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Eine Liebe, die alle Grenzen überwindet: Der berauschende historische Roman »Der Duft der Kaffeeblüte« von Ana Veloso jetzt als eBook bei dotbooks. Brasilien am Ende des 19. Jahrhunderts: Auf der Kaffeeplantage ihrer Eltern führt die junge Vita ein sorgenfreies Leben. Die Schönheit der Tochter aus reichem Hause ist in der ganzen Region bekannt – und so wird sie von zahlreichen vornehmen Verehrern umworben. Doch Vita fühlt sich ausgerechnet von dem rebellischen León wie magisch angezogen, der alles infrage stellt, wofür ihre Familie steht: Der mutige Journalist kämpft leidenschaftlich für die Abschaffung der Sklaverei. Bei ihren heimlichen Treffen inmitten der Felder, eingehüllt vom betörenden Duft der Kaffeeblüten, kommen sich die beiden immer näher – wohlwissend, dass ihre Verbindung gegen alle Konventionen verstößt. Doch in den Stürmen der Zeit, die über Brasilien fegen, wird ihre Liebe auf eine harte Probe gestellt … Eine große Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der dramatischen Umbrüche des 19. Jahrhunderts – und das faszinierende Porträt einer Gesellschaft, die am Rande des Vulkanes tanzt: »Ein Roman, so verführerisch wie das Aroma exotischen Kaffees – sinnlich und kraftvoll, anregend und bittersüß«, urteilt der Harz Kurier. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der farbenprächtige Landschaftsroman »Der Duft der Kaffeeblüte« von Bestseller-Autorin Ana Veloso wird alle Fans von Tara Haighs und Catherine Tarleys Exotik-Epen begeistern! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Über dieses Buch:
Brasilien am Ende des 19. Jahrhunderts: Auf der Kaffeeplantage ihrer Eltern führt die junge Vita ein sorgenfreies Leben. Die Schönheit der Tochter aus reichem Hause ist in der ganzen Region bekannt – und so wird sie von zahlreichen vornehmen Verehrern umworben. Doch Vita fühlt sich ausgerechnet von dem rebellischen León wie magisch angezogen, der alles infrage stellt, wofür ihre Familie steht: Der mutige Journalist kämpft leidenschaftlich für die Abschaffung der Sklaverei. Bei ihren heimlichen Treffen inmitten der Felder, eingehüllt vom betörenden Duft der Kaffeeblüten, kommen sich die beiden immer näher – wohlwissend, dass ihre Verbindung gegen alle Konventionen verstößt. Doch in den Stürmen der Zeit, die über Brasilien fegen, wird ihre Liebe auf eine harte Probe gestellt …
Eine große Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der dramatischen Umbrüche des 19. Jahrhunderts – und das faszinierende Porträt einer Gesellschaft, die am Rande des Vulkanes tanzt: »Ein Roman, so verführerisch wie das Aroma exotischen Kaffees – sinnlich und kraftvoll, anregend und bittersüß«, urteilt der Harz Kurier.
Über die Autorin:
Ana Veloso wurde 1964 geboren. Nach ihrem Studium der Romanistik arbeitete sie als Journalistin für mehrere namhafte deutsche Magazine. Ihr erster Roman, »Der Duft der Kaffeeblüte«, wurde ein großer Erfolg und in viele Sprachen übersetzt. Ana Veloso lebt als Journalistin und Autorin in Hamburg, verbringt aber jedes Jahr mehrere Monate im Ausland, um dort Eindrücke für ihre Romane zu sammeln.
Bei dotbooks veröffentlichte Ana Veloso ihre exotischen Love-and-Landscape-Romane »Der Himmel über dem Alentejo«, »Das Leuchten der Indigoblüte« und »Die Frau vom Rio Paraíso«. Weitere Titel sind in Vorbereitung.
Die Website der Autorin: www.ana-veloso.de/
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eBook-Neuausgabe November 2022
Copyright © der Originalausgabe 2006 by Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)
ISBN 978-3-98690-400-5
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Ana Veloso
Der Duft der Kaffeeblüte
Roman
dotbooks.
1884 – 1886
Kaffee, fand Vitória da Silva, war das wunderbarste Gewächs der Welt. Sie stand am geöffneten Fenster ihres Schlafzimmers und blickte über die Felder. Bis zum Horizont erstreckten sich die Hügel der Fazenda, und über alle zogen sich die sanft geschwungenen Reihen des »grünen Goldes«, das über Nacht die Farbe gewechselt hatte: Die Knospen hatten sich, kaum dass die Regenfälle der vergangenen Wochen aufgehört hatten, geöffnet. Die Sträucher waren nun mit weißen, filigranen Blüten durchsetzt, und von Weitem wirkte die Landschaft, als sei sie mit einer feinen Schicht Puderzucker bestäubt worden.
»Ob es wohl so aussieht, wenn es geschneit hat?«, fragte sich Vitória nicht zum ersten Mal. Sie hatte noch nie in ihrem Leben Schnee gesehen. »Ganz bestimmt aber«, dachte sie, »riecht Schnee nicht so gut.« Tief sog sie die Luft ein, in der, ganz schwach, der zarte Duft der Kaffeeblüten lag, der dem von Jasmin so stark ähnelte. Gleich nach dem Frühstück wollte Vitória hinausgehen und ein paar Zweige abschneiden, eine Gewohnheit, die niemand in ihrer Familie nachvollziehen konnte. »Warum stellst du nicht lieber ein paar hübsche Blumen in die Vase?«, pflegte ihr Vater zu fragen. Kaffee betrachtete er als reine Nutzpflanze, nicht als Zierde.
Aber Vitória blieb dabei. Sie liebte die Zweige, wenn sie wie jetzt, Mitte September, in voller Blüte standen und ihr feines Aroma das Haus durchströmte. Sie liebte sie auch, wenn die ersten Früchte heranreiften und die noch grünen Kirschen unter den weißen Blüten hervorblitzten. Sie liebte sie, wenn die Kaffeekirschen zur vollen Reife gelangt waren, wenn sie prall und rot und schwer inmitten der grünen Blätter hingen. Am liebsten aber waren ihr jene Zweige, an denen sowohl Blüten als auch Früchte unterschiedlichen Reifegrades hingen und an denen sich die Jahreszeiten aufzuheben schienen.
Gab es irgendeine andere Pflanze, die ähnlich vielseitig war? Die kapriziös wie eine Rose und dabei Gewinn bringend wie keine andere war? Deren Innerstes, die Kaffeebohne, von so unscheinbarem Äußeren und zugleich von so erlesenem Geschmack sein konnte?
Bei diesem Gedanken fiel Vitória das Frühstück ein, zu dem ihre Anwesenheit erwartet wurde. Bedauernd schloss sie das Fenster. Zu gerne hätte sie sich noch länger an dem Aroma und dem Anblick der Kaffeefelder berauscht. Doch schon jetzt, am frühen Morgen, lag die Hitze bleiern über der Landschaft. Später würde sie jede Bewegung zur Qual werden lassen. Je länger Vitória Fenster und Vorhänge geöffnet ließ, desto schneller würde die sengende Sonne die sorgsam bewahrte Kühle aus dem Raum vertreiben.
»Sinhá Vitória, beeilen Sie sich! Alle warten schon auf Sie.« Das Hausmädchen stand plötzlich im Türrahmen und trug wie immer eine Miene zur Schau, in der sich ihre eingebildete Wichtigkeit spiegelte.
Vitória zuckte zusammen. »Miranda, warum musst du dich immer so anschleichen? Kannst du dich nicht ein Mal wie ein zivilisierter Mensch benehmen? Zuerst musst du anklopfen und auf eine Antwort warten, bevor du die Tür öffnest, das habe ich dir doch schon so oft erklärt.«
Aber was erwartete sie auch? Miranda stand erst seit kurzem in ihren Diensten, ein törichtes Ding ohne Manieren, das ihr Vater dem Fazendeiro Sobral aus reiner Gutmütigkeit abgekauft hatte – natürlich inoffiziell, denn die Einfuhr von Sklaven war schon seit 1850 verboten und der inländische Handel streng reglementiert. Öffentliche Auktionen von frisch eingetroffenen Afrikanern gab es seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr. Wer weitere Hilfskräfte benötigte, musste sich auf die Fruchtbarkeit der bereits vorhandenen Sklaven verlassen oder sich auf dem Schwarzmarkt umsehen. Und je mehr der Nachschub an Sklaven versiegte, desto besser musste man sich um die kümmern, die man hatte. Ein Fazendeiro, ein Gutsherr, überlegte es sich heute genauer als vor dreißig Jahren, ob er einen aufsässigen Sklaven auspeitschen ließ. Kranke oder hungrige Arbeitskräfte konnte sich niemand mehr leisten. Am wenigsten Vitórias Vater, Eduardo da Silva, der eine der größten Fazendas im Paraíba-Tal sowie mehr als dreihundert Sklaven sein Eigen nannte. Er hatte zu viele Neider, als dass er sich Gesetzwidrigkeiten oder auch nur Verstöße gegen die herrschende Moral, und dazu gehörten auch Misshandlungen von Schwarzen, hätte leisten können. Und er hatte eine Frau, die es mit ihrer christlichen Nächstenliebe sehr genau nahm. Nun saßen beide im Speisesaal und warteten auf ihre Tochter, die ausnahmsweise die Letzte war, weil sie sich von der Kaffeeblüte zum Träumen hatte hinreißen lassen.
