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Das verheißungsvolle Leuchten einer neuen Heimat: Der berauschende historische Roman »Die Frau vom Rio Paraíso« von Ana Veloso als eBook bei dotbooks. Südbrasilien, Anfang des 19. Jahrhunderts: Als die junge Clara am Ufer des malerischen Rio Paraíso zu sich kommt, erschrickt sie – denn sie kann sich nicht erinnern, wie sie hierhergekommen ist. Auch über ihrer Vergangenheit in einer der deutschen Auswanderergemeinden liegt ein dunkler Schleier. Zuflucht findet sie bei einem geheimnisvollen Fremden: Raúl Almeida nimmt sie bei sich auf, öffnet ihr die Augen für die betörende Schönheit der brasilianischen Regenwälder – und entfacht dabei eine zarte Flamme in ihr, die jeden Tag aufs Neue leuchten lässt. Doch als Clara endlich Hoffnung schöpft, dass sie so weit von ihrer alten Heimat entfernt ein neues Glück finden kann, drohen die Schatten der Vergangenheit, sie einzuholen … Eine opulente Frauensaga vor der prachtvollen Kulisse Brasiliens im 19. Jahrhundert – und die bewegende Geschichte einer jungen Frau im Kampf um ihr Glück und ihre Freiheit: »Voll Sinnlichkeit und verbotener Leidenschaft«, urteilt der Anzeiger Luzern. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der farbenprächtige Landschaftsroman »Die Frau vom Rio Paraíso« von Bestseller-Autorin Ana Veloso, ursprünglich erschienen unter dem Titel »Das Mädchen am Rio Paraíso«; ein Lesevergnügen für alle Fans von Tara Haighs und Linda Belagos Sehnsuchtsromanen! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 699
Über dieses Buch:
Südbrasilien, Anfang des 19. Jahrhunderts: Als die junge Clara am Ufer des malerischen Rio Paraíso zu sich kommt, erschrickt sie – denn sie kann sich nicht erinnern, wie sie hierhergekommen ist. Auch über ihrer Vergangenheit in einer der deutschen Auswanderergemeinden liegt ein dunkler Schleier. Zuflucht findet sie bei einem geheimnisvollen Fremden: Raúl Almeida nimmt sie bei sich auf, öffnet ihr die Augen für die betörende Schönheit der brasilianischen Regenwälder – und entfacht dabei eine zarte Flamme in ihr, die jeden Tag aufs Neue leuchten lässt. Doch als Clara endlich Hoffnung schöpft, dass sie so weit von ihrer alten Heimat entfernt ein neues Glück finden kann, drohen die Schatten der Vergangenheit, sie einzuholen …
Eine opulente Frauensaga vor der prachtvollen Kulisse Brasiliens im 19. Jahrhundert – und die bewegende Geschichte einer jungen Frau im Kampf um ihr Glück und ihre Freiheit: »Voll Sinnlichkeit und verbotener Leidenschaft«, urteilt der Anzeiger Luzern.
Über die Autorin:
Ana Veloso wurde 1964 geboren. Nach ihrem Studium der Romanistik arbeitete sie als Journalistin für mehrere namhafte deutsche Magazine. Ihr erster Roman, »Der Duft der Kaffeeblüte«, wurde ein großer Erfolg und in viele Sprachen übersetzt. Ana Veloso lebt als Journalistin und Autorin in Hamburg, verbringt aber jedes Jahr mehrere Monate im Ausland, um dort Eindrücke für ihre Romane zu sammeln.
Bei dotbooks veröffentlichte Ana Veloso ihre exotischen Love-and-Landscape-Romane »Der Duft der Kaffeeblüte«, »Der Himmel über dem Alentejo« und »Das Leuchten der Indigoblüte«. Weitere Titel sind in Vorbereitung.
Die Website der Autorin: www.ana-veloso.de/
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eBook-Neuausgabe November 2022
Dieses Buch erschien bereits 2008 unter dem Titel »Das Mädchen am Rio Paraíso« bei Knaur.
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)
ISBN 978-3-98690-402-9
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Ana Veloso
Die Frau vom Rio Paraíso
Roman
dotbooks.
Für Sandra
»Nunca lamente uma ilusão perdida, pois não haveria fruto se a flor não caísse.«
Thaysa M. Dutra
Beklage nie eine verlorene Illusion, schließlich gäbe es keine Frucht, wenn die Blüte nicht abfiele.
Es war zu hell.
Das Licht schmerzte. Es verursachte ein heftiges Pochen hinter ihrer Stirn. Die junge Frau schloss sofort wieder die Augen, doch die Sonnenstrahlen drangen durch ihre Lider und quälten ihr Hirn mit wilden Mustern in Gelb- und Orangetönen. Ihr wurde schlecht davon. Sie drehte den Kopf von der linken auf die rechte Seite und hoffte, dass der Schmerz und die Übelkeit sich legen würden. Sie verharrte einige Minuten reglos in dieser Stellung, aber es wurde nicht besser. Stattdessen gesellte sich zu dem Kopfweh nun auch ein schlechtes Gewissen. So hell wie es in dem Zimmer war, musste es bereits Mittag sein. Warum, um Gottes willen, lag sie um diese Zeit noch im Bett? Bevor sie darauf eine Antwort fand, erlöste ein unruhiger Schlaf sie von dem hämmernden Schmerz.
Einige Stunden später schlug die junge Frau erneut die Augen auf. Das Licht war weniger grell, und auch das grässliche Pochen in ihrem Schädel hatte sich ein wenig gelegt. Dafür verspürte sie jetzt einen unerträglichen Durst. Ihr Mund fühlte sich so trocken an, dass die Zunge am Gaumen festklebte. Sie brauchte dringend ein Glas Wasser. Sie versuchte sich zu erheben, doch es gelang ihr nicht. Nach nur wenigen Zentimetern, die sie ihren Oberkörper aufgerappelt hatte, fiel sie erschöpft in die Kissen zurück. Also blieb sie liegen und hoffte darauf, dass irgendwann jemand nach ihr sah. Vielleicht sollte sie sich bemerkbar machen? Sie hob zu einem Rufen an, merkte jedoch sofort, dass kaum mehr als ein leises Krächzen aus ihrer Kehle drang. Ihr blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Im Liegen und ohne allzu sehr den Kopf zu bewegen, sah sie sich in dem Raum um. Sie war sich sicher, dass sie ihn nie zuvor gesehen hatte. Wo war sie?
Zwischen drei mächtigen schwarzen Holzbalken war die Decke weiß getüncht. Die Wände des Zimmers, oder das, was sie aus ihrer Position davon erkennen konnte, waren glatt und weiß. Kein Fachwerk. Kein Bild. Nicht einmal ein Kruzifix war da zu sehen. Das Sprossenfenster war einen Spaltbreit hochgeschoben. Vorhänge gab es keine. Einzig die Fensterläden hätten Schutz vor unerwünschten Blicken und Licht bieten können, wären sie denn geschlossen gewesen. So jedoch schien die Sonne in den schmucklosen Raum. Sie stand schon schräg, und ein Strahl fiel auf eine schlichte Kommode, auf der sich ein Krug sowie eine Waschschüssel aus Emaille befanden. Oh Gott, könnte sie es doch nur schaffen, aufzustehen und die wenigen Schritte zu dem Wasserkrug zu gehen! Der Durst brachte sie um!
Ihr kamen die Tränen. Doch bevor die junge Frau sich vollständig ihrer Verzweiflung hingeben konnte, betrat plötzlich eine dicke dunkelhäutige Frau das Zimmer. Sie lachte und entblößte dabei ihr Zahnfleisch. Es war bläulich und nicht rosa, wie ihr eigenes. Der jungen Frau war ein bisschen mulmig zumute. Sie hatte schon von Schwarzen gehört und gelesen, aber noch nie eine leibhaftige Negerin so nah vor sich gehabt. War sie etwa in Afrika gelandet? Aber nein, die Schwarze trug ja ein ordentliches Baumwollkleid und eine gestärkte Schürze darüber. Eine Wilde aus dem Busch war sie ganz sicher nicht.
Die Dicke plapperte unaufhörlich. Dann setzte sie sich auf die Bettkante, sah der jungen Frau in die Augen und sprach sie direkt an. Sie hatte eine wohlklingende Stimme, und ihr Tonfall war freundlich. Die junge Frau begann sich etwas zu entspannen, obwohl sie kein Wort verstand. Bei all ihrer beunruhigenden Fremdartigkeit hatte die Schwarze auch etwas Mütterliches an sich. Sie hatte sofort erkannt, wonach die junge Frau am meisten gierte: Wasser.
Die Ältere hielt ihr das Glas an die Lippen und hob es so, dass sie nur winzige Schlückchen trinken konnte. Nach kurzer Zeit war das Glas leer. Die Schwarze stand auf, sagte etwas zu der jungen Frau, streichelte ihre Hand und verließ den Raum. Als sie durch die Tür ging, bemerkte die Jüngere, dass die andere keine Schuhe trug. Das fand sie äußerst merkwürdig. Dieser Gedanke lenkte sie für einen Moment von der Tatsache ab, dass sie weiterhin so durstig war, dass sie einen ganzen Eimer Wasser auf einmal hätte leeren können. Dann schlief sie wieder ein.
