitrechnung der Verbrecher.

Kapitel 3

»Jetzt schreiben wir das Jahr 1762 – das heißt, du bist fünfundsiebzig Jahre alt!«, rief Lua aus und unterbrach Imaculadas Schilderung.

»Ja.«

Sie konnte es kaum glauben. Das war ein geradezu biblisches Alter. Kaum ein Sklave wurde älter als vierzig Jahre, und selbst die Weißen, die sich Arzte, Ruhe und Pflege leisten konnten, erreichten kein so unvorstellbares Alter. Der betagteste Mensch, den Lua bisher gekannt hatte, war die Mutter ihres Senhors gewesen, Dona Isabel, die im vorletzten Sommer mit 69 Jahren in vollem Galopp von einem Pferd gestürzt war. Man munkelte, dass sie absichtlich so schnell und unvorsichtig geritten war, um die Trostlosigkeit des Alters zu verkürzen. Aber Selbstmord war eine Sünde, und da Dona Isabel in geweihter Erde in dem Familiengrab bestattet wurde, nahm Lua an, dass es eben doch nur ein tragischer Unfall gewesen war.

»Lua!«, hörte sie da die fordernde Stimme der Sinhazinha. »Lua! Komm sofort her, du faules Stück!«

»Ich muss gehen«, sagte sie zu Imaculada.

Die Alte nickte. »Morgen weiter.«

»Ja, in Ordnung. Ich freue mich schon.« Und das stimmte wirklich. Die Geschichte Kasindas fesselte Lua mehr, als sie anfangs vermutet hatte. Sie steckte Kladde und Griffel in ihre Rocktasche und lief zum Haus, ohne sich noch einmal nach Imaculada umzusehen.

Die Sinhazinha, also die Tochter des Hauses, erwartete sie mit geröteten Wangen an der Verandatür. »Nie bist du da, wenn man dich braucht!«, schimpfte sie. »Sieh nur, ich bin ganz aus der Puste, weil ich versucht habe, den Sekretär an die andere Wand zu schieben.«

Warum hatte sie nicht einfach einen anderen Haussklaven um Hilfe gebeten? João oder Luis wären ihr sicher gern zur Hand gegangen. Aber die Sinhazinha betrachtete Lua seit ihrer Kindheit als ihr Mädchen für alles. Als sie noch klein waren, hatte sie als ihr Spielzeug herhalten müssen, später als ihre Zofe, ihre Waschfrau, ihre Möbelpackerin oder ihre Köchin. Sie war so eigen in ihren Gewohnheiten, dass sie es nicht duldete, wenn jemand anders etwa ihr Ballkleid ausbesserte, selbst wenn ein anderer Sklave für die Aufgabe geeigneter gewesen wäre als Lua.

Sie war kein schlechter Mensch, die Sinhá Eulália. Die beiden jungen Frauen waren gleichaltrig, und sie kannten einander ihr Leben lang. Allerdings hatte Eulália manchmal sehr merkwürdige Ideen, wie etwa die, einmal im Monat ihr Zimmer umräumen zu müssen.

»Es tut mir leid, Sinhá Eulália«, sagte Lua so zerknirscht wie möglich. »Die alte Imaculada hat mich aufgehalten, und Ihr wisst ja, was man über sie sagt. Da fehlte mir die Courage, sie einfach stehenzulassen.«

»Erstens: Was man über die Alte sagt, ist erstunken und erlogen. Sie ist einfach nur ein böses altes Weib. Zweitens: Musst du dich immer so gestelzt ausdrücken? Da hat man ja fast das Gefühl, einer Lehrerin gegenüberzustehen. Und drittens: Komm jetzt, ich will den Schreibtisch lieber an der Wand links vom Fenster stehen haben.«

Lua knickste artig. Sie wusste, dass ihre Herrin keine Antwort von ihr erwartete, sondern eifriges Anpacken. Sie wusste ebenfalls, dass die Arbeit, die ihrer harrte, von ihr ganz allein erledigt werden würde. Die Sinhazinha würde dann nur noch zusehen und sie herumkommandieren. Aber so war es eben. So war es immer schon gewesen, und so würde es immer bleiben. Das war die natürliche Ordnung der Welt – einer Welt, in der sie sich recht wohl fühlte.

Sie wurde so gut wie nie geschlagen und hatte mehr Freiheiten als viele andere. Viel unfreier als die Sinhá Eulália fühlte sie sich eigentlich nicht, denn wenigstens wurde sie nicht von ihrer Familie dazu angehalten, vor Gästen zu singen, mit sterbenslangweiligen Herrschaften Konversation zu treiben oder sich den prüfenden Blicken hässlicher Burschen aus gutem Hause auszusetzen, die als Heiratskandidaten in Frage kamen. Sie hatte es selbst nicht leicht, die Sinhazinha, und deshalb verzieh Lua ihr ihre Marotten und unterstützte sie bereitwillig.

