Das Lied des Propheten - Paul Lynch - E-Book

Das Lied des Propheten E-Book

Paul Lynch

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Beschreibung

»Wenn es so etwas wie ein zentrales Buch für unsere Zeit gibt, dann ist es dieses. Brillant und Eindringlich« The Observer An einem regennassen Abend in Dublin öffnet die Wissenschaftlerin und vierfache Mutter Eilish Stack ihre Haustür und steht zwei Beamten der neu gegründeten irischen Geheimpolizei gegenüber. Sie sind gekommen, um ihren Mann Larry, einen bekannten Gewerkschafter, zu verhören. Kurz nach dieser Begegnung verschwindet Larry, und sehr schnell beginnen die Dinge in Eilishs Welt aus dem Ruder zu laufen. Irland befindet sich in der Gewalt einer Regierung, die auf dem Weg in die Tyrannei ist. Eilish findet sich in der alptraumhaften Logik einer kollabierenden Gesellschaft wieder, angegriffen von unsichtbaren Kräften, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Sie ist gezwungen, alles zu tun, um ihre Familie zu schützen und alle zusammenzuhalten. Wie soll sie ihren Kindern erklären, was passiert ist, wenn sie nach dem Vater fragen? Wie wird ihr eigener zunehmend dementer Vater auf die gravierenden Veränderungen seines Alltags reagieren? Und wie weit wird Eilish selbst gehen, um sich und ihre Familie zu retten? »Das Lied des Propheten« ist ein atemloses Porträt einer Familie am Rande der Katastrophe, das stilistisch und emotional seinesgleichen sucht. Paul Lynchs meisterhafter Roman ist das Buch der Stunde – und ein Appell, die entstehenden autoritären Regime der Gegenwart zu bekämpfen. »Einen Triumph des emotionalen Erzählens, mutig und anregend« Booker Prize Jury »Ein wichtiges und unvergessliches Leseerlebnis.« The Guardian »Einer der erschütterndsten und provokativsten Romane, die ich seit langem gelesen habe.« Scotsman »Paul Lynch ist einer der meistgefeierten irischen Schriftsteller seiner Generation und ›Das Lied des Propheten‹ ist Irlands ›1984‹.« Telegraph »Ein Meisterwerk« Big Issue »Erschreckend plausibel« Irish Times

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Seitenzahl: 427

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Dies ist der Umschlag des Buches »Das Lied des Propheten« von Paul Lynch, Eike Schönfeld

Paul Lynch

Das Lied des Propheten

Roman

Aus dem Englischen von Eike Schönfeld

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Prophet Song« im Verlag Oneworld, London

© Paul Lynch, 2023

Für die deutsche Ausgabe

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Anzinger und Rasp Kommunikation GmbH, München unter Verwendung des Originalentwurfs © Design by Jack Smyth for Oneworld Publications

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-98822-2

E-Book ISBN 978-3-608-12327-2

Für Anna, Amelie und Elliot

Was ist’s, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist’s, das man getan hat? Eben das man hernach wieder tun wird; und geschieht nichts Neues unter der Sonne.

– Prediger 1, 9

In den finsteren Zeiten,Wird da auch gesungen werden?Da wird auch gesungen werden.Von den finsteren Zeiten.

– Bertolt Brecht

1

Die Nacht ist angebrochen, und sie hat das Klopfen nicht gehört, sie steht am Fenster und schaut in den Garten. Wie das Dunkel lautlos die Kirschbäume einbringt. Es bringt die letzten Blätter ein, und die Blätter widersetzen sich dem Dunkel nicht, sie nehmen das Dunkel wispernd an. Müde nun, der Tag fast hinter ihr, was alles noch getan werden muss vorm Schlafengehen, die Kinder friedlich im Wohnzimmer, das Gefühl von einem Weilchen Ruhe an der Scheibe. In den dämmernden Garten schauen und dann der Wunsch, mit diesem Dunkel eins zu sein, hinauszutreten und in ihm zu liegen, mit den fallenden Blättern zu liegen und die Nacht vergehen zu lassen, im Frühlicht zu erwachen und am Morgen dann erneuert aufzustehen. Doch da, das Klopfen. Sie hört, wie es ins Denken dringt, das harte, beharrliche Hämmern, ein jedes Klopfen so voll vom Klopfenden erfüllt, dass sie die Stirn runzelt. Dann klopft auch Bailey an die Glastür zur Küche, er ruft nach ihr, Mam, zeigt in den Flur, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Eilish, das Baby auf dem Arm, sieht ihren Körper zur Diele gehen, sie öffnet die Haustür, da stehen zwei Männer vor der Scheibe des Vorraums, fast gesichtslos in dem Dunkel. Sie macht das Licht im Vorraum an, und sogleich geben sich die Männer durch ihre Haltung zu erkennen, als sie die Tür des Vorraums aufschiebt, ist es wie ein Seufzen der nachtkalten Luft, der Vorstadtstille, der Regen fällt fast stillschweigend auf die St. Laurence Street, auf den schwarzen Wagen, der vor dem Haus steht. Wie die Männer das Gefühl der Nacht zu umhüllen scheint. Sie betrachtet sie aus ihrem Beschützerinstinkt heraus, der junge Mann links fragt, ob ihr Mann zu Hause ist, und etwas liegt in der Art, wie er sie ansieht, der entrückte und doch forschende Blick, als wollte er nach etwas in ihr greifen. Rasch hat sie die Straße zu beiden Seiten abgesucht, hat einen einsamen Spaziergänger mit Hund unterm Schirm gesehen, die Weiden, wie sie dem Regen zunicken, das Flackern eines großen Fernsehers bei den Zajacs gegenüber. Dann fasst sie sich, lacht beinahe, der übliche Schuldreflex, wenn die Polizei vor der Tür steht. Nun windet sich Ben in ihren Armen, und der ältere Zivilbeamte zu ihrer Rechten betrachtet das Kind, sein Gesicht scheint weich zu werden, also wendet sie sich an ihn. Sie weiß, auch er ist Vater, derlei Dinge weiß man immer, der andere da ist viel zu jung, zu adrett und hartleibig, und als sie spricht, bemerkt sie ein jähes Stocken in der Stimme. Er kommt bald nach Hause, in etwa einer Stunde, möchten Sie, dass ich ihn anrufe? Nein, das wird nicht nötig sein, Mrs. Stack, würden Sie ihm sagen, wenn er nach Hause kommt, er möchte uns schnellstmöglich anrufen, hier ist meine Karte. Bitte, sagen Sie doch Eilish, kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen? Nein, leider nicht, Mrs. Stack, es betrifft Ihren Mann. Der ältere Zivilbeamte lächelt breit das Kind an, und einen Augenblick lang betrachtet sie die Runzeln um seinen Mund, ein Gesicht, von tiefem Ernst geprägt, für diesen Beruf das falsche. Sie müssen sich keine Sorgen machen, Mrs. Stack. Warum sollte ich mir Sorgen machen, Garda? Ja eben, Mrs. Stack, wir möchten Ihre Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen, wir sind ja auch schon klamm genug, jetzt am Abend noch Besuche machen, wird schwer, uns mit der Autoheizung wieder trocken zu kriegen. Sie schiebt die Vorraumtür zu, die Karte in der Hand, sieht den beiden Männern nach, wie sie zu ihrem Wagen gehen, sieht den Wagen wegfahren, vor der Kreuzung bremsen, die Heckleuchten aufflammen gleich dem Blick zweier strahlender Augen. Noch einmal schaut sie auf die Straße, auf der wieder Abendstille eingekehrt ist, die Wärme von der Diele, als sie wieder hineingeht und die Haustür schließt, sie steht noch kurz da, betrachtet die Karte und merkt, dass sie den Atem angehalten hat. Das Gefühl nun, dass etwas ins Haus gekommen ist, sie will das Baby ablegen, sie will dastehen und überlegen, verstehen, wie es sich mit den beiden Männern verhielt und es unaufgefordert in die Diele kam, etwas Formloses und dennoch Wahrgenommenes. Sie spürt, wie es neben ihr her schleicht auf ihrem Gang durchs Wohnzimmer vorbei an den Kindern, Molly hält die Fernbedienung über Baileys Kopf, seine Hände fuchteln in der Luft, flehend sieht er zu ihr her. Mam, sag ihr, sie soll wieder meine Sendung machen. Eilish schließt die Küchentür und legt das Kind in die Wippe, will ihren Laptop und den Terminkalender vom Tisch räumen, hält aber inne und schließt die Augen. Das Gefühl, das da ins Haus kam, ist ihr gefolgt. Sie schaut nach ihrem Handy und nimmt es, die Hand zögert, sie schickt Larry eine Nachricht, steht dann wieder am Fenster und blickt hinaus. Der dunkelnde Garten birgt keine Wünsche mehr, denn etwas von diesem Dunkel ist ins Haus gekommen.