»Sag meinen Eltern, dass ich schon unterwegs bin.«
»Sehr wohl, Sinhá Vitória.« Miranda knickste ungelenk, drehte sich um und schlug hinter sich die Tür zu.
»Himmel!« Ungehalten zog Vitória die Brokat-Vorhänge zu, warf sich ihren mit echten Brüsseler Spitzen besetzten Morgenmantel über und blickte in den Spiegel auf ihrem Frisiertisch. Mit geübtem Griff flocht sie ihr Haar zu einem Zopf, der ihr fast bis zur Taille reichte, um diesen dann zu einem sittsamen Knoten im Nacken zu drehen. Dann schlüpfte sie in ihre Hausschuhe und machte sich auf den Weg zum Speisezimmer.
Alma und Eduardo da Silva erwarteten sie mit vorwurfsvollen Blicken.
»Vitória, mein Kind.« Mit belegter Stimme begrüßte Dona Alma ihre Tochter. Vitória ging zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Mamãe, wie geht es Ihnen heute Morgen?«
»Unverändert, Liebes. Aber nun lass uns beten, damit dein Vater endlich essen kann. Er hat es eilig, wie du weißt.«
»Papai, es tut mir ...«
»Scht! Später.«
Dona Alma hatte die Hände bereits gefaltet und murmelte ein kurzes Morgengebet. Mit den dunklen Ringen unter den Augen, den knotigen, rheumatischen Fingern und dem streng zurückgebundenen Haar, das bereits von zahlreichen grauen Strähnen durchzogen war, sah sie aus wie eine Greisin. Dabei war Alma da Silva erst 42 Jahre alt, ein Alter, in dem diverse andere Damen der Gesellschaft immerhin noch tanzten und den Ehemännern ihrer Freundinnen schöne Augen machten. Und so peinlich deren Auftritte auch sein mochten – manchmal wünschte sich Vitória, ihre Mutter sei ebenfalls so lebenslustig und ein bisschen weniger märtyrerhaft. »Amen«, beendete Eduardo da Silva ungeduldig das Gebet, kaum dass seine Frau den letzten Vers aufgesagt hatte.
»So, liebe Vita, jetzt darfst du dich entschuldigen, wenn es das ist, was du vorhin sagen wolltest.« Ihr Vater biss herzhaft in seine torrada, auf die er einen ungehörigen Berg von Frischkäse und Guavengelee getürmt hatte. Aber sowohl seine Frau als auch seine Tochter sahen es ihm nach. Eduardo da Silva stand jeden Tag um vier Uhr in der Früh auf, arbeitete zwei Stunden an seinem Schreibtisch, um sich schließlich bei Sonnenaufgang seinen anderen Pflichten als Fazendeiro zu widmen. Er inspizierte die Ställe und die senzalas, die Sklavenunterkünfte, ritt über die Felder und begutachtete die Kaffeesträucher, gab dem Vorarbeiter Anweisungen für den Tag und hatte immer noch ein freundliches Wort für den Schmied oder die Melkerin übrig. Gegen acht Uhr kam er zurück zum Herrenhaus, um gemeinsam mit seiner Frau und seiner Tochter zu frühstücken – ein Ritual, das ihm heilig war. Kein Wunder, dass er dann ausgehungert war und zuweilen gegen die Tischsitten verstieß.
Jetzt wischte er sich die Krümel aus seinem Vollbart, der ähnlich eindrucksvoll war wie der des Kaisers.
»Papai, entschuldigen Sie. Ich hatte tatsächlich ganz vergessen, dass Sie heute nach Vassouras müssen. Aber haben Sie nicht gesehen: Der Kaffee blüht. Ist es nicht herrlich?«
»Ja, ja, die Ernte verspricht wirklich gut zu werden. Ich hoffe nur, dass Senhor Afonso heute Morgen nicht dasselbe gedacht hat und wieder einen Rückzieher macht.«
»Das wird er nicht, Papai. Keine noch so reiche Ernte kann ihn mehr retten. Diesmal wird er verkaufen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr, Vita. Aber bei Afonso weiß man nie. Der Mann ist verrückt und unberechenbar. Würdest du mir bitte die Brioches reichen?«
Der Korb mit dem Gebäck stand direkt vor Dona Alma, die ihrer Tochter zuvorkommen wollte. Doch als sie danach griff, hielt sie mitten in der Bewegung inne und verzog das Gesicht vor Schmerz. »Mamãe? Ist es wieder schlimmer geworden?«
»Die Schmerzen sind einfach grauenhaft. Aber macht euch um mich keine Gedanken, ich werde nach Doutor Vieira schicken. Sein Schmerzmittel hat beim letzten Anfall Wunder gewirkt. Wirst du Félix heute entbehren können?«, fragte sie ihren Mann. Félix war auf Boavista der Junge für alles. Er war vierzehn Jahre alt, hoch gewachsen und von kräftiger Statur. Doch bei der Ernte konnte er nicht eingesetzt werden: Er war stumm, und den Hänseleien der Feldsklaven konnte er nur mit seinen Fäusten begegnen. Nach ein paar Wochen auf den Feldern, von denen Félix allabendlich mit schlimmen Blessuren zurückgekehrt war, hatte Vitórias Vater beschlossen, den Jungen ins Haus zu holen. Es wurde immer jemand gebraucht, der Botengänge erledigen oder mit anpacken konnte. Reissäcke, Schweinehälften, Weinfässer – irgendetwas war immer zu schleppen. Inzwischen hatte der Junge gelernt, die Sitten seiner Herrschaft zu imitieren, und man konnte ihn sogar mit weniger groben Aufgaben betrauen.
»Und das heute!«, lamentierte Dona Alma. »Wo ihr euch doch um so viele andere Dinge kümmern müsst.«
Vitória blickte ihre Mutter fragend an. Viele andere Dinge? Natürlich, sie hatte immer viel zu tun. Seit ihre Mutter durch die Krankheit so geschwächt war, hatte Vitória die Führung des Haushaltes übernommen. Aber was lag heute an, was über ihre normalen Pflichten hinausging?
»Ach Liebes, habe ich es dir noch nicht gesagt? Pedro hat sich für heute Abend angekündigt, und er bringt ein paar Freunde mit. Unter anderem einen Neffen des Kaisers. Sorge also bitte dafür, dass es den hohen Gästen an nichts mangelt.«
Vitória runzelte die Stirn. Ob ihre Mutter ihr den Besuch absichtlich erst so spät ankündigte? Nein, Dona Alma mochte kränklich und wehleidig sein, aber sie war noch immer eine aufopferungsvolle Mutter, die ihrer Tochter niemals bewusst schaden würde. Andererseits war es in jüngster Zeit häufiger vorgekommen, dass Vitória immer als Letzte davon erfuhr, wenn etwas Außergewöhnliches anlag – und dabei war sie doch diejenige, an der dann die Arbeit hängen blieb.
Und pflegeleicht war dieser Besuch ganz sicher nicht. Hohe Gäste, dass sie nicht lachte! So, wie sie ihren Bruder Pedro kannte, würde er mit einer lärmenden Horde schlecht erzogener Burschen hier einfallen. Sie würden die erlesenen Speisen in Windeseile vertilgen, ohne auch nur ein Wort des Lobes darüber zu verlieren. Sie würden teuren Burgunder herunterstürzen, als handele es sich um Wasser, und der Salon würde nach ihrem Gelage noch tagelang nach Zigarrenqualm riechen.
Am liebsten würde sie den jungen Männern, welcher Herkunft sie auch sein mochten, einen schlichten Eintopf mit carne seca, sonnengetrocknetem Rindfleisch, vorsetzen, den diese, da war Vitória ganz sicher, mit größerem Appetit verspeisen würden als die feinsten Delikatessen. Sei’s drum. Sie war es ihrer Familie und den Gästen schuldig, standesgemäß aufzutischen. Immerhin wäre Boavista heute Abend die größte Fazenda weit und breit – wenn alles gut ging und Senhor Afonso nicht wieder in letzter Sekunde kniff.
Diesmal standen die Chancen gut, dass das Geschäft glatt laufen würde. Vor drei Jahren hatte eine Rekordernte Afonso Soares knapp vor dem Ruin gerettet, in den er die Fazenda mit seiner Spielsucht getrieben hatte. Jetzt aber würde ihm auch die ergiebigste Kaffee-Ernte nicht mehr helfen: Afonso hatte, so jedenfalls munkelte man, bei einem Spiel in der Hauptstadt fast sein gesamtes Vermögen verloren. Wenn er wenigstens das Herrenhaus behalten und seiner Familie ein Minimum an Komfort sichern wollte, dann musste er sich jetzt von den Ländereien trennen, die an Boavista grenzten.
»Ich muss aufbrechen. Vita, sobald Félix zurückkommt, könntest du mit ihm in den Weinkeller gehen und ihm erklären, wo er was findet und wie er mit den Flaschen umzugehen hat. Ich denke, dieser Verantwortung ist er inzwischen gewachsen. Und dann könntet ihr auch gleich den 1874er Laffite mit heraufbringen – heute Abend haben wir sicher einen Grund zum Anstoßen.« Eduardo da Silva zwinkerte seiner Tochter zu, verabschiedete sich zärtlich von seiner Frau und verließ energischen Schrittes den Raum.