So nahm sie ihr oft die ihr verhasste Stickarbeit ab, heimlich, versteht sich, denn das Lob für die schönen Stickereien heimste die Sinhá Eulália gern selber ein. Auch beim Formulieren von Liebesbriefen war sie ihr schon behilflich gewesen, wobei sie sich immer der Gefahr bewusst war, der sie sich aussetzte, und sie sich schon manches Mal sehr zurückhalten musste, um die Rechtschreibfehler der anderen nicht zu korrigieren. Sinhá Eulália war auch so schon ganz verwirrt angesichts von Luas exzellentem Portugiesisch. »Woher kennst du nur all diese Wörter?«, pflegte sie zu fragen oder: »Wenn du lesen und schreiben gelernt hättest, wäre sicher eine Dichterin aus dir geworden.« Der Gedanke, die junge Sklavin könne alphabetisiert sein, kam ihr nie. Wenn diese als Kind bei ihrem Unterricht zugegen gewesen war, hatte sie nie jemand zur Kenntnis genommen. Reglos und still hatte sie in einer Ecke gesessen, für jeden sichtbar und doch so unscheinbar wie ein altes Möbelstück.

Wenn Lua dann später allein war, hatte sie die Buchstaben mit einem Stöckchen in den Staub gemalt oder mit einem Stück Kohle auf einen Stein gekritzelt. Sie lernte viel schneller als die Sinhazinha, und bald schon schlich sie sich in die Bibliothek und las heimlich in alten Wälzern, deren Inhalt ihr noch gar nicht zugänglich war. Die Lust am Lesen verlor sie dadurch keineswegs, im Gegenteil: Es stachelte nur noch ihren Ehrgeiz an, möglichst schnell möglichst viel zu lernen, damit sie bald in der Lage sein möge, all diese Bücher zu verstehen. Heute wusste sie, dass die Predigten eines Padre Antonio Vieira oder die Poesie eines Gregorio de Matos nicht unbedingt geeignet waren, um einem Kind das Lesen und Schreiben nahezubringen, doch damals quälte sie sich tapfer durch die anspruchsvolle Lektüre. Erwischt wurde sie dabei nie: Die Familie Oliveira schmückte sich nur mit den Büchern, las sie aber nicht. Wenn jemand die Bibliothek betrat, tat Lua immer so, als wedele sie gerade Staub.

Bedauernd warf sie einen Blick auf die geschlossene Tür der Bibliothek, die sie jetzt auf dem Weg in das Gemach der Sinhazinha passierten. Als sie das Zimmer erreichten, stockte Lua einen Moment lang der Atem: Es war vollkommen verwüstet. Kein Möbelstück stand mehr an seinem alten Platz, Kleidung lag verstreut auf dem Boden, und Schmuck ergoss sich über das Bett, das schräg mitten im Raum stand. Das Verrücken des Sekretärs war da noch das geringste Problem.

»Da siehst du, was du mit deiner Plauderstunde angerichtet hast«, tadelte Sinhá Eulália sie. »Wärst du nicht so lange fort gewesen, hätte ich nicht alles hin und her geschoben.«

»Das macht doch nichts, Sinhazinha, das sieht schon bald wieder sehr hübsch aus. Wo genau soll der Sekretär denn hin?« »Aber Lua, stell dich nicht dümmer an, als du ohnehin schon bist! Das sieht doch jedes Kind: Der Schreibtisch soll hierher, das Bett soll dort stehen, die Kommode an dieser Wand und der Waschtisch in dieser Ecke.« Dabei wies sie auf die jeweiligen Plätze, die sie ihren Möbeln zugedacht hatte.

»Dann müssen wir aber auch die Bilder umhängen«, wagte Lua einzuwenden. »Die schöne Miniatur von der Heiligen Jungfrau soll doch sicher weiterhin über dem Sekretär hängen, oder? Und das Kruzifix über dem Bett?«

»Ja, ja, ja. Also: Mach es einfach so, wie ich gesagt habe. Ich lasse dich jetzt allein, denn Mutter hat bereits zweimal nach mir gerufen. Wahrscheinlich ist das Essen schon kalt.« Lua knickste abermals. Insgeheim war sie froh, dass sie allein zurückblieb, denn die Sinhazinha besaß seit neuestem einen kleinen Gedichtband, den ihr ein Verehrer geschenkt hatte und den Lua sich gern ausborgen wollte. Neuer Lesestoff war rar in diesem Haus, und sie ergriff jede Gelegenheit, sich Zugang dazu zu verschaffen.