Larry Stack läuft im Wohnzimmer umher, die Karte in der Hand. Stirnrunzelnd starrt er darauf, legt sie dann auf den Couchtisch, schüttelt den Kopf, lässt sich wieder in den Sessel fallen, fasst sich in den Bart, wobei sie ihn stumm beobachtet, ihn auf die vertraute Art taxiert, ab einem gewissen Alter lässt sich ein Mann einen Bart wachsen, nicht um zum Mann zu werden, sondern um sich von seiner Jugend abzugrenzen, sie kann ihn sich kaum noch glattrasiert vorstellen. Sie sieht zu, wie seine Füße nach den Schlappen tasten, wie sein Gesicht glatt wird, da er im Sessel sitzt, anscheinend denkt er an etwas anderes, bis seine Stirn sich strafft und das Gesicht sich zunehmend verfinstert. Er beugt sich vor und nimmt die Karte wieder. Wahrscheinlich ist das nichts weiter, sagt er. Sie lässt das Kind auf dem Schoß reiten, betrachtet ihn genau. Sag, Larry, wie kann das nichts weiter sein? Seufzend fährt er sich mit dem Handrücken über den Mund, steht auf und sucht etwas auf dem Tisch. Wo hast du denn die Zeitung hingetan? Er läuft durchs Zimmer, schaut, ohne zu sehen, die Zeitung könnte schon vergessen sein, er sucht etwas im Schatten seines Denkens, kann es aber nicht bestimmen. Dann wendet er sich seiner Frau zu, betrachtet sie, wie sie dem Kind die Brust gibt, ein Anblick, der ihn tröstet, Lebenssinn auf ein Bild kondensiert, in solchem Widerspruch zu Bosheit, dass er allmählich ruhiger wird. Er geht zu ihr, hält ihr die Hand hin, zieht sie aber zurück, als sie ihn scharf ansieht. Das Garda National Services Bureau, sagt sie, das GNSB, das ist nicht die übliche Truppe, ein Detective Inspector vor unserer Tür, was wollen die von dir? Er zeigt an die Decke, würdest du wohl leise sein? Er geht in die Küche, auf den Zähnen kauend, dreht ein Glas vom Abtropfbrett um und lässt Wasser hineinlaufen, schaut an seinem Spiegelbild vorbei ins Dunkel, die Kirschbäume sind alt und werden bald faulen, im Frühjahr müsste man sie wohl fällen. Er trinkt lange Schlucke und geht wieder ins Wohnzimmer. Hör zu, sagt er, achtet dabei fast auf seine Stimme, senkt sie zu einem Flüstern. Das wird nichts weiter sein, da bin ich mir ziemlich sicher. Beim Sprechen merkt er, wie seine Gewissheit abfällt, als hätte er sich das Wasser in die Hände gegossen. Sie sieht zu, wie er sich wieder in den Sessel sinken lässt, der Körper fügsam, die Hand zappt wie automatisch die Kanäle durch. Er sieht zu ihr hin wie eingesperrt von ihrem Blick, beugt sich dann seufzend vor, zieht an seinem Bart, als wollte er ihn vom Gesicht abheben. Sieh mal, Eilish, du weißt doch, wie die vorgehen, worauf sie aus sind, die sammeln Informationen, und das diskret, und so oder so wird man sie ihnen wohl geben müssen, bestimmt tragen sie Material gegen einen Lehrer zusammen, es läge also nahe, dass sie mit mir sprechen wollen, uns schon mal vorwarnen, vielleicht vor einer Verhaftung, pass auf, ich ruf sie morgen oder übermorgen an und frag sie, was sie wollen. Sie mustert sein Gesicht, spürt ein Nichts im Zentrum ihres Seins, Geist und Körper wollen die Vorherrschaft des Schlafs, gleich wird sie nach oben gehen und in ihr Nachthemd schlüpfen, die Stunden zählen, bis das Baby aufwacht, um gestillt zu werden. Larry, sagt sie und sieht, wie er zurückzuckt, als hätte sie in seine Hände Strom geleitet. Die haben gesagt, du sollst sie schnellstmöglich anrufen, ruf sie jetzt gleich an, die Nummer steht auf der Karte, zeig ihnen, dass du nichts zu verbergen hast. Er runzelt die Stirn, dann holt er langsam Luft, wie um etwas einzuschätzen, das vor ihm aufragt, schaut ihr dann voll ins Gesicht, die Augen schmal vor Zorn. Wie meinst du das, ich soll ihnen zeigen, dass ich nichts zu verbergen habe? Du weißt, was ich meine. Nein, das weiß ich nicht. Ach, das sagt man doch nur so, Larry, bitte ruf sie jetzt gleich an. Warum bist du immer so verdammt schwierig, sagt er, also um diese Zeit ruf ich die nicht an. Larry, bitte, mach es jetzt, ich will nicht, dass das GNSB noch mal bei uns aufkreuzt, du weißt doch, was geredet wird, was seit ein paar Monaten alles los sein soll. Larry beugt sich in dem Sessel vor, scheinbar außerstande aufzustehen, dann geht er stirnrunzelnd zu ihr und nimmt ihr das Baby aus den Armen. Eilish, bitte, hör mir nur einen Augenblick zu, Respekt ist etwas Gegenseitiges, die wissen, dass ich sehr beschäftigt bin, ich bin der stellvertretende Generalsekretär der Lehrergewerkschaft Irlands. Ich springe nicht über jedes Stöckchen, das sie mir hinhalten. Das ist ja alles gut und schön, Larry, aber warum sind die um diese Zeit zu uns gekommen und nicht tagsüber in dein Büro, sag mir das mal. Hör zu, Schatz, ich ruf sie morgen oder übermorgen an, und können wir das jetzt mal über Nacht ruhen lassen? Sein Körper steht weiterhin vor ihr, doch sein Blick ist auf den Fernseher gerichtet. Es ist neun Uhr, sagt er, ich will die Nachrichten sehen, warum ist Mark noch nicht zu Hause? Sie schaut zur Tür hin, die Hand des Schlafs greift um ihre Taille, sie geht zu Larry und nimmt ihm sachte das Baby aus den Armen. Ich weiß es nicht, sagt sie, ich hab’s aufgegeben, ihm hinterherzulaufen, heute Abend hatte er Fußballtraining, wahrscheinlich hat er was bei einem Freund gegessen, vielleicht ist er auch noch zu Samantha, in letzter Zeit sind die ja unzertrennlich, ich weiß schlicht nicht, was er an ihr findet.