Einen Augenblick lang herrschte bedrücktes Schweigen am Tisch, wie so oft, wenn sich Mutter und Tochter plötzlich ganz allein miteinander beschäftigen mussten. Oft war das nicht der Fall, auf Boavista war ein ständiges Kommen und Gehen an der Tagesordnung. Der Arzt sah regelmäßig nach seiner einträglichsten Patientin; der Pfarrer tauchte mehrmals in der Woche auf, um sich an Senhor Eduardos Wein gütlich zu tun; der eine oder andere Nachbar schaute gelegentlich herein, wenn er die Fazenda passierte, auf dem Weg zu Geschäften in der Hauptstadt Rio de Janeiro oder auch nur in Vassouras, der nächstgelegenen Stadt; Lourenço, der Dekorateur, und Mademoiselle Madeleine, die Hutmacherin, machten den Damen öfter als nötig ihre Aufwartung; und natürlich war Pedro hin und wieder zu Hause. Irgendjemand war also immer in der Nähe, und unbequeme Stille zwischen Dona Alma und Vitória konnte gar nicht erst entstehen.
»Mamãe«, wandte sich schließlich Vitória an ihre Mutter, »seit wann wissen Sie von Pedros Besuch?«
»Ach Liebes, es ist unverzeihlich von mir, dass ich dir erst heute Bescheid sage. Als mich der Brief erreichte, das war vor etwa drei Tagen, ging mir so viel anderes im Kopf herum, dass ich darüber ganz vergessen habe, dich zu informieren.«
»Schon gut. Wie viele Leute bringt er denn mit?«
»Wahrscheinlich drei. Stell dir vor, einer davon ist João Henrique de Barros, und wenn ich mich nicht sehr täusche, heißt so der Schwiegersohn der Cousine von Prinzessin Isabel!«
»Mamãe, Ihre profunde Kenntnis des kaiserlichen Stammbaums in allen Ehren – aber was hat das schon zu bedeuten? Erstens ist João Henrique de Barros kein ganz seltener Name. Zweitens könnte der Mann, sollte er wirklich der Schwiegersohn von Dona Isabels Cousine sein, ja auch ein gewöhnlicher Straßendieb sein.«
»Kind!«
Sie hatten diese Diskussion schon oft geführt, und nie kamen sie zu einem Ergebnis. Dona Alma war davon überzeugt, dass die richtige Abstammung mehr wert war als alle Tugend und alles Geld dieser Welt. Warum sie jemals die Frau von Eduardo da Silva geworden war, hatte Vitória bis heute nicht verstanden. Als die beiden heirateten, war Eduardo da Silva nichts weiter gewesen als ein Bauer – der über genügend Köpfchen und Weitsicht verfügte, nach Brasilien auszuwandern und sich auf den Kaffeeanbau zu spezialisieren.
Sein Fleiß sowie die weltweit steigende Nachfrage nach dem »grünen Gold« machten Eduardo da Silva innerhalb kurzer Zeit zu einem reichen Mann – aber nur einem Zufall verdankte er seine Erhebung in den Adelsstand. Nachdem er einem unbedeutenden Mitglied der Kaiserfamilie nach dessen Reitunfall zu Hilfe geeilt war und ihm dadurch das Leben gerettet hatte, wurde er von Dom Pedro II. dafür mit dem Titel eines Barons belohnt. Aus Eduardo da Silva, einem portugiesischen Einwanderer, der sich aus kleinsten Verhältnissen zum Herrn von Boavista emporgearbeitet hatte, wurde der Barão de Itapuca. Und Dona Alma, einzige Tochter verarmter Landadliger aus Portugal, war endlich von der Schmach befreit, unter ihrem Niveau geheiratet zu haben.
»Haben Sie sich schon Gedanken über das Menü gemacht? Ich meine, wenn die Herren so bedeutend sind, müssen wir sie ja tüchtig beeindrucken. Was gar nicht so leicht werden dürfte, denn von der Trüffelterrine und dem italienischen Schinken ist nichts mehr übrig.«
»Nun ja ... dir und Luiza wird schon etwas einfallen«, erwiderte Dona Alma ausweichend. Luiza war die Köchin, die schon seit Urzeiten im Haushalt der Familie arbeitete und die sich dank ihrer Erfahrung durch nichts aus der Ruhe bringen ließ. »Begleitest du mich nun bitte auf mein Zimmer, ich muss ein wenig ruhen.«
Typisch, dachte Vitória. Sie reichte ihrer Mutter den Arm und führte sie zum Treppenabsatz. Kaum lagen außergewöhnliche Umstände vor, kaum waren etwas mehr Erfindungsreichtum und Aktivität gefragt, fiel es Dona Alma ein, unpässlich zu werden. Wie ungerecht das war! Sie, Vitória, musste mit ihren siebzehn Jahren all die Verantwortung für den reibungslosen Ablauf des Alltags im Haus tragen, und wie dankte ihre Mutter es ihr? Durch eine Leidensmiene, die ihrem Gegenüber jedwede Kritik im Halse stecken bleiben ließ.
Vitória beschloss, dem Wunsch ihrer Mutter, sie hinaufzubegleiten, diesmal nicht nachzukommen. Zu viel war zu erledigen, als dass sie überhaupt die Zeit für die mühselige Prozedur gehabt hätte. Ihre Mutter musste auf dem Weg in ihr Zimmer gestützt werden, und wenn sie erst einmal in ihrem Lehnstuhl saß, verlangte es sie nach einer Decke, ihrem Gebetbuch, ihrer Stickarbeit oder, was Vitória heute um jeden Preis vermeiden musste, nach einem Gespräch über die Krankheit, durch die der Herrgott sie ihrer Meinung nach Demut lehren wollte.
»Miranda, komm her und hilf Dona Alma auf ihr Zimmer!«
»Sehr wohl, Sinhá Vitória.« Das Mädchen, das an der Tür zum Speisesaal darauf gewartet hatte, dass sich die Familie vom Tisch erhob, damit sie abräumen konnte, rannte herbei.
»Gemessenen Schrittes, Miranda. Im Haus wird nicht gelaufen – es ist ein Ort der Ruhe und Behaglichkeit, und so soll es auch bleiben.« Vitória sah das Mädchen scharf an. »Und sobald du Dona Alma mit allem versorgt hast, was sie braucht, kommst du wieder her. So schnell du kannst – aber gemessenen Schrittes, verstanden?«
»Jawohl, Sinhá.«
Dona Alma schwieg und warf ihrer Tochter einen skeptischen Blick zu. Sie schien zu ahnen, dass die kleine Zurechtweisung wohl eher eine Demonstration hausfraulicher Kompetenz sein sollte. Mit einem leisen Stöhnen ergriff sie Mirandas Arm, raffte mit der anderen Hand ihren schwarzen Taftrock und quälte sich die Treppe hinauf.
»Mamãe, erholen Sie sich gut. Ich werde später nach Ihnen sehen«, rief Vitória ihr nach. Nun hatte sie doch wieder ein schlechtes Gewissen.
Sie ging zum Fenster, um erneut einen Blick auf die weiße Pracht zu werfen, die in der Morgensonne glitzerte. Was für ein Spektakel! Allein dafür lohnte es sich, fernab des Hofes zu leben und in Rio de Janeiro als Landpomeranze verschrien zu sein.
Heute würde sie, trotz aller Arbeit, die auf sie wartete, einen kleinen Spaziergang auf die Kaffeefelder unternehmen. Ein paar hübsche Zweige wären genau das Richtige für die festlich gedeckte Tafel, die weißen Blüten würden perfekt mit der damastenen Tischwäsche und dem feinen Porzellan aus Limoges harmonieren. Ja, und sie würde die Zweige so geschickt in der venezianischen Kristallvase arrangieren, dass niemand auf die Idee käme, es könne sich nicht um eine äußerst kostbare botanische Rarität handeln.
Aber zunächst die unangenehmeren Aufgaben. Sie musste dringend mit der Köchin reden und mit ihr die Vorräte inspizieren. Luiza hatte schon seit vielen Jahren die Oberaufsicht über die Küche, und sie würde wissen, was bis heute Abend machbar war und was nicht.
Vitória schloss die Gardinen des Speisezimmers, um auch hier ein Eindringen der heißen Luft so gut wie möglich zu verhindern. Bis heute Abend wurde der Raum nicht mehr gebraucht. Zu Mittag aßen die da Silvas fast nie gemeinsam. Eduardo da Silva kehrte, da er tagsüber meist unterwegs war, in einer Schänke ein oder aß zusammen mit den Vorarbeitern, die am Rande der Felder eine primitive Kochstelle errichtet hatten. Alma da Silva litt unter chronischem Appetitmangel und verzichtete auf ein Mittagessen. Und Vitória langte schon beim Frühstück so zu, dass sie nie vor dem Nachmittag Hunger verspürte – und wenn doch, dann ließ sie sich auf der Veranda einen leichten Imbiss oder Obst servieren.
Auf dem Weg zur Küche fiel Vitórias Blick auf die Vitrine, in deren Scheibe sie sich spiegelte. Himmel, sie war ja noch im Morgenrock! Schnell lief sie auf ihr Zimmer, zog sich ein dünnes, aber robustes Kattunkleid sowie feste Schuhe an. Ein Korsett trug sie bei dieser Hitze nicht, und solange sie außer den Dienstboten niemand sah, konnte ja auch keiner Anstoß daran nehmen.