Zunächst jedoch machte sie sich ans Möbelrücken und Aufräumen. Es ging schneller als erwartet voran, und als alles an Ort und Stelle stand, setzte sie sich ungebührlicherweise aufs Bett und betrachtete ihr Werk. Ja, so war es gut. Dann, sie wollte gerade den Gedichtband aufschlagen, entsann sie sich des Heftes in ihrer Rocktasche. Sie hätte es gern herausgenommen und noch einmal gelesen, was sie notiert hatte. Hier in der Stille des in freundlichen Farben gehaltenen Mädchenzimmers kam ihr alles, was Imaculada vor nicht einmal einer Stunde geschildert hatte, unwirklich und weit entfernt vor. Ob ihr all diese ungeheuerlichen Dinge tatsächlich widerfahren waren? Oder hatte die Alte ihre Geschichte ein wenig ausgeschmückt, um sie spannender zu machen oder um vielleicht Mitleid zu erregen?

Lua beschloss, das Heft nicht durchzublättern – eine kluge Entscheidung, denn kurze Zeit später kam Sinhá Eulália hereingehuscht und kicherte leise. Lua hatte sie nicht kommen gehört. Abrupt erhob sie sich von dem Bett, doch ihre junge Herrin schien gar nicht zu merken, was sie getan hatte. Genauso wenig wie sie, nebenbei bemerkt, ihr ordentliches Zimmer zur Kenntnis nahm.

»Schnell, Lua, du musst mir sofort das Haar aufstecken. Ich habe zufällig gesehen, dass Rui Alberto im Anmarsch ist. Er stellt gerade sein Pferd unter. Wir haben nicht viel Zeit, um mich einigermaßen herzurichten, also hopp, hopp, an die Arbeit.«

Rui Alberto war der Spross eines benachbarten Fazendeiros. Lua hielt ihn für einen Nichtsnutz, wie er im Buche steht, fand ihn aber für einen Weißen sehr attraktiv. Sinhá Eulália war bis über beide Ohren in ihn verliebt. Sie schwärmte Lua manchmal bis zum Überdruss von seinem gewellten schwarzen Haar vor, von seiner maskulinen Gestalt oder von seinen blassen, vornehmen Händen. Lua hatte einmal bei einem Ball in der Casa Grande beobachtet, wie die beiden zusammen tanzten, und sie musste zugeben, dass sie ein sehr hübsches Paar abgaben. Vielleicht wären sie sogar bald ein Ehepaar. Lua wusste, dass Dom Felipe und Dona Ines einer Verbindung der beiden offen gegenüberstanden, war doch die Nachbarfazenda nach der ihren die reichste und größte in ganz Bahia. Auf »Três Marias« wurde ebenfalls Zuckerrohr angebaut, dazu Kakao und Tabak. Die beiden Senhores betrachteten einander nicht als Konkurrenten, sondern als Verbündete, die gemeinsam Preisabsprachen trafen oder abends bei einem Glas Cognac über die portugiesische Krone und ihre absurde Steuerpolitik wetterten.

Lua löste rasch den einfachen Zopf und bürstete Sinhá Eulálias Haar kräftig durch. Für eine raffinierte Frisur war keine Zeit mehr, aber ein lockerer Knoten, befestigt mit ein paar Kämmen und Schleifen, würde schon deutlich mehr hermachen. Es war nicht leicht, die Herrin zu frisieren, denn sie zappelte pausenlos unter Luas Händen, suchte da nach einem Medaillon und griff dort nach der Schatulle mit ihren Perlenohrringen. Als die junge Sklavin schließlich ein kleines Kunstwerk auf Eulálias Kopf vollbracht hatte, hörte man auch schon die Türglocke.

»Schnell, die Seidenstola!«, raunte Eulália.

Lua legte sie ihr um die Schultern.

»Und jetzt noch ein wenig Farbe ins Gesicht.« Sie kniff sich selbst in die Wangen und biss auf ihren Lippen herum, damit diese schön rot würden. »Wo in Dreiteufelsnamen hast du das Rosenwasser versteckt?«, herrschte sie Lua an, denn diese hatte zuvor so eilig alles aufgeräumt und an neuen Orten verstaut, dass sie einen Augenblick überlegen musste.

»Lua, schnell, denk nach!«

»Ahm ... ah, jetzt fällt es mir wieder ein: auf dem Waschtisch.« Lua lief sofort hinüber, um ihr das Duftwasser zu holen, öffnete den Flakon und betupfte Eulália sanft den Hals und das Dekolleté.

»Fertig«, seufzte Sinhá Eulália in demselben Moment, in dem es an der Tür klopfte.

»Sinhá Eulália«, hörten sie die Stimme Fernandas, »Ihr habt Besuch. Der Sinhô Rui Alberto erwartet Euch im Salon.« »Oh, was für eine schöne Überraschung! Sag ihm, ich komme sofort.«

Fernandas Schritte entfernten sich.