Auf der Fahrt durch die Stadt ist sein Ärger über sich gewachsen, wie das Denken hierhin und dorthin schweift, gegen etwas drückt, wonach er sucht, wovon er aber auch abrücken will. Die Stimme am Telefon war so sachlich, fast schon höflich, ich entschuldige mich für die späte Stunde, Mr. Stack, wir werden Ihre Zeit nicht allzu lange in Anspruch nehmen. Er parkt in einer Gasse nahe der Garda-Wache in der Kevin Street, überlegt, wie die Hauptstraße an den meisten Abenden war, ganz sicher belebter, überhaupt ist die Stadt seit einer Weile viel zu ruhig geworden. Er merkt, wie er auf dem Weg zum Empfang die Zähne zusammenbeißt und den Mund dann zu einem Lächeln lockert, dabei an die Kinder denkt, bestimmt wird Bailey wissen, dass er noch weg ist, das Kind kriegt ja alles mit. Er betrachtet die blasse, fleckige Hand eines Diensthabenden, der unhörbar in ein Telefon spricht. Ein junger Detective kommt zu ihm, dürr und flott in Hemd und Krawatte, das Gesicht wächsern und korrekt, die Stimme entspricht der des vorigen Sprechers. Danke, dass Sie gekommen sind, Mr. Stack, wenn Sie mir folgen wollen, wir bemühen uns, Ihre Zeit nicht allzu sehr in Anspruch zu nehmen. Er folgt ihm eine Metalltreppe hinauf und weiter durch einen Korridor mit geschlossenen Türen, wird in ein Verhörzimmer mit grauen Stühlen und grau getäfelten Wänden gewiesen, in dem alles neu aussieht, dann geht die Tür zu, und er ist allein. Er setzt sich und starrt auf seine Hände. Er liest in seinem Handy, dann steht er auf und läuft im Zimmer herum, überlegt, wie man ihn in die Defensive gedrängt, ihm mangelnden Respekt erwiesen hat, es ist weit nach 22.00 Uhr. Als sie den Raum betreten, löst er die Arme, zieht sich langsam einen Stuhl heran und setzt sich, betrachtet den schmalen Beamten von vorhin und einen weiteren seines Alters, der füllig wird, in der Hand eine Tasse, darauf ein Film aus Kaffeeflecken. Der Mann beäugt Larry Stack mit dem Anflug eines Lächelns, vielleicht ist es auch nur Leutseligkeit, die in seinen Mundwinkeln ruht. Guten Abend, Mr. Stack, ich bin Detective Inspector Stamp und das ist Detective Burke, kann ich Ihnen vielleicht einen Tee oder Kaffee anbieten? Mit einem Blick auf den schmutzigen Becher hebt Larry ablehnend die Hand, mustert dabei das Gesicht des Sprechenden, sucht nach einem Bild, das er zu kennen meint. Ich hab Sie schon mal gesehen, sagt er, Fußball in Dublin, nicht, Sie haben bei UCD im Mittelfeld gespielt, Sie müssten mir dann gegen die Gaels begegnet sein, wir waren damals eine Macht, das war das Jahr, in dem wir Sie vom Platz gefegt haben. Der Detective Inspector starrt ihm ins Gesicht, die Runzeln um seinen Mund sind eingefallen, der Blick nun dunkel, eine unergründliche Stille erfüllt das Zimmer. Er spricht, ohne den Kopf zu schütteln. Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Larry nimmt nun seine Stimme wahr, er hört sie, wenn er spricht, als wäre auch er im Zimmer und verfolgte die Befragung, sieht sich von der anderen Seite des Tischs her, sieht, wie er durch das Guckloch in der Tür zuschaut, anders kann man gar nicht hereinsehen, nicht einmal durch einen Einwegspiegel, wie man ihn im Fernsehen sieht. Er hört, dass seine Stimme falsch geworden ist, vielleicht ein wenig zu geschwätzig. Das waren Sie, ganz bestimmt, Sie haben bei UCD im Mittelfeld gespielt, ich vergesse nie einen Gegner. Der Beamte trinkt einen Schluck aus seinem Becher, lässt den Kaffee gegen die Zähne strömen, starrt dabei Larry an, bis Larry den Blick auf den Tisch senkt, er streicht mit dem Finger über die gekerbte Lackschicht, hebt dann wieder den Blick zu dem Detective Inspector. Sicher, die Gesichtsknochen sind kräftiger geworden, die Statur untersetzt, doch was die Augen sagen, ändert sich nie. Hören Sie, sagt er, ich möchte das hinter mich bringen, ich sollte jetzt zu Hause bei meiner Familie sein und bald zu Bett gehen, sagen Sie, wie kann ich Ihnen helfen? Detective Burke macht eine Bewegung mit der offenen Hand. Mr. Stack, wir wissen, Sie sind sehr beschäftigt, wir freuen uns daher über die Gelegenheit, mit Ihnen zu sprechen, wir haben eine Beschuldigung erhalten, die von äußerster Wichtigkeit ist, eine Beschuldigung, die Sie direkt betrifft. Larry Stack schaut in die Blicke der beiden Männer und spürt, wie sein Mund austrocknet. Etwas bewegt sich in dem Zimmer, das registriert er jetzt, einen Augenblick lang ist er starr, dann blickt er auf und sieht die gewölbte Deckenleuchte, in der eine Motte gefangen ist und zornig gegen das Glas schlägt, die bernsteingelbe Kuppel ist verdreckt und voller Mottenkadaver von früher. Detective Burke hat einen Ordner aufgeklappt, und Larry Stack sieht vor sich blutleere Priesterhände, sieht zwischen ihnen auf den Tisch gelegt ein bedrucktes Blatt Papier. Larry fängt an zu lesen, er blinzelt langsam, beißt sich dann auf die Zähne. Schritte gehen durch den langen Korridor, werden von einer zuklappenden Tür geschluckt. Er hört die dumpfen Schläge der Motte, wird sich einen Augenblick lang bewusst, dass etwas in ihm welkt. Er blickt auf und sieht, wie ihn Detective Burke auf der anderen Seite des Tischs mustert, die Augen betrachten ihn, als hätten sie die Fähigkeit, frei in seinen Gedanken zu schweifen, wollen etwas in ihm freisetzen, was nicht da ist. Larry blickt auf den Detective Inspector, der ihn nun ganz offen liest, und er räuspert sich und versucht, die beiden Männer anzulächeln. Meine Herren, Sie nehmen mich doch sicher auf den Arm? Er fixiert sie, spürt dabei, wie ihm das Lächeln vom Mund rutscht, merkt, wie er das Papier nimmt und herumschwenkt. Das ist doch der reine Wahnsinn, sagt er, warten Sie mal ab, bis die Generalsekretärin davon erfährt, sie wird sich an den Minister selbst wenden, das kann ich Ihnen sagen. Der junge Detective hüstelt listig in die Faust, blickt auf den Detective Inspector, der lächelt und dann spricht. Wie Sie sicher schon gemerkt haben, Mr. Stack, ist das für den Staat eine schwierige Zeit, wir haben Anweisung, alle Beschuldigungen, die uns erreichen, ernst zu nehmen — Was reden Sie denn da, verdammt?, sagt Larry, das ist doch keine Beschuldigung, das ist völliger Unsinn, Sie verdrehen da etwas, nehmen eine Sache und machen eine andere daraus, das sieht mir ganz so aus, als hätten Sie das selbst getippt. Mr. Stack, zweifellos haben Sie von der Notverordnung gehört, die auf die anhaltende Krise hin, mit der sich der Staat konfrontiert sieht, vergangenen September in Kraft getreten ist, Gesetze, die dem GNSB zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zusätzliche Mittel und Befugnisse zur Verfügung stellen, weswegen Sie verstehen müssen, wie das auf uns wirkt, Ihr Verhalten erscheint uns ganz wie das von jemandem, der zum Hass gegen den Staat aufstachelt, jemand, der Zwietracht und Unruhe sät – wenn die Folgen einer Handlung die Stabilität auf Staatsebene tangieren, bieten sich uns zwei Möglichkeiten, dass die handelnde Person ein Agent ist, der gegen die Interessen des Staates arbeitet, oder dass er sich seiner Handlungen nicht bewusst ist und ohne diese Absicht handelt, aber so oder so, Mr. Stack, das Ergebnis ist in beiden Fällen dasselbe, die Person dient der Sache der Staatsfeinde, und daher, Mr. Stack, ermahnen wir Sie, Ihr Gewissen zu überprüfen und sicherzustellen, dass dies nicht der Fall ist. Larry Stack schweigt lange, er schaut auf das Papier, ohne es zu sehen, dann räuspert er sich und presst die Hände zusammen. Damit ich Sie richtig verstehe, sagt er, Sie fordern mich auf, Ihnen zu beweisen, dass mein Verhalten nicht staatsgefährdend ist? Ja, das ist korrekt, Mr. Stack. Aber wie kann ich beweisen, dass das, was ich mache, nicht staatsgefährdend ist, wenn ich nur meine Arbeit als Gewerkschafter mache und dabei mein verfassungsmäßiges Recht ausübe? Das liegt bei Ihnen, Mr. Stack, es sei denn, wir beschließen, dass dies weitere Ermittlungen erfordert, dann wird es nicht mehr bei Ihnen liegen, dann entscheiden wir. Larry merkt, wie er vom Stuhl aufsteht, dabei die Knöchel auf den Tisch drückt. Was er in dem Gesicht sieht, ist Wille, und er erkennt, dass man ihn hergebracht hat, um ihn an diesem Willen zu brechen, dieser Wille ist nur das Zwangsmittel einer Absolutheit, die die Macht hat, aus einem Ja ein Nein und aus einem Nein ein Ja zu machen. Ich möchte das ganz klarstellen, sagt er, der Minister wird davon erfahren, dann wird es Ärger geben, Sie können keinem leitenden Gewerkschafter drohen, damit er seine Arbeit nicht macht, die Lehrer dieses Landes haben das Recht, über bessere Bedingungen zu verhandeln und friedliche Streiks durchzuführen, und das hat nichts mit dieser sogenannten Krise zu tun, mit der sich der Staat konfrontiert sieht, und wenn Sie nichts dagegen haben, gehe ich jetzt nach Hause. Der zweite Detective öffnet langsam den Mund, und Larry ist fast sicher, dass er es sieht, er denkt darüber nach, als er zum Wagen geht, noch lange darin sitzt und zusieht, wie seine Hände im Schoß beben. Wie es schien, als flöge die Motte aus dem Mund des Beamten heraus.