Als sie, zum dritten Mal an diesem Tag, aufwachte, saß die Schwarze auf einem Stuhl neben ihrem Bett. Sie blickte besorgt drein, lächelte ihrer Patientin aber aufmunternd zu. Erneut redete sie mit ihr, doch die junge Frau verstand nichts davon. Erst als die Schwarze mit dem Finger auf sich selbst zeigte und »Teresa« sagte, begriff die junge Frau. Dann zeigte die Frau auf sie und hob fragend die Schultern. Sie wollte offenbar ihren Namen wissen. Die Jüngere blieb stumm.
Die junge Frau wirkte nachdenklich, dann schüttelte sie bedauernd den Kopf. Tränen traten in ihre Augen. Die Schwarze tätschelte ihr beruhigend die Wange. Was für eine Schnapsidee von ihr, Teresa, das arme Kind zum Sprechen bringen zu wollen! Das Mädchen hatte sicher seine Stimme noch gar nicht wiedergefunden.
Die junge Frau öffnete erst den Mund, als die Ältere einen kleinen Löffel mit Milchreis davorhielt, um sie zu füttern. Der Duft löste angenehme Gefühle in ihr aus, aber sie hätte nicht zu erklären vermocht, an was genau er sie erinnerte. Und die schönen Empfindungen hielten auch nicht lange an. Schnell wurden sie wieder von den Fragen abgelöst, die sie schon seit dem Aufwachen quälten. Was war passiert? Wo befand sie sich? Wer war diese Person?
Und vor allem: Wer war sie selber?
An meinem siebten Geburtstag fragte mich die Mutter morgens, bevor ich zur Schule ging, welches Essen ich mir zum Mittag wünschte. Sie wusste genau, welches mein Lieblingsgericht war, und dieses wünschte ich mir natürlich auch: Milchreis mit Zimt und Zucker. Den ganzen Vormittag über starrte ich aus dem Fenster in der Schule. Es war ein grauer Dienstag, Regentropfen trommelten gegen die Scheibe. Die vergangene Woche in diesem November des Jahres 1810 war schön gewesen, erst am Vortag war das Wetter umgeschlagen. Aber es machte mir nicht viel aus. Ich dachte an kaum etwas anderes als an den Augenblick, in dem ich endlich die süße, cremige Masse genießen durfte. Die anderen Kinder in der Schule brachten mir, zu Ehren meines Geburtstags, ein Ständchen, und ich muss selig dreingeschaut haben, denn der Lehrer machte eine entsprechende Bemerkung. »Schön, dass wir dir mit dem Lied eine solche Freude gemacht haben«, sagte er – oder etwas in der Art. Herr Friedrich hieß er, und er hat sich schon damals nicht durch besondere Menschenkenntnis ausgezeichnet. Denn das Lied war mir ziemlich gleichgültig.
Auch die kleinen Geschenke, die meine Freundinnen mir mitgebracht hatten, vermochten mich nicht so zu begeistern wie die Aussicht auf den Milchreis. Von Anna bekam ich ein geflochtenes Lederarmband, wie sie selber eines besaß. Ich wusste, dass sie es mir nur schenkte, damit ich es trug und sie damit als meine beste Freundin auszeichnete. Aber meine beste Freundin war Lore. Sie schenkte mir einen Kreisel, der sehr schön war und den ihr Vater geschnitzt haben musste. Ich freute mich darüber, aber nicht so sehr, wie sie es erwartet hatte. »Oh, der ist aber hübsch!«, rief ich aus, doch irgendwie sah Lore enttäuscht aus. In der großen Pause schnappte mir mein Bruder Matthias den Kreisel weg. Erst als er es geschafft hatte, das Spielzeug weitgehend zu zerstören, erhielt ich es zurück. Lore weinte, ich nicht. Ich war Schlimmeres gewohnt.
Ich hatte acht Geschwister, alle älter als ich. Vier davon gingen mit mir zusammen zur Volksschule, nämlich meine Brüder Matthias, Johannes und Lukas sowie meine Schwester Hildegard. Von den anderen vier waren zwei verheiratet und hatten ihre eigene Familie. Mein Vater hätte sie von seiner Arbeit im Schieferbruch eh kaum satt bekommen, und unser kleines bisschen Land gab schon nicht genügend für uns andere her. Am wenigsten für mich. Es ist schrecklich, wenn man von elf Personen, die in einem Haushalt leben – außer meinen Eltern und ledigen Geschwistern wohnten auch Tante Mechthild und Großvater Franz bei uns –, die jüngste ist. Man hat keine Rechte. Man ist, nicht nur beim Essen, immer die letzte in der Reihe. Man muss immerzu tun, was die anderen sagen. Man muss den Eltern folgen, zugleich aber darauf achten, dass man es sich mit den Geschwistern nicht verscherzt. Einmal habe ich, und wirklich nur aus Versehen, Hildegard verpetzt, woraufhin sie mich wochenlang auf dem Fußboden unserer Kammer schlafen ließ. Niemand bekam etwas davon mit. Erst als ich fast an einer Lungenentzündung gestorben wäre, erlaubte sie mir, im Bett zu schlafen. Ich habe nie wieder eine Silbe über ihre lächerliche Leidenschaft für den Knecht der Kelbels verloren.
Aber mit Hildegard kam ich, trotz des Altersunterschieds von sechs Jahren, immer noch besser zurecht als mit Matthias, der nur ein Jahr älter ist als ich. Er hat mich drangsaliert und schikaniert, wo er nur konnte. Er hat Lügengeschichten über mich erfunden, hat meine kostbaren Schulhefte kaputt gemacht und Tinte auf meine Kleider gegossen – die meine Mutter sich vom Munde abgespart hatte, weil sie darauf bestand, dass wir alle zur Schule gingen, jedenfalls wenn nicht gerade Erntezeit war und alle mit anpacken mussten. Wir sollten es einmal besser haben als sie, sagte sie immer.
Alles, was eine Strafe für mich nach sich zog, bereitete Matthias ein ungeheures Vergnügen. Warum alle immer nur ihm glaubten und nicht mir, habe ich nie begriffen. Er war zwar ein begnadeter Lügner und Schauspieler, der, wenn es darauf ankam, aussehen konnte wie das reinste Unschuldslamm, während ich, schon allein in Erwartung der Strafe, die mich ungerechtfertigt treffen würde, immer rot wurde und dadurch schuldig wirkte. Dennoch wollte mir nie in den Kopf, wie ein solcher Unhold wie Matthias mit seinen bösen Streichen ungeschoren davonkommen konnte, zumal ich sicher nicht die Einzige war, die darunter zu leiden hatte. Oder doch? In unserem Haushalt war ich schließlich der einzige Mensch, der jünger, kleiner und schwächer war als er.
Mein einziger Trost bestand in dem Wissen, dass Matthias zwar Vater und Mutter, den Lehrer und den Pfarrer täuschen konnte, nicht aber den lieben Gott. Der sah ganz gewiss jede einzelne Sünde, die Matthias beging, und ebenso sicher sah er, dass ich ein braves Kind war. Ich würde eines Tages in den Himmel kommen, Matthias ganz bestimmt nicht.
An meinem siebten Geburtstag übertraf Matthias sich selbst in seiner Schlechtigkeit. Den demolierten Kreisel konnte ich noch hinnehmen, nicht aber das, was mittags passierte. Wir fünf Geschwister gingen gemeinsam aus der Schule nach Hause. Unterwegs machte Hildegard mal wieder dem Kelbelschen Knecht schöne Augen, die Jungen sammelten Kastanien auf und warfen damit nach den Kühen. Ich war dankbar dafür, dass sie sie immerhin nicht nach uns Mädchen warfen. Es war ein trüber Novembertag, und meine Vorfreude auf das Geburtstagsessen wuchs mit jedem Schritt, den wir uns unserem Hof näherten. Es war eine lange Strecke, aber wir waren das gewohnt. Wenn man an jedem Werktag mindestens zehn Kilometer zu Fuß geht, fünf zur Schule und fünf zurück, dazu noch all die anderen Gänge, die man so zu erledigen hat, empfindet man den Weg nicht mehr als allzu weit. Als wir endlich daheim eintrafen, strahlte die Mutter schon übers ganze Gesicht. Ich glaube, sie freute sich genauso sehr auf den Milchreis wie ich. Sonst gab es bei uns im Herbst immer nur Kartoffel- und Kohlgerichte. Mit feinen Gewürzen wurde geknausert, Zimt und Vanille kannten wir nur von Weihnachten – oder eben von einem unserer Geburtstage, denn jedes Kind durfte sich dann sein Lieblingsgericht wünschen. Ganz gleich, wie groß unsere Armut auch sein mochte, irgendwie gelang es der Mutter immer, an diesen Festtagen unseren jeweiligen Wunsch zu erfüllen.