»Ich lasse ihn noch ein bisschen warten«, sagte die Sinhazinha und zwinkerte Lua durch den Spiegel zu. »Das hast du mir doch eingeschärft, nicht wahr, Lua? Dass man sich rar machen muss.«

»Genauso ist es«, antwortete diese und zwinkerte nun ihrerseits dem Spiegelbild ihrer Herrin zu. »Männer sind Jäger. Man darf sich ihnen nicht auf dem Präsentierteller anbieten.« »Ach, was soll’s!«, rief Sinhá Eulália plötzlich aus und erhob sich. »Ich sterbe vor Neugier, was ihn hierherführt! Ob er heute um meine Hand anhalten wird?«

»Dann hätte er doch wohl eher das Gespräch mit Eurem Herrn Vater gesucht«, wagte Lua einzuwenden, doch die andere hörte ihr schon nicht mehr zu. Eulália schlüpfte in ihre feinsten Satinschühchen, strich ihren Rock glatt und eilte nach unten, ohne Lua noch eines Blickes zu würdigen.

Die war allerdings kaum weniger gespannt, was der unerwartete Besuch zu bedeuten hatte. Sie folgte der Sinhazinha und stellte sich an die Tür zum Salon, die aus Schicklichkeitsgründen offenstand. Sie hatte die perfekte Sicht auf die beiden Turteltauben, die einander ganz keusch gegenübersaßen, der junge Senhor auf der Polsterbank, die Sinhazinha auf einem der »Fauteuils«, die Dona Ines von ihrer Frankreichreise mitgebracht hatte. Irgendjemand, wahrscheinlich Fernanda, hatte den beiden bereits eine Erfrischung gereicht, denn auf dem Intarsientischchen zwischen ihnen standen Gläser, eine Karaffe mit Limonade sowie Gebäck.

»Ich wollte, dass du es als Erste erfährst«, begann Rui Alberto. Lua spitzte die Ohren.

»Die Eltern der Glubschäugigen geben einen Maskenball, und ...«

Lua hatte bereits die Lust verloren, dem Gespräch weiter zu lauschen. Es war doch immer dasselbe: Die jungen Herrschaften sprachen nur über gesellige Anlässe, ihre Garderobe oder ihre neuesten Reitpferde. Wenn sie sich über ihre Artgenossen unterhielten, dann meist in sehr abfälligem Ton. So war die »Glubschäugige« eine gewisse Isabel, ein in der Tat glubschäugiges Mädchen, das jedoch als eine enge Freundin der Sinhazinha galt und mit dieser ihrerseits Stunden damit zubringen konnte, über andere »Freundinnen« herzuziehen.

Ein plötzlicher Knall veranlasste Lua, an die Haustür zu gehen und durch die eingelassenen bunten Scheiben einen Blick nach draußen zu werfen. Zunächst wusste sie die Szene, die sich ihr darbot, nicht zu deuten. Sie sah einen Schwarzen, der im Gefolge des Senhor Rui Alberto gekommen sein musste, denn nach São Fidélio gehörte er gewiss nicht. Sie sah weiterhin ein scheuendes Pferd sowie ihren ältesten Stallknecht, der eine Reitpeitsche in der Hand hielt. Dann beobachtete sie, wie der fremde Sklave mit einem gezielten und unglaublich akrobatischen Tritt dem Stallknecht die Peitsche aus der Hand trat und sie blitzschnell an sich nahm. Oho! Das versprach spannend zu werden. Sie huschte leise aus dem Haus. Auch andere Sklaven waren auf die merkwürdigen Vorgänge im Hof aufmerksam geworden und scharten sich nun um ihren Antonio und den Fremden.

Je näher sie den beiden kam, desto genauer konnte sie die Züge des fremden Sklaven erkennen. Hatte sie von weitem nichts wahrgenommen als einen dunkelhäutigen, schlanken jungen Burschen, so sah sie nun, dass es sich bei diesem um einen Mann von unbeschreiblicher Schönheit handelte. Ihr blieb der Mund offen stehen, so sehr war sie von dem Anblick dieses schwarzen Gottes fasziniert! Er war von kräftiger, aber anmutiger Gestalt. Seine Züge zeugten von Intelligenz, Stolz und Entschlossenheit. Seine Haut war tiefschwarz und glänzte wie Seide. Sein Haar war so kurz geschoren, dass er beinahe kahl wirkte, doch dies entstellte ihn nicht etwa, sondern verlieh ihm eine sonderbar erregende Aura von Strenge und Unnahbarkeit. Er wirkte keineswegs wie ein Feldsklave, obwohl ihn seine Kleidung als solchen auswies. Er trug nämlich nichts außer einer einfachen Leinenhose, die von einer Kordel gehalten wurde. Sein entblößter Oberkörper war unbehaart, so dass die Muskeln unter seiner Haut ein herrliches Relief bildeten. Herrje, er sah aus wie ein König!

»Wer ist das?«, fragte die dicke Maria flüsternd.

»Ich weiß nicht«, hauchte Lua hingerissen, ohne den Blick von diesem Bild von einem Mann abzuwenden.

»Er sieht umwerfend aus, findest du nicht auch?«, störte Maria Luas Anbetung weiter.