Erst Ben in die Krippe, dann die Kinder zur Schule, Molly steigt aus der Beifahrertür des Touran, Kopfhörer auf, Bailey knallt die hintere Tür zu. Eilish blickt über die Schulter auf ihn, wie er pointillistisch an der Scheibe steht und an der Kapuze seines Parka zieht. Sie will schon losfahren, als eine Hand ans Fenster knallt, Molly schreit, sie soll stehenbleiben, die Tür geht auf und Molly packt ihre Sporttasche vom Boden und ist weg. Dieses Winterlicht, eine kalte Novemberschmiere, sie rollt durch den Verkehr, spürt ihre seelische Erschöpfung, die Bewegungen automatisch, vor einer roten Ampel sieht sie nicht den Tag vor ihr, sondern wie er ohne Eindrücke vergehen wird, wieder ein Tag vergessen und aufgesogen in die stumme Abrechnung der Tage, sieht sich bei der Arbeit und wie sie ihre Arbeit nicht mehr als Karriere betrachtet – die reale Arbeit einer Mikrobiologin heißt, lange Stunden am Labortisch stehen und nach Beweisen suchen, Hypothesen an der Realität austesten, daran, was ein Einzelner je glauben wollte, die Antwort, richtig oder falsch, liegt im Ergebnis. Jetzt verbringt sie ihre Tage mit E-Mails und am Telefon, die Spezialistin ist zur Generalistin ohne weißen Kittel geworden, Personal regeln, bei Meetings zerstreut, falsche Fragen stellend. Sie setzt sich an ihren Schreibtisch, schaut in ihre E-Mails, verlegt ein Telefonat auf 17.30 Uhr. Sie holt ihr Handy und ruft Larry an. Hast du die Passformulare ausgefüllt, wie ich dich gebeten habe?, sagt sie. Hör mal, Schatz, ich bin immer noch ein bisschen durch den Wind, ich krieg’s nicht aus dem Kopf. Er spricht, als wäre die Luft im Schlaf aus ihm gewichen, beim Aufwachen war er eingeschrumpft, wie er da auf der Bettkante saß und auf den Boden starrte. Hast du’s ihnen bei der Arbeit gesagt?, sagt sie. Sie hört, wie er kurz mit einem Kollegen spricht, die Hand überm Handy. Ich hab sie oben auf den Schreibtisch gelegt. Was oben auf den Schreibtisch gelegt? Die Passformulare. Larry, ruf doch mal Sean Wallace an und sprich mit ihm, Notverordnung hin oder her, in diesem Land gibt’s immer noch Verfassungsrechte. Ich will das direkt bei der Generalsekretärin vorbringen, aber sie ist heute nicht da, ein Virus. Sag, führt Sean immer noch sein junges Ding da vor? Sean Wallace steckt gerade bis über die Ohren in diesem Fitzgerald-Prozess, ich will ihn jetzt nicht stören, aber sag, wer kocht heute Abend? Ich finde trotzdem, du sollst ihn anrufen, heute Abend bist du dran mit Kochen. Schön, ich hab um 18.30 Uhr eine Besprechung, aber die sag ich ab, mir ist nicht danach. Larry. Was, Schatz? Ach, nichts, ich habe gestern Hack gekauft, du kannst Burger machen, aber jetzt muss ich los. Sie beendet das Gespräch, hält aber noch kurz das Handy in der Hand, spürt einen Groll. Sie blickt auf das Handy, verfolgt das Gespräch zurück, folgt ihrer Stimme in Larrys Handy, das Signal muss zu Larrys Handy übertragen werden, es wird empfangen und durch einen Transmitter übertragen. Auf einmal hört sie ihre Stimme, als horchte sie auf sich selbst in einem anderen Zimmer. Sprich mit ihm, Notverordnung hin oder her, in diesem Land gibt’s immer noch Verfassungsrechte. Plötzlich ist ihr kalt, sie steht abrupt auf, geht in die Büroküche, denkt, in anderen Ländern, ja, aber wir hier haben nicht dieses Theater, die Gardaí, der Staat, die dürfen gar keine Gespräche abhören, das gäbe einen Aufstand. Sie denkt an den Wagen, der letzten Abend vor dem Haus stand, sie denkt an das GNSB und das Geraune, das sie gehört hat, was im Gange sein soll, und als sie nun zur Küche geht, ist ihr kurz, als würde sie das Zimmer gar nicht kennen. Paul Felsner, der neue globale Kundenmanager, steht an der Kaffeemaschine und zieht die Hemdmanschette vor. Die Maschine beendet mit einem leisen Klack ihr Surren, worauf er sich umdreht und lächelt, ohne dass das Lächeln seine Augen erreicht. Oh, Eilish, ich hatte gehofft, Sie zu sprechen, Sie haben gar nicht auf meine Sprachnachricht geantwortet, die mussten das Videogespräch mit Asakuki auf 18 Uhr verschieben. Sein Gesicht hat etwas Falsches, denkt sie, die Augen müssten doch dunkel sein, aber sie sind grün, und da wird ihr Blick von dem runden Parteiabzeichen der National Alliance am Revers angezogen, der NAP, diesem neuen Staatsemblem. Wieder schaut sie auf seine Hände, sie sind ein wenig zu klein. Ach, hab ich gar nicht gesehen, sagt sie, leider werde ich das Gespräch nicht machen können, aber danke fürs Bescheidsagen.