Mutter drückte mich an sich, eine Geste, die sie sich für besondere Gelegenheiten aufsparte. Allein diese Umarmung entschädigte mich für alle Ungerechtigkeiten, die ich an diesem und an jedem anderen Tag des Jahres erlitten hatte. Wir gingen ins Haus, das erfüllt war von einem verheißungsvollen, magischen, köstlichen Duft. Drinnen wartete der Vater auf mich, der mich hochhob und sagte: »Sieben Jahre, bist ja schon ein richtiges junges Fräulein!« In diesem Augenblick hörten wir aus der Küche ein mächtiges Scheppern und Rumpeln. Sekunden später kam Matthias herausgerannt. »Ich wollte nur umrühren, damit der Milchreis nicht anbrennt!«, schluchzte er. »Die Mutter war ja draußen, und die Hildegard ist gleich rauf in ihre Kammer gerannt, und ihr wart hier auf dem Flur, und die anderen ... da dachte ich, weil es doch ein so besonderes Essen und ...« Weiter kam er nicht, weil ein Weinkrampf ihn schüttelte. Wir waren inzwischen alle zusammen in die Küche gegangen, um uns anzusehen, welches Missgeschick sich da zugetragen hatte. Und da sahen wir es: Der Topf mit dem Milchreis lag auf dem Boden, der weiße Brei ergoss sich über die Fliesen vor dem Herd.
»Du hast nicht nur umrühren wollen. Du hast genascht.« Der Vater sah Matthias tadelnd an.
Der wollte schon den Kopf schütteln, als er sich eines Besseren besann und nickte. Vielleicht war er sich der Tatsache bewusst, dass in seinen Mundwinkeln noch Reste seines Festschmauses klebten, vielleicht war er aber auch einfach so gerissen, ein kleineres Vergehen zuzugeben, um nicht eines größeren bezichtigt zu werden. Denn dass Matthias den Topf mit Absicht vom Herd gestoßen hatte, nachdem er sich zuvor den Bauch mit meinem Geburtstagsessen vollgeschlagen hatte, stand für mich fest. Ich sah es an dem boshaften Funkeln in seinen Augen. Ich brach in Tränen aus.
Mutter buk uns Apfelpfannkuchen, und ich durfte Matthias’ Anteil an dem Zimtzucker, der für den Milchreis vorgesehen gewesen war, über meinen Pfannkuchen streuen. Ich fand die Strafe viel zu mild für die große Gemeinheit, die mein Bruder mir angetan hatte. Ich sann auf Rache. Und nicht nur ihm gegenüber. Am liebsten hätte ich meine ganze Familie mit der Mistgabel aufgescheucht, denn fast noch furchtbarer als Matthias’ Boshaftigkeit war der Umstand, dass er mit seinem herzerweichenden Gesichtsausdruck, der nichts außer Reue und Trauer zeigte, auch noch das Mitleid der anderen Familienmitglieder erregte.
»Kann passieren, gräm dich nicht länger.« Mutter strich ihm dabei mit der Hand zärtlich über das seidige blonde Haar.
»Hier, kannst ein Stück von meinem Zimtpfannkuchen haben«, sagte Ursula, unsere älteste noch im Haus lebende Schwester, »ich bin eh schon satt.«
Meine Unterlippe begann zu zittern. Gleich würde ich losheulen müssen. Lukas, der gutmütigste meiner Brüder, schien mich und die anderen von dem Drama ablenken zu wollen, das er da auf sich zukommen sah. »Mir sind mit acht Jahren noch viel schlimmere Sachen passiert«, erklärte er wichtigtuerisch und schob die Ärmel seines groben Leinenhemdes hoch. Als ob wir nicht alle die Narben gekannt hätten, die er sich bei einem ähnlichen Unfall am Herd, nur mit einem Topf kochenden Wassers, zugezogen hatte.
Sein plumper Versuch, mich die Ursache meiner Traurigkeit vergessen zu lassen, schlug fehl. Ich begann zu weinen, stand abrupt vom Tisch auf und lief aus der Küche. Wer hatte bitte schön heute Geburtstag? Ich! Wer war unartig gewesen? Matthias! Und wer wurde bestraft, wer belohnt? Ich verstand die Welt nicht mehr. Das Letzte, was ich hörte, bevor ich die Treppe hinauflief, war die Stimme meines Vaters. Es wurde keinesfalls geduldet, dass ein Kind sich ohne Erlaubnis vom Tisch entfernte. »Den Rest des Tages Stubenarrest!«, rief er mir nach, und ich war nicht einmal unfroh darüber. In meiner Kammer hätte ich wenigstens Frieden vor den Misshandlungen meines nächstälteren Bruders.
Der Rest dieses verkorksten Tages verlief dann erstaunlich schön. Alle, mit Ausnahme meines Vaters und Matthias’, besuchten mich »heimlich« in meiner Kammer, überreichten mir ihre bescheidenen Geschenke, redeten mir gut zu oder munterten mich mit albernen Späßen auf. Ursula entschuldigte sich sogar für ihre Gedankenlosigkeit: »Wenn ich gewusst hätte, dass du noch Pfannkuchen wolltest, hätte ich ihn dir angeboten. Aber du hast so satt und zufrieden ausgesehen ...« Mir kamen wieder die Tränen hoch, doch Ursula, die schon sechzehn Jahre alt war und mir mehr wie eine Mutter als wie eine Schwester erschien, gelang es, mich von neuerlichem Weinen abzuhalten. Sie nahm mich in die Arme und küsste mein Haar und flüsterte Worte in mein Ohr, die süßer klangen, als sie waren. »Scht, meine hübsche Kleine, reg dich nicht auf. So ist das Leben nun einmal. Die Männer kriegen immer das Beste, wir nur die Reste. Ha«, unterbrach sie sich, »das reimt sich ja! Nun denn. Und du darfst das nie anzweifeln, geschweige denn über diese Ungerechtigkeit heulen. Im Gegenteil. Wenn du geweint hast, siehst du hässlich aus, mit verquollenen Augen und roter Nase, und dann nimmt dich kein Mann mehr. So eine kleine Schönheit wie du, die macht eine richtig gute Partie, wart’s nur ab. Aber nur, wenn du dich fröhlich gibst, auch wenn du’s nicht bist.«
Ich hätte gleich wieder losflennen können. Einzig der Versuch, die Logik hinter dieser bemerkenswerten Lektion zu begreifen, hielt mich davon ab. Wieso sollte ich jemals einen Mann haben wollen, wenn dessen Aufgabe vor allem darin bestand, mir das Beste streitig zu machen? Ich würde niemals heiraten, schwor ich mir, wenn damit dasselbe Schicksal einhergehen sollte wie jenes, das ich jetzt erlebte: immer als Letzte aus der Schüssel nehmen zu dürfen, immer als Erste ins Bett gehen zu müssen, nie gelobt zu werden für etwas, was nicht eines meiner Geschwister besser könnte als ich.
Schon jetzt, in meinem ersten Schuljahr, konnte ich schöner schreiben als Matthias, aber neben der sauberen Handschrift von Hildegard, die mir schon vor meiner Einschulung das Alphabet beigebracht hatte, nahm sich meine wie kindisches Gekrakel aus. Ich konnte schneller laufen als alle anderen Mädchen in meinem Alter, aber von uns Geschwistern war ich immer das langsamste. Das Einzige, worin ich wirklich alle anderen übertraf, war mein Gedächtnis. Ich konnte mir ellenlange Listen merken und hatte die Geburtstage aller mir persönlich bekannten Personen im Kopf. Ich konnte alle Strophen selbst der längsten Weihnachtslieder, und beim Gedichteaufsagen glänzte ich wie niemand sonst. Und was erntete ich dafür? Spott.
»Unser kleiner Papagei«, witzelte Vater, als ich letztes Jahr an Nikolaus ein sehr schwieriges Gedicht fehlerfrei aufsagte, und meine Geschwister fielen in sein Gelächter mit ein, obwohl sie natürlich genauso wenig wie ich wussten, was ein Papagei war.
Doch nicht nur an Auswendiggelerntes erinnerte ich mich, sondern auch an diese Art von Demütigungen. Irgendwann, sagte ich mir, würde ich mich zu wehren wissen. Wenn sie schon längst vergessen hätten, was sie mir einst angetan hatten, würden in meinem Kopf all die Schmähungen, Ungerechtigkeiten und Erniedrigungen weiterleben. Und dann würde ich es ihnen heimzahlen.
Denn ich vergaß nie etwas.
Raúl Almeida hatte früh lernen müssen, dass er nur überleben konnte, wenn er hart zu sich und hart zu anderen war. Er zeichnete sich durch Disziplin, Mut und Kompromisslosigkeit aus. Stolz war er auf diese Eigenschaften jedoch nicht. Wäre ein Dornenstrauch etwa stolz darauf, dank seiner Anspruchslosigkeit in der Wüste oder in einem kargen Gebirge überleben zu können? Seine Wesenszüge betrachtete Raúl Almeida daher nicht als »männliche Tugenden«, wie es ein Bekannter aus der Stadt einmal formuliert hatte, sondern einfach nur als nützlich. Ohne sie wäre er in einem Land wie diesem verloren gewesen. Die Provinz Rio Grande do Sul, im äußersten Süden des jungen Kaiserreichs Brasilien, war riesig, wild und gefährlich. Es lebten nur wenige Menschen hier, die meisten von ihnen Gaúchos wie er. Weder in den Weiten der Pampa noch in den küstennahen Urwäldern konnte man sich Fehler erlauben. Unbedachtheit endete oft tödlich. Und weil Raúl diese Lektion bereits als Kind schmerzhaft hatte lernen müssen, ließ er sich niemals zu Dingen hinreißen, die mit dem Verstand allein nicht zu erklären gewesen wären.