Vitória schloss leise die Tür hinter sich. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter sie zu sich hereinrief. Aus ihrem Zimmer, das auf der anderen Seite des Flurs lag, drang gedämpftes Gemurmel. Dona Alma schien Miranda länger in Beschlag zu nehmen als nötig. Fast hatte Vitória Mitleid mit dem Dienstmädchen, das wahrscheinlich endlose Reden über das Elend dieser Welt im Allgemeinen und die Abscheulichkeit dieses gottverlassenen Winkels im Besonderen über sich ergehen lassen musste. Obwohl Brasilien schon vor mehr als sechzig Jahren seine Unabhängigkeit erklärt hatte, betrachtete Dona Alma das Land weiterhin als portugiesische Kolonie. Sie klagte unaufhörlich über die unmenschlichen Lebensbedingungen, das feuchtwarme Klima und die wilde Bevölkerung, der es offensichtlich an sittlicher Reife fehlte. Wie sonst war es zu erklären, dass sich hier die Rassen gemischt hatten, dass es neben Weißen und Schwarzen und Indios auch alle möglichen Subjekte undefinierbarer Hautfarbe gab? Und zwar immer mehr davon?
Vitória schlich sich nach unten. Als sie in der Halle angelangt war, rief sie nach Miranda. Ihre Mutter würde an einem anderen Tag weiterlamentieren können, heute wurden alle Hände gebraucht. Miranda schlug die Tür von Dona Almas Zimmer zu und kam die Treppe herunter.
»So, du nichtsnutziges Ding. Genug geplaudert. Wenn du den Tisch abgeräumt hast, wirst du das Silber polieren und jeden Gegenstand im Salon fein säuberlich abstauben. Aber dass du mir nicht wieder etwas kaputtmachst!«
Dann stapfte Vitória in ihren derben Schuhen zur Küche.
»Sinhazinha, in welchem Aufzug läufst du herum?« Die Köchin blickte von der Schüssel auf, in der sie gerade Teig knetete, und musterte Vitória kritisch. Als einzige Haussklavin duzte sie die Tochter des Hauses, und ebenfalls als Einzige nannte sie sie »Sinhazinha«. Vitória gefiel diese zärtliche Verkleinerungsform von »Sinhá«, welche wiederum die vereinfachte Variante der Schwarzen für »Senhora« oder »Senhorita« war. Als einzige Sklavin nahm sich Luiza außerdem die Freiheit, ihre Meinung offen zu äußern. Die anderen Sklaven verehrten sie wie eine Heilige. Sie waren davon überzeugt, dass Luiza magische Kräfte besaß. Manchmal war sogar Vitória geneigt, sich dieser Überzeugung anzuschließen, auch wenn sie jeden Aberglauben und vor allem die sonderbaren Zauberkulte der Sklaven für ausgemachten Unsinn hielt. Luiza war eine hagere Frau unbestimmten Alters. Vitória schätzte sie auf etwa fünfzig Jahre, aber die Anekdoten, die Luiza in ihren seltenen geschwätzigen Momenten zum Besten gab, ließen auf ein sehr viel höheres Alter schließen. Warum Luiza beharrlich ihr wahres Alter verschwieg, war Vitória schleierhaft. Ob Luiza glaubte, damit ihre Attraktivität steigern zu können? Lächerlich. Die Köchin war dürr, alt und von tiefschwarzer Farbe, und genau deshalb, fand Vitória, hatte sie auch nicht das Recht, am Aussehen ihrer Sinhazinha herumzumäkeln.
»Luiza, was schert dich mein Aufzug?«
»Kindchen, du verrohst. Du siehst aus wie eine Bäuerin, in diesen grässlichen Schuhen und dem abgetragenen Kleid. Noch dazu ungeschnürt. Wenn dich Senhor Eduardo so sehen könnte ...«
»Aber Papai sieht mich so nicht. Punkt. Und heute Abend, wenn die Gäste kommen, wirst du mich nicht mehr wiedererkennen.«
»Welche Gäste?«
»Pedro kommt, und er bringt drei Freunde mit.«
»Das wurde aber auch Zeit, dass er sich mal wieder zu Hause blicken lässt«, grummelte Luiza. Ihr mürrischer Ton täuschte Vitória nicht. Sie wusste, dass die Köchin ganz vernarrt in Pedro war und dass sie sich über sein Kommen freute.
»Wer weiß, was er wieder angestellt hat. Oder was treibt ihn mitten in der Woche heim?« Dabei versenkte Luiza ihre dürren, aber kräftigen Arme wieder in dem Teig.
»Das habe ich mich auch schon gefragt. Aber da er Freunde mitbringt, Männer von Stand, könnte der Anlass ja ausnahmsweise mal erfreulicher Natur sein. Auf jeden Fall müssen wir uns etwas einfallen lassen, schließlich wird auch Papai heute Abend einen Grund zum Feiern haben.«
Die Köchin machte ein nachdenkliches Gesicht, knetete aber unbeirrt und mit vollem Körpereinsatz weiter.
»Assado de porco«, sagte Luiza plötzlich. Ihr Ton duldete keine Widerrede. »Pedro liebt meinen Schweinebraten. Und die anderen Herren werden ihn auch mögen – junge Männer brauchen etwas Richtiges zu essen. Dazu können wir Dauphinkartoffeln reichen, obwohl ausgebackene Maniokwurzeln meiner Meinung nach viel besser dazu passen. Aber Dona Alma wird etwas dagegen haben.«
»Papperlapapp! Maniok ist genau das Richtige.« Vitória liebte die goldgelb gebackenen Scheiben der Wurzel, die außen knusprig und innen mehlig waren und einen süßlichen Geschmack hatten. Eine Eigenschaft aber schätzte sie an Maniok besonders: Es war eine ganz und gar uneuropäische Speise. In allem eiferte die gehobene Gesellschaft Brasiliens dem Alten Kontinent nach, ohne freilich je denselben Grad an Raffinesse zu erlangen, und Vitória war dieser Unsitte längst überdrüssig.
Luiza hob eine Augenbraue. »Kindchen, Kindchen ...« Sie schien Vitórias Beweggründe immer zu durchschauen. »Du willst nur Maniok, weil Dona Alma ihn nicht will.«
»Und wenn schon. Du hast ja selbst gesagt, dass Maniok zum Braten viel besser passen würde. Und da Mamãe es vorzieht, sich aus den Vorbereitungen herauszuhalten, bestimme ich. Es bleibt also dabei.«
Luiza konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Das Kind war ganz nach seinem Vater geraten, jedenfalls dem Temperament und dem Charakter nach. Rein äußerlich dagegen ähnelte sie mehr der Mutter, mit ihrer grazilen Gestalt, dem durchscheinenden Weiß ihrer Haut und dem gelockten schwarzen Haar. Anders als Dona Alma aber hatte Vitória hellblaue Augen. Umrahmt von herrlichen langen, schwarzen Wimpern, strahlten Vitórias Augen in einer Farbe, die der des Himmels an einem klaren Junimorgen ähnelte, wenn keine Wolke und kein Dunst die Sicht trübten. Eine Schönheit war sie, ihre Sinhazinha, mit diesen unglaublich hellen Augen, deren einziger Makel es war, dass aus ihnen mehr Verstand sprach, als es sich für ein junges Mädchen ziemte.
»Was starrst du mich so an?«
Luiza senkte den Blick und schien sich wieder voll und ganz auf ihren Teig zu konzentrieren.
»Na schön, ich merke schon, du hast heute wieder einen deiner mundfaulen Tage. Bitte sehr, Gnädigste, dann behalte eben deine unaussprechlichen Gedanken für dich.« Vitória machte auf dem Absatz kehrt. An der Tür drehte sie sich noch einmal zu Luiza um. »Falls irgendetwas sein sollte, du findest mich in der Wäschekammer.«
Als Nächstes musste Vitória prüfen, wie es um Tisch- und Bettwäsche bestellt war. Zwar wurde alles regelmäßig gewaschen und gestärkt, doch aufgrund der tropischen Hitze und der hohen Luftfeuchtigkeit bildeten sich die Stockflecken manchmal so schnell, dass die Wäsche nicht so duftig und rein war, wie man es in einem Haus wie dem ihren erwarten durfte. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden die Freunde ihres Bruders die Nacht hier auf Boavista verbringen, denn das nächste Hotel befand sich in Vassouras, und einen zweistündigen Ritt konnte man des Nachts keinem Gast zumuten, ganz zu schweigen von einer Kutschfahrt. Die Wege waren nach dem Regen noch immer schlammig und schwer passierbar, zudem lauerten zahlreiche Gefahren in Form von giftigen Spinnen oder gesetzlosem Gesindel. Außerdem gebot es die Gastfreundschaft, den Herren ein Zimmer für die Nacht anzubieten. Platz genug war ja im Haus.
Mit sechs Schlafzimmern und zwei Bädern in der oberen Etage war das Herrenhaus für die Familie da Silva eigentlich viel zu groß. Als ihr Vater das Haus gebaut hatte, war er von einem Kindersegen ausgegangen, der sich nicht erfüllt hatte. Dona Alma hatte zwar sieben Kinder geboren, von denen drei aber noch als Säuglinge gestorben waren. Ein weiteres Kind wurde im Alter von elf Jahren von der Cholera dahingerafft, die 1873 gewütet hatte, und ihr älterer Bruder erlag dem Wundstarrkrampf, nachdem er sich an einem rostigen Zaun verletzt hatte. Nur sie selber und Pedro waren übrig, und Pedro kam nur noch sporadisch nach Hause.