Am Strand ist ein blaues Pferd, es kommt zu ihr, jetzt reitet sie am Wasser entlang und sie ist alterslos, reitet im Licht, unten im Flur klingelt das Telefon, sie reitet aus ihrem Traum ins Zimmer. Larry sitzt auf der Bettkante und reibt sich die Augen. Herrgott, flüstert sie, es ist Viertel nach eins, wer ruft denn um diese Zeit an? Hoffentlich nicht deine Schwester, sagt er. Er beugt sich vor, geht dann zur Tür und greift nach einem Schatten, der sich als Morgenmantel öffnet. Füße in Schlappen tappen die Treppe hinab, sie liegt da und horcht auf Bens Atem in dem Bettchen, aus dem Jungszimmer nebenan ein ersticktes Husten. Larrys gedämpfte Worte wehen herauf, kommen formlos ins Zimmer, und sie fragt sich, wer da wohl anruft, denkt an ihre Schwester Áine in Toronto, einmal ist es passiert, Jahre her, o Gott, tut mir so leid, Schwesterchen, ich hab die Zeitzonen verwechselt, hab ein bisschen was getrunken. Sie schließt die Augen und sucht das blaue Pferd am Strand, sucht es in der Erinnerung, wie alt warst du da? Es ist Winter, der Himmel tief überm Meer, sie geht mit den Fersen in die Flanken, die schaudernde Vitalität unter ihr, Larrys Gewicht drückt neben ihr die Matratze nieder. War gerade wieder am Einschlafen, sagt sie. Er sagt nichts, sondern starrt auf die Wand und wirkt bleiern, der Atem mühsam, sie fasst ihn am Arm, drückt. Was ist, Larry? Sie macht die Lampe an und setzt sich auf, das streichelnde Licht hat ihn zum Kind gemacht, sein Blick bestürzt, fragend, als er sich räuspernd zur ihr hindreht. Das war Carole Sexton, Jims Frau, sie war fast hysterisch am Telefon, Jim hat gestern das Büro verlassen und ist nicht nach Hause gekommen. Sonst nichts, Larry, ich hatte schon Angst, du sagst, jemand ist gestorben. Hör zu, Eilish, sie hat gesagt, sie haben ihn mitgenommen. Wer hat ihn mitgenommen? Was glaubst du wohl, das GNSB. Das GNSB? Ja, das hat sie gesagt. Aber das ist doch völlig abwegig, Larry, wie meint sie das, sie haben ihn mitgenommen? Wahrscheinlich verhaftet, festgenommen, anscheinend hat jemand gesehen, wie sie ihn hinten in einen Wagen gesteckt haben, aber nicht dran gedacht, es Leuten zu sagen, sie hat’s erst später erfahren, als sie rumtelefoniert hat. Jim Sexton, dieser Wichtigtuer, was hat der schon gemacht? Aber Eilish, seitdem hat niemand mehr was von ihm gehört. Aber hat er denn nicht den Gewerkschaftsanwalt verständigt, wie heißt der noch? Michael Given, nein, nichts, nicht mal seine Frau hat er angerufen. Aber man kann doch nicht einfach so jemand verhaften, ohne dass er sich einen Anwalt nimmt, da gibt’s doch Regeln. Carole sagt, Michael ist gerade in der Kevin Street, aber die schicken ihn dort von Pontius zu Pilatus, und er geht über Nacht nach Hause, anscheinend ist das GNSB telefonisch gar nicht zu erreichen, die haben gar keine direkte Nummer, ich begreife nicht, warum mich niemand von der Gewerkschaft angerufen hat, das ist ja ein richtiges Schlamassel. Das stimmt nicht. Was stimmt nicht? Auf der Karte von diesem Detective Inspector, der neulich Abend hier war, ist eine Nummer, eine Handynummer, die hast du selber angerufen, sag Larry, was ist da los? Ich weiß es nicht, Schatz, anscheinend ist er total wütend. Wer ist wütend? Michael Given. Gib sie ihm doch, die Karte. Ja, daran hab ich gar nicht gedacht, ich hol sie gleich, wo hast du sie denn hingetan? Ich hab sie auf den Kamin im Wohnzimmer gelegt, dann unter die Standuhr geschoben. Hör zu, Eilish, Carole hat gesagt, sie haben ihn letzte Woche einbestellt und ihm gesagt, gegen ihn sei eine Beschuldigung vorgebracht worden, und sie hat gesagt, er habe sie nur ausgelacht, kennst ja Jim, als er sie gefragt hat, ob er verhaftet ist, und sie es verneint haben, hat er ihnen den vollständigen Artikel 40.6.1, Absatz drei, hergesagt, mitten ins Gesicht, das Bürgerrecht, Vereinigungen und Gewerkschaften zu bilden, du kennst das ja, und dass er die Hälfte der Mittelschullehrer von Leinster mit Bussen in die Stadt karrt, wenn gestreikt wird. Ihre Hand tastet den Nachttisch ab, greift ohne hinzusehen das Glas Wasser und trinkt. Larry, wie viele von unseren Verfassungsrechten können sie mit dieser Notverordnung außer Kraft setzen? Das weiß ich nicht, nicht so viele, nicht so, alle Befugnisse, jemanden zu verhaften, unterliegen immer noch dem Gesetz, aber was ist schon das Gesetz, wenn solche Dinge passieren, hör zu, das bleibt erst mal unter uns, sag auch nichts den Kindern. Larry, um diese Zeit kannst du doch nichts tun, komm bitte wieder ins Bett.