Nur dieses eine Mal.
Warum zum Teufel hatte er das halbtote Mädchen mit nach Hause genommen? Wieso war er nicht einfach in die nächstgelegene Ortschaft geritten, um nach einem Arzt oder wenigstens einem Apotheker zu fragen? Weil, redete er sich ein, erstens sein Stadthaus nur unwesentlich weiter als das Dorf entfernt lag. Weil zweitens die Heilkünste seiner alten Sklavin Teresa denen aller Ärzte vorzuziehen waren. Und weil drittens die Wahrscheinlichkeit, in dem kleinen armseligen Dorf einen Fachkundigen zu finden, ohnehin sehr gering war. Und dennoch. Hätte er das Mädchen einfach woanders abgeliefert, wäre er jetzt um eine Sorge ärmer. Was war nur in ihn gefahren? Seit wann hatte er solche unerklärlichen Anwandlungen von Nächstenliebe? War die Schwerverletzte etwa sein Problem?
Ja, gestand er sich ein. Jetzt war sie es.
Gestern war sie aus der Bewusstlosigkeit erwacht, wie Teresa ihm freudestrahlend mitteilte, kaum dass er aus São Pedro zurückgekehrt war. Noch immer war er in Gedanken bei den unverschämten Forderungen des Viehhändlers, den er getroffen hatte, so dass er die gute Neuigkeit zunächst achselzuckend hinnahm. Doch als er das Zimmer betrat, in dem sie die junge Frau untergebracht hatten, rückte diese Angelegenheit plötzlich wieder in den Vordergrund.
Die Patientin wirkte schläfrig. Sie sah ihn teilnahmslos unter halbgeöffneten Lidern an.
Raúl trat näher an das Bett heran. Selbst er, der sonst nie mehr als Gleichmut und Gelassenheit an den Tag legte, konnte nun seine Neugier nicht verhehlen. Er war aufs äußerste gespannt, was das Mädchen sagte, wie es sich fühlen und wie es sich benehmen würde. In den ersten Tagen hatten sie sie unermüdlich gepflegt, hatten ihr Zuckerwasser eingeträufelt und abwechselnd an ihrem Bett gewacht und gebetet. Tagelang hatten sie auf ein jugendliches Gesicht geblickt, das ebenso weiß war wie der Kopfverband, den sie dem Mädchen angelegt hatten. Die blauen Flecken und Schürfwunden hoben sich krass von dieser bleichen Haut ab. Und immer wieder waren sie von dem Gefühl übermannt worden, dass all ihre Bemühungen vielleicht umsonst waren. Würde ihre Patientin die schweren Verletzungen überleben? Und wenn ja – würde sie jemals wieder richtig gesund werden?
Raúl stand wie angewurzelt neben dem Bett. Er wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Sanfte Gesten oder freudige Ausrufe waren nicht sein Stil, schon gar nicht wildfremden Personen gegenüber. Er zwang sich zu einem kurzen Lächeln, obwohl ihm wahrhaftig nicht danach zumute war. Das Mädchen verzog keine Miene.
»Wie heißen Sie?«, fragte Raúl.
Das Mädchen blickte ihn erschrocken an. Ihre Augen hatten eine graugrüne Farbe, wie er sie nie zuvor gesehen hatte.
Es beschämte Raúl ein wenig, dass es ihm nicht gelang, mehr Mitgefühl in seine Stimme zu legen. In einem so sachlichen Ton hätte er mit einem Fremden auf der Durchreise oder mit einem Geschäftspartner reden können, aber doch nicht mit einem verängstigten Mädchen, das gerade aus der Bewusstlosigkeit erwacht war. Er wagte einen neuen Versuch.
»Ich bin sehr froh, dass Sie aufgewacht sind. Wir haben uns große Sorgen um Sie gemacht. Würden Sie mir freundlicherweise sagen, wie Sie heißen und was Ihnen zugestoßen ist?«
Diese Ansprache schien die junge Frau noch mehr zu irritieren. Sie runzelte die Brauen.
Herrje, dachte Raúl, was hatte er sich da nur aufgehalst?
»Ich glaube nicht, dass sie antwortet«, sagte Teresa, die gerade den Raum betrat. Sie trug ein Tablett, auf dem ein Teller dampfender Suppe, etwas Brot sowie ein Becher Milch angerichtet waren. »Sie hat seit gestern keine Silbe von sich gegeben. Vielleicht hat sie ihre Stimme verloren. Aber vielleicht versteht sie uns auch einfach nicht. Sie erscheint mir mehr wie eine von diesen Kolonisten. Nicht, dass ich je einen von denen zu Gesicht bekommen hätte. Aber sie sieht nicht so aus, als wäre sie von hier.«
Nein, das tat sie wirklich nicht. Sie war hellhäutig und weizenblond.
Aber nicht nur deshalb glaubte auch Raúl, dass es sich um eine Kolonistin handeln musste. Er hatte das Mädchen am Rio Paraíso gefunden. Der Paraíso war ein Nebenfluss des Rio dos Sinos, an dessen Ufer sich wiederum die ersten deutschen Einwanderer niedergelassen hatten. Sein Schützling kam mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einer der »Colônias«, wie die Siedlungen der neuen Bewohner genannt wurden. Und wenn dem so war, dann sprach sie vermutlich kein Wort Portugiesisch. Diese Leute blieben meist unter sich.
Aber wie war sie dorthin, ans Ufer des Paraíso, gelangt? Der Ort, an dem Raúl das Mädchen entdeckt hatte, lag weit von der nächstgelegenen Siedlung entfernt. Und wie hatte sie sich ihre schweren Verletzungen zugezogen? Mit ihren geschundenen Knochen und ihrem angeschlagenen Schädel konnte sie unmöglich so weit geschwommen sein, wenn sie denn überhaupt schwimmen konnte, was er bezweifelte. War sie ins Wasser gestürzt und fortgeschwemmt worden? War sie dabei unglücklich mit dem Kopf aufgeschlagen? War sie zu einem Spielball der Fluten geworden, hin- und hergeworfen zwischen Felsen, treibenden Asten und Baumwurzeln, die bis in den Fluss reichten? Nur: Hätte sie dann so weit kommen können?
Oder verhielt es sich vielmehr so, dass sie erst sehr viel näher an der Fundstelle ins Wasser gesprungen oder gefallen war? Aber warum sollte sie? Das Gebiet war undurchdringlicher Dschungel, da hatte eine junge weiße Frau nichts verloren. Hatte sie sich verirrt? War sie einem Puma begegnet, einer Schlange oder einem Indio auf der Jagd? Hatte sie sich in wilder Panik in den Rio Paraíso gestürzt, in der trügerischen Hoffnung, dies sei ihre einzige Rettung?
Nun, wie auch immer die Antworten lauten mochten, nur eine Person konnte sie ihm geben. Und diese war offensichtlich außerstande, zu reden.
Essen hingegen konnte sie, und das mit großem Appetit. Das Brot und die Suppe, mit denen Teresa das Mädchen gefüttert hatte, waren bereits vertilgt. Jetzt hielt seine Sklavin der Patientin das Glas Milch an die Lippen. Sie schlürfte es in einem Zug aus. Danach hatte sie einen Milchbart, und sie sah sehr jung damit aus.
»Wenn man dich so sieht, menina, könnte man meinen, du wärst keinen Tag älter als siebzehn«, sagte Teresa zu dem Mädchen und tupfte ihr gleich darauf die Lippen und das Kinn ab. »Und genau das denkt der Senhor Raúl auch. Aber du und ich, wir wissen es besser, nicht wahr?«
»Aber sieh sie dir doch an, Teresa! Ich bitte dich, dieses Mädchen ist nie im Leben dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre alt, so wie du behauptest.«
Die junge Frau zuckte zusammen.
»Was müssen Sie auch so laut werden? Das arme Ding hat sich erschreckt«, kommentierte Teresa überflüssigerweise.
Raúl hatte genug für heute. Er würde in den nächsten Tagen mal wieder nach dem Mädchen sehen, wenn es ansprechbarer wäre. Wortlos verließ er den Raum.
Die junge Frau war erleichtert, als der Mann das Zimmer verließ. Er hatte mürrisch dreingeblickt, aber selbst wenn er gelächelt hätte, wäre sein Aussehen finster gewesen. Dunkle Augen, beinahe schwarzes Haar, stark gebräunte Haut. Wer war er, dass er unrasiert, mit Schmutzrändern unter den Fingernägeln und in unsauberer Kleidung – sehr merkwürdiger Kleidung obendrein – an ihr Krankenlager kam? Denn dass sie krank war und in diesem Raum gesund gepflegt wurde, das war ihr durchaus bewusst.