»Hm.«

»Seht!«, fuhr sie da eine ältere Feldsklavin an. »Still, ihr beiden! Ich will nichts von diesem Spektakel verpassen.«

Sie gehorchten, was allein Bände darüber sprach, wie gebannt sie selbst dem Geschehen folgten. Unter anderen Umständen hätten sie sich von einer Feldsklavin überhaupt nichts sagen lassen.

Inzwischen umringten etwa zehn Sklaven den Stallknecht Antonio und den Fremden, und allmählich sprach sich herum, was vorgefallen war. Der Fremde hatte den Auftrag erhalten, auf das Pferd seines Herrn achtzugeben. Doch im Stall war er, wie’s schien, nicht mit den Methoden Antonios einverstanden gewesen, der das Pferd offenbar allzu nachlässig trockengerieben hatte. Daraufhin hatte der Fremde die Arbeit wohl lieber selbst erledigen wollen und dadurch Antonios Autorität in Frage gestellt. Dieser nun, der dienstälteste Stallknecht auf São Fidélio, hatte den anmaßenden Jüngeren nach draußen gezerrt und die Peitsche neben ihm niedersausen lassen – hatte aber nicht damit gerechnet, dass der Fremde ihm diese so geschickt entwenden würde.

»An den Tieren brauchst du deine Wut nicht auszulassen«, sagte nun der Fremde in einer wundervollen Bassstimme, von der Lua die Knie weich wurden. »Und an deinesgleichen auch nicht.« Dann warf er Antonio die Peitsche vor die Füße, drehte sich um und verschwand im Stall.

»Du Nigger-Abschaum, was fällt dir ein?«, brüllte Antonio und rannte ihm nach. Die Zuschauer hielten die Luft an. Würden die beiden sich im Stall prügeln? Lua hoffte es, denn Antonio hatte wirklich einmal eine Abreibung verdient, als Strafe für all die ersäuften Kätzchen, geprügelten Hunde und geschundenen Pferde. Leider kam es nicht so weit, denn in diesem Moment eilte Rui Alberto aus der Casa Grande auf sie zu. »Was geht hier vor? Zé, in welchem Schlamassel steckst du diesmal?« Damit verschwand er im Stall.

Kurz darauf kam er, mit seinem Sklaven im Schlepptau, wieder heraus. Die Sinhazinha hatte sich unterdessen zu den Schaulustigen gesellt und sah nun fragend abwechselnd zu Lua und zu ihrem Galan.

»Eigentlich wollte ich ihn dir zum Verlobungsgeschenk machen«, sagte Rui Alberto zur Sinhá Eulália, »aber ich werde das noch einmal überdenken. Ich muss ihn erst noch ein wenig ... ähm ... formen.«

»Aber nein«, rief Eulália verzückt, »ich will ihn so haben, wie er ist. So wild, so stark – ach, er ist herrlich! Ich danke dir, mein Lieber.«

Lua kannte die Sinhazinha gut genug, um zu wissen, was in ihr vorging. Der Sklave war ihr von Herzen gleichgültig, die zwischen den Zeilen angekündigte Verlobung indes nicht. Sie würde keine Verzögerung wünschen, nur weil das Geschenk noch nicht »fertig« war.

Der schöne Zé stand währenddessen mit erhobenem Kinn neben seinem Senhor und starrte gezielt an der Sinhazinha vorbei – genau in Luas Augen. Ihr Mund wurde trocken, ihre Ohren glühten. Aus dem Blick dieses Mannes sprachen grenzenlose Arroganz und ein unbeugsamer Stolz, dennoch wirkten seine Augen zugleich auch nachdenklich, traurig und weise. Der Ausdruck darin erinnerte sie ein wenig an den in Imaculadas Augen, obwohl es unter Schwarzen wohl keine zwei Augenpaare gab, die unterschiedlicher hätten sein können. Seine waren groß, klar und von einem auffallend hellen, bernsteinfarbenen Ton. Sie waren umrahmt von einem Kranz dichter, schön geschwungener Wimpern. An den Seiten erkannte man bei genauem Hinsehen kleine Fältchen, aus denen Lua schloss, dass Zé ein wenig älter war als sie selbst. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig.

Sie war sich nicht sicher, ob er sie bewusst wahrnahm oder ob sie nur zufällig in seiner Blickrichtung gestanden hatte. Sie vermochte sich kaum vorzustellen, dass dieser prachtvolle Mann ausgerechnet sie unter den Umstehenden ausgewählt haben sollte, um die Gnade seines Blickes auf ihr ruhen zu lassen.

Unsanft wurde sie in die Wirklichkeit zurückgeholt, als die Sinhazinha ihr mit ihrem Ellbogen in die Taille stieß. »He, Lua, nun glotz ihn doch nicht so an!«

In ihrer grenzenlosen Verwirrung fiel Lua nichts Besseres ein, als einen Knicks zu machen, »nein, nein« zu stammeln und sich ins Haus zu retten. Das Gelächter der Sinhazinha und ihres zukünftigen Verlobten hallte noch in Luas Ohren, als sie längst der peinlichen Situation entkommen war.