Sie steht da und schaut in den Garten ihres Vaters. Alte Erinnerungen trampeln über nasses Laub, schaukeln am Seil, hocken in den Büschen, Stimmen rufen aus der Vergangenheit, eins zwei drei, ich komme. Sie betrachtet die Esche, die er zu ihrem zehnten Geburtstag gepflanzt hat, wie sie sich über das schmale Gartenstück erhebt. Bailey saust durchs hohe Gras und kickt Laub, Molly fotografiert die wintrigen Pflanzen. Eilish verlässt den Tisch, an dem ihr Vater sitzt, die Nase in der Zeitung, Ben schläft im Autositz zu ihren Füßen. Sie nimmt zwei Tassen und schaut hinein, fährt quietschend mit dem Finger um den Rand. Dad, sieh mal die Tassen da, stell die doch in den Geschirrspüler, du musst beim Spülen wirklich die Brille aufsetzen. Simon hebt den Blick nicht von der Zeitung. Ich habe die Brille jetzt auf, sagt er. Schon, aber du musst sie auch beim Spülen aufhaben, die Tassen haben einen Teerand. Das sag mal dieser nutzlosen Putzfrau, die da kommt, als deine Mutter noch gelebt hat, gab’s in diesem Haus keine einzige schmutzige Tasse. Wie sie ihn nun ansieht, tritt sie in ihr Kindheitsgefühl, sieht ihren Vater, wie er damals war, die Adlernase und die flinken, forschenden Augen, die Gestalt, die nun im Sessel schrumpft, der Rücken rund in der Wollstrickjacke, feine Fingerknochen, die sich durch die Papierhaut drücken. Er legt die Zeitung zusammen, gießt Tee ein und trommelt mit den Fingern auf dem Tisch. Ich weiß nicht, warum ich das Ding da noch lese, sagt er, da wird doch bloß gelogen. Sie nimmt die Zeitung und einen Kuli und macht sich an das Kreuzworträtsel. Seine Finger trommeln nicht mehr, ohne hinzusehen spürt sie, wie er sie taxiert, doch als sie den Blick hebt, runzelt er die Stirn. Wer ist das da im Garten mit Eilish?, sagt er. Sie sieht kurz hinaus und fasst dann ihren Vater an der Hand. Dad, das da draußen ist Bailey mit Molly, ich sitze hier. Verwirrung streicht über sein Gesicht, dann blinzelt er und macht eine wegwerfende Handbewegung, schiebt seinen Stuhl zurück. Ja, sicher, sagt er, aber die ist genauso muffig wie du, nie sonnig wie deine Schwester. Sie betrachtet ihn nun mit einem geschmerzten Lächeln. Dann sind wir beide also genau wie du, sagt sie. Sie schaut nach Molly draußen, sieht sich im selben Körper, die Uhr im Flur schickt sich sirrend zum Läuten an, schlägt dreimal aus ihrer Kindheit. Das Mädchen hat nichts, sagt sie, sie ist eben vierzehn, weiter nichts, ein schwieriges Alter, das weiß ich noch allzu gut. Ihr Blick kehrt zum Kreuzworträtsel zurück. Amtsbezeichnungen, sagt sie, neun Buchstaben senkrecht, der fünfte ist ein G. Simon lässt das Wort Insignien heraus, als hätte es schon die ganze Zeit in seinem Mund gewartet. Sie schaut ihm ins Gesicht, freut sich für ihn, sieht seinen Truthahnhals, die Augen, die sich hinter die faltige Haut zurückziehen, aber das Hirn flutscht. Sie schenkt Tee nach, denkt, sag ihm jetzt noch nichts, betrachtet den so feingliedrigen Bailey, wogegen Mark ein Muskelpaket ist wie sein Vater. Sie blickt auf und sagt: Larry hat bei der Gewerkschaft Ärger, die Regierung will nicht, dass die TUI streikt, sie haben ihn vorgeladen, Dad, ihm mehr oder weniger gedroht, ist das zu fassen? Wer hat ihn vorgeladen? Das GNSB. Simon betrachtet sie wortlos, schaut kopfschüttelnd auf seine Finger. Larry sollte sich bei diesen Leuten vorsehen, der GNSB, die National Alliance hat sie anstelle der Special Detective Unit eingesetzt, kaum dass sie an der Macht waren, eine Woche lang gab’s Geschrei, dann hat’s sich wieder gelegt, sicher unterdrückt, hier im Staat hat’s nie eine Geheimpolizei gegeben, bis jetzt. Dad, die haben den Bezirksleiter von Leinster eingesackt, kein Anruf, kein Anwalt, er ist in Haft, die Gewerkschaft macht einen Riesenaufstand, aber das GNSB schweigt. Wann war das? Dienstagabend — Draußen kreischt Molly, sie sehen, wie sie sich windet und mit den Armen rudert und Bailey an dem alten Seil hängt und sie mit den Beinen stupst. Ein jäher, lauernder Blick ihres Vaters. Sag mal, sagt er, glaubst du an die Wirklichkeit? Dad, was soll das denn nun heißen? Das ist eine einfache Frage, du hast studiert, du verstehst, was das heißt. Wenn du’s so sagst, ja, ich weiß, was du meinst, aber verschone mich mit deinem Vortrag. Er schaut kurz aufs Sideboard, auf dem sich gilbende Zeitungen stapeln, eselsohrige Nachrichtenmagazine, das alte Lächeln entblößt die Zähne. Wir sind doch beide Wissenschaftler, Eilish, wir stehen in einer Tradition, aber Tradition ist doch nichts weiter als das, worauf sich alle einigen können – die Wissenschaftler, die Lehrer, die Institutionen, und wenn du den Besitz der Institutionen ändern kannst, dann kannst du auch den Besitz der Tatsachen ändern, du kannst die Struktur des Glaubens ändern, das, worin man einig ist, denn genau das machen sie doch, Eilish, es ist eigentlich ganz einfach, die NAP versucht zu verändern, was du und ich Wirklichkeit nennen, sie wollen sie verschmutzen wie Wasser, wenn du sagst, eine Sache ist eine andere, und du sagst es oft genug, dann ist es auch so, und wenn du es immer und immer wieder sagst, dann akzeptieren die Leute es als wahr – ein alter Gedanke, natürlich, wirklich neu ist das nicht, aber du siehst, wie es zu deiner Zeit passiert und nicht in einem Buch. Sie sieht, wie sein Blick zu einem fernen Gedanken schweift, sie versucht, in sein Hirn zu sehen, sieht die fleckige Hand, die ein schrumpliges Taschentuch aus der Hosentasche zieht, er putzt sich damit die Nase und steckt es wieder weg. Früher oder später offenbart sich die Wirklichkeit natürlich, sagt er, eine Zeitlang kann man die Wirklichkeit beleihen, doch die Wirklichkeit wartet immer, geduldig, stumm, dann fordert sie einen Preis und gleicht die Sache wieder aus — Ben erwacht sabbernd und blickt um sich. Er fängt an zu heulen, Eilish schiebt ihren Stuhl zurück und beruhigt ihn, nimmt ihn hoch und legt ihn unter einem Schal an die Brust. Sie will die alten Tröstungen, sie will die Kinder hereinrufen und um sich scharen, stattdessen stößt sie auf ein dunkles Gefühl, eine Schattenzone, die sich erweitern will. Sie holt tief Luft und versucht seufzend ein Lächeln. Wir haben gerade unsere Osterferien gebucht, wir wohnen bei Áine und ihrer Bande und reisen noch eine Woche herum, Niagara-Fälle, falls wir’s schaffen, noch ein paar andere Sachen um Toronto rum, die Kinder werden viel Spaß haben. Simons Blick ist entrückt, sie ist sich nicht sicher, ob er sie gehört hat. Er hebt die Hände vom Tisch, fixiert sie, legt sie wieder hin und blickt auf. Vielleicht, sagt er, solltet ihr euch überlegen, ob ihr in Kanada bleibt. Sie löst das Kind von sich, steht auf und blickt auf ihn hinab. Dad, was soll das denn heißen? Es heißt, dass ich zu alt bin, um jetzt was zu tun, aber die Kinder sind noch jung, die können sich leicht anpassen, es ist immer noch Zeit für einen Neuanfang, die schnappen in Nullkommanichts die Akzente auf. Um Himmels willen, Dad, hör dir doch mal selbst zu, meinst du nicht, dass du überreagierst, und was ist mit meiner Karriere und Larrys Stelle und mit den Kindern und der Schule, und dann noch Mollys Hockey, dieses Jahr werden sie Meister der Schülerinnenliga von Leinster, sie haben schon neun Punkte Vorsprung, und Mark ist an seiner Schule gerade erst in die Oberstufe gekommen, und wer soll dann nach dir sehen, wo du doch nicht mal die Tassen sauber kriegst, Mrs. Taft kommt ja bloß einmal die Woche, und wenn du hinfällst und dir die Hüfte brichst, was ist dann, kannst du mir das mal sagen?