Leider war das aber auch alles, was sie bisher begriffen hatte.
Wie konnte man nur vergessen, wer man war? Das war doch nicht möglich! Doch sosehr sie ihr Gedächtnis auch bemühte, sie kam immer wieder zu demselben Ergebnis: Sie wusste nicht, wie sie hieß. Sie wusste nicht, wer sie war, wo sie herkam oder wie sie in der Obhut der Negerin gelandet war. Immerhin wusste sie noch, wie man atmete und aß und trank. Sie konnte sehen, hören, schmecken und fühlen. Nur mit dem Sprechen haperte es, doch das lag nicht am Verlust ihrer Stimme. Diese war, gleich nachdem sie ihre Kehle befeuchtet hatte, wiedergekehrt – die junge Frau hatte das, als sie sich unbeobachtet wusste, ausprobiert. Vielmehr hatte sie Angst davor, zu reden. Was, wenn man sie ebenso wenig verstehen würde, wie sie diese Leute verstand? Was, wenn sie Unsinn von sich gab? Wenn sie schon ihren eigenen Namen nicht wusste, woher sollte sie dann wissen, ob »Bett« wirklich Bett bedeutete, oder »Milch« Milch? Man würde sie für verrückt halten.
Allerdings würde man sie ebenfalls für verrückt halten, wenn sie keinen Mucks von sich gab. Früher oder später musste sie etwas sagen. Zwar sprach man hier offensichtlich nicht ihre Sprache, aber vielleicht kannte man jemanden, der übersetzen konnte. Trotzdem scheute die junge Frau davor zurück, sich zu äußern – und je länger sie damit wartete, desto schwieriger wurde es. Eine irrationale Angst machte sich in ihrem Kopf breit, ganz so, als sei das Sprechen das Tor zur echten Welt, zu einer Wirklichkeit, die sie nicht wahrhaben wollte. Als würden die Dinge erst beginnen zu existieren, wenn man sie aussprach. Vielleicht war ihre echte Identität die einer Person, die sie überhaupt nicht leiden mochte. Und wenn sie etwas sagte, das diesen Leuten hier Aufschluss darüber gab, wer sie war, würde man sie dahin zurückschicken, woher sie kam. Und dort wären dann andere Menschen, die sich um sie kümmerten und die sie nicht wiedererkannte. Hatte sie Verwandte, einen Mann, Kinder? Würde sie sich an deren Namen erinnern? Nein. Und das wäre ungleich schlimmer, als von diesen Fremden – wenn es denn Fremde waren – angeschaut und behandelt zu werden wie ein dummes Kind. Das würde sie nicht verkraften und auch niemandem zumuten können. Jedenfalls nicht zum jetzigen Zeitpunkt.
Vielleicht würde es ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, wenn sie einmal in den Spiegel schaute. Aber der – ein kleines, halbblindes Ding – hing schief und für sie unerreichbar über der Kommode. Vom Bett aus sah sie nur die Rostflecken am Rand des emaillierten Wasserkrugs, die sich darin spiegelten. Aufstehen konnte sie noch nicht. Sie hatte es mehrfach versucht und vor Schmerzen vorzeitig aufgeben müssen. Wenn sie nun dieser Negerin – wie hieß sie noch gleich? – durch Zeichensprache zu verstehen gäbe, dass sie sich gern im Spiegel ansehen würde? Bestimmt würde die Frau, die einen netten Eindruck machte, ihr diesen Wunsch erfüllen.
Teresa verstand die Gesten ihrer Patientin sehr gut. Doch den Spiegel würde sie ihr gewiss nicht reichen. Das arme Kind würde sich ja vor seinem eigenen Anblick zu Tode gruseln! »Nein, nein, menina, für Eitelkeiten ist jetzt nicht die Zeit. Wenn du erst wiederhergestellt bist, kannst du dein Gesicht, das ohne die Wunden sicher sehr hübsch ist, den ganzen Tag bewundern.«
Die junge Frau stieß einen kleinen Seufzer aus. Menina, das hatte sie jetzt schon öfter gehört. Hieß sie so? Es klang schön, aber es löste nicht den Hauch einer Erinnerung aus.
Die Schwarze verließ das Zimmer mit dem Essenstablett und kam wenig später mit der Bettpfanne zurück. Obwohl sie sich jetzt bereits seit einigen Tagen dieser demütigenden Prozedur unterzogen hatte, war sie der jungen Frau noch immer peinlich. Bei so intimen Verrichtungen wollte sie keine Zeugen haben. Zugleich empfand sie ihre Scham als ein gutes Zeichen: Solange sie sich für derartige Dinge schämte, war sie immerhin noch nicht auf die Stufe eines Tieres gesunken. Es bedeutete, dass ein Teil ihres Gehirns durchaus funktionstüchtig war, dass sie sich, wenn auch nur passiv, an ihre Erziehung erinnern konnte. Sie wusste zwar nicht, wer sie diese Dinge gelehrt hatte – auch nicht wie, wann und wo –, aber die Inhalte dieser Lektionen waren ihr präsent. Man verrichtete sein Geschäft nun mal nicht vor anderen Leuten.
Und es gab sehr viel mehr Dinge in dieser Art. Etwa das Gefühl der Nichtsnutzigkeit, das sie immer überkam, wenn sie aufwachte und sich noch nicht orientiert hatte. In dem Moment, in dem sie die Augen aufschlug und die Helligkeit wahrnahm, in dem sie aber noch nicht begriffen hatte, dass sie an einem fremden Ort das Bett hütete, war ihre erste Empfindung immer die von Schuld. Trägheit und Faulheit waren schlimme Laster – das hatte man ihr offenbar so gut eingeimpft, dass sie sich dieser Lehre auch in ihrem derzeitigen Zustand entsann.
Die meisten Düfte und Gerüche konnte sie nicht nur den entsprechenden Dingen korrekt zuordnen, sondern sie manchmal sogar mit bestimmten Gefühlen verbinden. Der Milchreis hatte sie an irgendetwas Schönes erinnert. Die Hühnersuppe hatte ihr Trost gespendet, warum auch immer. Andere Nahrungsmittel dagegen waren ihr unbekannt und schmeckten fremdartig, diese merkwürdige längliche, gebogene Frucht etwa, die gelb und süß war und eine mehlige Konsistenz hatte. Sie hätte schwören können, dass sie diese Frucht nie zuvor in ihrem Leben gekostet hatte, aber wie sicher konnte sie da sein? Womöglich war es ihre Lieblingsobstsorte gewesen.
Des Weiteren wusste die junge Frau mit Gewissheit, dass es Sommer war, ein extrem heißer Sommer, denn die Temperatur in ihrem Zimmer war unglaublich hoch. Richtig stickig war es, drückend und schwül. Die junge Frau schwitzte unter ihrer dünnen Bettdecke. Ihre Kopfhaut juckte wie verrückt, doch der Verband hinderte sie daran, sich zu kratzen.
Plötzlich flackerte ein Bild vor ihrem geistigen Auge auf, ganz kurz nur, blitzartig. Sie sah ein Mädchen, ein Sommergewitter, eine Scheune. Und sie spürte mit jeder Faser ihres Körpers, wie verschwitzt dieses Mädchen sich fühlte. Das war sie selber! Endlich! So flüchtig die Erscheinung auch gewesen sein mochte, es war ein Beginn. Die junge Frau schloss die Lider. Mit aller Macht versuchte sie, weitere Eindrücke und Bilder aus ihrer Vergangenheit heraufzubeschwören, aber es gelang ihr nicht. Das Einzige, was sie damit erreichte, war, dass sie fast ohnmächtig vor Schmerzen wurde. Sie musste sich ausruhen. Innerhalb weniger Sekunden döste sie ein.
Der Finsterling weckte sie, indem er mit einem Zettel unter ihrer Nase herumwedelte. Sie blickte darauf, glaubte, sich vertan zu haben, und schüttelte den Kopf. Der Mann sah hinüber zu der Schwarzen, die am Fenster stand und die Läden zuzog. In einem Ton, der unmissverständlich nach Triumph klang, äußerte er ein paar Worte. Dann schaute er der Patientin tief in die Augen, deutete auf das, was er auf den Zettel geschrieben hatte, und nickte. Sogar ein Lächeln gelang ihm. Er sah auf einmal gar nicht mehr so furchteinflößend aus.
Auf dem Zettel stand ein Datum: 16.3.1827. Und eine solche Zahlenfolge, so hatte Raúl richtig vermutet, musste auch eine Ausländerin verstehen können, sofern sie des Lesens mächtig war.