Vitória nahm das größte Tischtuch aus dem Schrank und schlug es auseinander. Es duftete ganz schwach nach Lavendel. Wenn sie zu siebt waren, dann sollte in jedem Fall die große Tafel gedeckt werden. Die Decke schien ihr in Ordnung zu sein. Und die dazu passenden Servietten mit der aufwändigen Lochstickerei? Vitória untersuchte sie penibel auf Flecken, Gilb und Löcher hin, konnte aber nichts entdecken. Umso besser. Vorsichtig faltete sie Tischtuch und Servietten wieder zusammen, legte sie beiseite und schloss die Türen des alten Kirschbaumschrankes, der, genau wie die Wäsche, zur Aussteuer ihrer Mutter gehört hatte.
Gerade als Vitória die Wäschekammer verlassen wollte, fiel ihr Blick auf das Ballkleid, das in der Ecke neben der Tür an einem Bügel hing. Nach dem Fest bei den Gonzagas war das Kleid zur Schneiderin gebracht worden, die einige Ausbesserungen daran vornehmen musste. So ausgelassen hatte Vitória getanzt, dass nicht nur der untere Saum an einigen Stellen aufgegangen war, sondern sich sogar der Rüschenbesatz am Ärmel gelöst hatte. Gott sei Dank war es niemandem außer ihr – und ihrer Mutter natürlich – aufgefallen, denn die anderen Gäste waren in ähnlich beschwingter Stimmung wie sie selbst gewesen.
Was für ein Fest! Rogério, ihr glühendster Verehrer, hatte sie so wild herumgewirbelt, dass ihr ganz schwindelig davon geworden war. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Es mochte auch der Champagner daran schuld gewesen sein, den Edmundo, dieser Langweiler, ihr nach jedem Tanz zu reichen sich beeilt hatte. »Vita«, hatte er gesagt und sie bewusst bei dem Namen genannt, mit dem sie nur von ihren engsten Freunden angesprochen wurde, »Vita, du wirkst ganz erschöpft. Nimm noch ein Glas, der Champagner wird dir gut tun.« Wenn er auf ein nettes Geplänkel mit ihr gehofft hatte, dann war er noch dümmer, als er aussah. Wer mochte sich schon mit Edmundo unterhalten, wenn die eigens aus Rio angereiste Kapelle so mitreißende Walzer, Polkas und Mazurkas spielte? Edmundo hätte sie ja zum Tanz auffordern können, statt sie immer nur mit seinem Hundeblick zu verfolgen. Aber wenn ihm der Tanz nicht lag ...
Jetzt hing das wunderschöne Kleid da wie neu, frisch gewaschen und gebügelt. Die Waschfrau musste es erst kürzlich zurückgebracht haben. Dennoch ärgerte es Vitória, dass man ihr nicht Bescheid gesagt hatte. Was, wenn sie es hier nicht zufällig entdeckt hätte? Ein solches Stück lässt man doch nicht einfach in einer Ecke der Wäschekammer hängen! Sie nahm den Bügel vom Haken und hielt sich die Robe vor. Was für ein Traum von einem Kleid! Die hellblaue Seide harmonierte perfekt mit der Farbe ihrer Augen und unterstrich aufs Eleganteste ihre schneeweiße Haut. Die winzigen weißen Rosenknospen, mit denen der lange Rock besetzt war, wirkten irgendwie unschuldig und bildeten einen faszinierenden Kontrast zu dem sehr offenherzigen Dekolletee.
Vitória drückte das Kleid eng an ihre Taille und blickte an sich herab. Die derben Schuhe, die unten herausschauten, brachten sie zum Lachen, hielten sie aber nicht davon ab, ein paar Walzerschritte zu vollführen und sich dabei zu drehen. Leise summte sie die Melodie des Wiener Walzers, zu dem sie durch den Saal geschwebt war, und hätte Rogério sie nicht so fest gehalten – vielleicht ein bisschen zu fest? –, wäre sie sicher in Ohnmacht gefallen. Wie würde sie nur die Zeit bis zum nächsten großen Fest überstehen? Drei endlose Wochen! Aber dafür versprach die Hochzeit von Rubem Araújo und Isabel Souza wenigstens, ein herausragendes Ereignis zu werden. Mehr als zweihundert Gäste waren eingeladen, und die Souzas würden sich nicht lumpen lassen, zumal sie froh sein konnten, eine so gute Partie für ihre farblose Tochter gefunden zu haben. Endlich mal wieder eine Gelegenheit, sich richtig herauszuputzen! Dieses Kleid würde Vitória dann selbstverständlich nicht tragen können, schließlich wären die Gäste dieselben wie bei dem Fest der Gonzagas. Aber vielleicht das kirschrote? Es war ein äußerst auffälliges Stück von ausgesuchter Eleganz, und es brachte Vitórias weiße Haut und ihr schwarzes Haar vorzüglich zur Geltung.
Abrupt wurde Vitória aus diesen Überlegungen gerissen. Miranda stolperte in die Kammer.
»Sinhá Vitória, da ist Besuch für Sie. Ich habe mich aber nicht getraut, ihn hereinzubitten.«
O je, hoffentlich war es niemand Wichtiges! Miranda hatte zwar strikte Anweisung, niemanden ins Haus zu lassen, den sie nicht kannte, aber es konnte sich ja durchaus um jemanden handeln, dem das Mädchen in den drei Monaten, die sie nun auf Boavista war, noch nicht begegnet war. Der Bankier Veloso womöglich, oder die Witwe Almeida.
Doch an der Tür stand ein Mann, den auch Vitória nie zuvor gesehen hatte. Seine Stiefel waren schlammverkrustet, und seine Kleidung, die ihn als jemanden einfacher Herkunft auswies, war ähnlich verschmutzt. Er schien einen langen Ritt hinter sich zu haben. Den ledernen Hut hatte er abgenommen, ein Abdruck auf seiner Stirn bewies, dass er ihn viele Stunden lang getragen haben musste. Sein schulterlanges Haar war im Nacken zusammengebunden, doch einige Strähnen hatten sich gelöst. Sie hingen ihm ins Gesicht und verliehen ihm einen verwegenen Eindruck. Um seine Hüften hatte er einen Gürtel geschlungen, in dem ein großer Revolver steckte.
Eine höchst sonderbare Erscheinung. Der Kleidung nach mochte er ein Gaúcho sein, ein Bauer aus dem Süden des Landes. Nach seinem blauschwarzen Haar und seinen leicht schräg gestellten Augen zu urteilen, konnte er ebenso gut ein caboclo, ein Indiomischling, sein, wie sie dieser Tage so zahlreich durch die Gegend irrten, auf der Suche nach Lohnarbeit. Seine Haltung dagegen war weder die eines schlichten Bauern noch die eines Caboclos. Er hielt den Kopf hoch erhoben und sah Vitória mit einem Blick an, der alles andere als unterwürfig war und der ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Ob er etwa ein Verbrecher war? Wer lief schon am helllichten Tag mit einem Revolver herum? Vitórias Atem beschleunigte sich unmerklich. Sie war allein auf sich gestellt, von ihrer bettlägerigen Mutter oder der tollpatschigen Miranda konnte sie keine Hilfe erwarten. Luiza war in der Küche im hinteren Teil des Hauses, wo sie von einem Überfall nichts mitbekommen würde, und Félix war wahrscheinlich schon längst unterwegs nach Vassouras.
»Guter Mann, Sie haben sich in der Tür vertan. Der Dienstboten- und Lieferanteneingang befindet sich an der Rückseite des Hauses – wie eigentlich bei allen Anwesen in diesem Land. Und was immer Sie uns verkaufen wollen: Wir brauchen es nicht.« Noch bevor der Mann überhaupt ein Wort äußern konnte, schlug ihm Vitória die Tür vor der Nase zu. Im selben Augenblick ärgerte sie sich über ihre übertriebene Reaktion. Jetzt fing sie schon an, Gespenster zu sehen, also wirklich! Ein Räuber – sie hatte einfach zu viel Fantasie. Wahrscheinlich war der Mann ein Händler, der ihnen Scheren, Feldgerät oder Saatgut einer neuen Maiszüchtung verkaufen wollte. Durch das Seitenfenster beobachtete sie ihn dabei, wie er sich mit perfekter Grazie auf sein Pferd schwang und aus dem Hof ritt.
Das Pferd sah ähnlich mitgenommen aus wie der Mann selber, war aber offensichtlich von edlerem Geblüt als er. Merkwürdig, dachte Vitória, ein so prachtvolles Tier im Besitz einer solchen Gestalt. Die Menge an Taschen, Rollen und Säcken, mit denen das Tier beladen war, ließ darauf schließen, dass der Mann tatsächlich Handel mit irgendetwas trieb. Und wenn dem so sein sollte, dann, so sagte sich Vitória, war ihre Reaktion vielleicht doch ganz richtig gewesen. Wo sollte das hinführen, wenn sich schon irgendwelche erbärmlichen Bittsteller erdreisteten, an der Vordertür zu läuten. Demnächst wollten sie womöglich noch in den weichen Sesseln der Halle Platz nehmen und einen Kaffee serviert bekommen!
Auf Boavista wurde niemand abgewiesen. Jeder Händler durfte seine Ware feilbieten, jeder Notleidende bekam einen Teller Suppe, jeder durchreisende Soldat konnte seinen und seines Pferdes Durst hier löschen. Aber sie alle hatten sich am Hintereingang zu melden, wo sie von Miranda oder Félix oder einem anderen Haussklaven in Empfang genommen wurden. Nur wer ganz offensichtlich die Familie da Silva besuchen wollte, in privaten oder in geschäftlichen Angelegenheiten, war befugt, an der Vordertür zu schellen.