Der Winterregen fällt satt und kalt, die vergehenden Tage vom Regen taub, als verdeckte er das Vergehen der Zeit, auf jeden Tag folgt ein weiterer gesichtsloser Tag, bis der Winter in voller Blüte steht. Eine seltsame, unstete Atmosphäre hat das Haus erfüllt. Sie kam mit den beiden Männern, die vor der Tür standen, und hat sich durchs ganze Haus gearbeitet, dieses Gefühl nun, als löste sich allmählich eine Einheit innerhalb der Familie auf. Larry arbeitet bis spät in die Nacht, am Morgen ist er dann gereizt und verschlossen, bewegt sich wie in einer stillen Wildheit, die Hände angespannt, der Körper wie gestrafft, wie unter dem Einfluss eines starken Schraubdrucks. Zu viele Abende ist er spät nach Hause gekommen, Eilish hat durch die Jalousien geschaut, sie dann losgelassen, um nicht gesehen zu werden, wie eine alte Jungfer, denkt sie, eine Gafferin, erwartet ihn in der Diele, als er zur Tür hereinkommt. Du solltest doch Molly zum Training bringen, Larry, ich musste wieder ein Gespräch mit unseren Partnern absagen, ich bin doch gerade erst nach dem Mutterschaftsurlaub zur Arbeit zurückgekehrt, was glaubst du, wie das aussieht? Er steht an der Tür, ein Fuß halb aus dem Stiefel, er senkt den Blick, demütig, wie ein geprügelter Hund, schüttelt den Kopf und schaut sie voll an, und da nimmt sie eine Veränderung an ihm wahr, seine Stimme ein zorniges Flüstern. Die versuchen, uns kaputt zu machen, Eilish, die verbreiten in der Gewerkschaft Lügen, du glaubst nicht, was ich heute gehört habe — Seine Stimme stockt vor ihrem schmalen Blick, dann schaut er wieder zu Boden. Sieh mal, sagt er, ich höre, was du sagst, und es tut mir leid. Er zeigt ihr ein kleines Prepaid-Handy, ein Wegwerfding, wie er es nennt. Selbst wenn sie es abhören wollten, wüssten sie nicht die Nummer. Sie mustert ihn und denkt dabei an die Kinder, die horchen, wie sie in der Diele flüstern. Du verhältst dich wie ein Verbrecher, Larry, hör mal, es sieht aus, als hätte Bailey sich ein Virus eingefangen, er ist nach oben — Larry hebt die Hand in die Luft, schneidet ihr das Wort ab. Ich bin ja wohl kein Verbrecher, wenn die versuchen, die Gewerkschaft zu zerschlagen, Mitglieder unserer Organisation ohne Anordnung verhaften, die werden die Demonstration nicht aufhalten. Er geht an ihr vorbei ins Wohnzimmer, dann weiter in die Küche und schließt die Tür hinter sich. Sie sieht durch die Scheibe zu, wie er seine Mappe auf einem Stuhl abstellt, zur Spüle geht und sich die Hände wäscht, sich gegen die Spüle lehnt und hinausschaut. Sie will zu ihm, den Geist im Körper suchen, den guten, stolzen Mann in diesem Geist, hartnäckig, moralisch, engagiert, der Krieg in ihm wächst gegen dieses Etwas an, das sie nicht ermessen können. Denkt, wie er neuerdings allein sein will, letztlich suchen alle Männer dieselbe Isolation, das hat sie einmal als Graffito an einer Wand gesehen. Sie öffnet die Tür und streckt den Kopf in die Küche. Möchtest du was zum Abendessen?, sagt sie. Nein, geht schon, ich hab spät zu Mittag gegessen, vielleicht später noch was. Molly kommt herein, sie trägt eine Schutzmaske. Sie hat Türgriffe, Hähne und die Toilettenspüler desinfiziert, vor dem Jungszimmer mit Tesafilm einen Kordon errichtet und weigert sich, am Tisch zu essen. Sie hört nicht auf Eilish, die erklärt, dass das Virus kaum aufzuhalten ist, im Geist sieht, wie das Virus in die Wirtszelle eindringt und sich vermehrt, eine lautlose Fabrik im Körper, das Virus unsichtbar in der Atemluft. Am nächsten Tag sind Molly und Mark krank und bleiben im Bett, dann auch Larry, sie ist froh, dass alle zu Hause sind, sogar Larry scheint wieder ganz der Alte zu sein, lacht darüber, dass sie und das Baby immun sind, neckt Mark, als der zur Tür hereinkommt, die Haare über den Augen, und in ein Taschentuch schnieft. Dein Schopf da, sagt Larry, ich könnte dir auf der Straße begegnen und dich fast nicht erkennen. Will jemand außer Dad Kaffee?, sagt Mark. Sie versammeln sich, um einen Film zu gucken, Mark kommt mit den Tassen, sie betrachtet den langen, massigen Körper, er ist fast siebzehn und so groß wie sein Vater. Rutsch mal, sagt Mark, setzt sich neben sie und legt ihr den Arm über die Schulter, sie kann sich nicht erinnern, wann alle das letzte Mal so zu Hause waren, Molly neben ihr eingerollt, Bailey auf einem Sitzsack, ein Eis löffelnd, Larry vor dem Fernseher, Ben schläft auf ihrem Schoß. Ach komm, sagt Mark, wie oft haben wir uns schon so einen sentimentalen Scheiß angesehen? Mir gefällt’s, sagt Bailey. Ja, mir auch, sagt Molly, das ist ganz süß, sag noch mal, Mam, wie habt ihr beiden euch kennengelernt? Larry lacht, Mark stöhnt auf und sagt: Wie oft haben wir das schon gehört, weißt du denn nicht, dass Dad der große Romantiker ist und Mam monatelang mit einem Netz jagen musste. Das stimmt gar nicht, sagt Eilish und lächelt Larry an. Also, zum Teil schon, sagt Larry, natürlich bin ich der große Romantiker, aber ich hab sie mit einem Kartoffelsack gefangen. Als Ben auf ihrem Schoß aufwacht, betrachtet sie sein Gesicht, versucht, den Mann zu erkennen, der er einmal sein wird, sowohl Mark als auch Bailey haben dieses Denken widerlegt, vom Apfelbaum kann auch eine Birne fallen, und Ben wird bestimmt ein eigenständiger Mann. Und dennoch sucht sie in dem Kind nach einer Ähnlichkeit mit Larry, hofft, dass er einmal seinem Vater gleichkommt, wobei sie ja weiß, wie es ist, dass alle Jungen erwachsen werden und von zu Hause weggehen, um die Welt unter dem Vorwand, sie zu richten, zugrunde zu richten, so will es die Natur.