Für den Rest des Tages war sie zu nichts mehr zu gebrauchen. Sie war fahrig und in Gedanken weit von ihrer Arbeit entfernt. Sie ließ eine kostbare Blumenvase fallen, verschüttete die Hälfte der heißen Schokolade, die sie der Sinhá Eulália wie jeden Nachmittag brachte, und schlug der Länge nach hin, als sie über die Fransen des Orientteppichs stolperte, der in der Halle lag. Erst spät am Abend, als in der Senzala Ruhe einkehrte, gelang es ihr, ihre Gedanken zu ordnen.

Die Senzala war die Gemeinschaftsunterkunft der Sklaven. Sie grenzte an das Herrenhaus, im Innern jedoch befand man sich in einer vollkommen anderen Welt. Es raschelte und knisterte die ganze Nacht hindurch. Immer gab es irgendjemanden, der hüstelte, schnarchte oder sich unruhig in seiner Hängematte wälzte. Auch Liebende waren nicht immer so leise, wie sie es von sich glaubten. Ein schweres Gemisch aus Rauch, Essensdüften und menschlichen Ausdünstungen erfüllte die Luft.

Ganz dunkel wurde es ebenfalls nie. Zwar war es den Sklaven untersagt, nach dem Läuten der Zehn-Uhr-Glocke noch Lampen brennen zu lassen, aber die eine oder andere Funzel brachte trotzdem noch ein wenig Licht, so dass die Leute wenigstens den Weg zum Abort fanden.

Lua lag in ihrer Hängematte und träumte mit offenen Augen vor sich hin. Eines war ihr klargeworden: Die Liebe auf den ersten Blick gab es! Sie hatte nie an sie geglaubt, doch jetzt hatte Zé sie eines Besseren belehrt. Nun endlich erfuhr sie, wie das Verliebtsein sich wirklich anfühlte. Das Turteln mit Joãozinho und das Poussieren mit Luis, das war nichts gewesen im Vergleich zu den Gefühlen, die sie allein beim Gedanken an Zé überrollten wie eine der riesigen Wogen des Meeres, an das ihre Fazenda grenzte. Sie sträubte sich dagegen. Ihr Verstand weigerte sich zu begreifen, dass man einen Wildfremden auf Anhieb lieben konnte. Das war doch ein Ding der Unmöglichkeit. Sie versuchte, diesen Gefühlen aus dem Weg zu gehen, so wie sie sich auch niemals freiwillig in die Nähe der tosenden See begeben hätte. Aber ihr Herz sagte etwas völlig anderes. Und es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie der Stimme ihres Herzens lieber lauschte als der ihres Kopfes.

Kapitel 4

Lua erwachte später als üblich. Am Horizont leuchtete bereits die Sonne, demnach musste es schon nach fünf sein. Sie sputete sich, um in die Casa Grande zu kommen, bevor deren Bewohner aufwachten und augenblicklich nach den Sklaven verlangten. Die Sinhá Eulália war besonders anspruchsvoll. Sie wünschte jeden Morgen ein Bad zu nehmen, von Lua geschrubbt und trockengerubbelt zu werden, anschließend das Frühstück auf ihrem Zimmer serviert zu bekommen und sich dann von ihr ankleiden zu lassen. Letzteres war immer eine aufreibende Prozedur, litt ihre Herrin doch unter mangelnder Entschlusskraft. Lieber das rosefarbene Kleid oder eher den cremefarbenen Rock mit der hellblauen Bluse? Lieber einen Spitzenkragen oder doch ein Seidentuch?

Als Kind hatte Lua sie glühend um ihre herrliche Garderobe beneidet. Damals hatten sie manchmal die Kleidung getauscht, und in ihren Kleidern aus duftigen, farbenfrohen Stoffen hatte Lua sich immer gefühlt wie eine Prinzessin – während die Sinha sich in den erdfarbenen Kittelchen der Dienerin aufführte, als sei sie es, die das große Los gezogen hatte. Oft hatte Lua geweint, weil den Sklaven schöne Kleider nicht zustanden. Die Tränen waren jedoch längst versiegt. Sie hatte sich mit den einfachen Baumwollkleidern abgefunden, die ihr zu tragen erlaubt waren, und erfreute sich an den abgelegten Accessoires, die ihr die Sinhazinha von Zeit zu Zeit schenkte: ein fadenscheiniger Schal hier, ein Paar alter Seidenstrümpfe dort. Der äußerst dürftige Umfang von Luas Garderobe hatte wenigstens den Vorteil, dass sie nicht allmorgendlich vor dem Kleiderschrank verzweifelte ob der Vielzahl an kostbaren Roben, so wie die Sinhá Eulália, die zuweilen mit tränenerstickter Stimme ausrief: »Ich habe überhaupt nichts zum Anziehen!«