Vitória schüttelte den Kopf. Noch immer voller Unglauben über die Frechheit des Mannes ging sie ins Esszimmer. Miranda polierte ein Silbermesser – gerade mal das zweite, denn vor ihr auf dem Tisch blitzte erst ein weiteres Messer, während der Rest des Bestecks noch matt und grau auf einem unordentlichen Haufen daneben lag.
»Geh doch mal zur Hintertür und hör dir an, was dieser komische Kauz von uns will. Aber weise ihn in jedem Fall ab. Er scheint mir nicht ganz lautere Absichten zu haben.«
»Sehr wohl, Sinhá.« Miranda ließ das Messer, das sie noch in der Hand hielt, laut auf den Palisandertisch poltern und eilte davon.
Wenig später kam sie zurück. »Da war niemand, Sinhá Vitória.« Sehr mysteriös. Wie auch immer. Vitória wollte sich nicht länger den Kopf über den Mann zerbrechen.
Miranda stand unentschlossen vor ihrer Herrin und wartete auf deren Reaktion.
»Was stehst du da und hältst Maulaffen feil? Setz dich wieder hin und polier das Silber. Und tu mir den Gefallen und versuche dabei, nicht den schönen Tisch von Dona Almas Großmutter zu ramponieren, ja?«
Miranda setzte sich. Gedankenversunken schob auch Vitória einen Stuhl zurück, um sich am Tisch niederzulassen. Durch einen Spalt in den Gardinen schien ein einzelner Sonnenstrahl, in dem die Staubkörnchen flogen und der genau auf den Perserteppich vor dem Büfett gerichtet war. Vitórias abwesender Blick wanderte hinauf und blieb an dem Gemälde hängen, das über dem Büfett hing. Alma und Eduardo da Silva im Salon ihrer neu erbauten Fazenda Boavista, anno 1862. Ihre Mutter in einem roséfarbenen Kleid mit ausladender Krinoline, wie sie damals modern waren – unvorstellbar, dass Dona Alma einmal eine solche Schönheit gewesen war. Und ihr Vater sah zwar furchtbar streng auf dem Gemälde aus, doch das war wahrscheinlich auf den Geschmack der Zeit und des Künstlers zurückzuführen. Jedenfalls war Eduardo ein wirklich gut aussehender Mann gewesen, und sein damals nur von einem Schnauzer geschmücktes Gesicht drückte Stolz und Intelligenz gleichermaßen aus.
Ein lautes Klirren riss Vitória aus diesem kurzen Moment der Lethargie. Miranda hatte ein fertig poliertes Messer auf die anderen fallen lassen und sah sie ängstlich an.
Vitória schimpfte diesmal nicht mit Miranda, sie war es für heute leid. Irgendwann würde das Mädchen sich schon so benehmen, wie sie es von ihr erwartete. Wortlos stand Vitória auf und ging. Genug des Müßiggangs! Sie hatte keine Zeit zu verlieren, wenn sie alles schaffen wollte, was heute anlag. Ein Sklave war angeblich sehr krank. Wenn Félix mit dem Arzt aus Vassouras kam, musste sie gemeinsam mit dem Doktor nach dem jungen Schwarzen sehen. Es konnte sich schließlich auch, was gelegentlich vorkam, um einen Simulanten handeln, der sich entweder nur vor der Arbeit drückte oder aber hoffte, von den anderen Sklaven isoliert zu werden, um die Flucht zu wagen.
Weiterhin musste Vitória der Beschwerde des Vorarbeiters nachgehen, der den Aufseher beschuldigte, Lebensmittel zu stehlen, die den Sklaven zugeteilt worden waren. Ein schwerer Vorwurf – sollte Vitória den Eindruck haben, dass an der Geschichte etwas Wahres sein sollte, würde ihr Vater eingreifen müssen. Im schlimmsten Fall musste Seu Franco entlassen werden, worüber Vitória nicht besonders unglücklich wäre. Der Mann war unausstehlich. Anschließend wollte sie nach ihrer Stute sehen, die mit einem entzündeten Huf im Stall stand und die gemeinsamen Ausritte ebenso zu vermissen schien wie Vitória.
Nach ihrer Mittagsruhe – und auf die würde sie keineswegs verzichten, denn der Abend versprach lang zu werden – hatte sie einiges am Schreibtisch zu erledigen. Sie musste diverse Rechnungen und Lieferantenlisten überprüfen, eine Aufgabe, die ihr Vater ihr übertragen hatte, als er ihr frappierendes Zahlenverständnis entdeckte. Außerdem würde sie es sich nicht nehmen lassen, die Zeitung zu lesen, in der sie mit Spannung die Kurse für Kaffee verfolgte, der seit kurzem an der Börse von Rio de Janeiro gehandelt wurde.
Aber zuallererst, bevor die Hitze unerträglich wurde, wollte sie hinaus auf die Kaffeefelder. Vitória band sich eine grobe Schürze um, setzte einen alten Strohhut auf, nahm ihren Korb und ein Messer und verließ das Haus. Ihr Weg führte durch einen kleinen Kräutergarten, den sie neben dem Herrenhaus angelegt hatte. Hinter dem Holzgatter, das von Sonne und Regen schon ganz ausgebleicht und rissig war, wand sich ein schmaler Pfad hinaus zu den Feldern. Den größten Teil ihres Landes nahmen die Kaffeepflanzungen in Anspruch, doch auch Getreide, Mais, Gemüse und Früchte wurden hier angebaut. Immerhin waren an die dreihundert Sklaven zu ernähren, des Weiteren rund fünfzig Rinder, zwanzig Pferde, hundert Schweine und fast zweihundert Hühner. Als Vitória nach dem kurzen Fußweg das erste Feld mit Kaffeepflanzen erreichte, standen ihr Schweißperlen auf der Oberlippe. Die Sonne brannte bereits erbarmungslos von dem wolkenlosen Himmel herab, dabei mochte es vielleicht gerade zehn Uhr sein. Nicht der kleinste Windhauch ging. Im Laufe des Tages, schätzte Vitória, würde das Thermometer sicher auf über fünfunddreißig Grad klettern. Und das noch vor Frühlingsanfang! Sie musste sich beeilen, wenn sie nicht schweißgebadet zum Haus zurückkehren wollte. Sie griff nach einem Strauch und schnitt behutsam ein paar besonders schöne Zweige ab. Genauso verfuhr sie an drei weiteren Sträuchern, bis ihr Korb gefüllt war. Dann rückte sie ihren Strohhut wieder gerade und trat ihren Rückweg an. Wie erfrischend wäre jetzt ein Bad im Paraíba! Aber sofort schob Vitória diese Idee wieder beiseite. Heute war sicher nicht der Tag, den sie beim Plantschen im Fluss vertrödeln konnte. Außerdem führte der Paraíba nach dem schweren Regen viel mehr Wasser als üblich. Der Fluss, der sich sonst träge durch die Landschaft schlängelte, war zu einem reißenden und tückischen Strom angeschwollen, in dem man besser nicht schwamm. Dabei wirkte er von Weitem so harmlos, wie er in der Sonne schillerte und sich wie ein helles Seidenband in das Grün der Hügel schmiegte. Er lag ungefähr fünfhundert Meter entfernt von der Stelle, an der Vitória stand. Nur schemenhaft nahm sie das Glitzern des Wassers wahr. Mit Vitórias Sehkraft stand es nicht zum Besten, doch mit der Brille, die ihr ihr Vater von einer Reise nach Frankreich mitgebracht hatte, konnte sie sich partout nicht anfreunden. Und die mächtigen Bäume, die das Ufer säumten, und den Lehmweg, der am Fluss entlang nach Vassouras führte, kannte sie gut genug, um sie auch so auszumachen. Aber irgendetwas störte den vertrauten Anblick. Hatte sich da etwa ein Rind auf den Weg verirrt? Vitória kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf den dunklen Fleck. Er bewegte sich nicht. Ein Reiter? Doch nicht etwa der üble Geselle, der vorhin an der Tür gewesen war? Schnell raffte Vitória ihren Rock und lief zurück zum Haus. Als sie das Gatter zum Kräutergarten erreichte, drehte sie sich noch einmal um. Der Fleck war verschwunden.
Für die comissionistas, die Kaffee-Zwischenhändler, war der September eine Zeit, in der nicht allzu viel zu tun war. Größere Lieferungen von den Fazendas im Süden Rio de Janeiros waren erst wieder in einigen Monaten zu erwarten. Zwar konnten die cafeeiros, die Kaffeesträucher, das ganze Jahr über Früchte tragen, doch am ertragreichsten waren sie im Herbst. So fand die Haupternte üblicherweise im Mai statt, der zugleich der trockenste Monat der Provinz war. War er es nicht, fiel wider Erwarten und wider alle klimatische Wahrscheinlichkeit Regen, konnte eine ganze Ernte vernichtet werden.
Die frisch gepflückten Kirschen wurden in langen Bahnen in den Innenhöfen der Fazendas zum Trocknen ausgelegt und von den Sklaven regelmäßig mit großen Rechen gewendet, sodass jede Kirsche ihren Anteil an Sonne bekam. Diese Periode der Kaffeegewinnung war die heikelste. Wurden die Kirschen zu lang getrocknet, verloren die darin verborgenen Kaffeebohnen ihr Aroma. Setzte man sie der Sonne zu kurz aus oder fiel Regen auf die säuberlich aufgeschichteten Bahnen der schon beinahe fertig getrockneten Kirschen, verfaulten die Bohnen in ihrem Innern.