Mit einem Schrei schreckt das Kind aus dem Schlaf, als wäre es übers Erwachen verblüfft, und merkt, wie sie aus dem Schlaf aufsteigt, bis ihr Schlaf zerbrochen in dem dunklen Zimmer liegt. Sie schiebt einen Fuß zu Larry hin, doch seine Betthälfte ist kalt. Sie hebt das Kind aus seinem Bettchen und legt es an die Brust, der kleine Mund ächzt und schlingt, die kleine Hand krallt sich in ihr Fleisch. Sie gibt ihm einen Finger, es umfasst ihn mit einer derartigen, winzigen Kraft, dass sie seine naturbedingte Panik spürt, das Kind klammert, als ginge es ums nackte Leben, als bände es nichts anderes daran als seine Mutter. Die Morgenvögel lassen die Stille erklingen, als sie sich den Mantel überwirft und mit Ben nach unten geht. Dort sitzt Larry im Dunkeln am Tisch, das Gesicht vom Laptop hell. Er hat sie nicht kommen hören, und so betrachtet sie ihn ungehindert, das traurige, belastete Gesicht, die unverwandte Konzentration. Sie schaltet an der Wand das Licht an, worauf er seufzend aufblickt und dann lächelt, nach dem Kind greift und es sich auf den Schoß stellt, den Jungen das eigene Gewicht tragen lässt. Hat er durchgeschlafen?, sagt er, ich hab ihn nicht aufwachen hören, wie kommt’s, dass du so früh auf bist? Das könnte ich auch dich fragen, Larry, du siehst aus, als wärst du gar nicht im Bett gewesen. Larry hebt das Kind auf Nasenhöhe. Sieh mal an, kleiner Mann, erst überraschst du uns, und jetzt bist du schon bald abgestillt. Sie steht, die Arme verschränkt, an der Kaffeemaschine, betrachtet dann Larry so intensiv, dass ihr sein Gesicht fremd wird, die Augen vom Schlafmangel blutunterlaufen, die Haare schief, die abgewetzte Fischgrätjacke überm Merinopulli, sie vergleicht sich kurz mit ihm, ja, er altert nun doch schneller, der Bart ist schon grau durchsetzt. In dem Moment wird ihr bewusst, dass sie nicht mehr weiß, wie er früher ausgesehen hat, die Erneuerung der Zellen geht ebenso schnell wie langsam, man beginnt in einem Körper, und mit der Zeit wird er ein anderer, er ist derselbe und dennoch anders, nur die Augen bleiben unverändert. Sie nimmt ihm Ben ab und schaut ihn an. Es ist nicht zu spät, sagt sie. Er mustert sie stirnrunzelnd. Was ist nicht zu spät? Das Spiel da, das du mit der Regierung treibst, du kannst immer noch aufhören. Er schweigt einen Augenblick, dann klappt er seufzend den Laptop zu, steckt ihn in die Lederhülle und steht auf. Herrgott, Eilish, die Räder laufen doch schon, aus so was kann man nicht einfach so aussteigen, das wäre ungeheuer peinlich für die Organisation, die Lehrer würden in Massen austreten, die Demonstration muss stattfinden. Schon, Larry, aber Alison O’Reilly ist noch nicht wieder zur Arbeit zurück, was glaubst du wohl, warum? Ihr Mann sagt, sie hat Grippe. Diese Grippe dauert schon drei Wochen. Ja, ich weiß, es wirkt ein bisschen komisch, hör zu, ich muss heut früh hin, wir haben einen Medientermin, bevor — Sie hat ihm den Rücken zugedreht, schaut hinaus in den Garten, der nass und dunkel ist, alles hängt feucht herab, die Bäume beugen sich der Kälte. Auch so kann sie die Stärke seines Willens ihrem gegenüber ermessen, beider Willen in stummer Gegnerschaft verkeilt, sie umkreisen einander und ringen, bis sie zerschrammt und wund zurückweichen. Larry geht zum Wohnzimmer, bleibt dann stehen und sagt: Gestern Abend ist Mary O’Connors Mutter gestorben, ich habe kurz vor Mitternacht die Nachricht gekriegt, sie war vierundneunzig, die letzte der Titanen, eine ganz große. Kopfschüttelnd legt Eilish Ben in die Wippe. Eine hartnäckige Frau zu ihrer Zeit, wann ist die Bestattung? Samstagvormittag in der Church of the Three Patrons. Sie geht zu Larry und wünscht, es wäre ein anderer Morgen, sie legt ihm die Hand ums Handgelenk und drückt zu. Larry, Alison O’Reilly ist nicht krank, das weißt du selbst. Eilish, das kannst du nicht beweisen. Mit dem GNSB ist nicht zu spaßen, wenn du diese Tür aufmachst, Larry, weißt du nicht, was dahinter ist. Eilish, hör zu, entspann dich mal, das GNSB ist nicht die Stasi, die machen nur ein wenig Druck, weiter nichts, ein paar Störaktionen, ein bisschen Schikane, damit wir Ruhe geben, wir sind fünfzehntausend, und die Regierung ist nervös, aber die können eine demokratische Demonstration nicht aufhalten, wirst sehen. Sie ist jetzt nahe genug, um die Tupfen in seinen Augen zu sehen, die feinen Tönungen rot und bernsteingelb, kein Auge hat nur eine Farbe. Sag mir eins, Larry, wo ist Jim Sexton jetzt? Er blinzelt, wendet sich stirnrunzelnd ab. Wirklich, Eilish — Kopfschüttelnd nimmt er seine Mappe, geht damit ins Wohnzimmer, aber nicht zur Tür. Sie hört, wie er reglos dasteht und sich dann mit einem langen Seufzer setzt. Einen Moment lang fühlt sie sich übermannt, sie schaut wieder aus dem Fenster, sieht die Bäume in dem bleiernen Tag schimmern, denkt, wie schnell die Dämmerung vergeht, graues Licht frisch auf den Blättern, in den Bäumen die Schattenformen keckernder Elstern. Dies drängende Gefühl in den Händen, als sie ins Wohnzimmer tritt, wo Larry ganz ruhig im Sessel sitzt, als betrachtete er einen Gedanken, der sich vor ihm offenbart hat. Er schaut auf und sagt kopfschüttelnd, vielleicht hast du ja recht, Eilish, das ist jetzt nicht die Zeit, es ist Wahnsinn, das jetzt durchzuziehen. Ich ruf sie an, sag ihnen, ich bin krank. Sie tritt zu ihm im Gefühl des Sieges, blickt zu ihm hinab. Sie will sprechen, doch etwas in ihr kommt frei, eine Phantomelster fliegt auf, Eilish steht vor ihm und schüttelt den Kopf. Nein, sagt sie, das muss jetzt sein, es geht nicht mehr um dich oder mich, die NAP glaubt wohl, sie steht über dem Gesetz, jeder weiß doch, dass diese Notverordnung bloß ein Griff nach der Macht ist, wer soll denn sonst für unsere Verfassungsrechte einstehen, wenn die Lehrer es ihnen nicht beibiegen? Sie sieht ihn an, wie er da sitzt, massig, ein Junge, der den erwachsenen Verstand in Händen hält, dann steht er abrupt auf und zeigt wieder seine alte Unbeirrbarkeit. Recht so, Schatz, heute ist ein schmutziger Tag für eine Demonstration, ich geh dann hinterher mit ihnen noch einen trinken, aber ich mach nicht viel und kann Molly trotzdem noch vom Training abholen. An die Tür gelehnt sieht sie zu, wie er im Flur seine grünen Wanderstiefel anzieht. Er nimmt seinen Regenmantel und will ihn übers Jackett streifen, der Ärmel des Regenmantels ist eingestülpt, Larry steckt kurz auf der Türschwelle fest und rangelt mit dem Ärmel, sie denkt, er ist immer noch unsicher, er schaut auf, und ihre Blicke treffen sich. Geh, sagt sie lächelnd, geh und bring’s hinter dich.