Lua schlüpfte in ihr blaues Kleid, band sich eine frische weiße Schürze um und lief nach draußen an den großen Waschtrog, um Gesicht und Hände zu waschen. Sie fuhr mit ihren nassen Fingern durch ihr krauses Haar, um es straff nach hinten zu kämmen und aufzustecken. Dann setzte sie die weiße Haube auf und begab sich zum Herrenhaus. Sie wählte ihren Weg so, dass sie an dem großen Tisch vorbeikam, an dem die Feldsklaven ihr Frühstück, bestehend aus Tapioka-Fladen und stark gesüßtem Kaffee, zu sich nahmen. Normalerweise mied sie diesen Weg, da manche der Burschen anzügliche Bemerkungen machten und die anderen, auch die Frauen, dann stets laut lachten. Während einige der Haussklavinnen diese »Komplimente« genossen, schämte Lua sich jedes Mal halb zu Tode. Heute aber hoffte sie einen Blick auf Zé zu erhaschen.

Sie sah ihn genau zwischen dem derben José Careca und dem pockennarbigen Paulo, zweien der ordinärsten Kerle auf dieser Fazenda. Er starrte auf sein Essen und schien sich über irgendetwas den Kopf zu zerbrechen. Erst als die zwei Fieslinge mit ihren Pöbeleien begannen, blickte er auf. Sein Blick traf den ihren, und sie glaubte, den Anflug eines Lächelns über sein Gesicht huschen zu sehen. Vielleicht bildete sie es sich aber auch nur ein, denn sofort senkte Zé wieder den Blick und beschäftigte sich mit seinem kargen Mahl. Lua verspürte heftiges Herzklopfen. Die zotigen Witze der anderen ignorierend, ging sie hocherhobenen Hauptes weiter. Dabei legte sie so viel Anmut in ihren Gang, wie es ihr angesichts der Umstände möglich war.

»Da stolziert sie, die eingebildete Pute, ganz die feine Dame, was?«, rief der Pockennarbige ihr hinterher.

»Ja, aber mit einem so hübsch ausgestreckten Hinterteil, dass man gleich auf ganz unfeine Gedanken kommt«, hörte sie José Careca grölen.

Kaum war sie um die Ecke gebogen und den Blicken dieser lüsternen Grobiane nicht mehr ausgeliefert, nahm sie die Beine in die Hand. Sie erreichte den Küchentrakt der Casa Grande keuchend und verschwitzt. Die anderen Haussklaven saßen bereits um den riesigen Küchentisch und frühstückten. Atemlos ließ sie sich auf ihrem angestammten Platz zwischen Fernanda und der dicken Maria fallen. Die beiden schauten sie fragend an, doch Lua achtete nicht auf sie, sondern griff beherzt nach dem Brotkorb.

Eines der Privilegien, die die Haussklaven genossen, war, dass sie in der Küche ihre Mahlzeiten einnehmen durften. Die Köchin und ihre Gehilfinnen ließen ihnen dabei stets ein paar Leckereien aus dem Vorrat der Herrschaft zukommen. Lua schätzte, dass Dona Ines genau wusste, dass sie sich an ihren Blutwürsten und Käselaiben gütlich taten, es jedoch stillschweigend duldete. Auch die Haussklaven aßen beijús, die Tapioka-Fladen, wie sie sich die Arbeiter zubereiteten, doch die in der Casa Grande waren reichlich gefüllt, je nach Geschmack herzhaft oder süß, etwa mit Käse oder mit Marmelade. Sie bekamen ab und zu »Studentenbällchen« mit Zimt und Zucker zu essen, herrlich klebrig süße Klößchen aus Tapioka und Kokosnuss, und ganz selten kamen sie sogar in den Genuss echter Weizenbrötchen. Heute war ein solcher Tag, und Lua bedauerte, so spät dran zu sein, denn viele Brötchen befanden sich nicht mehr in dem Korb.

»Schling doch nicht so«, tadelte sie die dienstälteste Haussklavin, die man ehrfürchtig tia, Tante, Jacobina nannte.

»Hast du letzte Nacht einen größeren Marsch gemacht, oder wieso bist du so hungrig?«, begehrte Fernanda zu wissen.

»Größerer Marsch, pah! Ich denke mal, sie hat länger gelegen, als ihr guttut – und zwar bei einem Mann«, antwortete die dicke Maria an Luas Stelle und lachte lauthals über ihre vermeintlich komische Bemerkung.

»Du missgünstiges Weib«, waren die einzigen Worte, die Lua zwischen zwei gierigen Bissen in ihr dick belegtes Brötchen hervorbrachte.

»Also stimmt es!«, rief Maria triumphierend aus.