Die junge Frau starrte immer noch ungläubig auf die Zahlen. Wollte der Kerl sie auf den Arm nehmen? Und weil das Kopfschütteln einen neuerlichen Schub böser Schmerzen in ihrem Schädel ausgelöst hatte, blieb sie reglos liegen und flüsterte in ihrer Muttersprache vor sich hin: »Wie kann es im März so heiß sein?«
Teresa und Raúl stockte fast der Atem. Ratlos sahen sie einander an. Die Sprache hatte das Mädchen also schon einmal nicht verloren. »Aber was in aller Welt«, brachte Teresa es auf den Punkt, »hatte dieses grausame Gestammel zu bedeuten?«
Anfang März brach der Frühling aus. Das dachten wir jedenfalls. Die Krokusse bahnten sich ihren Weg durch eine Schneedecke, die innerhalb weniger Tage auf eine Dicke von nur noch einem Zentimeter zusammengeschrumpft war. An einem besonders geschützten Hang gab es sogar schon Weidenkätzchen. Ich schnitt ein paar Zweige davon ab und stellte sie in einen Krug in unserer guten Stube. Wir holten den Osterschmuck aus der Truhe – um neue Eier auszublasen und zu bemalen, waren die Lebensmittel zu rar – und hängten sie an die Zweige. Es war ein überaus freundlicher Anblick. Dazu wärmte die Sonne unsere Zimmer und unsere Herzen. Die Tage wurden wieder länger, und wir alle atmeten auf, dass der lange und harte Winter endlich überstanden war. Doch das milde Wetter hielt nur etwa eine Woche lang an. Dann begann es wieder zu schneien. Ein beißend kalter Wind rüttelte an den Schieferschindeln unseres Hauses, pfiff durch jede Ritze und brachte mich um den Verstand: Was, wenn ich zu meiner Erstkommunion den scheußlichen grauen Wollmantel tragen musste?
Ich war neun Jahre alt, und die heilige Kommunion war das Ereignis meines Lebens. Obwohl ich zu dieser Zeit sehr religiös war – vor allem wegen der anrührenden Heiligenbilder, die ich mit Lore austauschte –, lag der größte Reiz meiner Kommunion selbstverständlich in den Kleidern, die ich tragen würde. Wie eine Braut würde ich ausstaffiert werden: weiße Schuhe, weiße Strümpfe, weißes Kleid, weiße Handschuhe, weißer Schleier. In den Händen würde ich eine riesige weiße Kerze halten, die von einer weißen Schleife und von weißen Blumen umrankt wäre. Ach, ich fieberte dem Ereignis entgegen wie keinem anderen in meinem Leben! Zwar musste ich Hildegards altes Kommunionkleid tragen, das diese wiederum von Ursula geerbt hatte, aber das empfand ich nicht als so schlimm. Es war noch immer ein wunderschönes Kleid – im Gegensatz zu manch anderen Kleidungsstücken, die ich auftragen musste. Und ich kannte es ja nicht anders. Es schien mir selber schon als unvorstellbare Verschwendung, dass meine Mutter mir jemals ein eigenes, neues Kleid nähen sollte. Das Einzige, was mich ernstlich bedrückte, war die Sorge, dass das Wetter bis zu dem großen Tag nicht besser würde. Der Mantel würde die ganze weiße Pracht zerstören. Lieber würde ich erfrieren, als meine schöne Kommunion mit diesem alten Ding zu ruinieren.
Meine Eitelkeit wäre eine von den Sünden gewesen, die ich dem Pfarrer hätte beichten können. Aber sie fiel mir schlicht nicht ein. Ich zermarterte mir das Hirn, was ich zu meiner ersten Beichte, die man vor der Erstkommunion ablegen musste, sagen sollte, doch mir kamen nur Dinge in den Sinn, von denen ich dem Pfarrer lieber nicht erzählen wollte. Meine Wut auf den Lehrer, weil er mir im Diktat eine schlechtere Note gegeben hatte als der Lise, obwohl ich sie doch von mir hatte abschreiben lassen; meinen Ärger auf Hildegard, die, nachdem Ursula geheiratet hatte, eine Kammer für sich bekam und alle hübschen Dinge aus unserem gemeinsamen Zimmer dahin mitnahm; und meinen täglich wachsenden Zorn auf Matthias, der nur dann über einen Funken Phantasie zu verfügen schien, wenn es darum ging, mich mit immer neuen Streichen zu piesacken.
Ich fragte Lore, was sie denn so beichten würde, und sie hatte jede Menge gute Sünden parat: dass sie die Eltern nicht immer ehren würde, wie es ihnen gebührte, ja, dass sie sie sogar schon einmal angelogen hätte; dass sie manchmal während der Messe mit den Gedanken woanders wäre als bei den Worten des Pfarrers; und dass sie – das war mit Abstand die beste ihrer Sünden – dem Peter vom Nachbarhof schon einmal beim Wasserlassen zugesehen hätte und er ihr. Ich war beruhigt. Diese Dinge würde ich ebenfalls beichten. Nur würde aus dem Peter bei mir der Matthias werden. Dass ich ihn nicht freiwillig hatte zusehen lassen, musste ich ja nicht erwähnen.
Am Abend nach diesem Gespräch mit Lore belauschte ich zufällig meine Eltern, die sich über dasselbe Thema unterhielten. Ich wollte nicht wirklich lauschen, aber es ergab sich so. Es war äußerst selten, dass die Eltern spätabends noch allein beisammensaßen und redeten. Meistens waren sie von der schweren Arbeit des Tages so erschöpft, dass die Mutter nach dem Abendbrot nur noch die Küche aufräumte, dann den Vater aufweckte, der regelmäßig auf der Holzbank in der Stube einzudösen pflegte, und mit ihm zusammen ins Schlafzimmer ging. Um vier Uhr morgens wurde bei uns aufgestanden, im Winter um fünf.
An diesem Abend jedoch plagten mich schlimme Bauchschmerzen, vor Hunger, wie ich glaubte, so dass ich mich im Dunkeln in die Küche schleichen wollte, um einen Kanten Brot zu stibitzen. Die Tür zur Stube war geschlossen, unter dem Türspalt schien Licht hindurch. Das erschien mir so merkwürdig, dass ich stehen blieb und das Ohr an die Tür drückte. Es hätten sich ja auch Diebe in dem Raum befinden können, obwohl bei uns weiß Gott nichts zu holen war. Aber es waren die Eltern, und ihr Gespräch faszinierte mich so sehr, dass ich mich nicht von der Stelle rührte.
»Ich würde zu gerne Mäuschen spielen, wenn die Kinder ihre erste Beichte ablegen«, sagte die Mutter. Sie kicherte, und ich zuckte zusammen. Ich hatte sie schon lange nicht mehr kichern hören.
»Ach, was sollen die schon sagen?«, grummelte der Vater. »Dass sie die Eltern nicht gebührend ehren und dass sie während der Messe an etwas anderes denken als an die Werke unseres Herrn Jesus Christus.« Er lachte kurz auf. »Das habe ich dem Pfarrer damals erzählt. Weißt du noch, der alte Fischbach?«
Mutter lachte leise. »Der, der mit seiner Haushälterin ...?«
»Hmm.« Das hieß bei Vater eindeutig »ja«.
»Sie sollten die Kinder erst so mit fünfzehn, sechzehn Jahren beichten lassen. Dann hätten sie wirklich etwas zu erzählen.«
»Ah? Sag bloß, du hättest mit fünfzehn schon sündige Gedanken gehabt?«
»Du nicht?« Wieder hörte ich Mutter kichern.
Hatten die Eltern heute Abend etwa von dem Aufgesetzten getrunken? Die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass die Erwachsenen sich merkwürdig benahmen, sobald sie alkoholische Getränke genossen hatten. Und wovon sprachen sie überhaupt? Warum sollte man sündige Gedanken erst später haben sollen und noch nicht als Kind? Ich für meinen Teil hatte reichlich davon. Waren es etwa keine sündigen Gedanken, wenn ich mir den Tod von Matthias ausmalte, mir für Herrn Friedrich einen schrecklichen Unfall wünschte oder davon träumte, Hildegard eines Nachts all ihre schönen blonden Locken abzuschneiden? Für was hielten die Eltern uns Kinder?
»Manchmal«, sagte Vater, und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass das die Antwort auf Mutters Frage nach den »sündigen Gedanken« war.
»Und – hast du jetzt auch welche?«, fragte Mutter leise.
Die Antwort hörte ich nicht, doch ich vernahm Geraschel und Schritte. Blitzschnell verschwand ich in der Küche, versteckte mich im Vorratsschrank und hoffte, dass die beiden schnurstracks auf ihr Zimmer gingen. Mein Bauch tat inzwischen so weh, dass mir schwindlig wurde.
Ich hörte meine Eltern die Treppe hinaufgehen. Erleichtert huschte ich aus meinem Versteck. Ich stand im Dunkeln in der Küche, fror und knabberte an meinem Stück Brot. Danach spürte ich einen stechenden Schmerz in meinem Bauch und sank zu Boden. Ich muss unwillentlich einen Schrei oder ein Stöhnen von mir gegeben haben, denn wenig später kam Vater in die Küche. Er hob mich auf, dann fiel ich in Ohnmacht.
Was sich dann ereignete, weiß ich nur aus den Erzählungen meiner Eltern. Mein Vater sattelte unser einziges Pferd, während Mutter mich in dicke Decken packte. Bei Nacht und Nebel ritt mein Vater mit mir die weite Strecke nach Gemünden, wo es einen alten Arzt gab, der früher beim Militär gewesen war. Frühmorgens und unter widrigsten Umständen schnitt der Arzt meinen Bauch auf und befreite mich von meinem entzündeten Blinddarm.