Doch auch nach dem Trocknen, wenn die Früchte von der pulpa, der roten Schale und dem Fruchtfleisch, befreit waren und der Doppelkern – die zwei Bohnen, die jede Kaffeekirsche enthielt – daraus gelöst war, konnte das kostbare Gut noch Schaden nehmen. Eine einzige »Stinkebohne« in einem Sack Kaffee machte alle anderen Bohnen dieses Sacks ungenießbar. Die Sortierung der Bohnen wurde daher ausschließlich von Sklaven vorgenommen, die genügend Erfahrung besaßen, solche Stinkebohnen ausfindig zu machen. Meist handelte es sich um Bohnen aus Kirschen, die überreif geerntet worden waren, und man erkannte sie an ihrer verschrumpelten Form und ihrer schwärzlichen Farbe.
Pedro da Silva wusste über all diese Dinge genauestens Bescheid, und er war in der Lage, auf einen Blick die Qualität einer Kaffeelieferung zu beurteilen. Für den comissionista Fernando Ferreira war Pedro ein Glücksgriff gewesen. Anfangs hatte er den Vorschlag von Eduardo da Silva, dessen Sohn bei sich in die Lehre zu nehmen, für einen schlechten Scherz gehalten. Was sollte er mit dem verwöhnten Sohn eines reichen Fazendeiros anfangen? Er würde mit seinen gestelzten Manieren und seiner vornehmen Kleidung doch nur Missgunst unter den anderen Angestellten schüren. Und würde sich ein junger Mann, der immerhin schon dreiundzwanzig Jahre alt war, überhaupt noch gelehrig zeigen? Aber Eduardo da Silva zerstreute die Bedenken seines comissionistas schnell, indem er sich mit dem üblichen Lohn einverstanden erklärte und auch sonst keine Sonderbehandlung seines Sohnes wünschte. Als Pedro seine Stelle dann antrat, misstrauisch beäugt von Fernando Ferreira und jedem seiner fünf Angestellten, wusste er innerhalb von einer Woche alle für sich einzunehmen. Er war klug, fleißig, bescheiden und legte nicht eine der Allüren an den Tag, die man von anderen reichen Söhnen kannte. Stets war er freundlich, und nicht einmal in der drückenden Hitze, die in den Sommermonaten die Arbeit im Schreibraum zur Hölle werden ließ und die an den Nerven der Menschen zerrte, kamen ihm seine Gelassenheit und Fröhlichkeit abhanden.
Für Pedro da Silva war die Arbeit bei Fernando Ferreira eine willkommene Gelegenheit, der erstickenden Langeweile der Provinz zu entkommen. Rio de Janeiro! Für ein Leben in dieser pulsierenden Metropole, in der es an Zerstreuungen nicht mangelte, würde er noch die stumpfsinnigste Arbeit annehmen. Und was blieb ihm schon anderes übrig? Für die Medizin zeigte er keinerlei Begabung, nach einem Semester hatte er das Studium aufgegeben. Die Juristerei, das hatten zwei weitere verschwendete Semester ergeben, war ihm zu theoretisch. Den ganzen Tag über Büchern brüten, das lag ihm nicht. Also besann er sich auf das, wovon er dank Eduardo da Silvas Erziehung am meisten verstand: Kaffee.
Wenn Pedro jemals geglaubt hatte, seiner Bestimmung als Nachfolger seines Vaters entgehen zu können, so verflüchtigten sich seine Hoffnungen jetzt zusehends. Seine Lehre bei Ferreira, der sich ein Ausbildungsjahr bei einem großen Exporteur anschließen sollte, machte ihm gar nicht so wenig Spaß, wie er anfangs befürchtet hatte. Das Begutachten der Lieferungen sowie das Feilschen mit den Fazendeiros einerseits und Exporteuren andererseits gingen ihm mit großer Leichtigkeit von der Hand. Von allen Mitarbeitern Ferreiras war Pedro außerdem der geschickteste in der Rekrutierung brauchbarer Hilfskräfte zum Entladen der Waggons. Nur eine Minderheit der freien Schwarzen, die man an jeder Straßenecke als Lastenträger anheuern konnte, war tüchtig genug für diese Aufgabe, und Pedros Auge war nach jahrelangem Umgang mit den Sklaven auf Boavista geschult. Alte, schwache oder verkrüppelte Männer konnte man nicht brauchen. Ein Sack, der zu Boden fiel, konnte aufplatzen oder gar in einer Pfütze brackigen Wassers landen.
Die Geschäftsräume lagen in der Rua do Rosário, einer Straße, die die comissionistas fast allein für sich beanspruchten. Das Gebäude stammte aus der Kolonialzeit und war mit blau-weißen azulejos gekachelt. »Fernando Ferreira & Cia.« stand in schnörkeligen, schwarz umrandeten Goldlettern auf der Glasscheibe des zur Straße hin gelegenen Ladenraums. Der Duft frisch gerösteten Kaffees waberte das ganze Jahr hindurch über der Straße, denn die Exporteure wünschten immer eine Proberöstung und anschließende Verkostung, um die Güte der Ware richtig beurteilen zu können. Auch darin war Pedro ein Meister. Für wichtige Kunden ließ er es sich nicht nehmen, ein paar Bohnen selber zu rösten, zu mahlen und aufzubrühen – schließlich hing der Geschmack des Kaffees von der gekonnten Ausführung jedes einzelnen Schrittes dieser Prozedur ab. Pedro war es auch, der die angeschlagenen Tassen, in denen Ferreira den Exporteuren den Kaffee servierte, durch feine Porzellantässchen mit Goldrand ersetzte. Zunächst hatte ihm diese Maßnahme die Missbilligung Ferreiras eingetragen, der sich in all seinen Vorurteilen gegenüber der ausschweifenden Lebensart der Kaffeebarone bestätigt sah. Doch schließlich hatte der Erfolg Pedro Recht gegeben: Aus den zarten Tassen schmeckte der Kaffee einfach besser, und die kultiviertere Form der Darreichung trug nicht unwesentlich dazu bei, dass ein besserer Preis erzielt wurde.
Auch Pedros Äußeres mochte einen Anteil daran haben. Mit seinen großen braunen Augen wirkte er viel unschuldiger, als er in Wirklichkeit war. Die Kunden fühlten sich bei ihm nie bedrängt oder übervorteilt, wie sie es von anderen comissionistas gewohnt waren. Im Gegenteil: Nach einem Abschluss mit Pedro waren sie immer der Überzeugung, ein fantastisches Geschäft gemacht zu haben. Pedros samtene Stimme, seine Freundlichkeit und seine naiv wirkende Art täuschten fast jeden darüber hinweg, dass der junge da Silva ein scharfer Rechner war.
Fernando Ferreira erkannte schnell das verkäuferische Talent seines Schützlings. Nach zehn Monaten harter Arbeit hatte Pedro seinen Chef so von sich eingenommen, dass der ihm, ganz gegen seine Gewohnheit, einen kurzen Urlaub genehmigte. Bei Leuten wie Pedro da Silva schadete es sicher nicht, glaubte Ferreira, wenn man sie bei Laune hielt. Zwar ließ der Junge durch nichts in seinem Verhalten darauf schließen, dass er sich für etwas Besseres hielt, doch das lenkte Ferreira keinen Augenblick von der Tatsache ab, dass er der einzige männliche Erbe von Eduardo da Silva war. Eines Tages wäre Pedro der Herr auf Boavista.
Pedro freute sich auf die freien Tage, die vor ihm lagen. Er hatte ein paar Freunde nach Boavista eingeladen, im Anschluss würden sie weiter in die Provinz São Paulo reisen und die Familie seines Freundes Aaron Nogueira besuchen. Aaron war ein ehemaliger Kommilitone, der im Gegensatz zu Pedro eine außerordentliche Begabung für die Jurisprudenz zeigte und soeben seine Prüfungen mit Bravour abgelegt hatte. Als Jude entsprach Aaron wahrscheinlich nicht gerade dem Umgang, den sich Dona Alma für ihren Sohn in Rio erhoffte, dabei konnte sich Pedro keinen humorvolleren und klügeren Freund als Aaron wünschen. João Henrique de Barros dagegen würde seiner Mutter gefallen. Er hatte den Freund, ebenfalls ein ehemaliger Studienkollege, in seinem Brief namentlich angekündigt und wusste, dass Dona Alma ihn würde einordnen können. Das mochte sie besänftigen, denn der Dritte, den er eingeladen hatte, war jemand, den weder sie noch sein Vater mögen würden: León Castro war ein über die Grenzen Rios hinaus bekannter Journalist, der sich vor allem durch seine vehemente Forderung nach Abschaffung der Sklaverei einen Namen gemacht hatte. Pedro und Aaron hatten den Mann, der ein paar Jahre älter war als sie, bei einer Soiree in São Cristóvão kennen gelernt und bewunderten ihn für seine modernen Ideen, seine rhetorische Gewandtheit sowie seinen absoluten Mangel an Respekt vor jeglicher Autorität. León war in ihren Augen ein Held – auch wenn sie nicht alle seine Auffassungen teilten.