Lua schüttelte verneinend den Kopf und verdrehte die Augen. »Ich wette, es war der Neue«, mutmaßte die andere weiter.

Luas Gesicht wurde glühend heiß. Wie froh sie war, dass sie nicht die blasse Haut der Sinhazinha besaß, auf der sich nun eine verräterische Röte abgezeichnet hätte!

»Er hat sie gestern ganz verzückt angestarrt«, schlug nun auch die kleine Aninha in dieselbe Kerbe.

»Wen auch sonst?«, versuchte Fernanda, ihre Freundin zu verteidigen. »Wisst ihr eine auf São Fidélio, die hübscher ist als unsere Lua? Na also. Mit diesem Engelsgesicht und diesem sündigen Körper kann keine von uns konkurrieren.«

»Schluss mit dem Quatsch!«, ging Lua dazwischen, nachdem sie den letzten riesigen Bissen heruntergeschluckt hatte. »Ich habe nichts mit dem Neuen, und die meisten von euch dürften mich in der vergangenen Nacht selig schlummernd in meiner Hängematte gesehen haben.«

Ihr Blick traf ganz kurz auf den von Lulu. Sie erschrak angesichts des Hasses, der sich darin zeigte. Lulu war ein junger Haussklave, der für sie schwärmte, seit er vor vier Jahren nach São Fidélio gekommen war. Allerdings erwiderte Lua seine Gefühle nicht. Sie konnte den Kerl nicht leiden, denn er war hochnäsig. Er sah recht gut aus und schien klug zu sein, was ihm einen schnellen Aufstieg innerhalb der Hierarchie der Haussklaven sowie die Anbetung zahlreicher jüngerer Mädchen beschert hatte. Dennoch stieß er Lua ab; sie konnte nicht einmal genau beschreiben, was es war, das ihn in ihren Augen so unattraktiv machte.

In diesem Augenblick ertönte eines der Glöckchen an der Tafel. Jedes Zimmer war durch eine Schnur mit einem eigenen Glöckchen verbunden, so dass man genau sah, wo man nach ihnen rief. Es war, wie nicht anders zu erwarten, das Gemach der Sinhá Eulália, in dem nach einem Diener verlangt wurde. Lua stürzte schnell einen Schluck Milchkaffee hinunter, seufzte und machte sich auf den Weg.

Der Tag verlief wie die meisten auf der Fazenda. Sinhá Eulália ließ Lua eine Reihe unnötiger Arbeiten verrichten, und der Senhor rief sie in sein Studierzimmer, damit sie ihm die Schuhe polierte, wobei er ihr auf die Brüste glotzte und ihr verschämte Komplimente machte – wirklich zudringlich wurde er nie. Sie schaffte es kurz in die Bibliothek und las einige wenige Seiten in einem uralten und sterbenslangweiligen Versepos namens »Prosopopéia«. Mittags gab es Bohnen und Aipim-Püree zu essen, sie stritt sich mit der dicken Maria über ein Glas, das diese fallen gelassen hatte und dafür ihr die Schuld in die Schuhe schob, und sie besserte die Kanten der feinen Taschentücher von Dona Ines aus, die sehr genau um Luas Geschicklichkeit im Sticken wusste. Ein Tag wie jeder andere – wäre da nicht der späte Nachmittag gewesen, an dem Fernanda und Lua sich davonstahlen, um die Rückkehr der Feldsklaven zu beobachten. Lua war es gewesen, die den Vorschlag gemacht hatte. Fernanda hatte nur geraunt: »Also ist doch etwas dran an Marias Gerede?«, schloss sich ihr aber bereitwillig an.

»Nein, Maria übertreibt maßlos. Aber eines stimmt schon: Dieser Neue hat etwas an sich, das Genauer vermochte sie es nicht zu beschreiben. Fernanda, die im Gegensatz zu ihr schon Erfahrungen in der Liebe gesammelt hatte, sah sie schräg an. »Bist du etwa verknallt? Pass bloß auf, dass er dir kein Kind macht.«

Lua schlug die Hand vor den Mund. Warum mussten immer alle gleich so vulgär werden? Durfte man nicht mal von einem Mann schwärmen, ohne gleich über die Gefahren belehrt zu werden, die die fleischliche Vereinigung mit sich brachte? Sie dachte ja nicht im Traum daran, sich Zé hinzugeben! Sie wollte ihn sich nur noch einmal anschauen, und insgeheim hoffte sie natürlich, dass auch er sich freuen würde, sie zu sehen.

Mit 18 Jahren noch Jungfrau zu sein war unter Sklavinnen eine echte Rarität. Die meisten wurden von ihren Herren oder deren Söhnen bestiegen, sobald die ersten Anzeichen von Fraulichkeit sichtbar wurden, also etwa mit zwölf oder 13. Bei der einen oder anderen war es auch der Padre gewesen, der ihnen gezeigt hatte, was sie mit den männlichen Sklaven tunlichst nicht