Als ich aus der Narkose wieder zu mir kam, saßen meine Eltern mit besorgten Gesichtern an meinem Bett.
»Warum hast du denn nicht rechtzeitig etwas gesagt?«, wollte mein Vater wissen.
»Du musst doch Bauchweh gehabt haben«, sagte Mutter.
Natürlich hatte ich Bauchweh gehabt. Aber keines meiner Geschwister hatte sich je vor der Schule drücken können mit der Begründung, es habe Bauchschmerzen. Diese Art von Beschwerden wurde bei uns einfach ignoriert. »Da sitzt nur ein Furz quer«, pflegte mein Vater in solchen Fällen zu behaupten, und »ist nur der Hunger« meine Mutter. »Dann wird dir das Abendbrot umso besser schmecken.« Wer würde angesichts solcher Reden die Eltern noch mit Gejammer über Bauchweh behelligen wollen?
»Du hast Glück gehabt, dass der Feldarzt dich operiert hat. Der braucht kein vornehmes Hospital.«
Glück? Ich hatte wahnsinnige Schmerzen und fühlte mich elend wie nie zuvor in meinem Leben. Und warum sagten meine Eltern nicht mal etwas wirklich Nettes, anstatt so anklagend dreinzuschauen?
»In ein paar Tagen können Sie Ihre Tochter mit nach Hause nehmen«, sagte der Arzt. Ich war anscheinend in seinem Haus untergebracht, weil ich noch nicht reisefähig war. »Sie hat eine sehr robuste Natur, die Wunde heilt ausgesprochen gut. Trotzdem sollte sie auch daheim noch etwa zwei Wochen das Bett hüten.«
Ich riss vor Schreck die Augen weit auf. »Aber meine Kommunion?«
»Der liebe Gott lässt dich auch noch im nächsten Jahr deine Kommunion feiern. Danke ihm lieber dafür, dass du noch lebst.«
Was wussten die Erwachsenen schon davon? Im nächsten Jahr wäre Lore nicht dabei. Ich wäre das älteste unter lauter kleineren Kindern. Im nächsten Jahr ... das war eine so gigantische Zeitspanne, dass ich sie mir nicht vorstellen konnte und wollte! Warum sollte ich irgendjemandem dafür danken, dass ich noch lebte, wenn das Leben mindestens ein Jahr lang absolut keinen Sinn mehr für mich hatte? Ich schluchzte leise.
»Sie braucht Ruhe«, sagte der Arzt. Damit scheuchte er meine Eltern aus dem Zimmer.
Mit fortschreitender Wundheilung hellte sich meine Stimmung deutlich auf. Ich mochte vielleicht bis zum Tag meiner Kommunion nicht genesen sein, dafür aber konnte ich fortan mit etwas aufwarten, das niemand sonst von meinen Freunden hatte: Nicht nur hatte ich eine Blinddarmoperation überlebt, nein, ich war sogar in Gemünden gewesen! Das Städtchen lag vielleicht fünfzehn Kilometer entfernt von Ahlweiler, aber für uns Dorfkinder war das eine schier unüberbrückbare Distanz. Wir stapften an jedem Schultag brav die insgesamt zehn Kilometer nach Hollbach und zurück, und für die meisten von uns war das die weiteste Strecke, die wir uns im Leben von unserem Dorf entfernt hatten.
Auch unsere Eltern hatten nicht viel vom Hunsrück gesehen, und erst recht nicht von anderen Regionen. In der Schule hatten wir Geschichten über den Rhein gehört, der nur fünfundreißig Kilometer entfernt war, aber für uns hätte er genauso gut im Hottentottenland liegen können. Dasselbe galt für die Mosel, von der Ahlweiler etwa fünfig Kilometer weit weg war. Wir hatten gelernt, dass an den Hängen von Rhein und Mosel Wein angebaut wurde, doch niemand konnte das so recht glauben. In unseren kühlen Höhen und auf unseren steinigen Äckern gediehen nur Kartoffeln prächtig, für die meisten anderen Feldfrüchte war es zu kalt. Wein! Da hätten sie uns auch gleich erzählen können, dass in den großen Flusstälern Zitronen und Apfelsinen wuchsen, Früchte, die keiner von uns je gesehen hatte.
Als ich wieder daheim in Ahlweiler war, erzählte ich also allen Leuten, die mich an meinem Krankenlager besuchen kamen, wie meine sagenhafte Reise nach Gemünden verlaufen war. Ich musste sehr viel dazuerfinden, denn eigentlich hatte ich von dem Städtchen kaum mehr gesehen als das Haus des Arztes. Aber die Gefahr, dass ich beim Flunkern erwischt wurde, war verschwindend gering. Ich plapperte also munter drauflos, berichtete von den schönen großen Fachwerkhäusern mit ihren kunstvollen Schiefergiebeln, von dem süßen Klang der Kirchenglocken und von den vollkommen andersgearteten Kleidern der Leute. Ich erfand vornehme Kutschen, adlige Jungfrauen und mutige Offiziere. Ich hatte ein enormes Vergnügen daran, meine Freunde neidisch zu machen – auch dies, nebenbei bemerkt, eine Sünde, die ich hätte beichten können und sollen – und mich damit über die ausgefallene Kommunion hinwegzutrösten. Es war eine Art Wendepunkt in meinem Leben, denn der Erfolg, den ich mit meinen Märchen hatte, bestärkte mich darin, künftig weniger wahrheitsliebend zu sein als bisher.
Wer wollte schon die Wahrheit hören, die doch meist trist und schäbig war? Die Menschen wollten sich an schönen Geschichten berauschen, an aufregenden Abenteuern, an phantastischen Begebenheiten. Wer geht nicht lieber in eine goldverzierte Kathedrale als in eine graue Backsteinkirche – abgesehen von evangelischen Leuten? Wer hört nicht lieber Märchen, in denen schöne, edle, fleißige Mädchen vorkommen, als Geschichten von dürren Kindern mit aufgeschlagenen Knien? Wer würde nicht lieber von verwegenen Rittern träumen als von schmalbrüstigen, lispelnden Burschen, die nach Kuhstall rochen? Mir selber erging es ja genauso, und je mehr ich im Laufe der Zeit die Wahrheit verdrehte, desto mehr glaubte ich selber an das, was ich da erzählte.
Vor allem glaubte ich, dass ich nicht war wie die anderen. Ich war schließlich sogar in Gemünden gewesen, oder etwa nicht? Und das schon mit neun Jahren. Wo würde ich erst hinkommen, wenn ich groß wäre? Ein Los wie das meiner Mutter und aller anderen Frauen, die ich kannte, würde mir erspart bleiben.
Mit zehn Jahren feierte ich meine Kommunion. Ich war zwar das älteste, aber auch das hübscheste Mädchen, und von allen Kindern war ich dasjenige, das die Zeremonie am besten beherrschte. Ich wusste genau, wann man aufzustehen und wann zu knien hatte, wann man jenes Lied sang oder dieses Gebet sprach. Ich war sehr stolz auf mich und meine Darbietung, insbesondere auf die im Beichtstuhl. Ich hatte ein Jahr Zeit gehabt, mir Gedanken über glaubhafte Sünden zu machen, und ich denke, der Pfarrer war sehr angetan von meiner Beichtfreude.
Als ich elf war, musste Hildegard den Knecht der Kelbels heiraten, der fortan bei uns im Haus lebte und den ich anfangs nie beim Namen nennen konnte. Ich sprach ihn nur mit »Schwager« an. Ungefähr ein Jahr später, zu dem Zeitpunkt, da ich begann, mich an seinen Namen, Theo, zu gewöhnen, starb unsere Mutter. Auch das Kind, das sie erwartet hatte, überlebte die Geburt nicht. Ich hatte mich sehr auf ein kleines Geschwisterchen gefreut, doch nun hasste ich das arme tote Wesen dafür, dass es unsere Mutter auf dem Gewissen hatte. Vater grämte sich beinahe zu Tode, und bei uns zu Hause herrschte monatelang große Traurigkeit. Es war sehr schlimm für uns alle, doch das Leben musste ja weitergehen. Hildegard übernahm die Aufgaben und Pflichten der Mutter, und obwohl sie nun selber bereits mit dem zweiten Kind schwanger war, war sie von frühmorgens bis zum späten Abend auf den Beinen, um diesen großen Haushalt zu führen. Neben Großvater Franz, Tante Mechthild und Vater lebten noch vier meiner Geschwister zu Hause, zwei davon mit eigener Familie. Peter, der drittälteste meiner Brüder, hatte ebenfalls geheiratet und mit seiner Frau einen Sohn, den wir alle sehr liebhatten und verhätschelten. Und dann waren da noch Lukas und Matthias, Letzterer nicht mehr gar so ein Quälgeist wie früher. Jedenfalls nicht für mich – er konzentrierte sich jetzt auf seine Nichten und Neffen, die ihm vollkommen wehrlos ausgeliefert gewesen wären, wenn ich nicht ein Auge auf sie gehabt und sie verteidigt hätte.