Umso erstaunter war Pedro, dass León seine Einladung, mit ihnen nach Boavista zu reisen, angenommen hatte. Dabei war sie ihm nur beiläufig herausgerutscht, als sie sich eine hitzige Debatte über die Lebensbedingungen der Sklaven lieferten. »Du scheinst noch nie eine Fazenda gesehen zu haben, auf der gut genährte und zufriedene Schwarze leben. Ehrlich, León, komm doch mit uns nach Boavista, dann wirst du deine Meinung ändern. Unsere Sklaven jedenfalls haben es deutlich besser als all die Freien, die auf den Straßen Rios ihr erbärmliches Dasein fristen.«
Mittlerweile war Pedro ein bisschen bang zumute. Seine Mutter schimpfte ihn ohnehin schon einen unverbesserlichen Liberalen, aber wenn er nun einen Juden und einen Sklavereigegner mitbrachte, dann würde sie ihn wahrscheinlich für einen Anarchisten halten und seinen Vater beknien, ihn wieder zurück nach Boavista zu holen. Was für eine schreckliche Vorstellung! Pedro verabscheute den eintönigen Alltag in der Provinz, wenngleich er seine Familie, das Anwesen, die Ritte durch die Natur, das Bad im Paraíba und die frische Luft vermisste. Aber was war das schon im Vergleich zu der aufregenden, lauten, turbulenten, wilden Stadt? Im Vale do Paraíba war die Gesellschaft strikt in zwei Klassen unterteilt: Fazendeiros und Sklaven. Einzig in den kleineren Städten der Provinz, in Valença, Vassouras oder Conservatória, fand man normale Bürger, deren Berufe sich aber vor allem an den Bedürfnissen der Fazendeiros ausrichteten. Es gab Lehrer, Musiker, Ärzte, Krämer, Handwerker, Schneider, Anwälte, Bankiers, Apotheker, Buchhändler und natürlich Soldaten und Beamte des Kaisers. Das Leben floss gemächlich dahin, ohne große Höhen und Tiefen. Es wurde bestimmt von den katholischen Feiertagen und von den Jahreszeiten, und genau wie sie wiederholte es sich in zermürbender Regelmäßigkeit. Alles war so vorhersehbar! Jeden April das Fest bei Teixeiras, jeden Mai die Ernte, jeden Oktober die Totenmesse für seinen Großvater, den er nicht einmal gekannt hatte, jeden Januar die Reise in die erfrischende Kühle der Berge von Petrópolis.
Rio dagegen brodelte. Nie wusste man, was der nächste Tag brachte. Jederzeit konnte man Menschen begegnen, die von faszinierenden Abenteuern zu berichten wussten. Beinahe täglich lief ein Schiff aus Nordamerika oder Europa ein, das neben erschöpften Matrosen immer auch Hasardeure, Huren und wertvolle Handelsgüter mitbrachte. In Rio traf man auf Missionare, die sich in die Urwälder des Nordens wagen wollten, auf englische Adlige, die sich in der Neuen Welt vor ihren Gläubigern in Sicherheit brachten, auf französische Intellektuelle, die hier einen fruchtbaren Boden für ihr fortschrittliches Gedankengut sahen. Immer öfter erreichten auch Schiffe den Hafen, die überquollen vor elenden Gestalten, russischen Juden, die vor Pogromen flüchteten, und deutschen und italienischen Bauern, die mit ihren Großfamilien und dem Mut der Verzweifelten im dünn besiedelten Süden des Landes ein neues Leben beginnen wollten.
Sosehr Pedro mit den Ankömmlingen litt, um eines beneidete er sie: den ersten Blick auf Rio de Janeiro. Die Kulisse, die dramatischer kaum sein konnte, war schon von Reisenden früherer Zeiten immer mit euphorischen Worten beschrieben worden. Die unzähligen Buchten, von weißen Stränden gesäumt, beschrieben abenteuerliche Kurven. Ihre Spitzen schienen sich am Horizont zu berühren, sodass sie auf den ersten Blick wie ein undurchdringliches Labyrinth wirkten, wie ein riesiges Flussdelta, in dem sich hunderte von Inseln befanden. Tatsächlich hatten die Portugiesen, als eine Expedition unter Gaspar de Lemos in der fast kreisrunden Guanabara-Bucht einlief, geglaubt, es handele sich um die Mündung eines Flusses – und weil man den 1. Januar 1502 schrieb, tauften sie den Landeplatz »Rio de Janeiro«, Januar-Fluss.
Die Granitfelsen, die sich mächtig über der Küste emporhoben und bizarre Formen bildeten, wurden umrahmt von dichtem Urwald, dessen sattes Grün sich zwischen Stränden und Bergen ausbreitete. Ein so atemberaubendes Panorama wog die Strapazen der Reise allemal auf. Doch sobald man Rio aus der Nähe kennen lernte, verlor man den Blick für die Großartigkeit der Landschaft. Andere Eindrücke überwogen. Der Lärm, die schwüle Hitze, die Mücken, der Unrat, der Gestank und das Gewimmel auf den Straßen ließen verklärte Blicke auf die Berge oder das tosende Meer nicht mehr zu.
Jetzt war Pedro froh, diesem Moloch, in dem er sich so mühelos zurechtfand, für eine Weile zu entkommen. Er stand am Bahnhof, wo jeden Augenblick seine Freunde eintreffen mussten. Fasziniert beobachtete er das geschäftige Treiben um sich herum. Der Zug, der täglich zwischen Vassouras und Rio de Janeiro verkehrte, wurde mit allen luxuriösen Gütern beladen, welche die reichen Fazendeiros und deren Familien brauchten. Meist handelte es sich dabei um importierte Waren: Pomaden, Parfüms, Lippenrot, Porzellan, Kristall, Möbel, Bücher und Journale, Spitzenbordüren, Hutfedern, Musikinstrumente, Wein, Spirituosen. Aber auch große Mengen an Weizenmehl wurden verladen, denn weißes Brot galt in Brasilien, das keinen Weizen anbaute, als besondere Delikatesse.
»Hier steckst du also! Ich suche dich schon seit einer halben Stunde. Aber in diesem infernalischen Durcheinander ist ja kein Durchkommen.« Aaron Nogueira erreichte schweißgebadet seinen Freund. »Dieser Bahnhof ist eine Zumutung. Die Lastenträger sehen weder nach rechts noch nach links, sie sind völlig rücksichtslos! Und einen Burschen, der die Koffer trägt, findet man weit und breit nicht!« Erschöpft stellte Aaron sein Gepäck ab. Am Ärmel seines Rocks klaffte ein Riss, den er wütend untersuchte. Seine roten Locken standen wirr ab.
Pedro musste schmunzeln. »Weißt du, du siehst aus wie ein Wahnsinniger.«
»Ja, und glaub mir, ich bin wirklich kurz davor, dem Irrsinn zu verfallen.«
In diesem Moment traf auch João Henrique de Barros ein, in tadelloser Aufmachung und mit arroganter Miene.
Aaron staunte. »Wie gelingt es dir nur immer, dich unbeschadet durch dieses Gesindel zu drängen?«
João Henrique klopfte sich vielsagend mit seiner kleinen Reitgerte auf die Innenseite der Hand. »Das richtige Auftreten, mein Freund.«
Pedro sah auf seine Taschenuhr und mahnte zum Aufbruch.
Wenige Minuten, nachdem die drei Freunde ihr Abteil gefunden und sich darin eingerichtet hatten, stieß die Dampflok ihr schrilles Signal aus. Mit einem Ruck fuhr der Zug an. Aaron, der am Fenster stand und nun, aus sicherer Distanz, verzückt das bunte Wirrwarr auf dem Bahnhof betrachtete, geriet aus dem Gleichgewicht und wäre beinahe hingefallen. João Henrique sah ihn aus den Augenwinkeln abfällig an, während Pedro lachte.
Als der Zug die Stadtgrenzen passiert hatte, zog João Henrique eine Flasche Cognac sowie drei Gläser aus seiner Ledertasche. »Wir wollen uns doch die Zeit so angenehm wie möglich gestalten, nicht wahr?«
»Also bitte, João Henrique, findest du es nicht ein bisschen zu früh, um schon dem Alkohol zuzusprechen?«
»Aaron, was bist du für ein garstiger Spielverderber.« João Henrique goss zwei Gläser ein, reichte eines davon Pedro und stieß dann mit ihm an. »Auf die Tugend unseres lieben Aaron!«
Pedro fand insgeheim, dass Aaron Recht hatte – es war zu früh, um zu trinken. Doch er gefiel sich in der Rolle des Lebemannes, dem kein sinnlicher Genuss fremd war und der unbeschwert dem Müßiggang frönte. Und überhaupt: Wozu war man jung?
»Auf Boavista!«, erwiderte er. An João Henriques Sticheleien würde er sich bestimmt nicht beteiligen.
»Auf Boavista!« Aaron prostete den anderen beiden mit einer Feldflasche zu, die er aus einer seiner schäbigen Taschen gezogen hatte.
João Henrique zog in gespielter Anerkennung die Brauen hoch.
»Der Rabbi deines Schtetls wäre stolz auf dich.«
»Das wäre er. Ganz im Gegensatz zu deinem Padre, dem sicher schon übel wird, sobald du den Beichtstuhl betrittst.«
»Glaubst du etwa, ich würde den guten alten Padre Matias mit einem detaillierten Bericht über all meine Ausschweifungen beglücken? Nein, darauf wird er lange warten können ...«
»João Henrique, Aaron, könnt ihr euch nicht ein anderes Mal streiten? Ich habe es wirklich satt. Ich weiß gar nicht, wieso ich euch beide zusammen mitnehme.«