Mit dreizehn fuhr ich nach Simmern. Ich sang im Chor unserer Kirche, und weil ich eine so schöne Stimme hatte, durfte ich, als eines Tages ein Bischof die Kreisstadt besuchte, mit anderen Kindern aus dem Hunsrück an einer Aufführung zu Ehren des hohen Gastes teilnehmen. Simmern war die größte Stadt weit und breit, sogar ein Schloss gab es dort, und nachdem ich ja bereits in Gemünden gewesen war, fühlte ich mich angesichts dieser weiteren »großen« Reise endgültig wie jemand, der für das Leben innerhalb der engen Grenzen einer Dorfgemeinschaft nicht geschaffen war.
Wieder übertrieb ich maßlos in meinen Erzählungen. Dass das Schloss in Wahrheit gar keines war, sondern einfach nur ein großer Verwaltungsbau, musste ich ja keinem verraten. Ich dichtete dem Gebäude goldene Zinnen und französische Lustgärten an, und die Leute in Ahlweiler hörten mir staunend zu.
»Du bist schon so weit herumgekommen«, sagte Hildegard eines Tages zu mir, »bestimmt packt dich eines Tages das Reisefieber. Dann sind wir dir nicht mehr gut genug, und du suchst dein Glück woanders.« Sie hatte dabei so einen Ton, als wollte sie mich foppen, aber ich verstand überhaupt nicht, was daran so komisch sein sollte. Selbstverständlich würde es so kommen.
Ich wusste, dass mir ein besseres Schicksal vorherbestimmt war.
Teresa war seit über dreißig Jahren im Dienst der Familie Almeida. Sie hatte Raúl auf die Welt geholt, das einzige Kind von Dona Ana Luisa und Senhor Carlos António. Sie hatte den tragischen Tod des jungen Ehepaares während eines Brandes miterlebt, und sie hatte den verwaisten Jungen seitdem nie wieder aus den Augen gelassen. Sie wich nicht von seiner Seite, weder als er von seiner Tante nach Porto Alegre geholt wurde noch als er für einige Jahre nach Rio de Janeiro gegangen war, um sich dort bei einem namhaften englischen Gelehrten in Ökonomie unterrichten zu lassen.
Längst war sie für den nunmehr 29-Jährigen zu einer Ersatzmutter geworden, auch wenn er sie weiterhin duzte und sie ihn mit »Senhor Raúl« ansprach. Das war nur eine Angewohnheit, die nichts an den Gefühlen änderte, die sie füreinander hegten. Denn dass Raúl sie ebenso sehr liebte wie sie ihn, davon war sie überzeugt. Als er ihr eines Tages eröffnet hatte, sie sei ein freier Mensch und könne hingehen, wohin es ihr beliebe, hatte sie ihm eine schallende Ohrfeige gegeben.
Ob sie auf dem Papier als Freie galt oder nicht, war ihr herzlich egal. »Senhor Raúl, bezeichnen Sie mich ruhig weiter als Ihre Sklavin. Das ist mir viel lieber, und es entspricht auch mehr den Tatsachen, als wenn Sie mich ›Haushälterin‹ nennen. Ich finde, das klingt so ... unecht.« Raúl gab ihr insgeheim recht. So oder so: Teresas Status im Haushalt Almeida war unantastbar.
Als am 20. März 1827 die Zeitungen geliefert wurden – eine regionale sowie eine aus der Hauptstadt – dankte Teresa dem lieben Gott dafür, dass der Briefträger ausnahmsweise einmal so früh dran war. Sie wollte gerade die Scheiben der Vitrine im Salon polieren und hatte festgestellt, dass der Papiervorrat zu Ende ging, als sie aus dem Fenster den Postboten sah. Sie rief nach dem ihr untergeordneten Dienstmädchen und wies es an, die Post hereinzuholen.
Der neue Papierstapel kam ihr sehr gelegen. Sie hatte keinerlei Hemmungen oder Zweifel, ob sie sich an den Zeitungen vergreifen durfte, bevor Raúl sie in der Hand gehabt hatte. Sie kannte Raúls Lesegewohnheiten genau. Den Teil mit den Kleinanzeigen konnte sie guten Gewissens nehmen, den legte er immer als Erstes ungelesen zur Seite. An den Kulturteilen hatte er ein ähnlich geringes Interesse, die blätterte er bestenfalls kurz durch und überflog die Überschriften. Im Notfall würde sie also auch davon noch die eine oder andere Seite für ihre Reinigungsaktion stibitzen.
Teresa konnte weder lesen noch schreiben. Doch Raúl hatte ihr so oft Nachrichten vorgelesen, dass sie wusste, wie die einzelnen Teile aussahen beziehungsweise wo sie sich befanden. Die Annoncen waren gut daran zu erkennen, dass es sich um sehr viele kleine Notizen handelte, meist von einem schwarzen Rahmen begrenzt. Im Wirtschaftsteil waren immer Zahlenkolonnen abgedruckt, Politik befand sich auf den ersten Seiten, die Ergebnisse der Pferdewetten ziemlich weit hinten. Im Kulturteil der überregionalen Zeitung, des »Jornal do Comércio«, gab es immer eine Karikatur, deren Witz Teresa nie recht verstand, aber über die Raúl oft lauthals lachte, während im Kulturteil ihrer lokalen Zeitung, dem »Jornal da Tarde«, meistens Gedichte von Lesern abgedruckt waren, über die Raúl noch lauter lachte und die an ihrer äußeren Form leicht zu erkennen waren. Es bestand also nicht die Gefahr, dass sie, Teresa, sich versehentlich eine Seite schnappte, die ihr Dienstherr vermissen würde.
Doch genau an diesem Tag hatte die junge Sklavin Aninha, die Teresa im Haus zur Hand ging, die Zeitungen beim Hereinholen so ungeschickt gegriffen, dass einige Seiten herausgefallen waren. Diese hatte das Mädchen dann schnell aufgehoben und wieder irgendwo in den Stapel geschoben. Sie ahnte nicht, dass sie damit die gewohnte Ordnung innerhalb der Zeitung durcheinanderbrachte.
Genauso wenig ahnte Teresa, dass sie die Vitrinenscheiben mit einer Seite der Lokalnachrichten säuberte – einer Seite, die normalerweise kaum Spannenderes bot als Nachrichten über die örtlichen Honoratioren oder Notizen über die zunehmende Anzahl von Unfällen mit Pferdekutschen.
Außer an diesem 20. März 1827.
Noch immer war ihr Erinnerungsvermögen stark beeinträchtigt. Sie vergaß ständig alles, was man ihr sagte, und das war aufgrund der Verständigungsschwierigkeiten ohnehin wenig genug. Aber warum, verflucht noch mal, hatte sie schon wieder den Namen der Negerin vergessen? Und wie hatte sich noch einmal der düster dreinschauende Mann vorgestellt? Es gab nur zwei Dinge, an die die junge Frau sich sehr deutlich erinnerte: An ihren eigenen Namen, Menina. Und an das Datum, das der Mann ihr notiert hatte.
Sie glaubte weiterhin, dass man hier üble Späße auf ihre Kosten trieb. Es konnte nicht März sein. Es herrschten Temperaturen von annähernd 40 Grad – oder empfand sie es nur so, weil sie vielleicht fiebrig war? Nein, nein, draußen war ja auch alles üppig grün, wie im Hochsommer. Wie schon so oft in den letzten Tagen stand sie auf, um ans Fenster zu treten. Ihre Schwindelgefühle hatten deutlich nachgelassen. Ihr Kopf schmerzte zwar noch immer bei der geringfügigsten Bewegung, aber es war auszuhalten. Sie öffnete das Fenster und atmete tief ein. Die Luft war erfüllt von einem schweren, erdigen Duft, den sie als köstlich empfand. Es hatte in der Nacht zuvor heftig geregnet, und der von der Erde aufsteigende Dampf war so aufgeladen mit dem intensiven Geruch der Natur, dass sich ihr Herz verkrampfte. Was hatte das zu bedeuten? Machte der Duft sie glücklich? Oder löste er eine traurige Empfindung aus, die noch nicht in ihr Bewusstsein vorgedrungen war? Fest stand, dass der Duft an etwas in ihrem Innersten rührte. Ebenso fest stand, dass ihr der Anblick, der sich ihr von dem schlichten Schiebefenster aus bot, nicht fremder hätte vorkommen können.
Was waren das alles für merkwürdige Gewächse? Sträucher mit großen, fünfblättrigen roten Blüten; langgereckte Bäume mit flacher Krone, an deren Stämmen riesenhafte birnenförmige Früchte baumelten; Nadelhölzer, deren Äste sich in eigenartiger Geometrie über mehr als zehn Meter weit spannten? Außer dem Gras, das die Erde bedeckte, kannte sie keine dieser Pflanzen.
Die junge Frau kam sich vor wie in einem wirren Traum, der nach dem Aufwachen einen schalen Nachgeschmack hinterließ. Kein Alptraum, kein schöner Traum – einfach nur eine Aneinanderreihung von Bildern, die man nicht zuordnen konnte, in denen sich keine tiefere Bedeutung ausmachen ließ und die ein befremdliches Gefühl auslösten, das man bei der morgendlichen Körperreinigung mitsamt dem Schlaf in den Augen wegwusch.